LERNEN UND Entwicklung?
Einleitung:
Lernen (learning). Allgemeine und umfassende Bezeichnung für das Erwerben oder Verändern von Reaktionen (Verhaltensveränderungen) unter bekannten oder kontrollierten Bedingungen, sofern die Veränderungen relativ überdauernd ausfallen. Lernen kann auch ohne ein Wiedererinnern (recall, Remembering) stattfinden (z.B. bei dem Erwerb motorischer Fertigkeit) und sollte daher von Gedächtnis unterschieden werden. Hilgard und Bower definieren Lernen als einen „Prozeß, durch den eine Aktivität über ein Reagieren auf eine angetroffene Situation begründet oder verändert wird, vorausgesetzt, daß die Eigenheiten der Veränderung nicht aufgrund angeborener Reaktionstendenzen, Reifung oder vorübergehender Organismuszustände (z.b. Ermüdung, Drogen usw.) erklärt werden können.“ In dieser Definition erscheint Lernen als eine intervenierende Variable zwischen Ereignissen wie „Übung“ und den daraus resultierenden Verhaltensänderungen.
(Lernen als Definition aus dem Wörterbuch der Psychologie dtv Oktober 1968)
Theorien des Lernens
Die ersten Versuche, Lernen zu erforschen, gehen auf Aristoteles und die Assoziationstheoretiker der Neuzeit zurück. W. Corell (Lernpsychologie, Donauwörth 1967) unterschied im wesentlichen drei Lernarten, die sich als Theorien in der Lernpsychologie etabliert haben:
1.) Lernen als bedingte Reaktion (Reflextheorie)
2.) Lernen am Erfolg (Effekttheorie)
3.) Lernen durch Einsicht (Gestalttheorie)
In der Reflextheorie besteht Lernen in dem zeitlichen Zusamen treffen zwischen einem bedingtem Reiz (z.B. Glockenton) und einem unbedingten Reiz (z.B. Futter) der üblicherweise eine sofortige Reaktion (z.B. Freßtrieb) auslöst. Entsprechende Beobachtungen wurden erstmals von I. P. Pawlow (1849 - 1936) gemacht. Die Effekttheoretiker sehen den Faktor des Erfolges, der Zielorientierung oder der gezielten Verhaltensverstärkung als wesentliche Voraussetzung des Lernens. Neu ist in diesem lerntheoretischem Ansatz der Aspekt der Motivation.
Die Gestaltpsychologie faßt Lernen als einen Prozeß auf, in dem es gelingt, die Situation zu überschauen und im Sinne einer angemessenen Problemlösung umzustrukturieren. Die dadurch gewonnene Einsicht ermöglicht es, gelerntes zu verallgemeinern, zu unterscheiden und zu übertragen. Der wesentlichste Vorteil des einsichtigen Lernens liegt wahrscheinlich darin, daß es ökonomischer und dauerhafter ist.
Da der Mensch weniger instinktiv-gesichert ist als das Tier, ist seine Fähigkeit, lernen zu können, die Voraussetzung einer optimalen Verhaltenssteuerung und Anpassung an die Umwelt.
.Lernen und Gedächtnis - eine Zusammenfassung der „allgemeinen“ Sichtweise
Unter Lernen verstehen wir im allgemeinen Sprachgebrauch gewöhnlich soviel wie Übung oder Fleiß. Lernen ist jedoch mehr als eine willentliche Anstrengung und dient auch nicht nur dem Wissenserwerb.
Lernen beginnt schon in frühester Kindheit mit dem sogenannten „Spiellernen“.
Hierbei wird der Ernst der Leistung und die Freude am Tun vereinigt.
Viele Jahre bevor das Kind die sogenannte Schulreife erreicht, wird der Grundstein für seine spätere Schul- und Lernreife gelegt. Hierfür ist nicht ein hohes Anforderungsniveau unter Vernachlässigung des Spieltriebes vonnöten, sondern ganz im Gegenteil die Ausbildung jener Faktoren, die das Lernen erst ermöglichen und die Motivation zum Lernen aufrechterhalten unter Ausnützung des kindlichen Spieltriebes.
