Inhalt
0. Einleitung
1. Der Differenzierungsansatz und die Systemtheorie - Luhmanns geistige Väter und Großväter
2. Evolutionsgeschichte(n)
2.1 Segmentäre Differenzie- rung
2.2 Stratifikatorische Differenzie- rung
2.3 Funktionale Differenzie- rung
2.3.1 Die Funktionsweise der Funktionssyste- me
2.3.2 Irritation und Strukturelle Kopp- lung
2.3.3 Die Irritation der Gesell- schaft
3. Probleme der Gesellschaft - Fragen an die Theorie
3.1 „Brave new world“ - Gesellschaft und Konflikt
3.2 Der Geltungsanspruch der Theorie und ihre Ziele - Schlussbetrachtungen
Literaturverzeichnis
0. Einleitung
Freuet euch des wahren Scheins, Euch des ernsten Spieles: Kein Lebendiges ist ein Eins, Immer ist ’ s ein Vieles.
(Johann Wolfgang von Goethe, Epirrhema)
Die vorliegende Arbeit hat den systemtheoretischen Ansatz Niklas Luhmanns zum Gegenstand und bezieht sich auf das ein Jahr vor seinem Tod herausgegebene Werk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“.
Zu Beginn der Arbeit soll ein kurzer Überblick über die geisteswissenschaftliche Geschichte der Begriffe „System“ und „Differenzierung“ erfolgen, bei der deren unterschiedliche Definitionen und Konkretisierungen anhand der für diese maßgeblichen Autoren und Werke umrissen werden.
Vor diesem Hintergrund sollen Luhmanns Erkenntnisse, die sich mit der Evolution ver- schiedener Gesellschaftstypen bis hin zur modernen Gesellschaft und der ihr eigenen Ausdifferenzierung in Teilsysteme beschäftigen, vorgestellt werden. Dies wird als not- wendig erachtet, da nur auf diese Weise ein Verständnis Luhmanns vielschichtiger und begrifflich komplexer Theoriebausteine für die nachfolgende Untersuchung entwickelt werden kann.
Die nachfolgende Problematisierung bezieht sich hauptsächlich auf die Behandlung der Frage, inwieweit die vorgestellte Theorie über die moderne Gesellschaft es vermag, zutreffende Aussagen zu entstehenden Konflikten, Krisenpotentialen und dem Auftreten von Dissens auf unterschiedlichen systemischen Ebenen der Gesellschaft zu formulieren und wie sich dies in das Luhmannnsche Konzept der „Weltgesellschaft“ einfügt Ob sich diesbezüglich Rückschlüsse auf den Geltungsanspruch und Empiriegehalt der Theorie ziehen lassen und wie weitere Vertreter aus den Reihen der Wissenschaft über Luhmanns Konzept der Systemtheorie insgesamt urteilen, ist das Erkenntnisinteresse des letzten Abschnittes dieser Arbeit Sämtliche Zitate Luhmanns innerhalb des nachfolgenden Textes beziehen sich unter Angabe der Seitenzahl auf die oben genannte und am Ende der Arbeit vollständig verzeichnete Schrift des Autors.
1. Der Differenzierungsansatz und die Systemtheorie -
Luhmanns geistige Väter und Großväter
„Seitdem es Soziologie gibt, befaßt sie sich mit Differenzierung.“1 So beginnt in dem hier behandelten Werk Niklas Luhmanns das Kapitel, das sich mit der Differenzierung der Gesellschaft auseinandersetzt. Im Folgenden soll ein kurzer (und wegen der Fülle der herzustellenden Bezüge in jedem Falle zur Unvollständigkeit verurteilter) Überblick über die geisteswissenschaftliche Geschichte der beiden Begriffe „Differenzierung“ und „Systhemtheorie“ sowie deren wichtigsten Vertreter gegeben werden.
Wurzeln und verwandte Gedanken der Luhmannschen Systemtheorie lassen sich bis hin zu Aristoteles (384-322 v. Chr.) zurückverfolgen, der mit den Werken „Politik“ und „Metaphysik“ trotz des nicht immer aufrechterhaltenen Argumentationsverlaufes die ersten richtungsweisenden Aspekte zum begrifflichen Apparat der aktuellen Systemthe- orie liefert.
Mit Nikolaus Kopernikus und Isaac Newton überträgt sich etwa im 17. Jahrhundert das Erkenntnisideal der Physik und Kosmologie, die sich anders als zuvor nicht mehr auf den Gottesbegriff beruft, auch auf die anderen Wissenschaften. Die natürliche Ordnung der Welt, besonders das planetarische Ordnungsmuster, wird als ein rationales System begriffen, das sich in der Naturwissenschaft wiederum als systematische Darstellung niederschlagen und offenbaren muß.
Immanuel Kant (1724-1804) ist als Höhepunkt der Aufnahme dieses Denkens in den geisteswissenschaftlichen Bereich zu würdigen. Er fordert in deren Reihen der Philoso- phie die Kunst des „Vernunftsystems“ und „insistiert darauf, daß wissenschaftliche Erklärungen stets mechanistischen Grundsätzen folgen“2, die dabei zum Teil allerdings auch an ihre Grenzen stoßen. Denn „die bildende Kraft und Spontanität der Organis- men, deren Teile nur durch ihr Verhältnis zum Ganzen möglich seien , unterscheide sich von der bloß bewegenden Kraft einer Maschine.“ Unweigerlich werden an dieser Stelle schon Bezüge deutlich, die sich nach der Lektüre von Maturana/ Varela3 und Luhmann in den Kategorien „allopoietisch“ und „autopoietisch“ kanalisieren lassen.
Johann Heinrich Lambert legt mit seinem 1787 erschienenen „Fragment einer Systema- tologie“ einen ersten Versuch vor, die Systemtheorie als etwas zu begreifen, das von allen besonderen Bezügen losgelöst ist. Eine ,folgenschwere‘ Schrift, die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Bertalanffys „General System Theory“ und später auch Luhmann mit seinem universaltheoretischen Anspruch der Theorie autopoietischer Sys- teme beienflussen soll. Bereits hier tauchen Klassifikationen von Systemen auf, die sich an den Kräften orientieren, welche diese binden, bereits hier trifft man auf „Systeme von Handlungen“ eines Volkes, einer Gesellschaft und einzelner Menschen. Adam Smith (1723-1790) und Karl Marx (1818-1881), die allerdings unterschiedlichen Bewertungsmustern folgen, sind wichtige Stationspunkte in der Erfassung und Orientie- rung des ökonomischen Bereiches. Letztgenannter spricht zukunftweisend von den verselbstständigten Zwangsmechanismen des „Systems des Privateigentums“. Herbert Spencer (1820-1906) und der von diesem inspirierte Emile Durkheim (1858- 1917) liefern jeweils wichtige Beiträge zur strukturellen Differenzierung der Gesell- schaft, zur Arbeitsteilung, zur Individualisierung und den damit einhergehenden Gefahren, schließlich zur funktionalen Interpendenz gesellschaftlicher Teilkomponen- ten. In ihrer Bedeutung werden sie in der von Niklas Luhmann 1985 herausgegebenen Schrift „Soziale Differenzierung“, die sich mit der Ideengeschichte des Begriffes ausei- nandersetzt, ebenfalls gewürdigt.
Max Weber (1864-1920) ist es schließlich, der als erster die Wichtigkeit des Hand- lungsbegriffes (am Individuum) erkennt, der sich bei Talcott Parsons (1902-1979) und dem frühen Luhmann als das Grundelement sozialer Systeme weiter herauskristallisie- ren wird. Mit diesen Handlungen verbindet Weber den Terminus eines jeweils „subjektiv gemeinten Sinnes“, der hinterher in der Theorie autopoietischer Systeme Luhmanns die Grundvoraussetzung für die Selbstreferenz von Systemen darstellt.
Die Mitte unseres Jahrhunderts wird von Ludwig von Bertalanffys und seiner allgemei- nen Systemtheorie4 beherrscht. Dieser orientiert sich wie später auch Luhmann zunächst an den Errungenschaft der (theoretischen) Biologie und fasst seine Theorie als interdisziplinäre Forschungsarbeit der Bereiche Naturwissenschaft, Gesellschaftswis- senschaft und Kulturwissenschaft auf. Ebenso geraten der Kommunikationsbegriff und die damit einhergehende „Codierung“ deutlich ab von den bisherigen Vorstellungen und rücken ins Zentrum des Interesses. An Bertalanffys Überlegungen knüpft schließlich die sogenannte „kybernetische Revolution“ an, die es wiederum ermöglicht, Erkenntnisse der Naturwissenschaften aus dem Blickwinkel der Geisteswissenschaft zu betrachten.
Zu den direkten Inspiratoren Luhmanns gehört der oben bereits erwähnte Talcott Par- sons, dessen Schüler Luhmann in den USA nach seiner Ausbildung und Tätigkeit als Jurist war, und der von diesem entworfene „Strukturfunktionalismus“. Von ihm übernimmt Luhmann einen Großteil des fachspezifischen Vokabulars. Die wichtigsten Unterschiede ihm gegenüber jedoch erstrecken sich darauf, dass nun mehr und mehr Kommunikationen statt Handlungen als Grundelement der sozialen Systeme angesehen werden, dass dem Begriff der Struktur der Begriff der Funktion vorgeordnet wird - Luhmann befasst sich demnach weniger mit der Frage, was die Gesellschaft in „ihrem Innersten zusammenhält“ - und dass Luhmanns Systeme von einer operativen Ge- schlossenheit charakterisiert werden, was Parsons deutlich weniger in den Vordergrund stellt.
Am Ende dieser Ideengeschichte stehen die Biologen Maturana und Varela5, die Luh- mann dahingehend beeinflussen, den Begriff der Autopoiesis in sein Gedankengebäude aufzunehmen und zu Beginn der achtziger Jahre die eigene „autopoietische Wende“ auszurufen.
2. Evolutionsgeschichte(n)
Für Niklas Luhman ist der Grad an gesellschaftlicher Ausdifferenzierung oberster Be- zugspunkt in der Fragestellung und den dazugehörigen Betrachtungen, an welcher Stelle in einer gedachten Linie der gesellschaftlichen Entwicklung eine bestimmte und zu be- stimmende gesellschaftliche Ausformung ihren Platz findet. Grundsätzlich unterscheidet er hierbei drei Entwicklungsstufen, die natürlich unter Miteinbeziehung von Mischformen, die sich jeweils am Ende einer Entwicklungsperiode6 als Über- gangs- und Zwischenstadium manifestieren im Folgenden beschrieben werden sollen.
