Europäische Fragen im Zeitalter der Globalisierung
1. Einführung in das Problem
In der globalisierten Welt zeigt sich das transnationale Zusammenrücken täglich nach 15 Uhr auf deutschen Fernsehschirmen. Dann schaltet der Berliner Nachrichtensender n-tv börsentäglich live zum Check der ,,Futures" von Dow Jones, S&P und NASDAQ zur New Yorker Wallstreet. Reporter berichten mit besorgter Miene über schlechte Quartalszahlen bei Cisco Systems und befürchten miserable Vorgaben für die europäischen Märkte. Da Compaq aber ein paar Prozent zulegen konnte, erhoffen sich viele wiederum eine positive Wirkung auf die Kurse von PC-Herstellern an den Börsen in Frankfurt, Paris und London.
Europa im ökonomischen Sog der USA?1 - Eine Antwort auf diese Frage sollte nicht leichtfertig getroffen werden. Es wäre ganz und gar verkürzt, von der Abhängigkeit europäischer Aktienmärkte vorschnell Schlüsse auf die mögliche Gesamtheit eines europäischen ,,Wirtschaftsstils" zu ziehen. Aber die börsentäglichen Vorgaben aus Amerika scheinen charakteristisch für eine Orientierungsdebatte über die Frage der Übertragbarkeit amerikanischer bzw. angelsächsischer Spielzüge in ein modernes Europa zu sein. Und natürlich endet diese Orientierung nicht bei der Börsenphantasie. Europäische Ökonomen aus dem neoliberalen Lager sind heute begeistert von unternehmerischer Aktivität jenseits des Atlantiks, die auch im internationalen Wettbewerb erfolgreich scheint und damit in Augen mancher für ein US-amerikanisches ,,Jobwunder" sorgt. Der Blick auf die Arbeitsmarktdaten scheint eine deutliche Sprache zu sprechen: Während in den Vereinigten Staaten die Arbeitslosenquote gerade einmal vier Prozent beträgt (White House 2000), liegt sie in den 15 EU-Staaten im August 2000 mit neun Prozent mehr als doppelt so hoch (Eurostat 2000). Neoliberale setzen ihre Hoffnung nun vor allem in den europäischen Ehrgeiz, Rückstände aufzuholen2 ; Rückstände, die vorwiegend in mangelnder Flexibilität (beispielsweise bei der Lohnfindung oder der Deregulierung von Güter- und Dienstleistungsmärkten) und verkarsteten sozialpolitischen Strukturen lägen (Otte/Simon 2000; Middelhoff 2000; Fels 2000: 40).
Für die ,,Spielverderber" aus der linken Ringecke3 schwappt dagegen fast nur Schlechtes über den großen Teich. Für alle Negativ-Szenarien im Prozeß der Globalisierung scheinen die USA Modell zu stehen. Neben den Risikoherden der volatilen und fragilen Märkte vor allem in der ,,New Economy" richten die Kritiker unkontrollierter Globalisierungsprozesse ihr Augenmerk auch auf geschönte Arbeitsmarktzahlen4 (Altvater 2000) und fragwürdige Strukturen der Ungleichheit tolerierenden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (Prisching 1999) in den Vereinigten Staaten. In der Kopie eines angelsächsischen Wirtschaftsliberalismus liegt nach solcher Auffassung womöglich eine Gefahr der Unterminierung des rheinischen Kapitalismusmodell durch das atlantische (Hickel 1999) im Sinne einer neuen Stufe der Amerikanisierung (Ziebura 2000: 699).
Zwischen den genannten Streitpunkten, nämlich der vielerorts (auch nach bereits erreichten Erfolgen5 ) geforderten Marktliberalisierung nach angelsächsischem Vorbild, Schaffung von Investitionsanreizen für unternehmerische Tätigkeit und dem Druck auf Systeme sozialer Sicherung durch Zwänge des globalen Wettbewerbs, scheint sich auch aktuelle Europapolitik zu bewegen. Die Ergebnisse des Europäischen Rats-Gipfels von Lissabon im März 2000 ist ein neueres Beispiel dieser Entwicklung. Dort beschäftigten sich die Spitzenpolitiker einmal mehr mit dem Spannungsfeld von technologischer Innovation im Stil einer ,,New Economy" und globalem Wettbewerb auf der einen und sozialer Gerechtigkeit auf der anderen Seite (Europäischer Rat 2000; Ziebura 2000: 700). Ausgereifte Lösungen, die auf eine breite Zustimmung treffen, gibt es derzeit nicht. Somit beschreibt Jürgen Habermas diese Orientierungsdebatte folgerichtig als ein Dilemma aktueller Politik mit der Frage: ,,Wie läßt sich die Allokations- und Entdeckungsfunktion selbstregulierender Märkte effektiv nutzen, ohne dabei Ungleichverteilungen und soziale Kosten in Kauf nehmen zu müssen, die mit den Integrationsbedingungen liberal verfaßter Gesellschaften unvereinbar sind?" (Habermas 1998: 67).
In der Tat: Die Verbindung von Wettbewerbskriterien nach angelsächsischem Vorbild mit Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, wie sie noch in Teilen Kontinentaleuropas verstanden werden, scheint fast unmöglich. Die Fronten sind seit jeher klar verteilt. So wehrte sich Friedrich A. von Hayek, der ,,Guru des Spiels der ungehinderten Marktkräfte" (Giddens 1999: 15), der ,,Prophet" (Haug 1999: 174) und ,,Klassiker des Neoliberalismus" (Schui 1997) Zeit seines Lebens gegen die Herstellung eines Zustands sozialer Gerechtigkeit (Hayek 1969b: 258ff.) und pries die - im wahrsten Sinne des Wortes - ungeahnten Möglichkeiten des ökonomischen Selektionswettbewerbs, an dessen Ende man nie sicher sein könne, welche Kombinationen sich durchsetzten (ebd.: 252ff.). In Hayeks Gefolgschaft ist die neoliberale Ideologie überzeugt von der wirtschaftlichen Effizienz sich selbst überlassener Märkte, die explorative Prozesse fördern und nur eines staatlichen Ordnungsrahmens - etwa in Form einer Wirtschaftsverfassung aus kodifiziertem Recht, Regeln und allgemein anerkannten Konventionen - bedürfen (Vanberg 1995: 190).
In dieser Arbeit möchte ich die zuvor genannte Frage Habermas` aufgreifen und in einen europäischen Kontext einbeziehen. Diese Verbindung erscheint mir sinnvoll, da zur Zeit zwei wesentliche Inhalte europäische Politik bestimmen: Gerade die sozialdemokratischen Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union - mit den charismatischen Köpfen Tony Blair und Gerhard Schröder an vorderster Front - artikulieren mit hartnäckiger Regelmäßigkeit die vermeintliche Notwendigkeit, im Zuge der Vertiefung der europäischen Integration Systeme sozialer Sicherung auf den Prüfstand zu stellen. Dabei pochen sie und unter der Berücksichtigung eines immensen Kostendrucks, hoher Arbeitslosigkeit innerhalb der EU und der Wettbewerbsfähigkeit Europas im Zeitalter der Globalisierung auf grundlegende Reformen veralteter Modelle umfassender staatlicher Fürsorge für den Weg in eine aktive Zivilgesellschaft (Blair/Schröder 1999; Blair/Kok/Persson/Schröder 1999; Schröder 1997; Schröder 2000).