Es geht hierbei in erster Linie um ein gefestigtes Leistungsvertrauen das nur in einem Erziehungsklima entstehen kann, welches die natürliche Neugier des Kindes fördert und fordert. Das Neugierverhalten ist ein „Grundbedürfnis“ und kann wahrscheinlich als (Vor-) Form des Lernens betrachtet werden. Im Alltag wird diese Neugier des Kindes (z.b. im Fragealter) als Aufdringlichkeit abgetan bzw. nicht befriedigt. Der Vorgang des Lernens ist nicht direkt beobachtbar, sondern kann nur an der Leistung des Behalten’s und an Verhaltensänderungen abgelesen werden. Lern und Gedächtnisfunktionen sind kaum voneinander zu trennen. Entgegen der früher weit verbreiteten Annahme, einmal gelerntes kann wieder völlig vergessen werden, vertritt die Lernpsychologie heute die These, daß das Vergessen eigentlich nur die Folge von Überlagerung und Vermischung von Lerninhalten ist und die Bewußtwerdung derselben durch Hemmungserscheinungen erschwert wird. Eine andere bedeutsame Theorie, die der psychoanalytischen Schule besagt, daß Vergessen nur ein Prozeß ist, in dem peinliche und vom „Ich“ nicht akzeptierte Vorstellungsinhalte aus dem Bewußtsein verdrängt werden (Verdrängungstheorie).
Lernen zur Zeit Wygotski“
Zur Zeit Wygotskis war die Auffassung vertreten, daß Lernen und Entwicklung zwei von einander unabhängige Vorgänge sind. der Prozeß der Entwicklung wurde als Prozeß dargestellt, der Naturgesetzen unterworfen ist und nach dem Prinzip der Reifung verläuft; das Lernen hingegen wurde als rein äußere Ausnutzung der Möglichkeiten aufgefaßt, die in der Entwicklung entstehen. Bei der Analyse der geistigen Entwicklung des Kindes, wurde streng das der Entwicklung entstammende von dem aus dem Lernendem stammende getrennt. Die Ergebnisse beider Prozesse wurden in reiner und isolierter Form dargestellt. Diese Trennung ist aber nie einem Forscher wirklich gelungen. Den Grund dafür sah man in der Unzulänglichkeit der angewandten methodischen Verfahren und versuchte diese Unvollkommenheit durch Abstraktionen auszugleichen. Man stellte sich vor, daß die Entwicklung ihren normalen Gang nimmt und ihr höchstes Niveau auch ohne Lernen erreichen kann. Das Bedeutet, daß Kinder die keinen Schulunterricht genießen alle höheren Formen des Denkens entwickeln und alle intellektuellen Möglichkeiten aufweisen wie die Kinder, die in der Schule unterrichtet wurden. Diese Auffassung vertrat auch Piaget, der meinte, daß Kinder, ohne je die Schule besucht zu haben Lesen, rechnen und schreiben erlernen könnten („nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“). In Abänderung dieser Theorie erkannte man, daß die Entwicklung die Möglichkeiten schafft die durch das Lernen realisiert werden. Das Verhältnis zwischen Entwicklung und Lernen, wird analog der Beziehung dargestellt, die die Präformationsthese (Theorie aus dem 18. Jh. die besagt, daß jeder Organismus durch Entfaltung von bereits in der Ei- oder Samenzelle vorgebildeten Teilen entsteht) zwischen Anlage und Entwicklung sieht. Die Anlagen enthalten die Potenzen, die in der Entwicklung realisiert werden. Das Lernen wird in diesem Denken gewissermaßen über die Reifung gebaut. Gleichzeitig wird die einseitige Abhängigkeit zwischen Entwicklung und Lernen anerkannt. Der Unterricht hängt von der Entwicklung ab, aber die Entwicklung verändert sich in keiner Weise durch den Einfluß des Lernens. Jedes Lernen hat das Vorhandensein eines gewissen Reifegrades bestimmter psychologischer Funktionen zu seiner notwendigen Voraussetzung. Man kann nicht damit beginne, einem dreijährigen Kind Lesen und schreiben beizubringen. Man muß sich bei der Analyse des Lernens darauf beschränken, herauszufinden welche Funktionen und welcher Grad der Reife notwendig sind, damit das Lernen (von z.B. Lesen und Schreiben) möglich ist. Wenn sich diese
Funktionen im nötigen Ausmaß entwickelt haben und das Gedächtnis des Kindes ein Niveau erreicht hat, daß es sich die Buchstaben des Alphabetes merken kann und die Aufmerksamkeit so weit entwickelt ist, daß das Kind sich für eine bestimmte Zeit auf etwas ihm uninteressantes konzentrieren kann und das Kind außerdem beginnt die Beziehung zwischen den Schriftzeichen und bestimmten Lauten zu erkennen, dann kann das Schreiben lernen beginnen. Für diese Auffassung von der Unabhängigkeit des Entwicklungsprozesses vom Lernprozess ist die Frage wichtig, in welcher Reihenfolge Entwicklung und Lernen auftreten. Nach dieser Theorie hinkt das Lernen immer hinter der Entwicklung her.