2.1 Die segment ä re Differenzierung
Diese Form von Differenzierung ist bei archaischen Formen von Gesellschaftsbildung festzustellen und entsteht durch die Gliederung des Ganzen in grundsätzlich gleiche Teilbereiche - füreinander jeweils „Umwelten“ -, die in ihrer Gesamtheit betrachtet die Differenzierungsform „Familie“ als künstliche Einheit7 erschafft. Luhmann wendet sich hiermit gegen die vorherrschende Meinung, dass Gesellschaft durch Familienzusam- menschlüsse entsteht. Für ihn sind „Familie“ oder aber auch das „Territorium“ Bezugspunkte, nach denen sich diese Gesellschaftsform aufgliedert (differenziert), doch wird durch die Existenz der Gesellschaft, die Möglichkeit des menschlichen Zusam- menschlusses an sich, erst der Punkt erreicht, an dem sich eine sinnhafte Bedeutung für diese beiden Phänome ergibt.8 Die Position innerhalb der Gesellschaft ist für jedes Mitglied eine fest zugeschriebene.
Somit schließen sich für jeden ein sozialer Aufstieg, eine Karriere per definitionem aus.
Der Prozess der Differenzierung wird als rekursiv beschrieben. Die gleiche Art des Vorgehens (also die Unterscheidung nach den Kategorien „Verwandschaft“ oder als Alternative „Wohnort/ Siedlung“) wird bei neu hinzukommenden und aufzunehmenden Segmenten immer wieder angewandt. So können sich Größenordnungen von bis zu mehreren hunderttausenden Personen ergeben, die allerdings auf der Gesamtebene nur noch schwer in Verbindung treten und kommunizieren können, im Konfliktfalle bei- spielsweise. Doch treten selbst in solchen Notlagen recht schnell die engen Grenzen und Möglichkeiten ins Spiel, die das System in solchen Situationen beinhaltet. Zwar bietet das recht einfache Gesellschaftsmuster den Vorteil der relativ einfachen Reproduzier- barkeit, wenn es bereits zu einer Auslöschung eines Großteils der Gesamtgruppe gekommen ist, doch hält es keine Abwehrmechanismen bereit, um einem solchen Falle vorzubeugen. Zusammenschlüsse von mehreren Segmenten zur Kooperation sind nur in ihrem aktuellen Kontext zu betrachten. Selbst eine rudimentär ausgebildete Generalisie- rung der Erwartungen und der allgemeine Appell an Nichtbetroffene, sich mehr als einmal unterstützend zu beteiligen, ist immer wieder der Schwierigkeit unterworfen, keine universalgültigen Schlüsse und Regeln aus bestimmten Situationen ableiten zu können, die nicht nur akute Schadensbegrenzung, sondern auch auf die zukünftige Ent- wicklung zielende Verbesserung ermöglichten. Dies steht mit der offensichtlichen Multifunktionalität eines jeden in engem Zusammenhang. Wenn keine explizite Diffe- renzierung von Rollen geschaffen wird, wirken alle Segmente und auch alle Mitglieder dieser Segmente bei unterschiedlichen Situationen mit und können nur aus der jeweili- gen - häufig unterschiedlich erlebten - Position und Perspektive das Ganze betrachten. Einzig die allgemein gehaltene Maxime der Reziprozität - also Gleiches mit Gleichem zu vergelten - lässt sich als wiederkehrendes, internes Regulativ ausmachen.
Dies ist allen Konflikten und auch den Situationen, in denen Kooperation präferiert wird, gemeinsam.
Diesen systemimmanenten Schwierigkeiten zufolge nimmt die Bedeutung und die prak- tische Verwertbarkeit (die Funktionalität) von Zusammenschlüssen auch mit dem Umfang der Gesamtgruppe ab. Es besteht, abgesehen von einem gemeinsamen (Stam- mes-) Namen oder einem Entstehungsmythos beispielsweise, nicht Grund oder Veran- lassung dazu, ein darüber hinausgehendes Moment der Selbstbeschreibung mit in das Gesamtsystem zu integrieren, das es ermöglichte, einem „Fremden“, der weder durch verwandtschaftliche Abstammung noch durch den Ort seiner Herkunft mit der Gruppe verbunden ist, mit einer übergeordneten „Idee“ des Zusammengehörigkeitsgefühls statt mit Misstrauen und Feindschaft zu begegnen. Dies und der oben beschriebene Wechsel einer Person in eine vom System her betrachtete „fremde“ Position bedeuteten Unsi- cherheit.
Der Symbolgehalt von Grenzziehungen in den Systemgrenzen und außerhalb dieser ist demzufolge recht hoch besetzt. Allerdings treten bei einer Abgrenzung innerhalb des Systems gewisse Schwierigkeiten auf, die sich in der prinzipiell gleichen, also schwer zu unterscheidenden, Konstitution und Platzierung der Gruppen wie auch der Individu- en gründen.
„Fremdheit“ und „Nichtvertrautheit“ außerhalb der Systemzugehörigkeit werden nur schwer in das Alltagsleben integriert. Wichtiges Mittel, um Nichtbekanntes zumindest in seiner Existenz zu bestätigen und zu akzeptieren, ist die Welt der Magie. Mit ihrer Hilfe werden zwar Phänomene des Fremden laut Luhmann weniger erklärt, doch bietet sie in Form von Erzählungen, die von „magischen“ Begegnungen und Vorfällen han- deln, für die Mitglieder der Gruppe doch die Möglichkeit, eine andere Ordnung als die eigene in ihrem Dasein zu bestätigen und weniger furchtsam mit ihr umzugehen.
Da das Dasein der Gruppe sich fast ausschließlich im Bereich der aktuellen Erfahrbarkeit bewegt - die Schrift tritt als „Aufbewahrungswerkzeug“ für bereits erlebte Situationen und Handlungsmuster noch nicht auf den Plan - müssen soziale Foren geschaffen werden, auf denen Austausch und Tradierung von Erlebtem einen Platz finden. Dies können neben der alltäglichen Kommunikation nur Feste bieten.
Der Zeitpunkt, bei dem es offensichtlich wird, dass das System so nicht weiter existie- ren kann und sich fortentwickeln muss, ist nicht damit gesetzt, dass schrittweise die Eigenkomplexität erhöht wird. Dies geschieht optional und stellt somit keine „conditio sine qua non“ dar. So haben auch segmentär differenzierte Zusammenschlüsse Mög- lichkeiten, beispielsweise durch Heiratsbeschränkungen (Endogamie), die für die Gesamtheit ein Stück weit Sicherheit in der Sorge um die nachfolgende Generation bie- ten, durch Ausdifferenzierungen von alters- oder geschlechtsspezifischen Gruppen oder auch durch rudimentäre und keinesfalls für einen längeren Zeitraum institutionalisierte Rollenverteilung ihre Grundstruktur gewissermaßen zu verfeinern. Doch wird diese keineswegs dadurch in Frage gestellt.
Dies geschieht erst, wenn in einer extern motivierten Konfliktsituation offensichtlich wird, dass das eigene Ordnungsprinzip einer bereits (militärisch) organisierten Gesell- schaftsordnung unterliegen muss, oder aber, wenn es sich im Zuge von Veränderungen, die sich auf die jeweiligen Besitzverhältnisse beziehen, offenbart, dass das überall vor- herrschende Gleichheitsprinzip so nicht weiter aufrechterhalten werden kann. Luhmann nennt diesen Punkt in der Geschichte „Katastrophe“, der - ungeachtet seiner alltags- sprachlich motivierten negativen Konnotation - für ihn (ganz nach der griechischen Grundbedeutung des Wortstammes) einen „Umschwung“ beinhaltet.
Aus den beiden Differenzierungsmomenten „Territorialität“ und „Verwandschaftsbe- ziehung“ entstehen einerseits das Ordnungkriterium „Zentrum und Peripherie“ (vor allem evoziert durch Außenbeziehungen, speziell denen des Handels, durch die häufiger mit anderen in Kontakt stehenden Regionen schließlich eine größere Bedeutung zu- kommt) und andererseits daran anschließend das Differenzierungsprinzip der „Stratifikation“, die die Herauslösung einer „Oberschicht“ als ersten Schritt darstellt.
2.2 Stratifikatorische Differenzierung
Eine Gesellschaft, die das Muster der stratifikatorischen Differenzierung als Primat aus- bildet, akzeptiert zunächst explizite Reichtumsunterschiede verschiedener Schichten und reproduziert fortlaufend mit Hilfe von institutionalisierten (zeremoniellen und kommunikationspraktischen) Verhaltensweisen die vorherrschende Gesellschaftsord- nung der Rangdifferenz. Eine der wichtigsten Neuerungen gegenüber einer segmentären Gesellschaftsordnung ist die Ausbildung der Schrift. Das Augenmerk bei der Einord- nung eines jeden Individuums in seine ihm zustehende Schicht richtet sich auf die Herkunft und den Status des familiären Anhangs. Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen zwei verschiedenen Schichten werden (aus Sicht derjenigen, die „oben“ ste- hen) nicht mehr gebilligt.
Hand in Hand geht die Ausbildung einer stratifizierten Gesellschaftsordnung mit einem politischen Zentralismus, da die bisherigen „politischen“ Ordnungsleistungen segmentä- rer Gesellschaften (in Form von Häuptlingen) nicht allein durch die Ausdifferenzierung einer Oberschicht kompensiert werden kann. Der politische Zentralismus selbst wieder- um schafft ideale Voraussetzunegen für die spätere Ausformung des gesellschaftlichen Teilbereiches „Politik“ beim Übergang zur „funktionalen Differenzierungsordnung“.
Luhmann begrenzt sein Untersuchungsfeld auf das spätmittelalterliche-frühmoderne Europa. Dort, so sagt er, habe sich die Stratifizierung in ihrer reinsten Form manifes- tiert. Anders als im indischen Gesellschaftsystem, das mit seinem Kastensystem auf religiösen Grundvoraussetzungen fußt, ist hier der Grundbesitz als bedeutsames Mo- ment anzusehen, doch beinhaltet Stratifizierung nicht die Dekomposition des gesellschaftlichen Ganzen in unterschiedliche Teile, sondern in allererster Linie die al- leinige „Abspaltung“ einer Oberschicht, die entsprechend ebenfalls zunächst alleinverantwortlich durch das Mittel „Endogamie“ für eine „Schließung nach unten“ sorgt. Die Schließung gegenüber der Unterschicht setzt eine spezifizierte Selbstbe- schreibung, eine Sondersemantik der Oberschicht voraus. Die Unterschicht bleibt von diesem Prozess ersteinmal unbetroffen, da sie es nicht ist, die den Vorgang der Ausdif- ferenzierung initiiert und fördert. Dieses verstärkte Merkmalsbewusstsein ist der Grund, dass im historischen Rückblick in erster Linie die Oberschicht deutlich charakterisiert werden kann. Nur sie erreicht mit Hilfe von Genealogien beispielsweise ein gesondertes Selbstbewusstsein, das entsprechend dokumentiert und tradiert wird.