Globalisierungsfragen, also Fragen über Chancen und Risiken transnationaler politischer Koordination, treten aber auch im Zusammenhang mit der geplanten EU-Osterweiterung auf. Manch einer steht ihr unsicher, ablehnend und ängstlich gegenüber6. Die einen befürchten eine Überschwemmung des Arbeitsmarktes der Altmitglieder durch Billigarbeiter aus dem Osten; andere schätzen die sozialen Kosten im Zuge der Umstrukturierung veralteter Ökonomien bei den Aufnahmekandidaten als kaum verkraftbar ein. Wiederum gibt es den traditionell ,,sozial blinden" neoliberalen Flügel, der unbeirrt die weitere ,,Vermarktwirtschaftlichung" der Union fordert, getreu dem Motto: Was der Markt nicht will, wird er auch in Europa aussortieren. Gegenstimmen rufen jedoch dazu auf, Erweiterungsprozesse jedweder Art (also territoriale oder ökonomische) nicht sich selbst zu überlassen, sondern ihnen gestaltend zu begegnen, etwa in Form transnationaler Solidarität. Aus diesen Problemsituationen kristallisiert sich nach meiner Auffassung eine wesentliche Frage heraus: Unter welchen Voraussetzungen kann bei Berücksichtigung von Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union ein auf gegenseitiger Solidarität beruhender EU- Sozialraum entstehen, der letztlich für alle daran Beteiligten zu einem ,,Positivsummenspiel" (Vobruba 1999: 87) in einer Welt unter Globalisierungszwängen wird?
Da ich bereits festgestellt habe, daß auch ein solcher Sozialraum unter einem Globalisierungsdruck steht bzw. stehen wird, muß vor der Beantwortung solch einer Frage zunächst geklärt werden: Globalisierung. - Was ist das? Unter welchen konkreten Zwängen steht die Sozialpolitik dadurch? Auch soll die neoliberale Position in dieser Arbeit nicht unberücksichtigt bleiben, die den grundlegenden Ansatz für ein prosperierendes Europa bereits parat zu haben scheint und den Weg einer immer expansiveren Öffnung europäischer Märkte und einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik vorschlägt, dabei aber auch eine hohe Abstiegsmobilität der Menschen voraussetzt. Zur neoliberalen Position gehört auch eine konträre Meinung, die in einer Welt, dominiert von freiem Wettbewerb und schnellem, globalem Kapitalfluß, notwendigerweise eine Welt der sozialen Desintegration, der Ungleichheit und der Verlierer sieht (Altvater 1991: 80). Bevor jedoch ein europäischer Sozialraum, basierend auf einer transnationalen Solidarität, Möglichkeiten bieten kann, derartige Negativeffekte eines übertriebenen Vertrauens in die Marktkräfte einzudämmen, muß abschließend auch kritisch nach den Erfolgsaussichten und Gestaltungsoptionen für solch ein Projekt gefragt werden.
2. Globalisierung - Herausforderung für die Sozialpolitik
Globalisierung ist heute vor allem Schlagwort für ein ökonomisches Phänomen. Folgen wir Jürgen Habermas, ist im Zeitalter der Globalisierung eine historische Struktur, nach der sich ,,Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gewissermaßen koextensiv innerhalb derselben nationalen Grenzen ausdehnten" (Habermas 1999: 427) nicht mehr vorzufinden. Wirtschaftliche Verflechtungen nehmen weltweit zu. Arbeit und Kapital treten somit nicht mehr nur in einen binnenstaatlichen, sondern auch in einen globalen Wettbewerb (bzw. teilgobalen - man beachte den Wettbewerb innerhalb von Freihandelszonen wie EU, NAFTA oder ASEAN). Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist Globalisierung konkreter: Ausweitung von Handel, Internationalisierung von Produktionsstandorten, transnationale Firmenzusammenschlüsse, Ausweitung und Beschleunigung von internationalem Kapitalverkehr, Zunahme ausländischer Direktinvestitionen durch internationale Unternehmen sowie sonstige Formen grenzüberschreitenden Wirtschaftens (Koitsch 1999: 27; Schulte 1998). Moderne technologische Entwicklungen im Bereich der Kommunikations- und Informationstechnologie sind dabei Triebfeder und ,,entscheidende Voraussetzung der Globalisierung" (Koitsch 1999: 26). In erster Linie helfen die neuen Technologien, Transaktionskosten in Transport und Kommunikation zu senken (Altvater 1999: 1074). Sie machen das im Wettbewerb erforderliche Wissen global zugänglich und ermöglichen es, weltweit zu jeder Zeit auf ökonomische Entwicklungen zu reagieren (Schmid 2000). Diese Prozesse haben zur Folge, daß der Staat in vielerlei Hinsicht an Souveränität und Handlungsfähigkeit einbüßt (Habermas 1999: 428). Die geschmälerte Handlungsfähigkeit schlägt sich nicht zuletzt in staatlichen Gestaltungsräumen von Sozialpolitik nieder, erhöht sich in den Nationalstaaten aufgrund der Logik des Marktes und der internationalen Arbeitsteilung doch der Druck hin zu einer wettbewerbskonformen Standortpolitik, denn:
,,Ein Kapital, das auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten und spekulativen Gewinnen sozusagen aus der nationalen Anwesenheitspflicht entlassen ist und frei vagabundiert, kann mit seinen Exit-Optionen drohen, sobald eine Regierung mit Rücksicht auf Nachfragespielraum, soziale Standards oder Beschäftigungssicherung den nationalen Standort zu stark belastet" (Habermas 1999: 428).
Standortpolitik stünde nach diesen Prämissen in einer Sogwirkung des globalen Wettbewerbs, die die Sozialstandards eines Nationalstaats oder einer Wirtschaftsunion in einen Abwertungswettlauf verstricken könnte. Einerseits durch den intensivierten Wettbewerb innerhalb eines Wirtschaftsraums selbst - etwa nach Vorbild der EU (Schulte 1998) -, andererseits durch den globalen Wettbewerb, dem ja wiederum ganze Wirtschaftsräume ausgesetzt sind. Diese Intensivierung und Ausweitung des Wettbewerbs setzen die Industrie, so wird angenommen, unter Rationalisierungsdruck, der zu Stellenabbau führen kann (Fels 2000: 40ff.)7. Einerseits gründen solche Rationalisierungsmaßnahmen auf dem technischen Fortschritt in Form von Mechanisierung oder Automatisierung der Produktion. Andererseits kann eine Konkurrenz der Standorte auch die Anreize verstärken, ganze Produktionszweige in kostengünstige Länder zu verlagern (Koitsch 1999: 27f.), um komparative Kostenvorteile zu nutzen (Trabold 1999: 136).
Damit bleibt vorerst festzuhalten, daß für Systeme sozialer Sicherung Globalisierung ,,eine weitere Öffnung nach außen (und) damit größere Verletzbarkeit und höheren Sicherungsbedarf" (Schmid 2000) bedeutet. ,,Teure" Arbeit, versehen mit einer hohen Abgabenlast, kann im internationalen Vergleich an Rentabilität verlieren, wodurch Stellenabbau droht (Scharpf 1999: 460). Aus dem Arbeitsprozeß herausgefallene Arbeitnehmer sind wiederum Empfänger von Sozialleistungen, deren Sicherung vom Staat finanziert werden muß. Allgemein steht europäische Sozialpolitik im Globalisierungszeitalter somit vor dem Problem, Systeme sozialer Sicherheit wettbewerbskonform umzugestalten. Unterschiedliche Lösungsansätze verfolgen dieses Ziel mal mit einer höheren Gewichtung des Wettbewerbskriteriums, mal mit einem starken Fokus auf den Aspekt der sozialen Sicherheit. Alle Ansätze beanspruchen jedoch für sich, Antworten auf Globalisierungszwänge bzw. deren Chancen aus der Perspektive Europas zu sein.