Wie Wygotski den Prozess des Lernens gesehen hat
Wygotski sagt: „Das Körnchen Wahrheit dieser Theorie besteht darin, daß in der Entwicklung des Kindes tatsächlich gewisse Voraussetzungen nötig sind, damit das Lernen möglich wird. Das Lernen ist zweifellos von gewissen bereits durchlaufenen Stadien der kindlichen Entwicklung abhängig. Aber diese Abhängigkeit ist keine primäre, sondern eine untergeordnete, und der Versuch sie für das Primäre oder das Ganze auszugeben, führt zu verschiedenen Mißverständnissen und Fehlern.“(L.S. Wygotski -Denken und Sprechen)
Wygotski ging davon aus, daß Lernen und Entwicklung nicht zwei voneinander unabhängige Prozesse sind, aber auch nicht ein und den selben Prozeß darstellen, sondern daß zwischen ihnen eine komplizierte Beziehung besteht. Diese Beziehung hat er zum Gegenstand seiner Forschung gemacht. Er machte vier verschiedene Versuchsreihen, die alle Lernen und Entwicklung zum Thema hatten. Er wollte die Wechselbeziehung zwischen Lernen und Entwicklung auf konkreten Teilgebieten bei Schulkindern aufdecken. Beim Erlernen des Lesens und Schreibens, im Grammatik- und Rechenunterricht, im Naturkundeunterricht und im Gesellschaftskundeunterricht. Seine Versuchsreihen erfaßten die Besonderheiten beim Erlernen des Zehnersysthems genauso wie die Frage wie sich die mündliche und schriftliche Sprache im ersten Schulalter entwickelt.
Im Mittelpunkt standen die Fragen des Reifegrades bestimmter psychischer Funktionen zu Beginn des Lernens, der Lernwirkung im Verlauf der Entwicklung, die Frage der zeitlichen Beziehung zwischen Lernen und Entwicklung, die Frage des Wesens und der Bedeutung des Lernens in einzelnen Fächern.
Mit der ersten Untersuchungsreihe wollte er den Reifegrad der psychischen Erscheinung erfassen auf der das Lernen von Lesen, Schreiben , Rechnen und Naturkunde basiert. Seine Untersuchung zeigte eindeutig, daß gute Schülern nicht die geringsten Anzeichen der Reife jener psychologischen Voraussetzungen erkennen lassen, die nach Auffassung der damals herrschenden Lehrmeinung vorhanden hätten sein müssen.