Betrachtet man die Oberschicht für sich allein, so ist innerhalb dieser das Homogeni- tätsprinzip nicht mit dem Ideal der Eintracht zu verwechseln. Allein schon das Erziehungsziel der „Eloquentia“ (am Vorbild der antiken Rhetorik) ist für Luhmann Indiz für ein nicht geringes Maß an Streitbarkeit. Homogenität ist hier gleichsam Chan- ce zur Kooperation wie auch Chance zur konfliktreichen Auseinandersetzung, was sich nicht zuletzt auch in der Regierendennachfolge resp. dem hohen Maß von politischer Rivalität zeigt.
Im letzten Kapitel wurde das Nichtvorhandensein von persönlicher sozialer Mobilität in segmentären Gesellschaften beschrieben und begründet. Dieser Punkt darf auch bei der stratifikatorischen Ordnung nicht vernachlässigt werden, da sich hierbei entscheidende Veränderungen ergeben. Mobilität ist hierbei gewissermaßen als Garant der Gesell- schaft und der ihr innewohnenden Regula anzusehen. Dies erklärt sich wie folgt: Zwar herrscht in allen Lebenslagen das Primat der Stratifizierung und der damit deutli- chen Abgrenzung zwischen „oben“ und „unten“ vor (so auch in den alltäglichsten und trivialsten Merkmalen wie der Kleidung, den Wohnverhältnissen bis hin zur rechtlichen Behandlung und Einzelprivilegierung), was mit dem jeweiligen durch die Geburt er- worbenen Status zusammenhängt, doch ist explizit festzuhalten, dass es sich bei der Gruppe der Oberschicht um eine zahlenmäßig unterlegene Gruppe handelt, die über ein hohes Maß an Ressourcen verfügt. Durch Adoption und sog. „Patron-Klientel“- Verhältnisse, die den Klienten früher oder später eine höhere soziale Position als Gegenleistung für beispielsweise eine treue Anhängerschaft zu ihrem Patron garantierten, können nicht nur auf gewollte, sondern vielmehr auf notwendige Weise die zu erwar- tenden demographischen Engpässe in der Oberschicht ausgeglichen werden. Denn nicht selten ergeben sich Luhmann zufolge in dieser durch Kriege und auch gewählte zöliba- täre Lebensführungen im „Berufs- und Berufungsfeld“ Kirche nicht zu unterschätzende Ausfälle im Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion durch Nachkommen. Selbst- verständlich müssen Kontrollmöglichkeiten geschaffen werden, die garantieren, dass solcherlei Maßnahmen nicht die Oberhand gewinnen und nach wie vor die „natürliche“ Form der Verteilung nicht durch „künstliche“ Hilfsmaßnahmen ersetzt werden. Weiter- hin muss gelten, dass die eigene soziale Position nicht durch willkürliche Selbstbeschreibung oder Fremdeinschätzung entsteht, sondern in festen, vorgeschriebe- nen Bahnen der Inklusion und Exklusion verbleibt. Sicherungsmaßnahmen dieser Art sind in der chinesischen Hochkultur, dass nur bestimmten Individuen der soziale Auf- stieg durch ein „sponsorship“ von „oben“ ermöglicht wird, und in Europa die Bestimmung, dass ein Mann niemals durch die Ehe mit einer „Höhergestellten“ sich deren Status erwerben kann.
So deutlich sich, wie oben erläutert, die Unterschiede zwischen der Ober- und Unter- schicht auch immer wieder manifestieren und manifestieren müssen, damit diese Gesellschaftsordnung auch weiterhin Bestand hat, so sehr hat allerdings auch das Mo- ment der Abhängigkeit, der „strukturellen Kopplung“ beider Schichten trotz ihrer Verschiedenheit oder vielleicht auch gerade wegen ihrer Andersartigkeit einen hohen Stellenwert. Luhmann beschreibt die Evolution der Gesellschaft zu „anspruchvolleren“ (das meint komplexeren) Formen von Differenzierung hin generell als Steigerung von Unabhängigkeit mit einer gleichzeitig damit in Kauf zu nehmenden erhöhten Abhän- gigkeit der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. Die institutionalisierte Form, die in einer stratifiziert geordneten Gesellschaft diese Kombination aus „Abhängigkeit“ und „Unabhängigkeit“ überhaupt erst ermöglicht, sprich: die Abhängigkeit kanalisiert und mit der Unabhängigkeit kompatibel macht, ist die des Haushaltes mit seiner ihm inne- wohnenden Beschaffungs- und Verteilungsfunktion.
Die Bedeutung des Haushaltes an sich für die Stratifikation der Gesellschaft ist Luh- mann zufolge kaum zu überschätzen. Innerhalb des Haushaltes stößt man zunächst auf die Eigenart, dass sich hier bis auf die exponierte Stellung des Hausherrn keinerlei Rangdifferenzierung mehr ergibt, die bei der Ehefrau, den Kindern und dem Gesinde Anzeichen von Andersartigkeit in bezug auf den sozialen Stellenwert im Inneren des Haushaltes erkennen lassen. Der Haushalt (nicht das Individuum) ist zwar die Einheit in der Gesellschaft, auf die sich die Stratifizierung bezieht, doch pflanzt sich diese nicht bis in die Details der Operationsweise im Haushalt selbst fort. Im Gegenteil, innerhalb der Grenzen zeigt sich eine relativ große Freiheit in der Interaktion zwischen den Haus- haltsmitgliedern, zu denen Angehörige verschiedener Schichten, Selbständige wie Unselbständige gehören. An den europäischen Fürstenhöfen zeigt sich dies ebenfalls an Gelehrtenkreisen und Künstlern, die per Ernennung ebenfalls Mitglieder des Hofes (also Haushaltes) sind. Diese Freiheit in der Interaktion ermöglicht es auch gerade in den Haushalten, die soziale Mobilität als Korrektiv gegenüber der natürlichen Zuweisung des persönlichen gesellschaftlichen Status anzusehen. Haushalte sind durch die Not- wendigkeit von Herrschaft und Ordnung einerseits und das Recht auf Unterhaltsversorgung andererseits auf eine normative Struktur angewiesen. Sie be- zeichnen keine Religionsgemeinschaft, die sich vorher noch in einer gemeinsamen Ahnenverehrung verdeutlichte, sondern beziehen sich auf ökonomisch (ganz nach der etymologischen Grundbedeutung des Wortes) notwendige Grundfunktionen. So be- schrieben kann der Haushalt mit seiner grundsätzlich unterschiedlichen Anlage kein Modell der Gesellschaft sein, was zuvor in der tribalen Gesellschaft noch der Fall war. Nun herrscht eine scharfe Trennung zwischen den Bereichen Politik und Ökonomik, dadurch werden Haushalt und Gesellschaft voneinander unabhängig. Letztendlich ist es gerade diese Unabhängigkeit der segmentär differenzierten Haushalte, die die Kanalisie- rung der wechselseitigen Abhängigkeit der Schichten ermöglicht.
Im weiteren Verlauf der Entwicklung wird die bipolare Grobunterscheidung von Ober- und Unterschicht mehr und mehr verfeinert. Es bilden sich ein hoher und ein niedriger Adel aus, eine künstliche, zeremonielle Rangunterscheidung; und durch das unter- schiedliche Ansehen verschiedener Berufe findet ebenso die Distinktion im Volk ihren Niederschlag. Diese Verfeinerung der Unterschiede mag unter anderem auch mit der oben beschriebenen erhöhten sozialen Mobilität zusammenhängen und erhält laut Luh- mann vor allem im Bereich der Eheschließung eine Bedeutung. Wenn die Gesellschaft (und auch ihre Teilbereiche) nicht Individuen als ihre Grundlage ansieht, sondern laut Luhmanns These aus „Kommunikationen“ besteht, so ist es einsehbar, dass die soziale Mobilität nicht der Beweggrund sein kann, der auch in dieser Gesellschaftsordnung schließlich zur „Katastrophe“ und zur Umwandlung in eine neue Ordnung führt. Mobi- lität heißt in diesem Zusammenhang für das jeweilige Individuum, das im Zuge der Mobilität (zumeist) nach oben steigt, nichts anderes als die „Sprache“ und die Konven- tionen, die die neue soziale Position mit sich bringt, zu erlernen und sich zu eigen zu machen.
Der Umschwung in ein neues gesellschaftliches Ordnungssystem vollzieht sich nicht gewaltsam, durch eine Revolution beispielsweise, oder nach einem Plan, sondern ganz unmerklich und harmonisch. Erstes ausschlaggebendes Element ist hierbei der Über- gang zur Geldwirtschaft. Mehr und mehr werden die Schwachpunkte des Systems deutlich, die sich darin zeigen, dass nicht derjenige, der den größten Besitz vorzuweisen hat, auch der Begabteste sein muß, wenn es um politische Entscheidungen geht. Auch die ererbte Position im Bereich von Ämtern verdeutlicht mehr und mehr, dass es für das Fortbestehen des Systems nicht von Vorteil sein kann, Aufgaben nur nach dem durch die Geburt erworbenen Status, doch überwiegend ungeachtet der jeweiligen Fähigkeiten zu verteilen.
Die ersten Veränderungen, die sich auf die Umstellung zur Geldwirtschaft zurückführen lassen, bemerkt der Adel, da sich damit mehr und mehr eine Entwertung der Differenz zwischen Adel und Volk manifestiert.
Die sich daran anschließende Ausformung von Teilbereichen, die nun gleichsam als „Expertenkreise“ zur Lösung von funktionsspezifischen Fragestellungen auf den Plan treten, ermöglicht Effektivitätsmaximierung.
2.3 Funktionale Differenzierung
Diese neue Art der Differenzierung wurde in nicht geringem Maße durch die Anlage und den Aufbau der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft begünstigt. Die in der Oberschicht gebündelten Ressourcen (wie Geld, Macht und Wahrheit) er- möglichten oft deren innovative Einsetzung , so Luhmann, sofern sie nicht kirchlich gebunden waren.
Schritt für Schritt erwächst aus den mangelnden Koordinationsmöglichkeiten und innerfunktionalen Schwierigkeiten, die sich aus der bisherigen Vorgehensweise ergaben und die von der bisherige Gesellschaftsform noch toleriert wurden, die Einsicht, dass eine grundsätzliche Aufspaltung der unterschiedlichen Arbeitsvorgänge in unabhängige, funktionale Teilbereiche zu mehr Effektivität führt.