3. Europäische Antworten auf die Erfordernisse der Globalisierung
Zwei von vier Antwortmöglichkeiten, die Jürgen Habermas in der Debatte um die Herausforderungen der Globalisierung ausmacht, sind pauschal: Einerseits könne man der zunehmenden transnationalen ökonomischen Verflechtung mit Ablehnung und Abschottung gegenüberstehen; andererseits existiere die Tendenz, ebenso monokausal nur die Chancen und positiven Möglichkeiten des grenzenlosen Wettbewerbs hervorzuheben und somit den Bereich des Sozialen entweder auszusparen oder als irrelevant unterzuordnen. Der erste Ansatz scheint in meinen Augen nicht diskussionsrelevant. Ich schließe mich hier Elmar Altvater an, der - wenn auch nicht euphorisch - feststellt: ,,Globalisierung ist factum." (Altvater 1999: 1075)
Deshalb halte ich es für sinnvoller, anhand aktueller Publikationen von vier Autoren, zunächst aktuelle Thesen und Visionen von Globalisierungsbefürwortern im Habermas'schen Sinn vorzustellen, die sich bei ihrer Argumentation vorwiegend auf eine neoliberale Orthodoxie8 /9 stützen. Die Wirtschaftswissenschaftler Max Otte und Hermann Simon, der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann AG Thomas Middelhoff sowie Gerhard Fels, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, veröffentlichten im Jahr 2000 ihre Vorstellungen von einer wirtschaftsliberalen Zukunft für Europa, die weitgehend amerikanischen Mustern folgt.
Im zweiten Teil dieses Kapitels gehe ich ausführlicher auf eine konstruktive Gegenposition10 zu den genannten Autoren ein, die weitgehend auf der Argumentation der Sozialwissenschaftler Gilbert Ziebura und Georg Vobruba basiert.
3.1. Europäische Globalisierungseuphorie - Der Traum von ,,Transatlantica" und ein neoliberales ,,Fitneßprogramm" für Europa
Zur Untermauerung neoliberaler Globalisierungsrechtfertigungen scheint der Blick nach Amerika unvermeidbar, gelten doch die USA gerade in wirtschaftsliberalen Kreisen als Synonym für Innovation, technischen Fortschritt, Mut zu unternehmerischem Risiko und vorbildliche Liberalisierung des Arbeitsmarkts11. Da kann es zunächst nicht überraschen, daß Befürworter liberaler Wirtschaftsordnungen fast neidisch vom europäischen Kontinent über den Atlantik blicken.
Die Bewunderung für die ,,Job-Maschine USA" teilen auch Hermann Simon und Max Otte, die davon ausgehen, daß nach der Wende zum dritten Jahrtausend aus den USA und den EUStaaten ein Superkontinent ,,Transatlantica" (Simon/Otte 2000: 25) entsteht. Die Autoren stellen ,,Transatlantica" als integrierten Wirtschaftsraum vor, in dem es grenzenlose Entfaltungsmöglichkeiten des Kapitals zu geben scheint. Die ökonomische Integration erfolge nach - wohlgemerkt - amerikanischem Vorbild in den für unsere Betrachtungen relevanten Bereichen der wirtschaftlich gesellschaftlichen Beziehungen, der Handelsbeziehungen sowie in Sachen der Finanzarchitektur bzw. der Kapitalmärkte (ebd.).
Hauptindikatoren für dieses Zusammenwachsen seien die sich häufenden Übernahmen bzw. Zusammenschlüsse von Großkonzernen, sogenannten ,,Mega-Mergers", und kleineren Gesellschaften über den Atlantik hinweg12 /13, also die Prozesse, die ich zuvor als Kennzeichen der Globalisierung bezeichnet hatte. Auch die Direktinvestitionen der Vereinigten Staaten in Europa und umgekehrt seien höher als beispielsweise die Direktinvestitionen der USA in Japan. Darüber hinaus sei Europa endlich im Zeitalter des ,,Shareholder-Kapitalismus" (ebd.: 26ff.) angekommen14: Vor allem die neuen Aktienmärkte (sozusagen ,,Kopien" der New Yorker High-Tech-Börse NASDAQ) böten die Grundlage für zahlreiche Unternehmensgründungen bzw. deren Expansion vor allem in der Informationstechnologie, die ja gemeinhin als Globalisierungsmotor betrachtet wird. (ebd. 26ff.)
Thomas Middelhoff argumentiert vergleichbar, aber mit einer Terminologie, die man durchaus als brutal bezeichnen kann. Middelhoff konzentriert sich auf den Bereich der Internetfirmen und stellt ihn im Spiegel einer darwinistischen Qualitätsselektion dar: ,,Was die jungen kleinen so stark macht, ist das aggressive Aufgreifen neuer Technologien, ein früher Börsengang mit beeindruckend hohen Bewertungen, das Eindringen in neue Märkte und der Einsatz hoher Marktkapitalisierung für Akquisitionen und Zusammenschlüsse. Die Geschwindigkeit des Wachstums haben die Internet-Startups vorgegeben, vor allem AOL, Amazon oder eBay. Sie kannibalisieren durch Innovation überholte Produkte und Dienstleistungen traditioneller Anbieter, und das kompromißlos" (Middelhoff 2000: 12). Dabei könne dieser Selektionsprozeß nach dem Prinzip der ,,schöpferischen Zerstörung"15 (Schumpeter 1987) auch nicht vor dem korporatistisch geprägten Kontinentaleuropa Halt machen, und selbst ein Großkonzern wie Mannesmann müsse sich dem internationalen Wettbewerb stellen (Simon/Otte 2000: 25). So bleibt der vorläufige Schluß, daß gerade in einer globalisierten Welt klar sein muß, daß börsennotierte Unternehmen nicht Besitz von Nationalstaaten seien, sondern Anteilseignern gehörten, ,,unabhängig von deren Nationalität und Standort" (ebd.). Simon und Otte teilen die Ansicht Middelhoffs und verurteilen den ,,Aufschrei, der beim Fall Mannesmann ... durch einen Großteil der politischen Klasse in Deutschland ging" (Simon/Otte 2000: 25). Solches Verhalten zeuge eher von einer ,,Bunkermentalität, als von Weltoffenheit, die in der ,New Economy` erforderlich" (ebd.) ist. Trotz aller positiven Errungenschaften in Europa im Sinne von Deregulierung und Nichteinmischung des Staates in marktwirtschaftliche Prozesse (vermutlich eine Anspielung Middelhoffs auf Großbritannien16 ) gibt es ,,Hausaufgaben" (ebd.: 16). Deutschland und Europa könnten von Amerika lernen. Neue ökonomische Phänomene erforderten ,,globales Denken" (ebd.), wobei Middelhoff vor allem höhere Anpassungsgeschwindigkeiten in Deutschland und Europa erwartet (ebd.: 17).