Wygotskis Zeitgenossen vertraten die Auffassung, daß bei einem Kind, welches schreiben lernt, die Schriftsprache 6 - 8 Jahre hinter dem Sprechalter liegt. Sie erklärten diesen Umstand damit, daß die schriftliche Sprache die Hauptetappe der mündlichen Sprache wiederholen muß, so daß folglich die schriftliche Sprache eines achtjährigen an die mündliche Sprache eines zweijährigen erinnern muß. Diese Erklärung war für Wygotski aber unbefriedigend. Er verstand warum das zweijährige Kind in seiner Sprache einen einfachen Wortschatz und primitive syntaktische Strukturen verwendet. Er erkannte, daß ein Kleinkind erst über einen sehr geringen Wortschatz verfügt und noch nicht gelernt hat, einen zusammengesetzten Satz zu konstruieren. Da aber der Wortschatz eines Schulkindes in der schriftlichen Sprache nicht kleiner ist als in der mündlichen und Syntax und grammatische Formen in der mündlichen und der schriftlichen Sprache gleich sind, konnten die Erklärungen, welche die Primitivität der gesprochenen Sprache eines zweijährigen Kindes erklären im Hinblick auf die schriftliche Sprache des Schulkindes keine Gültigkeit haben. Durch Untersuchungen konnte er feststellen, daß die schriftliche Sprache in den wesentlichen Zügen der Entwicklung nicht die Geschichte der mündlichen Sprache wiederholt. „ Die schriftliche Sprache ist eine besondere sprachliche Funktion, die sich in Aufbau und Funktion von der mündlichen Sprache nicht weniger unterscheidet, als die innere Sprache von der äußeren“(L.S. Wygotski -Denken und Sprechen).
Es zeigte sich weiters, daß die schriftliche Sprache für ihre Entwicklung einen hohen Grad an Abstraktion voraussetzt. In diesem Umstand erkannt Wygotski eine wesentliche Schwierigkeit für Kinder welche schreiben lernen. Kinder müssen eine abstrakte Sprache erlernen, die nicht Wörter, sondern Vorstellungen von Wörtern verwendet. „Wie die Untersuchungen zeigen, bildet gerade die Abstraktheit der schriftlichen Sprache, daß diese Sprache nur gedacht, aber nicht ausgesprochen wird, eine der größten Schwierigkeiten beim Erlernen der schriftlichen Sprache. Eine der Hauptschwierigkeiten in der ungenügenden Entwicklung der Feinmuskulatur und in anderen Momenten zu erblicken heißt, die Wurzeln der Schwierigkeiten nicht dort zu sehen, wo sie wirklich liegen “ (L.S. Wygotski -Denken und Sprechen). Eine zweites Abstraktionsproblem sieht Wygotski in dem Umstand, daß das Kind keinen Gesprächspartner hat, sich also eine innere Monologsprache (mit einem weißen Blatt Papier) aneignen muß.
Von einem Kind, welches schreiben lernt, wird verlangt, daß es willkürlich handelt. Das bedeutet, es muß jedes Wort, welches in der mündlichen und der inneren Sprache unzergliedert, in einzelnen Lauten ausgesprochen wird, zergliedern - also Buchstabieren. Analog geschieht die Bildung von Sätzen. Die Sätze müssen ebenso willkürlich zusammengesetzt werden, wie das Wort. Die bisher ganz automatisch verwendete Grammatik muß in der Schriftsprache erst wieder mühevoll erlernt werden.