Eine neuartige Kombination von Universalismus und Spezifikation wird hierbei von Luhmann konstatiert. Zum einen erhält nun jeder Teilbereich die Aufgabe, sich um alle Belange und Fragestellungen zu kümmern, die mit seinem, ihm eigenen, Sachgebiet in Verbindung stehen, und zum anderen hat nicht mehr jeder Zugang zu dem einem be- stimmten Themengebiet zugeordneten Entscheidungs- und Arbeitsprozess - die Arbeit erfolgt unabhängig. Musste die Gesellschaft zuvor noch mit verschiedenen Währungs systemen, verschiedenen Machtbildungsprozessen oder verschiedenen Wahrheitsan sprüchen umgehen, so können diese nun innerhalb der jeweiligen Teilbereiche geprüft und aufeinander abgestimmt werden.
Der Zeitpunkt, zu dem erstmalig Tendenzen zu einer solchen Entwicklung in den west- lichen Ländern bekannt und benannt werden , liegt für Luhmann im Dunkeln und ist weniger von Interesse. Ebenso die Frage, warum es gerade die westlichen Länder wa- ren, die diese extrem unwahrscheinlich Möglichkeit in der Evolutionsgeschichte genutzt haben.
Zunächst stellt er fest, dass die Fragen, die sich um das Sachfeld „Politik“ gruppieren, etwa im fünfzehnten Jahrhundert immer weniger von dem Bereich Religion und dessen Zugriff entfernen. Im sechzehnten Jahrhundert ist es der Buchdruck, der den Bereich „Wissenschaft“ selbstständig werden lässt, da die damit verbundene Dokumentation der wissenschaftlichen Erkenntnisse auch zu einem erhöhten Austausch der Ergebnisse und damit auch an Reflexion und Objektivität führt. Für die Lösung der Folgeprobleme, die mit der Abspaltung der Teilbereiche von dem religiösen Weltbild in engem Zusammen- hang stehen, wird immer mehr ein wiederum selbstständiger Teilbereich aktiviert - das „Recht“. Diese Umformungsprozesse und die Ergebnisse, die schließlich an deren Ende stehen, schaffen im Bereich der „Politik“ den „Territorialstaat“. Der Bereich „Wirt- schaft“ entsteht und mit ihm die bis in unser Jahrhundert aktuell bleibenden Spannungen zwischen den Überbleibseln der stratifikatorischen Ordnung und der Macht der Märkte resp. der universal verwendbaren Ressource „Geld“.
Innerhalb dieses Komplexes und seiner Grenzen operieren nun die jeweiligen Teilsys- teme, andere Grenzen (stratifizierende Elemente), die im Inneren zuvor noch deren Bedeutung und Wirkung beschnitten und einzudämmen vermochten, fallen.
Es entwickeln sich (auf der Ebene der Individuen) explizite Verhaltens- bzw. Interakti- onsmuster, die von Luhmann als Rollenkomplementaritäten bezeichnet werden, so zum Beispiel: Konsument/ Produzent, Regierung/ Untertan, Lehrer/ Schüler. Zwar machen sich immer noch Tendenzen bemerkbar, die die neu entstandene Ordnung von selbstständig operierenden Teilsystemen der Gesellschaft eindämmen wollen (so z.B. der Versuch der Politik, das Wirtschaftssystem und seine Entwicklung durchzupla- nen, der Versuch der Religion, mittels „Zensur“ den Bereich „Wissenschaft“ und seine Publikationen zu zähmen), doch Luhmann konstatiert hierfür nur Erfolglosigkeit, da sie Relikte der alten Ordnung sind und nur das Unvermögen gerade der Politik und der Religion darstellen, sich „beweglich“ in den neuen Evolutionsstatus der Gesellschaft ein- zufügen9.
Seit dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts geschieht die Ablösung der unter- schiedlichen Teilsysteme von der bis dato vorherrschenden Ordnung gezielt und Luhmann definiert diesen Prozess am Ende unseres Jahrhunderts als abgeschlossen10.
2.3.1 Die Funktionsweise der Funktionssysteme
Wie sieht nun die Existens- und Verfahrensweise dieser konsolidierten Systeme innerhalb der Gesellschaft aus?
Triebfeder für das Enstehen der funktionalen Teilsysteme ist die höhere Geschwindig- keit in der Verarbeitung von Informationen, die erweiterte Möglichkeit, mit Komplexität von Informationen umgehen zu können. Dies wird mit dem Verzicht auf die bisherige Multifunktionalität der an einem Arbeits- und Entscheidungsprozess betei- ligten Ebenen erreicht.
Jedes Funktionssystem repräsentiert die Gesellschaft, allerdings nur in seinem Funkti- onsbereich. Die Struktur eines Teilbereiches ist mit nichts gleichzusetzen, was in der systemexternen Umwelt existiert. Umwelt, das ist für das jeweilige System nicht nur die Gesamtgesellschaft, das sind auch andere Teilsysteme und schließlich konkrete Men- schen, also alles, was in der systemeigenen (expertenhaften) Arbeitsweise als inkompetent angesehen werden muss. Der Mensch, ein (nicht nur ) psychisches System ist zwar Bestandteil aber nicht Grundlage der jeweiligen Teilsysteme - somit auch nicht der Gesellschaft. Dies leitet sich daraus ab, dass ein Mensch niemals nur einem Teilsys- tem zugeordnet werden kann, da immer kraft der dem Menschen zugesprochenen Rationalität (der Inklusion in ein System, Irrationalität als Exklusion aus einem System) parallele Teilnahme an unterschiedlichen Systemen vorausgesetzt werden muss. Grund- lage und konstituierendes Element von Systemen schlechthin sind Kommunikationen.
Die Systeme sind autopoietisch, operativ geschlossen und besitzen Selbstreferenz, was im Wesentlichen erst einmal die wahrgenommene Differenz zwischen den eigenen systeminternen Operationen und dem für das System undurchschaubaren „fremden“ Äußeren, der Umwelt, meint.
Die Luhmannschen Teilsysteme der Gesellschaft sind weder hierarchisch noch teleolo- gisch konzipiert, denn dies bedeutete unweigerlich bei einem bestimmten Punkt (der Erreichung des selbstdefinierten Zieles) den Stillstand des Systems und die Aufgabe des Existenzprinzips der „Autopoiesis“, sprich: der Möglichkeit, sich mit Hilfe von wie auch immer gearteten Anschlusskommunikationen (ob antizipiert oder den Erwqartun- gen zuwiderlaufend ist irrelevant) immer wieder neu den vorgegebenen Aufgaben mit Hilfe der systemeigenen Arbeitsweise zu stellen und diese zu „lösen“. Zwar erhält ein System nicht aus sich selbst heraus und um des eigenen Bestandes willen seine „Exis- tenzberechtigung“, denn Orientierungspunkte für diese und die dem System eigene, zu erfüllende Funktion müssen immer die konkreten Fragestellungen und Bedürfnisse der Gesellschaft bleiben, doch muss damit eingestanden werden, dass vom Zeitpunkt der Ausdifferenzierung eines Systems dieses mit Operationselementen zu arbeiten beginnt, die nur noch innerhalb des Systems „Sinn“ machen, und darum doch zum Selbstzweck (da sonst überflüssig) eingesetzt werden.
Das Mittel, mit dem ein Funktionssystem sich Aufgaben nähert und diese bearbeitet, ist sein ihm eigener bipolarer „Code“, der im direkten Zusammenhang mit den Begriffen „Programm“ und „Medium“ und als deren Grundlage zu sehen ist. Mit Hilfe des Codes, der sowohl einen Wert wie dessen Gegenwert beinhaltet, erhält ein System die Mög- lichkeit, einen Sachverhalt (das kann eine Information, eine Kommunikation, schließlich jede Datenmenge sein, auf die das System trifft oder mit denen es „gefüttert“ wird) zu beurteilen und als „Oszillieren zwischen einem positiven und einem negativen Wert“11 wahrzunehmen. Das System Wissenschaft beispielsweise arbeitet strikt nach der primären Leitcodierung „wahr/ unwahr“ und erreicht damit die grundsätzliche Auf- nahme in ein nötiges, wiederum systemeigenes Kontingenzschema der Bewertung. Kontingenz meint an dieser Stelle grundsätzlich, dass jede Datenmenge sich in bezug auf ihre Beurteilung zwischen zwei gegensätzlichen Rasterpunkten bewegt. So identifi- ziert, kann es von einem System wahrgenommen und weiterverarbeitet werden. Auch hiermit wird die autopoietische Existenzform des Systems bestätigt, denn in der grund- sätzlichen Ambiguität des zu Beurteilenden liegt immer die Möglichkeit, Anschlusskomunikation (nach der durch das System vollzogenen Bewertung) herzustel- len, die wiederum den Gegenwert der Datenmenge postulieren kann12. In der praktischen Arbeitsweise der Systeme muss hiernach ein Regulativ auftauchen, das die Zuordnung zu einem Wert oder dessen Gegenwert als „richtig“ oder „falsch“ be- schreibt. Dies leisten Programme. Um auf das Beispiel des Systems der Wissenschaft zurückzukommen: Hier lautet das Programm „Theorien und Methoden“, die sich in je- dem Falle per definitionem dem Medium (das heißt der in der Funktionsweise präferier- ten Alternative der Codemerkmale) beugt. Somit sind alle Grundlagen dieses Systems vorhanden, und es kann zu seiner „Funktion“ innerhalb der Gesellschaft kommen, die in diesem Falle „Erzeugung neuen Wissens“ lautet. Gleiche Prämissen gelten bei den Teilbereichen Wirtschaft, Politik, Religion, Erziehung, selbstverständlich jeweils mit einer anderen, unverwechselbaren Art des Bezuges und der Vorgehensweise. Die eigene Arbeitsweise reflektieren die jeweiligen Systeme mit dem Mittel der Beo- bachtung. Allerdings ist es nicht möglich, auf direktem Wege Beobachtung zu vollziehen, denn jedes System weist diesbezüglich einen störenden „blinden Fleck“ auf. Die Lösung des Problems stellt die „Beobachtung zweiter Ordnung“ dar. (Beispielswei- se wird das System Politik durch die Öffentlichkeit „beobachtet“ und beurteilt, dieses wiederum beobachtet die Öffentlichkeit mit Hilfe von Meinungsumfragen und erhält somit die Möglichkeit, Rückschlüsse über die eigene Arbeits- und Wirkungsweise zu ziehen und sich daran künftig zu orientieren.)