Bei einer kritischen Betrachtung schließt solch ein Lernprozeß mit dem Vorbild USA notwendigerweise den Bereich der Sozialpolitik mit ein. Selbst wenn Middelhoff diesen Aspekt explizit nicht erwähnt und Otte/Simon die Fragen des Sozialen nur widerwillig - aber letztlich mit marktradikaler Konsequenz - beantworten, manifestiert sich die Vermutung einer geplanten Rigorosität bei Reformen der Sozialpolitik. So merken Otte/Simon an, in einem wettbewerbsfähigen Europa müßten noch einige Unklarheiten aus der Welt geschaffen werden. So verlange der unter EU-Protektionismus stehende europäische Agrarsektor Entbehrungen der Europäer (Otte/Simon 2000: 29). Während Daniel Piazolo vom Kieler Institut für Weltwirtschaft diese Besonderheit sehr vorsichtig als Spannungsherd für einen transatlantische Wirtschaftsbeziehungen bezeichnet (Piazolo 1996: 108f.), konstatieren Simon und Otte geradezu erbarmungslos: ,,Die Landwirtschaft ist zwar ein politisch wichtiger, aber ökonomisch unbedeutender Sektor" (Otte/Simon 2000: 29).
Es kristallisiert sich heraus, was nach dem Prozeß einer ,,schöpferischen Zerstörung" zu erwarten ist. Überholte Systeme müssen moderneren den Platz räumen. In diesem Fall aus Gründen mangelnder internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb ist aus neoliberaler Perspektive eine Verschlankung der Sozialsysteme unumgänglich, denn: ,,Zur Finanzierung der umfangreichen staatlichen Leistungen ist ein hohes Abgabenniveau nötig, das in einigen Staaten Europas insbesondere auf dem Faktor Arbeit lastet. Dämpfende Effekte auf die Leistungsanreize der Arbeitnehmer sowie auf die Arbeitsnachfrage sind die Folge. [...] Angesichts des verschärften internationalen Wettbewerbs fällt den Unternehmen die Umwälzung der Sozialkosten auf die Preise deutlich schwerer als zuvor, sodass negative Auswirkungen eines höheren Kostenniveaus auf Produktion und Beschäftigung wahrscheinlich geworden sind" (Fels 2000: 42).
Aus dem vorangegangenen wird deutlich, daß ökonomische Innovations- und Modernisierungsprozesse nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer schaffen können, was Max Otte in Bezug auf ,,Transatlantica" auf meine Nachfrage unter Vorbehalten auch eingesteht: ,,Ich glaube, dass die in Transatlantica entfesselte wirtschaftliche Dynamik auch für einen Großteil der Bevölkerung gut ist. Es setzen sich allerdings neue Ideen/Modelle auf Kosten der alten durch. Also gibt es auch Verlierer" (Otte 2000). Allerdings sei die Zahl der Gewinner viel größer.
Die wirtschaftspolitischen Implikationen, die sich aus diesen Visionen ergeben, liegen aus neoliberaler Sicht auf der Hand: Die Wirtschaftspolitik müsse sich endgültig von der Auffassung verabschieden, ,,Politiker könnten verschiedene Zustände einer Volkswirtschaft gegeneinander abwägen und sich dann für einen möglichen Optimalzustand entscheiden" (Hanusch 2000: 66). Der Fokus müsse in der Zukunft noch mehr auf den Möglichkeiten des Wettbewerbs liegen. Dadurch müsse ermöglicht werden, ,,alte Strukturen möglichst schnell und umfassend zu verändern oder diese gänzlich aufzulösen, um neuen und besseren den Weg zu bahnen" (ebd.: 67). Gefordert wird in diesem Sinn eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik für Europa, die zu ,,einer regen Investitionstätigkeit der Unternehmen" (Fels 2000: 38) führen soll - und das mit positiven Auswirkungen auf die Beschäftigungszahlen.
3.2. Europäische Globalisierungszwänge - Politics does matter
Ich hatte bereits erwähnt, daß der Neoliberalismus wie kaum ein anderes Thema aus Wirtschaft und Politik auf breiter Ebene Kritik hervorzurufen scheint. Diese Kritik wird formuliert und gezeigt von wissenschaftlichen Eliten, von Seiten der Politik und nicht zuletzt auch, wie bei der Zusammenkunft von IWF und Weltbank in Prag, von Demonstranten auf der Straße. Sowohl die Intensität als auch die physische Gewalt, mit der dieser Streit ausgefochten wird, ist vielleicht ein Hinweis, daß der Neoliberalismus - betont er doch die letztlich positive Entdeckungsfunktion der Märkte (Hayek 1969b) - nicht unkritisch betrachtet werden sollte.
3.2.1. Wider dem Amerikanismus - Globalisierung mit europäischem Antlitz
Gilbert Ziebura kritisiert ebenfalls einen neoliberalen europäischen Weg im ideologischen Schlepptau der Vereinigten Staaten. Anders als bei Otte und Simon fällt seine Bestandsaufnahme für das Europa der Jahrtausendwende kritisch und differenziert aus. Das eher simple Schema der ,,schöpferischen Zerstörung" bei erwünschter Selektion schwacher Marktteilnehmer - man denke nur an das geradezu flapsige Urteil der Ökonomen über die Situation des europäischen Agrarsektors - funktioniert nach Zieburas Verständnis nicht ohne gefährliche Reibungsverluste. Selektionsprozesse sind für die neoliberale Ideologie zwar unbestrittener und zugleich lehrreicher Bestandteil des wirtschaftlichen Prozesses. Ziebura gibt jedoch zu bedenken, daß durch vermeintliche Erfolge im Bereich der ,,New Economy" (Ziebura 2000: 698f.), durch die zweifelhafte Vorbildfunktion fadenscheiniger Errungenschaften US-amerikanischer Arbeitsmarktpolitik, die gleichermaßen ,,ökonomischen Erfolg und sozialen Verfall" (ebd.: 705, Hervorhebungen von F.G.) hervorbrächten, sowie durch einen Prozeß der ,,,Blairisierung` der Europäischen Union"17 (ebd.: 701) neue Risikopotentiale innerhalb der EU entstünden. Schwierigkeiten verursache vor allem eine unüberlegte Akzeptanz globaler Wettbewerbsstrategien. Die Verwirklichung des Binnenmarkts hätte regelmäßig Vorrang vor sozialen Komponenten der Europapolitik (Ziebura 2000: 697)18. Gehe man dieses Defizit nicht konsequent an, könne vor allem aufgrund der EU-Osterweiterung ein großes Problemfeld heranwachsen (ebd.: 702). Die Ökonomien der ehemaligen Ostblockstaaten sind technologisch auf einem schlechten Stand und von den Geldtöpfen der ,,New Economy" wohl noch weit entfernt, was deutlich wird, wenn man sich vor Augen führt, daß sie weitaus mehr von der Agrarwirtschaft abhängig sind, als die Volkswirtschaften Westeuropas (Piazolo 1996: 108f.; Ziebura 702). Die Zahlen von Eurostat bestätigen das: 40 Prozent aller Rumänen waren 1998 in der Landwirtschaft tätig, ebenso 25,7 Prozent aller Bulgaren und immerhin noch 19,1 Prozent