Wygotski erkannte in seiner Untersuchung, daß die geschriebene Sprache in ihrer Funktionsgrundlage einen völlig anderen Prozess darstellt als die gesprochene. Dies erklärt für ihn die Diskrepanz, die zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache besteht. Bei dieser ersten Untersuchungsreihe zeigte sich ganz deutlich: „Die Entwicklung der psychologischen Grundlagen des Lernens in den Hauptfächern geht dem Beginn des Unterrichtes nicht voraus, sondern erfolgt in unlösbarem inneren Zusammenhang damit im Verlauf seines Fortschreitens.“(L.S. Wygotski -Denken und Sprechen)
Die zweite Untersuchungsreihe war der Frage gewidmet, welche Wechselbeziehung besteht zwischen den Lernprozessen und der Entwicklung ihrer psychologischen Grundlage. Der Unterricht folgt einer bestimmten Ordnung. Zu bestimmten Zeiten werden bestimmte Fächer unterrichtet, in jeder Klassen wird ein vorbestimmter Lehrplan erfüllt. Diese äußere Ordnung des Unterrichtsprozesses geht nicht konform mit den inneren Gesetzen der Entwicklungsprozesse, die durch den Unterricht ins Leben gerufen werden. Wygotski zeigte, daß wenn man eine Kurve für den Verlauf des Lernprozesses zeichnet und diese mit einer Kurve vergleicht, welche die am Lernprozess beteiligten psychischen Funktionen darstellt, man erkenne kann, daß sich diese zwei Kurven kaum decken, aber in einer sehr komplizierten
Wechselbeziehung stehen. Die Entwicklung vollzieht sich, so hat Wygotski auch in seiner zweiten Untersuchungsreihe sehr bald erkannt, in einem anderen Tempo als Lernen. „Die Entwicklung des Bewußtwerdens und der Willkürlichkeit kann in ihrem Rhythmus nicht mit dem Rhythmus des Grammatiklehrplanes zusammenfallen. Selbst die Zeitpunkte können in dem einem und anderen Fall nicht zusammenfallen. Es darf nicht einmal im Voraus angenommen werden, daß der Zeitpunkt der Beherrschung des Lehrstoffs für das Erlernen der Substantivdeklination mit dem Zeitraum zusammenfällt, der für die innere Entwicklung des Bewußtwerdens des eigenen Sprechens und seiner Beherrschung in irgend einem bestimmten Teil dieses Prozesses notwendig ist. Die Entwicklung ordnet sich nicht dem Lehrplan unter; sie hat ihre eigen innere Logik “ (L.S. Wygotski -Denken und Sprechen). Zusammenfassend kann für diese zweite Versuchsreihe gesagt werden, daß zu dem Zeitpunkt, an dem etwas gelernt werden muß, die Entwicklung, die nötig ist um dies zu lernen, noch nicht abgeschlossen ist. Sie beginnt erst. Es hat sich in dieser zweiten Versuchsreihe klar gezeigt, daß der Unterricht der Entwicklung vorauseilt. In der dritten Versuchsreihe stellte Wygotski die Frage, ob die verschiedene Fächer des Schulunterrichts im Verlauf der Entwicklung des Kindes zusammen- wirken. Alle Untersuchungen haben gezeigt, daß sich die geistige Entwicklung nicht nach dem System der Unterrichtsfächer gliedert und vollzieht. Die Entwicklung erfolgt nicht so, daß durch den Rechenunterricht bestimmte isolierte Funktionen entwickelt werden und durch das Lesen lernen wieder andere. Für Wygotski hat es sich erwiesen, daß verschiedene Fächer in gewissen Teilbereichen eine gemeinsame psychologische Grundlage haben. Das Bewußtwerden und die Aneignung treten in der Entwicklung in der Grammatik und der geschriebenen Sprache gleichermaßen in den Vordergrund. Das gleiche kann auch im Arithmetikunterricht festgestellt werden. „Das abstrakte Denken des Kindes entwickelt sich in allen Stunden, und seine Entwicklung verteilt sich keineswegs auf einzelne Fächer, in die der Schulunterricht zerfällt (L.S. Wygotski -Denken und Sprechen).