2.3.2 Irritation und Strukturelle Kopplung
Wenn zuvor davon gesprochen wurde, dass die Systeme in einer funtional differenzier- ten Gesellschaft „autopoietisch“ (der biologischen Definition von Maturana und Varela nach also selbsterzeugend und unterhaltend, im Gegensatz zu „allopoietisch“) sind und operativ geschlossen, so impliziert dies zwar ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, was die Daseins- und Arbeitsform aller gesellschaftlichen Teilsysteme betrifft, doch muss auch hier (wie bei der Stratifikation als Differenzierungsgrundlage einer Gesellschaft) ein im Vergleich zu anderen Differenzierungsformen erhöhtes Vorkommen an „Abhän- gigkeit“ konstatiert werden. So existieren die Systeme nicht wie „fensterlose Monaden“ im luftleeren Raum, sondern weisen aufgrund ihrer Konstitution Faktoren auf, die eine, wenn man so will, „Input-/ Output-Leistung“ ermöglichen. Dazu ist die Unterscheidung des Begriffes „Funktion“ von der gesellschaftsrelevanten „Leistung“ von Wichtigkeit, denn erstgenannte bezieht sich nur auf systeminterne Vorgänge und die Selbstreferenz. Die Leistung, die ein System erbringt, hängt entscheidend mit dem Begriff „kognitiver Offenheit“ und dem der „strukturellen Kopplung“ zusammen. Die kognitive Offenheit (im Gegensatz zur operativen Geschlossenheit) bezieht sich auf den Bedarf an Daten, die das System für sein Vorgehen benötigt und aus der systemexternen Umwelt bezie- hen muss, sonst käme es zum Stillstand. Zum Begriff der strukturellen Kopplung führt ein Umweg über den Begriff der „Irritation“.
Systeme lassen sich nicht steuern (denn alles, was an Kommunikationen aus anderen Systemen in die eigenen Systemgrenzen dringt, wird als „Rauschen“ wahrgenommen), das wurde oben festgestellt, doch kann es in dem von außen eintreffenden Datenfluss zu störend wahrgenommenen Misstönen kommen, die, wenn auch nicht geplant, doch ent- scheidend bei der Quantität und Qualität der Systemleistung Einfluss nehmen können. Dieses nennt Luhmann „Irritation“ und meint damit einen „Systemzustand, der zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen des Systems anregt, dabei aber, als bloße Irritation, zunächst offen läßt, ob dazu Strukturen geändert werden müssen oder nicht“13.
Der seit einiger Zeit vieldiskutierte „Qualitätspakt“ aus den Reihen der Politik - dem „System“ der Politik (mit Luhmann gesprochen) - wirkt sich beispielsweise störend auf die bislang eingespielte Arbeitsweise der Hochschulen aus, was sich in der gesell- schaftsrelevanten Leistung des Wissenschaftssystems (Bereitstellung neuen Wissens) quantitativ und qualitativ - das lässt die Bezeichnung bereits vermuten - bemerkbar macht. Luhmann zufolge (und auch real beobachtbar) ist die zweite Komponente der gewählten Bezeichnung irreführend und unbrauchbar, da es sich hier gewiss nicht um einen zwischen gleichberechtigten Korporateuren ausgehandelten Pakt handelt...
Es existieren systeminterne Möglichkeiten, diese von außen eindringenden Irritationen auszugleichen. Zudem ist durch die funktional differenzierte Ordnungsform und die damit einhergehende Komplexitätssteigerung eine deutlich beschleunigte Arbeits- und Reaktionsgeschwindigkeit gegeben, die solche „Erfahrungen“ rasch unaktuell werden lassen. Sollte es allerdings zu einem, wenn auch nur zeitlich begrenzten, Ausfall des jeweiligen „irritierten“ Systems kommen, so wird schnell deutlich, dass an dieser Stelle doch ein gewisses Machtpotential in Erscheinung tritt. Ein System, das mit einer hohen Versagens- resp. Ausfallsquote aufwartet, dominiert, da dessen Leistung nirgendwo kompensiert werden kann. Weil keinesfalls antizipiert werden kann, was für Auswir- kungen in welchem Maße in einem anderen System eine bestimmte Irritation hervorruft (die zudem noch von der Umwelt gar nicht als solche aufgefasst werden), haben sich in der Praxis Vereinfachungen in Form von Appellen und Schuldzuweisungen eingebür- gert. Diese Vereinfachungen müssen allerdings mit einem nicht geringen Anteil an Enttäuschungen „bezahlt“ werden, da sie nicht die jeweilige Selbstbeschreibung der Adressaten in Rechnung stellt14. In dem Ausmaß, in dem ein System sich auf diese un- erfüllten Erwartungen mittels seiner Schließung und der Anschlussfähigkeit seiner Kommunikationen einstellt, wird deutlich, dass hierbei die Evolutionsgeschichte zeigen wird, welches funktionale Teilsystem der Gesellschaft „überlebensfähig“ ist. Wichtig in diesem Punkte ist auch, dass es niemals die „Umwelt“ an sich ist, die irritierend wahrgenommen wird. Deutlich tritt hier das Verursacherprinzip (also die Identifizierung und Lokalisation der Störquelle) auf den Plan, da sonst ein etwaiger Lernprozess nicht in die Wege geleitet werden könnte.
Ein wichtiger Unterschied im Vergleich einer an Stratifikation orientierten und einer funktional differenzierten Gesellschaft wird daran deutlich, dass sich bei der erstge- nannten kaum Kommunikationen finden lassen, die sich nicht eindeutig an der Stratifikation orientieren. Bei der modernen Gesellschaft hingegen findet sich eine Viel- zahl an Kommunikationen, bei denen das Problem der Zuordnung aktuell wird. Nicht mehr die Person, die etwas zum Ausdruck bringt, und nicht mehr der Gegenstand der Kommunikation an sich liefern ein vorgezeichnetes Muster für die Einordnung. Es bleibt der Kommunikation selbst überlassen, durch verdichtete Referenzen gewisse Sensibilitäten hierfür zu erschaffen. Auch dies liegt in dem Wirkungsbereich von struk- turellen Kopplungen, ohne die das System der funktionalen Differenzierung auf der Ebene besonderer Korporationen und Organisationen zum Stillstand gekommen wäre. Für ein Teilsystem gibt es jeweils eine Vielzahl von „institutionalisierten“ strukturellen Kopplungen, wobei keine eine Vormachtsstellung einnehmen kann. Beispiele dafür sind
a) die Verbindung von Politik und Wirtschaft durch Steuern und Abgaben, die auf der Wirtschaftsseite die Verfügung eines Anteils der finanziellen Ressourcen einschränken, um ihn auf der Politikseite wiederum als Möglichkeit, damit zu operieren in Erscheinung treten zu lassen,
b) die Verbindung von Politik und Recht durch die Verfassung, die politische Amtsin- haber dazu zwingt, sich an sie zu halten („zumindest aber sich doch wissentlich, wenn der Fall eintritt, über diese hinwegzusetzen,“ möchte man in Anlehnung an gewisse alt- bundeskanzlerischen Auslegungen derselben ausrufen...), und das Rechtssystem mit Innovationen politischer Gesetzeseinbringungen und deren Weiterverarbeitung konfron- tiert,
c) die Verbindung von Wirtschaft und Erziehung mittels Zeugnissen und Zertifikaten, die der Wirtschaft in standartisierter Form einen Überblick über die Fähigkeiten und Kenntnisse der Absolventen liefern und die Wirtschaft wiederum indirekt mit der Mög- lichkeit versehen, einen gewissen Einfluss auf die Gestaltung von Lehr- und Lernplänen zu nehmen, mit dem sie ihre konkreten Bedürfnisse und Wünsche, die sich auf das Kenntnisspektrum zukünftiger Bewerber beziehen, zum Ausdruck bringen kann.
Ein interessante Ausnahme in der Frage der strukturellen Kopplung stellt laut Luhmann das System „Religion“ dar.
Als Fazit der Ausführungen zur strukturellen Kopplung lässt sich somit formulieren, dass sie als Einrichtung von jedem der beteiligten Systeme in Anspruch genommen wird, allerdings von jedem in verschieder Art und Weise. Somit entstehen Irritationenen. Zweitens ist die hohe gesellschaftliche Relevanz der strukturellen Kopplungen zu betonen, die bisweilen geradezu das Hauptaugenmerk bei der theoretischen (wissenschaftlichen) Gesellschaftsdefinition auf diese lenkte, so dass Begriffe wie „Wissensgesellschaft“ ihren Einzug in die Forschungsliteratur fanden.
2.3.3 Die Irritation der Gesellschaft
Das Problem der Irritation findet sich nicht nur auf der Ebene der gesellschaftlichen Teilsysteme, sondern auch auf der der gesamtgesellschaftlichen. Wiederum die westliche Welt ist es bei Luhmann, die ins zentrale Blickfeld rückt, wenn es um den meistenteils positiv besetzten Begriff der Innovation geht15, der schließlich ebenso als negative Nicht-Bestandserhaltung von Traditionen gedeutet werden kann. Die Gesellschaft ist in diesem Punkt als irritiert über die eigene Irritation und Störanfälligkeit anzusehen und hat ebenso wenig wie ihre ausdifferenzierten Teilsysteme eine NormalNull-Marke, zu der sie hernach wieder zurückkehren könnte.
Eine zweite Bezugsebene der funktionalen Differenzierung wird hieran deutlich: Neben der bislang beschriebenen Leistungsmaximierung tritt eine nicht zu unterschätzende Sensibiltätsmaximierung. An diesem Punkte treten die Probleme der modernen Gesell- schaft ins Blickfeld. Schlagworte, die immer wieder und selbst in alltäglichen Kommunikationszusammenhängen unter diesem Gesichtspunkt auftauchen, sind „Ü- berbevölkerung“ (durch die Leistungsmaximierung des Gesundheitssystems), „Umweltschäden“ (durch die Leistungsmaximierung des Wissenschaftssystems) und „Individualisierung“ (durch den Wegfall zentral steuernder Bezugs- und Orientierungs- punkte).
Vergangenheiten werden rasch (wie oben am Beispiel der Irritationen gezeigt) bedeu- tungslos, das führt dazu, dass nun weniger eine Orientierung an räumlich und zeitlich invarianten (Kultur-)Phänomenen stattfindet, sondern eher an kurzlebigen Modeerscheinungen und Trends16.
Auch Werte lassen sich vor diesem Hintergrund nur problembehaftet erfassen. Luh- mann zufolge ist ihre Grundlage nicht darin zu sehen, dass sie reale oder real anzustrebende Gesellschaftszustände beschreiben. Sie werden vielmehr von jedem Sys- tem in erster Linie negativ als Begründungsdefizit wahrgenommen. Ihr einziger Sinn kann demnach nur noch darin bestehen17, jedem System einzeln in einer ihm verständli- chen Sprache und zeitlich begrenzt zu verdeutlichen, wovon es abweicht. Damit geraten sie allerdings mit ihrem postulierten zeitlich und räumlich invarianten Geltungsanspruch in Konflikt.