aller Polen (Eurostat 1999). Für Ziebura scheint ohne - wohlgemerkt kostenintensive - Umverteilungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen in den ehemaligen Ostblockstaaten ein weiterer Abstieg osteuropäischer Beitrittskandidaten zur bedeutungslosen EU-Peripherie unvermeidbar (Ziebura 2000: 703). Die sozialen Kosten dort, hervorgerufen durch einen Unionsbeitritt, würden unterschätzt oder ignoriert. Das Aufholpotential der zukünftigen Peripherie sei durch das Phänomen der ,,digitalen Apartheid" (ebd.: 706) nur sehr gering19. Zudem besteht die Gefahr inhärenter Instabilität der EU, wenn nämlich davon ausgegangen wird, daß Beitrittsländer wie Polen ihre Standortvorteile womöglich zur vermehrten Fertigung einfacherer Industriegüter nutzen könnten und somit plötzlich Konkurrenten für Altmitglieder wie Portugal oder Griechenland würden. Dies würde wohl unweigerlich zu Spannungen und möglicherweise zu Blockadepolitik der Benachteiligten führen. Darüber hinaus bleibt unklar, wie die EU bisherige Subventionspolitik vor allem in der Agrarwirtschaft aufrecht erhalten möchte, ,,die nur bei großer Ofperbereitschaft für die Altmitglieder akzeptabel wären" (Dauderstädt 1998). Die Misere der fehlenden Ofperbereitschaft liegt für Georg Vobruba vor allem in der Ungleichverteilung von Kosten und Nutzen. ,,Landwirten, durch die Ostöffnung heute in ihrer Existenz gefährdet, hilft es nicht, daß Internet-Firmen übermorgen vielleicht phantastische Expansionschancen haben" (Vobruba 2000: 944).20
Vor diesem Hintergrund scheint die Annahme Zieburas durchaus berechtigt, europäische Debatten um Informationstechnologie und ,,New Economy" (Europäischer Rat 2000) büßten einen großen Teil ihrer Plausibilität ein, wenn im Osten des Kontinents ein Wirtschaftsraum heranwächst, dessen Strukturen unter Gesichtspunkten der Moderne nicht annähernd wettbewerbsfähig scheinen und der auf der anderen Seite geradezu ein Drohpotential für Teile der Altmitglieder der EU sein kann. Äußerungen Tony Blairs und seines spanischen Amtskollegen Aznar, die in einem Brief an die Regierungschefs der EU schreiben, ,,Madrid und London sähen in den USA ein Beispiel für die europäische Wirtschaft, wenngleich ,Europa noch einige Elemente beisteuern müsse, um die Grundstruktur seines Wohlfahrtssystems zu bewahren`" (zit. nach Ziebura 2000: 700), sollten wohl kritisch betrachtet werden, zumal der Europäische Rat ja selbst eingesteht, daß ein Abbau sozialer Leistungen die Gefahr gesellschaftlicher Desintegration mit sich bringe, weswegen sichergestellt werden müsse, ,,daß die Herausbildung dieser neuen Wirtschaftsform die schon bestehenden sozialen Probleme Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Armut nicht noch verschärft (Europäischer Rat 2000: 8). Ob solche Vorhaben auch in einem erweiterten Europa mit einer Annäherung an US-amerikanische Standards erreicht werden können, ist fraglich. Ziel einer Kritik an den Visionen von Blair und Aznar kann nun aber nicht sein, am sozialpolitischen Status quo ohne Abstriche festzuhalten, denn unter dem Druck der Globalisierung scheint sich die These Habermas` zu bewahrheiten, daß sie eine historische Konstellation zerstört, ,,die den sozialstaatlichen Kompromiß vorübergehend ermöglicht hat" (Habermas 1998: 73). Welches Modell die Nachfolge des Fürsorgestaates aber antreten soll, ist unklar. Sicher ist nur, daß der Ablösung der historischen Konstellation nur die unausweichliche Reformierung des Staates in Fragen der Sozialpolitik folgen kann. Eine weitere, dazugehörige Option liegt in der ,,Bildung von Staatengruppen, die ähnliche Vermittlungen von Wettbewerbsfähigkeit und Gerechtigkeit anstreben können und wollen" (Schwengel 1997: 14). Prinzipiell besteht mit der EU bereits eine Staatengruppe zur Durchsetzung sozialpolitischer Standards im Rahmen eines europäischen Sozialraums. Fernab einer Illusion der ,,global governance"21 schlägt auf dieser Ebene möglicherweise ,,die Stunde der großen Weltregionen ... Sie könnten dazu beitragen, die weitgehend naturwüchsige Dynamik des globalisierten Kapitalismus zu durchbrechen, indem sie im Spannungsfeld von unerläßlichem, extern induziertem Wandel und Selbstbestimmung ihren Weg suchen und auf diese Weise für eine Multipolarität des ökonomischen und politischen Weltsystems kämpfen, ohne die es keine Stabilität geben wird" (Ziebura 2000: 705). Die Chance der EU, sich mit einer deutlichen Betonung sozial angemessener Standards gegen die USA zu positionieren, wird als hoch eingeschätzt. Hierfür ist jedoch ein kritisches Bewußtsein der Europäer nötig. Nationalstaatliche Interessen stünden immer noch im Vordergrund europäischer Politik (ebd.: 706), und ein Perspektivenwechsel sei von den politischen Eliten nicht zu erwarten, ,,bevor nicht die Bevölkerungen selbst aus wohlverstandenem Eigeninteresse einen solchen Bewußtseinswandel prämieren" (Habermas 1998: 78).
4. Chancen für einen europäischen Sozialraum?
Gedankenspiele über ein europäisches Projekt im Stil eines Sozialraums werfen Fragen auf. Es ist allzu logisch, daß ein solcher Sozialraum ein Mehr an europäischer Integration erfordert. Fortschreitende Integration müßte, um Grundlage für solch einen Sozialraum sein zu können, vor allem Identifikation der Bürger der EU-Mitgliedsstaaten mit ihrem Wirtschaftsraum sein. Aber: Die Grundlagen für solch ein Gefühl der Identifikation sind äußerst fraglich. Habermas gibt für die Form des neuen Zusammengehörigkeitsgefühls das Stichwort des ,,Bewußtsein(s) kosmopolitischer Zwangssolidarisierung" (Habermas 1998: 77), das erwachsen müsse, um für einen sozialen Ausgleich, hervorgerufen durch materielle Ungleichverteilung, sorgen zu können22.
Zweifelsohne ist dies ein idealistischer Ansatz. Die Hoffnungen auf ein nationenübergreifendes Solidarisierungsgefühl, das ja die bewußte Inkaufnahme materieller Nachteile bedeuten würde, also ,,die Bereitschaft, sozialpolitische Leistungen für andere zu finanzieren, kann ja keineswegs so ohne weiteres vorausgesetzt werden" (Vobruba 1999: 79). Es müßten Bedingungen gefunden werden, die ein Gefühl der transnationalen Zusammengehörigkeit motivieren, das wiederum Anlaß ist, ,,einen Teil des eigenen Einkommens an anonyme andere abzugeben" (ebd.).