Wenn es keine zentralen Mechanismen gibt (die für Parsons noch existierten), die eine Gesellschaft in diesem Punkte vor dem Zerfall bewahren, ist eine andere Problemlösung in Bezug auf die Rationalität der Irritationsverarbeitung dringend gefordert. Kann sich eine Gesellschaft intern auf ihre Umwelt einstellen? Oder vielleicht auch nur auf die Veränderungen, die sie selbst in dieser erzeugt?
Luhmann fordert eine adäquate Problemlösung, doch ist diese für ihn noch nicht in Sicht.
Er konstatiert ein Wiederaufkeimen altbekannter „harter Grenzen“, die Identitätsbildung vorgaukeln. Durch Migrationsphänomene, die sich mit einer regional unterschiedlichen Erfolgsquote funktionaler Teilsysteme erklären lassen, rücken ethnische Unterschiede wieder ins Blickfeld und werden zu Fremdenhass. Ähnlich ist der Fall bei Wiederbele- bung religiöser fundamentalistischer Strukturen gelagert. Die Folge ist das Auftreten von Gewalt, die Luhmann als „kommunikatives Ereignis ersten Ranges“ bezeichnet, da sie in der Absicht entsteht, Furcht zu erzeugen18. Als Triebfeder für die genannten „Rückfälle“ ist immer wieder die gewollte Demonstration von Unbeirrbarkeit, von als real existierend angesehener (aber faktisch nicht vorhandener) Unanfälligkeit für Stö- rungen zu beobachten.
Die akademische Behandlung dieses Themenkomplexes (die Ethik) richtet sich seit je- her erfolglos19 an das einzelne Individuum. Diese Erfolglosigkeit ist in Zusammenhang mit dem Umstand zu bringen, dass Werte nicht Gegendstand von Kommunikation sind. Sie werden jeweils als unverrückbare Prämissen vorgestellt, die nicht diskutierbar sind, da sie sonst auf den Status einer Behauptung „absinken“ würden. Ebenso gibt es bei der Vielzahl von Werten keine festgelegte Hierarchie, die im Konfliktfalle konkrete Priori- täten und damit Mechanismen zur Komplexitätsreduzierung böten. So kommt es, dass Werte am laufenden Band kompromittiert werden, was sich wiederum dem Gedächtnis des Gesellschaftssystems einprägt.
Anders als zuvor sieht Luhmann hier keine schnell unrelevant werdenden Strukturen, denn hier tritt ein Fall ein, der auf lange Sicht hin aktuell bleibt. Ist dies erkannt, so wird ebenfalls klar, dass sich in der wiederholten Konfliktsituation und der wach bleibenden Erinnerung daran die jeweiligen Gegner (reflektiert, da als bekannt vorausgesetzt) als immer dieselben erscheinen und sich das Aktions-/ Reaktionsmuster immer auf eine Nullsummenlösung zubewegt, also entweder Sieg oder die totale Niederlage.
Wenn nun eine ethische Orientierung auf individueller Basis keine Erfolge verzeichnet, so kommen nur noch andere Ebenen der Gesellschaft in Betracht.
Doch je mehr über diese Probleme der funktionalen Ausdifferenzierung kommuniziert wird, desto mehr scheint ein Gefühl der Hilflosigkeit um sich zu greifen. Das Fehlen einer zentralen Instanz für Problembeseitigungen verurteilt die Gesellschaft an sich zur Handlungsunfähigkeit. Nur die gesellschaftlichen Teilsysteme treten bei auftauchenden Problemen in Aktion, doch sind auch sie in ihrer Leistung durch Irritationen beschnitten.
Diese Irritationen tauchen auch nicht zuletzt durch die Differenz der globalen Konzepti- on der Funktionssysteme (hin zu einer Weltgesellschaft) und der immer noch territorialen Orientierung der verschiedenen Regionen der Erde auf. Bei der Betrachtung der verschiedenen Regionen, räumt Luhmann ein, lassen sich eindeutig Widersprüche zur Theorie der funktionalen Differenzierung ausmachen. Die jeweils festgestellte Rati- onalität der global angelegten Funktionssysteme und der regionalen Praxis ist eine äußerst unterschiedliche. Die globale Orientierung gibt keinerlei Ziele oder Normen an, die in den einzelnen Regionen geprüft und bearbeitet werden könnten, vielmehr kommt es zu Fluktuationserzeugungen gewisser Zentren (häufig die des Finanzsystems), die sich auf die Regionen verlagern und dort zur Notwendigkeit in der jeweils verschiede- nen (da die Gegebenheiten und Vorbedingungen von Region zu Region unterschiedlich sind) Selbstorganisation führen. Häufig wird die Entwicklung und Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme durch das Beharren auf territoriale Besonderheiten behindert. Es gilt nicht, dass das Primat der funktionalen Differenzierung aus sich selbst heraus, durch das Prinzip an sich, schon gesicherte Selbstrealisation ist, vielmehr werden global Strukturen vorgezeichnet, die Vorgaben für wiederum regionale Vorgaben darstellen. Diese Vorgaben werden bei Luhmann als Konditionierung eingeführt, und das Prinzip lässt sich somit als „Konditionierung der Konditionierung“ fassen. Die Folge ist dem- nach eine äußerst labile Abhängigkeit des gesellschaftlichen Evolutionsprozesses von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren, eine jeweils unterschiedlich verlaufende Eigendynamik, sprich eine extrem ungleiche Entwicklung, die in ihrer immensen Unwahrscheinlichkeit eine Begründung findet.
Gleichwohl stellt die schrittweise Entwicklung zur „Weltgesellschaft“ eine unabdingbare Notwendigkeit dar. Der Funktionsbezug fordert ständig und immer wieder aufs Neue die Überwindung territorialer Grenzen (beispielsweise bei der Bemühung um internationale Kredite, bei der Kopierung von Schul-/ Erziehungsmustern aus anderen Ländern etc.). Dieses wird nur noch durch die inzwischen weltweit rasant beschleunigte Entwicklung des erhöhten (da schneller und unkomplizierter gewordenen) Austausches von Daten und Kommunikationen begünstigt (Stichwort: „Internet“). Somit erscheint der Kampf gegen die Auflösung der Territorialgrenzen als aussichtslos.
Für Luhmann bleibt hier nur der vage Optimismus, dass die Probleme der modernen Gesellschaft durch eine „oblique Thematisierung in inkongruenten Perspektiven“20, sprich: in einer wie auch immer gefundenen und gearteten Verarbeitungsmöglichkeit der funktionalen Teilsysteme zu einer Lösung kommen. Dass diese sich als akut davon betroffen wahrnehmen, liegt auf der Hand, da sämtliche Probleme mit einem Überleben der Menschheit (der „Biomasse“ und deren Kommunikationen), ohne die an sich auch kein System mehr sich selbst autopoietisch am Leben erhalten kann, in Verbindung ste- hen.
3. Probleme der Gesellschaft - Fragen an die Theorie
An dem zuletzt aufgenommenen Punkt der Luhmannschen Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung soll nun die über den Text hinausgreifende Problematisierung einsetzen. Die Frage der „Irritation der Gesellschaft über ihre eigene Irritation“ ist angesichts der tagtäglich durch die Medienberichterstattung ins Blickfeld gerückten Konflikt- und Krisenpotentiale der modernen Gesellschaft eine Frage von immenser Wichtigkeit. Dies betrifft auch und vielleicht in erster Linie den Bereich der Wissenschaft resp. nach Luhmann das Wissenschaftssystem, will sie nicht als „Elfenbeinturmbeschäftigung“ angesehen werden und effektiv die von Luhmann definierte Leistung „Erzeugung neuen Wissens“ vorantreiben21.
3.1 „ Brave new world “ - Gesellschaft und Konflikt
Das Problem, mit dem moderne Gesellschaften behaftet sind, ist Luhmann zufolge das Problem einer hohen Komplexität. Um dieser Herr zu werden, bilden sich funktionale Teilsysteme aus. Diese stellen „Inseln der Ordnung“ im nicht überschauberen Umfeld der Unordnung dar. Doch ist dies keine umfassende Ordnung mehr, viele verschiedene Ordnungen existieren nebeneinander, so dass es zur Kontingenz von Ordnung kommt. „Nicht nur für eine systemtheoretisch orientierte Gesellschaftstheorie wird deshalb die Dynamik von Komplexität und Kontingenz zu einem Treibsatz gesellschaftlicher Evolution, den es zu kontrollieren gilt, [...]“22.
Eine umfassende strikte Ordnung einerseits, wie auch eine willkürliche Unverbunden- heit der gesellschaftlichen Teilaggregate, also das Chaos andererseits, wären gleichermaßen schadhaft, denn erstgenannte bedeutete den Stillstand des Systems, letz- tere eine unübersehbare Entscheidungs- und Ereignisvielfalt, eine Kontingenz ohne jede Möglichkeit zu einem planmäßigen und damit funktional effektiven Vorgehen. Evolutionsfähigkeit beruht nach diesen Überlegungen auf einer wechselseitigen „Infi- zierung“ von Chaos und Ordnung, von Zufall und Notwendigkeit. Eine Theorie der Gesellschaft, eine Beschreibung der Gesellschaft durch die Gesellschaft selbst, muss also im Bereich der Systemtheorie darin ihre Grundlage finden, „die Bedingungen der Möglichkeit dynamischer, entwicklungsfähiger Gesellschaftsordnungen zu analysie- ren“23.
Die relative Vielfalt der Möglichkeiten, die sich in der modernen, funktionaldifferenzierten Gesellschaft finden lassen, bietet zugleich diesen Überlegungen zufolge die Chance zu Konflikt und Kooperation. Gleich, welche Ebene der Gesellschaft (ob die der psychischen Systeme, der Interaktionssysteme, der Organisationssysteme oder der Funktionssysteme) in einem bestimmten Fall ins Blickfeld des Interesses rückt, glaubt man den Grundlagen der Konflikttheorie24 und überträgt diese in das Theoriegebäude Luhmanns, wirkt sich immer das Zusammenspiel der Erwartungen der jeweils Beteiligten ausschlaggebend für den jeweiligen Ausgang einer Situation aus.
Die unterschiedlichen Operationslogiken und Systemrationalitäten implizieren die Unmöglichkeit eines gegenseitigen Verständnisses. Da alle Systeme sich untereinander als „black boxes“ präsentieren, wie Luhmann immer wieder betont, geraten Erwartungen in dieser Hinsicht zusätzlich unter Druck.