Georg Vobruba bezeichnet diesen Prozeß transnationaler Umverteilung innerhalb einer integrierten Region wie der EU als eine Form ,,eigennützige(r) Hilfe" (ebd.: 81). Eigennützig sei diese Hilfe, weil wohlhabende, prosperierende Ökonomien durchaus ein Interesse hätten, schwachen Volkswirtschaften unter die Arme zu greifen. So könne beispielsweise eine reiche Nationalwirtschaft kein Interesse an irgendeiner Instabilität eines Nachbarstaates haben, etwa hervorgerufen durch den Zusammenbruch des ökonomischen Systems dieses Nachbars.23
Die Instrumente, die ein integrierter Wirtschaftsraum wie die EU zur Unterstützung schwacher Ökonomien hat, sind jedoch nicht vielfältig. Das ergebe sich aus dem Wegfall der Möglichkeit für reiche Staaten, die eigene Währung zur Stützung der Währung eines anderen Staates abzuwerten. Migration als Ausgleich ökonomischer Unterschiede ist ebenfalls ein Problem der EU, zeigten doch vergleichende Untersuchungen, ,,daß die Migration von Arbeitskräften tatsächlich als Ausgleichsmechanismus wirkt" (ebd.: 83). Die Liste von Argumenten, die gegen positive Migrationseffekte sprechen, scheint jedoch endlos und scheinen das Dilemma, in dem die Bildung einer europäischen Solidarität womöglich erstickt wird, schonungslos aufzuzeigen. Zusammenfassend ist davon auszugehen, daß Differenzen in den Bereichen Sprache und Kultur (Münch 1999: 33), in der Bereitschaft zur Aufnahme Fremder vor allem durch hohe Arbeitslosenquoten und daraus resultierenden Rechtspopulismus (Habermas 1998: 69) sowie regionale Spezialisierungen auf ökonomischem Gebiet (Vobruba 1999: 83) ungeeignete Voraussetzungen für steigende Arbeitskraftmobilität in der Zukunft sind.
4.1. Europäische Identität über eine Reform der Institutionen - Fazit und Ausblick
Eine Möglichkeit, trotz dieser offensichtlichen Schwierigkeiten eine kollektive Identität in Europa herzustellen, liegt für Rainer M. Lepsius in einer Institutionenreform der Europäischen Union (Lepsius 1997). Dieser Schritt erscheint angesichts einer Erweiterung auf etwa 30 Mitgliedsländer sowieso sinnvoll, oder: ,,Wie stellt man sich eigentlich einen Europäischen Rat mit dreißig Staats- und Regierungschefs vor? Dreißig Präsidentschaften? Wie lange werden Ratssitzungen dann eigentlich dauern? Tage oder Wochen" (Fischer 2000: 756)?.
Ein fehlendes Vertrauen der Bürger in die Europäische Union könnten die Folge einer noch größeren Undurchschaubarkeit sein. Da Kollektivitäten sich in modernen Gesellschaften vor allem über gemeinsame Interessen formierten (Lepsius 1997: 949), sei die EU mit ihrem Status quo ein denkbar schlechter Institutionenapparat: Zuständigkeiten sind für die Bürger kaum nachvollziehbar; somit könnten auch Interessen auf europäischer Ebene nicht adressiert werden. Stabile Erwartungen der Bürger sind unwahrscheinlich, womit auch das Vertrauen in die Union schwinden kann. Das ergebe sich auch aus der Tatsache, daß die Nationalstaaten bereits ,,eine Menge an Kompetenzen der EU-Ebene abgetreten haben" (Vobruba 1999: 89).
Andererseits sind ganz bestimmte Politikbereiche geradezu ein Steckenpferd der Einzelstaaten. Für ein Mehr an Identifikation der Bürger mit der EU mit dem Ziel gegenseitiger Solidarität müßten die Regierungen der Mitgliedsländer allerdings große Einbußen vor allem ihrer sozialpolitischen Kompetenz hinnehmen. Aber: ,,Staatliches Handeln in diesem Bereich wirkt stark legitimierend, soziale Programme sind in besonderem Maße dazu geeignet, Popularität in einer Regierung sicherzustellen" (Göhring 1999: 57). Sollten die Nationalstaaten also weiterhin an ihrem Vorlieben festhalten wollen, würde der EU weiterhin ,,die notwendige demokratische Legitimation, um aus sich heraus eine Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen vorzunehmen" (ebd.) fehlen. Der Griff zu distributiven oder redistributiven Politiken bliebe ihr dadurch weiterhin versperrt. Blieben also die einzelnen Regierungen die sichtbaren politischen Zentren Europas, herrsche in der Union weiterhin ,,Konfusion zwischen dem politischen System und der Öffentlichkeit" (Vobruba 1999: 89). Der Wille, in derart Abstraktes auf einer nicht wahrnehmbaren supranationalen Ebene zu investieren, könnte weiter abnehmen und somit auch die Chance auf eine kollektive europäische Identität.24
Diese Identität ist gemäß der Vermutungen auch kaum zu erkennen. Nur 3 % der EU-Bürger fühlten sich Ende 1999 nur als Europäer; ganze 45 % identifizierten sich ausschließlich mit ihrem Nationalstaat; der Rest der Befragten fühlte sich entweder vorwiegend als Europäer und dann erst seiner Nationalität zugehörig (6 %) oder zuerst als Nationalstaatsbürger und zweitrangig als Europäer (42 %). Immerhin glauben 49 % aller Europäer an so etwas wie eine europäische Identität. (Europäische Kommission 2000a: 10ff.)
Aus diesen Zahlen läßt sich schwer ableiten, wie es mit Europa weitergehen wird. Daß der streng neoliberale Weg nicht der richtige sein kann, wird deutlich, wenn eine Gesellschaft mit - zumindest auf kurz- oder mittelfristige Sicht - immer mehr ökonomischen Verlierern den Glauben in die EU vollends aufgibt. Ein komplexer Ansatz - ohne die Scheuklappen des Neoliberalismus mit dem Vorbild der wirtschaftsliberalen USA - ist mit Sicherheit der vielversprechendere. Die Chancen für einen europäischen Sozialraum mit dem Ziel eines zufriedenen Lebens der EU-Bürger stehen aufgrund mangelnder Identifikation mit Europa aus verschiedenen Gründen aber nicht sehr gut. Schon gar nicht, wenn wir berücksichtigen, daß sogar auf nationalstaatlicher Ebene Solidaritätsgedanken unter Druck geraten und Autonomiebestrebungen größer werden. Wir müssen dabei nur an den umstrittenen Länderfinanzausgleich der Bundesrepublik denken, an die nationalstaatliche Trennung von Tschechen und Slowaken sowie an den blutigen Terror in Spanien. Den Aufbau einer europäischen Regierung, wie ihn Joschka Fischer vorgeschlagen hat (Fischer 2000: 756), halte ich aber dennoch für einen sinnvollen Weg in Richtung Harmonie und Gerechtigkeit.
Der Prozeß einer Verlagerung entscheidender Kompetenzen zur Entscheidung sozialpolitischer Fragen, müßten hierfür aber entscheidend forciert werden.
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[...]
1 Elmar Altvater beschreibt die gegenwärtige globale Ordnung als eine ,,,Neue Weltordnung` von Marktwirtschaft, Demokratie und US-amerikanischer Hegemonie" (Altvater 1999: 1075).