Hieran entzündet sich nicht zuletzt seit Mitte der siebziger Jahre die Kontroverse zwi- schen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, da erstgenannter die in seiner „Theorie kommunikativen Handelns“25 kategorische Bevorzugung von Konsens (gegenüber Dis- sens) aus der Sicht des letztgenannten unzureichend begründet oder hinterfragen lässt. Luhmann konstatiert an dieser Stelle nur eine jeweils gültige Binnenmoral, die gegen- über den jeweils in anderen Systemen vorherrschenden Moralvorstellungen indifferent sind. Nach seiner Ansicht kann sich allenfalls ein Gesamtinteresse darin zum Ausdruck bringen, dass sämtliche Kommunikationen (denn daraus bestehen Luhmanns Systeme) anschlussfähig bleiben. Dieser Anschlussfähigkeit sind keinerlei Attribute der Konsens- fähigkeit beigegeben, gerade der Dissens sei es vielfach, der Kommunikation (Auseinandersetzung) als Aufforderung in sich trage und Innovationen ermögliche. Je- doch auch in dieser Sicht der Dinge lassen sich Schwachstellen ausmachen, denn wie Habermas einen Konsens unterstellt, nimmt Luhmann als Vorgabe die Anschlussfähig- keit der Kommunikation an. Ob auf der Ebene der bereits vollzogenen Systembildung, oder sei es, dass ein neues soziales System gerade dabei ist, sich auf der Ebene eines Interaktionszusammenhanges zu formieren resp. sich auszudifferenzieren, die Frage der Anschlussfähigkeit vermittelt letztlich ebenso die Frage, wann die im Einzelfalle rele- vanten Kommunikationen und Strukturen noch oder schon in der Position sind, dass sie weiterhin oder erstmalig für andere von solchem Belang sind, dass eine (weitere) gesell- schaftliche Relevanz diagnostiziert wird und nicht von außen betrachtet als funktionslos erscheint. Schließlich spricht Luhmann immer wieder davon, dass „die moderne Gesell- schaft mit sich selber beschäftigt“ [ist]. „Sie tut [...] alles, um ihrer selbst willen.“26. Wie oben beschrieben, überlässt es Luhmann schlicht der Evolutionsgeschichte, ein Urteil über die Überlebensfähigkeit eines Systems zu fällen. Wenn ein System bereits existiert und sich ,bewiesen‘ hat, bestehen zwar systemexterne Abhängigkeiten (z. B. in Form von strukturellen Kopplungen, vgl. das oben Gesagte), die verhindern, dass ein ausdifferenziertes Teilsystem sich von seiner ursprünglichen Funktions- und Leistungs- prämisse entfernt (und so tatsächlich in der Einschätzung der umgebende Umwelt gegebenenfalls ,unbrauchbar‘ wird), doch muss immerhin die Möglichkeit eines mit der Umwelt konfligierenden Selbsterhaltungsinteresses in Betracht gezogen werden kön- nen.
Es stellt sich die Frage bei wechselseitigen Zumutungen an die Selbstvariierungsbereitschaft im Dissensfalle (denn Luhmann sieht vor, dass es im Konfliktfalle zu Strukturveränderungen, zu einem gewissen Grad an Umweltanpassung, innerhalb des „auffällig“ gewordenen Systems kommen muss), welche Situationsdefinition und welche Erwartung warum dominant wird.
Die Funktionalitätsprämisse herrscht in allen Belangen der (Teil-)Systementstehung und -aufrechterhaltung vor, doch was passiert, wenn es Systeme gibt, die sich dagegen ver- wahren?
Im Folgenden soll der Fall angenommen werden, dass es zunächst ein Interaktionssystem ist, das in Konflikt mit der gesellschaftsweiten Funktionalitätsprämisse gerät. Luhmann konstatiert allgemein eine relative Unempfindlichkeit des Gesamtsystems gegenüber Bestehen und Vergehen einzelner (Sub-)systeme. Anders als in einem korporalistischen Selbstverständnis der Gesellschaft gilt in erster Linie gerade nicht die Aussage: Wenn ein Teil leidet, werden alle anderen in Mitleidenschaft gezogen. Dies ist die Ansicht aus der Makroperspektive, die Luhmann, so entsteht der Eindruck, der Mikro- und Mesoebene der Gesellschaft vorzieht.
Von „unten“ betrachtet gestaltet sich die Ansicht wie folgt: Damit ein Interaktionssys- tem sich überhaupt als ein die schnell in Vergessenheit geratende Aktualität27 überdauerndes Geschehen begreifen kann, müssen zwei Bewährungsebenen durchlau- fen werden: Erstens muß es Stabilität28 beweisen, hier findet eine erste Vorsortierung statt, daran schließt sich eine Integration oder Inklusion29 bestimmter und in dieser Form schon erfolgreicher Interaktionen in die Gesellschaft an, was als zweite Selektion in Erscheinung tritt. Diese zweite Barriere ist so zu verstehen, dass die Gesellschaft die erfolgreiche Einzelinteraktion bzw. die in einem Kontext erfolgreiche Interaktionsform so stark entspezifiziert, formalisiert und und von ihren kontingenten Entstehungsbedin- gungen abstrahiert, dass sie als Modell für andere Interaktionssysteme dienen kann. Diese scheint nun aber so etwas wie gesellschaftliche Funktionalität der seligierten In- teraktionsform vorauszusetzen. Durch die Doppelung der Selektion kann Luhmann an der oft vorgebrachten These festhalten, Gesellschaft differenziere sich im strengen Sin- ne selbst funktional ohne mit ordnenden Normvorgaben operieren zu müssen. Unklar bleibt allerdings, was mit denjenigen Interaktionsformen geschieht, die sich auf der ers- ten Ebene als zuverlässig behaupten konnten und dennoch nicht von der Gesellschaft selegiert werden (wie zum Beispiel kirchliche Interaktionen in atheistischen Staaten wie der ehemaligen DDR).
Die Frage stellt sich auch unter dem Aspekt, den Luhmann als Verhältnis von Gesellschaftssystem und Interaktionssystem definiert. Dies stelle weder ein Verhältnis zwischen einem Ganzen und seinen Teilen noch als gegenseitige Interpenetration dar, sondern Interaktionen seien Episoden30, diachrone Strukturierungen des Prozesses von Gesellschaft, die mithin an sich selber bereits Gesellschaft darstellen. Dann nämlich ist das Problem transformiert in die Frage, ob interaktionsstabile Interaktionsformen untergehen, wenn sie nicht in das Formenreservoir der Gesellschaft übernommen werden, oder ob sie nur dann interaktionsstabil sind, wenn sie auch übernommen werden. Letzteres widerspricht offensichtlich der beschriebenen Doppelung der Selektionen, das erste schließt den problematischen Fall definitorisch aus.
Dem Problem kann man sich in unterschiedlicher Art nähern: Unterstellt werden könnte eine sehr starke Gebundenheit des jeweiligen gesellschaftlich nicht integrierten (da dys- funktionalen) Interaktionssystems an seine ursprünglichen Entstehungsbedingungen. Damit würde es sehr stark an seinem ursprüngliches Niveau festgehalten, auf dem es selbst für den weiteren Bestand sorgen muss und sich demzufolge die Evolutionschan- cen verringern. Ferner ist darauf zu verweisen, dass für Luhmann jegliches basale kommunikative Element der Gesellschaft als ein konstituierendes infrage kommt (ob funktional, dysfunktionale oder funktionslos ist gleich). Dies kann allerdings nur dann gelten, wenn man Luhmanns zweischneidigen Begriff der Gesellschaft akzeptiert, der einerseits alles, was Kommunikation darstellt, umfasst und andererseits die je konkret präsente Komplexität von sozialen Ermöglichungsbedingungen für einzelne Interaktionen bedeutet. Dann nämlich kann sich ein Interaktionssystem zwar gegen bestimmte gegenwärtige Charakteristika der Gesellschaft, die Einschränkung bedeuten, wehren, nicht aber gegen die Gesellschaft schlechthin.
Unweigerlich entsteht allerdings an dieser Stelle der Eindruck eines Zirkelschlusses, zusammenhängend mit der ambivalenten Definition von Gesellschaft. Doch nicht nur die vorzugsweise von Luhmann beobachtete Makroebene spielt dabei eine Rolle, denn ein weiterer Kritikpunkt der von Luhmann entworfenen Theorie tritt bei dieser Frage ins Blickfeld: die immer wieder durchscheinende Beschränkung Luh- manns, nur Wert auf die Beschreibung der Entwicklung der modernen westlichen Gesellschaften zu legen31. Dort ist es tatsächlich im Laufe der Zeit zu der risikolosen Möglichkeit, Dissens gegenüber der Gesellschaft zu äußern, gekommen - risikolos, da diese Dissens als Innovation auffasst und in ihr Strukturgefüge einpasst. Dies ist aller- dings nicht überall auf dem Erdball so. Sind diese Gesellschaften, in denen Dissens (häufig gewaltsam) unterbunden wird, in denen die Autonomie der gesellschaftlichen Teilsysteme nicht garantiert ist, wobei diese nicht selten sich selbst in ihrer Funktion behindern und damit gesellschaftsweite Probleme ökonomischer, ökologischer, iuristi- scher und politischer Natur schaffen, noch auf dem Weg in ihre weltgesellschaftliche „Moderne“? Oder gilt vielmehr auch an dieser Stelle das hier wohl zynisch klingende Argument, dass es sich in der Moderne schließlich in allen Belangen um „Unterschiede“ und „Unterscheidungen“ drehe, also auch immer um die Unterschiede zwischen „erster“ Welt und dem „Rest“?
Oberdorfer32 spricht von einem Dilemma: „Entweder muß die Theorie der funktionalen Differenzierung verdeckt Normativit ä t [...] beanspruchen, so daß Systeme die funkti- onsdifferenzierte (und sich zur Weltgesellschaft universalisierende) Gesellschaft als die vorgegebene Voraussetzung ihrer Selbstreproduktion in Rechnung stellen müssen, [...] oder sie begreift die Funktionsdifferenzierung als so weich und variabel, daß damit zwar jedes Verhalten sozialer Systeme erfaßbar ist, daß dadurch aber gerade die Theorie moderner Gesellschaft für die Orientierung der Selbstreproduktion konkreter Systeme belanglos zu werden droht“, denn Akzeptanz wie Ignoranz des Funktionsgefüges ge- genüber der momentanen Gesellschaftsordnung ist dann möglich und auch abhängig von den einzelnen Systemen. Das Gesagte kann ebenfalls für jeweilige gesellschaftliche Gesamtsysteme gelten.