2 Vgl. hierzu: ,,Wie steht es ... um die ökonomischen Perspektiven Europas? Dazu erscheint ein Vergleich mit den USA als Referenzmodell sinnvoll. Wenngleich noch umstritten ist, inwieweit in den USA neue ökonomische Gesetze gelten, so erlaubt ein Blick auf die Triebkräfte der dortigen Wirtschaft wichtige Einsichten. Es zeigt sich, dass Europa bei vielen Aspekten schlechter abschneidet als die USA, der Rückstand jedoch kürzer wird." (Fels 2000: 40)
3 Vgl. hierzu: ,,Diejenigen, die sich gegen diese Tendenzen kritisch zu Wort melden, gelten als Traditionalisten, Bedenkenträger und Feinde des Fortschritts." (Altvater 1999: 1075)
4 Vgl. hierzu Paul Krugman in der FAZ auf die Frage, ob die Erfolge auf dem US- amerikanischen Arbeitsmarkt Erfolge der ,,New Economy" seien: ,,Was den Arbeitsmarkt betrifft, mag es auch andere Ursachen geben. Die amerikanische Erwerbsbevölkerung wird älter, wechselt schneller ihre Jobs, anderthalb Millionen arbeitsfähiger amerikanischer Männer tauchen nicht in unseren Arbeitsmarktzahlen auf, weil sie im Gefängnis sitzen." (FAZ vom 17.07.2000)
5 Aus deutscher Perspektive sei beispielsweise an die Liberalisierung des Telekommunikations- sowie des Strommarktes seit dem 01.01.1998 bzw. dem 24.04.1998 erinnert.
6 Die Skepsis über den Beitritt bestimmter Kandidaten in die Europäische Union ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Dabei fällt auf, daß bei Umfragen unter Bürgern der 15 Mitgliedsstaaten im Zeitraum März bis April 1999 der Beitritt eines wirtschaftlich relativ potenten Landes wie Norwegen von 71 Prozent der Befragten befürwortet wird; nur 13 Prozent sind dagegen. Ähnlich verhält es sich mit dem möglichen Beitritt der Schweiz (70 Prozent dafür, 14 Prozent dagegen). Der mögliche Beitritt ökonomisch schwächerer Staaten wie Rumänien oder Slowenien wird eher nicht befürwortet (Rumänien: 34 Prozent dafür, 42 Prozent dagegen; Slowenien: 34 Prozent dafür, 47 Prozent dagegen). Der durchschnittliche Gesamtwert für die Zustimmung zum Beitritt der neuen Länder in die EU betrug im Frühjahr 1999 42 Prozent bei den momentanen Mitgliedsstaaten der Union. (Europäische Kommission 2000a: 58f.)
7 Der Soziologe Richard Münch schildert die Problematik der ,,teuren Arbeit" regelrecht als Teufelskreis: ,,Hohe Arbeitskosten haben Rationalisierungsinvestitionen mit Arbeitsplatzabbau erzwungen, wodurch die Sozialkosten und damit die Sozialabgaben stiegen und die Arbeit wieder verteuert haben, was zu weiteren Rationalisierungsinvestitionen Anlaß gegeben hat." (Münch 1997: 35)
8 An dieser Stelle halte ich eine Begriffserläuterung für sinnvoll: Manfred G. Schmidt definiert Neoliberalismus als ,,eine wirtschaftspolitische Richtung, die in Weiterführung und Modernisierung des älteren Wirtschaftsliberalismus das Laissez faire-Prinzip durch die ordnungspolitische ... Aufgabe des Staates, den institutionellen Rahmen des Wirtschaftsprozesses auf marktkonforme Weise zu regeln, ergänzt" (Schmidt 1999: 646). Eingriffe des Staates in die Wirtschaft seien nur zulässig, wenn sie Kriterien der Marktkonformität erfüllten und der Wahrung der Freiheit der Wirtschaftssubjekte genügten. Schmidt erläutert also die ordnungspolitischen Vorstellungen von Walter Eucken, dem Begründer des Ordoliberalismus der ,,Freiburger Schule", und auch von Friedrich A. von Hayek, Euckens Lehrstuhlnachfolger. Letzterer sah die Freiheitsrechte der Wirtschaftssubjekte nur unter dem Vorhandensein einer Handelns- sowie einer Regelebene erfüllt, wobei staatliche Gewalt nur für die Regelebene zuständig sei und unter keinen Umständen auf der Handelnsebene eingreifen dürfe (Vanberg 1995: 189).
9 Vgl. hierzu: ,,Globalisierung bringt ihre eigene Ideologie hervor: Den Neoliberalismus." (Altvater 1999: 1075)
10 Die Adjektiv ,,konstruktiv" erscheint mir an dieser Stelle besonders wichtig, könnte man doch ansonsten davon ausgehen, die Kritik an der neoliberalen Position decke sich mit der bereits erwähnten pauschalen Globalisierungsantwort im Sinne Habermas`, die Globalisierung kategorisch ablehnt. Die hier später vorgestellten Positionen erfüllen dieses Kriterium keineswegs, sondern warnen vielmehr vor Globalisierungseuphorie und beziehen das Kriterium aktiver Politik zur Gestaltung von Globalisierung mit ein.
11 Zu liberalen Sozialstaaten wie USA: ,,,Liberale` Sozialstaaten heben das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit hervor und überlassen es überwiegend dem Markt, den individuellen Beitrag zum Sozialprodukt zu bewerten. Diskriminierungsverbote sollen die Fairneß in diesem Leistungswettbewerb unterstützen, aber die Arbeitsbeziehungen bleiben ansonsten weitgehend unreguliert." (Schmid 2000, Hervorhebung im Original)
12 Erwähnt wird die Fusion von Daimler-Chrysler. Wir denken auch an den Zusammenschluß von Deutscher Bank und Bankers Trust.
13 Dieter Wolf, ehemaliger Präsident des Bundeskartellamts, bestätigt das. Er relativiert zwar die Aussagen von Simon und Otte dergestalt, daß der Schwerpunkt der ,,Mega-Merger" immer noch in den USA liege, somit also keineswegs grenzübergreifender oder globaler Art sei, ,,aber die Zahl europäischer und transnationaler Fusionen nimmt zu" (Wolf 1999: 78).
14 Elizabeth Pond dokumentiert die geradezu gleichgültige Aktionärs-Mentalität der Deutschen (zweifelsohne vor dem Boom Ende 1999 bis Mitte des Jahres 2000) und setzt Zukunftsperspektiven im Sinne von Simon/Otte: ,,In Deutschland beträgt die Kapitalisierung des Wertpapiermarkts derzeit nur 38 Prozent des Bruttoinlandprodukts, während sie in den USA 138 Prozent ... erreicht. Nur sechs Prozent der Deutschen besitzen Aktien ...; in Amerika liegt der Anteil der Aktienbesitzer bei 21 oder fast 40 Prozent, wenn man die Investmentfonds mitzählt. [...] Doch die europäische Zurückhaltung wird sich ändern [...] Die über dreißig Börsen des Kontinents beginnen zu fusionieren und sich zu vergrößern. Sogar schon vor dem britischen Beitritt zur Währungsunion sind die große Londoner und die kleinere Frankfurter Börse eine Allianz eingegangen, die es möglich macht, Aktien an beiden Orten zu handeln. Die französischen, italienischen und spanischen Börsen warten darauf, sich diesem Bündnis anzuschließen." (Pond 2000: 288f.)
15 Der Prinzip der ,,schöpferischen Zerstörung" basiert auf der Theorie des österreichischen Nationalökonomen Joseph A. Schumpeter. Hiernach ist der Innovationswettbewerb der Motor der Volkswirtschaft schlechthin. Dabei soll - stark vereinfacht - folgendes Prinzip greifen: Produkt- und/oder Prozeßinnovation bzw. die Erschließung neuer Märkte verschaffen dem innovativen Unternehmer eine temporäre Monopolstellung, aus der er sogenannte Pionier- bzw. Vorsprungsgewinne ziehen kann. Gerade diese Vorsprungsgewinne stellen wiederum einen Anreiz für andere Unternehmer dar, ihrerseits durch erneute Innovation diese temporäre Monopolstellung des Marktführers zu schwächen oder aufzulösen, um danach ebenfalls in die Lage eine temporären Monopolisten zu kommen (Vanberg 2000). ,,Schöpferische Zerstörung" also das Ablösen von Produkten/Kombinationen, die den Wünschen der potentiellen Abnehmer nicht mehr entsprechen, wobei auch der neue Monopolist wieder die Verdrängung durch Innovationen anderer befürchten muß und dieser Prozeß somit nicht zum Stillstand kommt.
16 Auch Anthony Giddens betont, daß jede britische Regierung ,,auf der Suche nach Anregungen über den Atlantik schaut, nicht über den Kanal. Ihre Rhetorik ist amerikanisch, die sie bestimmenden politischen Einflüsse kommen aus Amerika; ihr politischer Stil ist amerikanisch" (Giddens 1999: 8).
17 Was ist unter einer ,,Blairisierung" der EU zu verstehen? - Vor allem die Politik des ,,dritten Wegs", die vorwiegend auf der Theorie von Blairs Berater Anthony Giddens gründet. Der ,,dritte Weg" in Kurzform ist die Verbindung von Markt und sozialer Sicherung: ,,Hauptanliegen der Politik des dritten Weges sollte ... die soziale Gerechtigkeit sein, wobei zu berücksichtigen ist, daß das Spektrum der Fragen, die innerhalb des Links-Rechts-Schemas nicht mehr beantwortet werden können, größer ist als je zuvor. Gleichheit und individuelle Freiheit können in Konflikt geraten, doch erweitern Maßnahmen zum Abbau der Ungleichheit oftmals den Handlungsspielraum des Einzelnen" (Giddens 1999: 81). Die eigentlich klare Gegenposition zum Neoliberalismus kündigt der ,,dritte Weg" aber auf, und zwar mit der Einschränkung, daß neue Erfordernisse auch Reformen im Sinne eines verstärkten Pragmatismus bedürften, denn: ,,Ideale sind leer, wenn sie sich nicht auf realisierbare Möglichkeiten beziehen" (ebd.: 12). Der Blick nach Großbritannien läßt dann auch Vermuten, Tony Blair verfolge die Ziele des ,,dritten Wegs" mit dem größtmöglichen Anteil dieses Pragmatismus, wenn er in Fragen von Arbeitsmarktflexibilität und sozialer Sicherung den Weg des neoliberalen ,,Thatcherismus" einfach weitergeht.
18 Der Schlußbericht des Europäischen Rates von Lissabon im März 2000 bestätigt Ziebura nicht unbedingt. Zwar stehen der finale Eintritt Europas in ein Informations- und Wissenszeitalter im Vordergrund des Berichtes. Alle Veränderungen der Union müßten aber so gestaltet werden, daß sie ,,ihren Wertvorstellungen und ihrem Gesellschaftsmodell entsprechen und auch künftigen Erweiterungen Rechnung tragen" (Europäischer Rat 2000: 1). Sozialer Desintegration sei vorzubeugen (ebd.: 2); beinahe ein Drittel des ganzen Berichts beschäftigt sich mit der Modernisierung europäischer Wohlfarhtsstaatlichkeit (ebd.: 8-13).
19 Vgl. hierzu: ,,Die Tatsache, daß es auch in Osteuropa (wie überall in der ,,Dritten Welt") hochgradige Informatikspezialisten gibt, ändert daran nichts. Diese Arbeitsplätze sind in den Weltmarkt einbezogen, bevor sie helfen können, die heimische Wirtschaft zu entwickeln." (Ziebura 2000: 704) Zu dieser Problematik kommt die fehlende Aufstiegsmöglichkeit aus der sozialen Peripherie hinzu, denn: ,,Wo sich die Exklusionen - von Beschäftigungssystem und Weiterbildung, von staatlichen Transferleistungen, Wohnungsmarkt, familiären Ressourcen usw. - bündeln, entstehen ,Unterklassen`. Diese pauperisierten und von der übrigen Gesellschaft weitgehend segmentierten Gruppen können ihre soziale Lage nicht mehr aus eigener Kraft wenden." (Habermas 1998: 68)
20 Zusammenfassend zu dieser Problematik: ,,Es entsteht ein doppelter Verteilungskonflikt, einerseits zwischen Zahlerländern und Empfängerländern und andererseits zwischen Alt- Empfängerländern (Süden) und Neu-Empfängerländern (Osten). Widerstand droht vor allem dort, wo die Verpflichtungen von Zahlerländern erhöht und aus Empfänger- nun Zahlerländer werden." (Vobruba 2000: 947) Die Europäische Kommission relativiert übrigens diese Auffassung. Das Handelsvolumen mit den Beitrittskandidaten auch in einer erweiterten EU sei ,,zu gering, um Preise in offenen Volkswirtschaften zu beeinflussen" (Europäische Kommission 2000b: 6). Einflüsse auf Löhne und Beschäftigung in den Altmitgliedsstaaten seien lediglich in grenznahen Regionen zu befürchten, da sich dort Exporteure und Importeure konzentrierten (ebd.: 7).
21 Vgl. hierzu: ,,Nur Idealisten glauben, dieser Prozeß (der Prozeß der Globalisierung, F.G.) sei steuerbar: ,global governance` oder ,komplexes Weltregieren`, wie die Formeln lauten, die an wohlmeinende Reißbrettkonstruktionen erinnern." (Ziebura 2000: 705) Oder: ,,Aus sozialwissenschaftlicher Sicht erscheint ein ,globales Wohlfahrtsregime` als eine schlechthin überschwengliche Idee." (Habermas 1998: 76)
22 Vgl. hierzu: ,,Die staatsbürgerliche Solidarität muß sich auf die Bürger der Union derart ausdehnen, daß beispielsweise Schweden und Portugiesen, Deutsche und Griechen bereit sind, füreinander einzustehen. Erst dann können ihnen gleiche Mindestlöhne, überhaupt gleiche Bedingungen für individuelle Lebensentwürfe und verschiedene kollektive Lebensformen zugemutet werden." (Habermas 1998: 74)
23 Dieses Argument leuchtet ein, wenn man sich vor Augen führt, daß der Handel zwischen den Beitrittskandidaten in Osteuropa und den Altmitgliedern der EU ,,im Zuge von Transformation und Integration in die Märkte der EU dramatisch gewachsen ist" (Europäische Kommission 2000b: 4). Die Exporte aus der EU in die osteuropäischen Staaten seien von 1988 bis 1998 um das 6,5fache gestiegen (ebd.). Diese Länder sind also schon heute wichtige Handelspartner, an deren ökonomischer Stabilität die Altmitglieder ein Interesse haben müssen.
24 Diese fehlende Investitionsbereitschaft zeigt sich bereits bei der Beteiligung der EU- Bürger bei der Wahl zum Europaparlament im Jahr 1999 nahmen nur 55 % der EU-Bürger Teil (Europäische Kommission 2000a: 82).
- Quote paper
- Florian Gediehn (Author), 2000, Europäische Fragen im Zeitalter der Globalisierung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100546
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