Auch Jürgen Bellers33 nähert sich diesem Problem in Anlehnung an Luhmanns Begriff der Weltgesellschaft: „Für ihn“ (gemeint ist Luhmann) „ist Weltgesellschaft vor allem konstituiert durch ein weltweites deutliches Vorherrschen kognitiver, adaptiver, lernbe- reiter Erwartungen, während normative, Moral prätendierende und vorschreibende Erwartungen zurücktreten. [...] Bei dieser Änderung der Erwartungsstruktur, [...], wird jedoch nicht geklärt, inwieweit sie generalisierbar für die Internationale Politik ist.“ Bellers wirft Luhmann eine „impressionistische und deduktive“34 Argumentationsweise vor und konstatiert ebenso, dass „wohl nicht in allen Weltbereichen von einer derartigen Lernbereitschaft gesprochen werden“ könne35.
Abschließend richtet er sich ebenfalls gegen die Ausage Luhmanns, dass es in der weltweiten Entwicklung in absehbarer Zeit und heute bereits erkennbar zu einem Zu- rücktreten der Bedeutung der territorial fixierten Einzelstaaten36 komme. Er argumentiert, dass aus jetziger Sicht der Nationalstaat „weiterhin dominant“ das Welt- geschehen und das System der Politik bestimmen wird, da er mit seiner erst rund 200 Jahre alten Geschichte eine relativ junge Erscheinungsform darstellt und aufgrund sei- ner Konstitution eine anwachsende Bedeutung erhält, indem er „zusätzliche Aufgaben und Funktionen beim Management“ der internationalen Interpendenzen übernimmt. Entscheidend ist für Bellers außerdem die Rolle der Organisationssysteme auf nationa- ler und internationaler Ebene, die Luhmann durchgehend weit weniger beachtet. Organisationssysteme könnten an dieser Stelle als die entscheidenden, vermittelnden Positionen im Gesamtsystem betrachtet werden, die es ermöglichten, Konflikt- und Kri- senpotentiale in angemessene Bahnen der Problemlösung zu transferieren und den Grundstein für eine funktional erheblich effektivere Kooperation zu legen.
Die hier angeschnittenen Fragen und Probleme sollten zeigen, dass Luhmanns Theorie- gebäude aus der Sicht eines ,Beobachters‘ zumindest Fragen offen lässt, die sich auf die konkrete Handhabung akuter, gesellschaftlicher Phänomene wie beispielsweise Kon- flikten und regional unterschiedlichen Entwicklungsmerkmalen beziehen. Was Luhmann neben der mit Sicherheit überzeugenden Darstellung vergangener und moder- ner Gesellschaftsordnungen und ihrer Entwicklung zur Zukunftsproblematik der Gesellschaftsordnung und deren Lösungsansätze sagt, soll im letzten Abschnitt dieser Arbeit im Zentrum des Interesses stehen.
3.2 Der Geltungsanspruch der Theorie und ihre Ziele - Schlussbetrachtungen
Im System der Wissenschaft, speziell der Soziologie und ihrer Gesellschaftsforschung, stellt sich selbst gemeinhin die Aufgabe, „gesellschaftliche Ordnung zu beschreiben, zu erklären und zu kritisieren“37. Inwiefern wird Luhmann dieser Aufgabenstellung ge- recht? Oder anders gefragt: Inwiefern will er dieser Aufgabe gerecht werden? Ausgehend von der Frage, wie Luhmann seine Theorie verstanden wissen will, ist an dieser Stelle auf die Bedeutung der „Beobachtung zweiter Ordnung“38 einzugehen, was damit auch auf den Geltungsanspruch der Theorie rekurriert. Ein Beobachter geht, so Luhmann, immer mit Hilfe einer Unterscheidung vor, doch ist er sich dieser spezifi- schen Unterscheidungsprämisse niemals bewusst. Eine Beobachtung an sich enthält somit stets einen für sie spezifischen „blinden Fleck“. Eine Beobachtung zweiter Ord- nung, also eine Beobachtung einer Primärbeobachtung kann, diesen blinden Fleck der ersten wahrnehmen, doch verschiebt sich das Problem nur nach hinten. Zwar kann jetzt bewusst gemacht werden, dass es immer einen blinden Fleck geben muss, was bereits einen Fortschritt darstellt, doch kann dieser auch auf einer höheren Beobachtungsebene niemals eliminiert werden, so dass es folglich nicht zu einem höheren Geltungsan- spruch, einer vollständigen, ,wertfreien‘ Beobachtung ohne jegliche Selektion kommen kann, da auch hier jeweils eine Unterscheidung das konstituierende Fundament der Be- obachtung bildet.
Damit muss auch die Wissenschaft, speziell die Soziologie und ihr Anspruch, eine Be- schreibung der Gesellschaft liefern zu können, ein neues Selbstverständnis erschaffen. Zwar „weiß die Soziologie mehr, als eine Gesellschaft ohne Soziologie wissen wür- de“39, doch kann das Attribut „kritisch“ in dieser keinesfalls Kritik und Mahnung an geselllschaftlichen Zuständen und Phänomenen bedeuten, sondern vielmehr Kritik an dem eigenen Beobachtungsinstrumentarium. „Ferner führt dieses Programm unaus- weichlich zu einem ,konstruktivistischen‘ Wissenschaftsverständnis.“40, da nunmehr das autologische Verhaftetsein in der Gesellschaft eingestanden und reflektiert werden muss. So erscheint für die Beobachtung zweiter Ordnung, für die Soziologie und auch für Luhmanns Theoriegebäude „ die Welt [...] als Konstruktion über je verschiedenen Unterscheidungen“41, jegliche Kritik am Bestehenden ist ,befangen‘ und somit zum Scheitern und zur Nutzlosigkeit verurteilt.
Auch wenn Luhmann dies als idealen Ausgangspunkt für einen weiteren Dialog sieht und die Aufgabe der Wissenschaft darin sieht, dass „Sprachformen“ entwickelt werden, „die trotzdem eine Fortsetzung der Kommunikation ermöglichen“42, bleibt ein äußerst unbestimmter Eindruck dem Rezipienten vorbehalten, der den „intentionalen Akteur vom Schlage eines Subjekts“43 vermisst.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob es in der von Komplexität und Kontingenz geprägten Gesellschaft, die - das erkennt auch Luhmann an44 - verstärkt nach Werten und Identifizierungen sucht, wirklich überflüssig ist, eine konkrete Position zu beziehen und (die eingeschränkte Sicht- und Beobachtungsweise des sich Äußernden sei konzediert) Vorschläge für gesamtgesellschaftliche Verbesserungen zu äußern.
Eine gewisse Vorliebe für die eigene Theorie auf Kosten von empirischer Rückversicherung wird nicht selten gegen Luhmann ins Feld geführt. So spricht Haferkamp45 gar davon, dass diese Art der Theoriebildung „Empirie-Vermeidung“ fördere.
Das in Jahrzehnten angewachsene und in vielen Schriften (resp. Zettelkästen) dokumen- tierte Gebäude der Systemtheorie zeichnet sich mit Sicherheit positiv durch Themenvielfalt, Experimentierfreude und „Schocktherapeutische Formulierungs- kunst“46 aus, was mitunter auch polemische Seitenhiebe in Richtung seiner Kollegen auf unterhaltsame Weise einschließt. Dies wird allerdings mit einer sich nicht gerade durch Benutzerfreundlichkeit auszeichnenden verbalen Ausarbeitung der Theoriebau- steine teuer bezahlt47.
Möglicherweise hält es Luhmann diesbezüglich mit dem Dichter Novalis, dem man bereits zu seinen Lebzeiten, dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, den Ausspruch zuschrieb: „Wer lange Zeit gelesen werden möchte, muß dunkel schreiben.“ In diesem Falle ist von einem vorerst nicht abreißenden Strom von Anschlusskommunikationen zu Luhmannns Werk auszugehen.
[...]
1 Luhmann, S.595
2 Müller, 1996, S. 29; vgl. Kap 1-3 für das hier Gesagte
3 Maturana, Humberton/ Varela, Francisco in Zeleny, Milan (ed.): „ Autopoiesis: A Theorie of living organization “, New York 1981
4 erstmalig 1950: „ General Sytem Theory: A new Approach to Unity of Science: Conclusion “ in Human Biology, Vol. 32, S. 336-345
5 vgl. Anmerkung 3
6 einer „Katastrophe“, vgl. Luhmann, S. 616
7 vgl. Luhmann, S. 634
8 „Es gibt immer schon Gesellschaft, bevor es Familien gibt“, Luhmann, S. 634
9 vgl. Luhmann, S. 764
10 vgl. Luhmann, S. 734
11 vgl. Luhmann, S. 749
12 „Was wahr zu sein schien, mag bei neuen Daten oder neuen Theorien revisionsbedürftig sein.“, Luhmann, S. 749
13 vgl. Luhmann, S. 790
14 vgl. Luhmann, S. 763
15 vgl. Luhmann, S.794
16 vgl. Luhmann, S. 765
17 vgl. Luhmann, S. 769
18 vgl Luhmann, S. 797
19 vgl. Luhmann, S. 797
20 Luhmann S. 801
21 Schön formuliert von Willke,1993, S. 88: „Die Problematik und die Konsequenzen von Wissenschaft in modernen Gesellschaften insgesamt machen es nicht gerade leicht, dem Vorwurf des Fachidiotentums zu entgehen und zu ent- gegnen.“
22 so Willke, 1993,. S.95
23 vgl. Willke, ebd., S. 97
24 vgl. Morton Deutschs vier Bedingungen zur Dynamik von Konflikten, dargest. in Bierbrauer, 1996, S. 163
25 explizit 1981
26 Luhmann, S. 1127
27 vgl. Luhmann, S. 1010 und öfter
28 vgl. Luhmann, S. 616 und öfter
29 vgl. Luhmann, S. 625 ff.
30 vgl. Luhmann, S. 818
31 vgl. Abschnitt 2 der vorliegenden Arbeit
32 in Krawietz/ Welker, 1992, S. 325/ 326, Hervorhebungen durch den Autor
33 in Gabriel, 1993, S. 174
34 ebd.
35 ebd.
36 vgl. Luhmann S. 158 ff. und öfter
37 Willke, 1993, S.95
38 s. bes. Luhmann, S. 1128 ff.
39 Luhmann, S. 1118
40 Luhmann, S. 1120
41 Luhmann, S. 1122
42 Luhmann, S. 1125
43 Krause, 1999, S. 79
44 vgl. das oben Gesagte
45 in Haferkamp/ Schmid, 1987, S. 62
46 vgl. Krause, a. a. O., S. 73
47 vgl. Krause, ebd., S. 80
- Citation du texte
- Wibke Stabla (Auteur), 2000, Niklas Luhmanns systemtheoretischer Zettelkasten - Eine zutreffende Metapher für die moderne Gesellschaft?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100428
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