In dieser dritten Versuchsreihe wurde erkannt, daß Lernprozesse eine eigene innere Struktur, eine eigene Reihenfolge und eine eigene Logik in der Entwicklung haben. Und in jedem Schüler werden im Verlauf des Schulunterrichts Prozesse ins Leben gerufen, die wiederum ihre eigene Logik der Entwicklung haben. Eine Hauptaufgabe für Schulpsychologen besteht darin, diese innere Logik, den inneren Verlauf der Entwicklungsprozesse, die durch den Verlauf des Unterrichtes ins Leben gerufen wurden, aufzudecken. Durch die Versuche in dieser dritten Reihe zeigten sich Wygotski drei wesentliche Tatsachen: a) die verschiedenen Unterrichtsfächer haben eine gewisse psychologische Gemeinsamkeit. Dadurch bietet sich die Möglichkeit des gegenseitigen Einflusses. b) Der Unterricht beeinflußt die Entwicklung auf einer höheren psychischen Ebene, die weit über die Grenzen des speziellen Inhaltes und Zieles des Unterrichtes hinaus geht. Ein Kind, welches zum Beispiel im Grammatikunterricht zu einer bewußten Einsicht gekommen ist, hat damit gelernt gewisse Strukturen zu beherrschen und überträgt sie in seinem Denken auf andere gebiete. c) Die Entwicklung der willkürlichen Aufmerksamkeit und des logischen Gedächtnisses, des abstrakten Denkens und der wissenschaftlichen Einbildungskraft vollzieht sich auf einer gemeinsamen Grundlage als einheitlicher komplizierter Prozeß; „... diese gemeinsame Grundlage aller höheren psychischen Funktionen, deren Entwicklung der wichtigste Neuerwerb des Schulalters darstellt, ist das Bewußtwerden und das Beherrschenlernen“(L.S. Wygotski -Denken und Sprechen). In der vierten Versuchsreihe wollte Wygotski die Frage klären, wie man den aktuellen Entwicklungsstand eines Kindes erfassen kann, ohne dabei die heranreifenden Fähigkeiten zu vernachlässigen. Er verwendet als Beispiel für die Gängige schulpsychologische Methode das Bild von dem Gärtner, der den Zustand seines Gartens beurteilen will und dabei nur die Apfelbäume welche bereits Früchte tragen berücksichtigt. Er wird zu keinem objektiven Zustandsbild seines Gartens kommen, wenn er nicht auch die Bäume dazu zählt, die erst beim Heranreifen sind. Bei den gängigen Untersuchungsmethoden werden dem Kind Aufgaben gestellt, die es selbständig lösen muß. Diese selbständig gelösten Aufgaben kennzeichnen das aktuelle Entwicklungsniveau, also die bereits geformten und ausgereiften Funktionen. Wygotski hat versucht in dieser vierten Versuchsreihe ein neues methodisches Verfahren zu entwickeln. Er versuchte Kindern, bei denen durch herkömmliche Verfahren ein gemeinsames geistiges Alter festgestellt wurde, durch Hilfestellungen das Lösen von Aufgaben zu ermöglichen, die erst für die folgenden Altersstufen bestimmt sind und die sie selbständig nicht lösen können. Dabei zeigte sich eine Divergenz zwischen dem geistigen Alter oder dem aktuellen Entwicklungs- niveau und dem Niveau, welches das Kind erreichen kann, wenn man ihm beim Lösen von schweren Aufgaben hilft. Diese Divergenz bestimmt den Bereich der nächsten Entwicklung. Im konkretem Beispiel konnten zwei Kinder, die beide auf ein geistiges Alter von acht Jahren eingestuft wurden, durch Hilfestellungen unterschiedlich schwere Aufgaben lösen. Das eine Kind bewältigte Aufgaben für zwölf-jährige, das andere für neun-jährige. Die Zone der nächsten Entwicklung wurde also einmal mit der Ziffer vier und einmal mit der Ziffer eins bewertet. In der Schule werden sich bei diesen beiden Kindern viel mehr Unterschiede herausstellen, die durch die Zone der nächsten Entwicklung bedingt sind, als durch das gleiche gegenwärtige geistige Alter hervorgerufene Übereinstimmungen. „Die Untersuchung zeigt, daß die Zone der nächsten Entwicklung für die Dynamik der intellektuellen Entwicklung und den Leistungsstand eine unmittelbarere Bedeutung besitzt als das gegenwärtige Niveau ihrer Entwicklung“(L.S. Wygotski -Denken und Sprechen). Die Untersuchung zeigte eindeutig, daß das, was in einem Stadium der Entwicklung in der Zone der nächsten Entwicklung liegt, im nächsten Stadium realisiert wird und in das Niveau der aktuellen Entwicklung über geht. Dies bedeutet, jene Aufgaben, die das Kind durch Zusammenarbeit lösen kann, kann das Kind schon bald selbständig bewältigen. Dies bestätigt die Unterrichtsmethode, bei der sich Unterricht und Entwicklung zueinander verhalten, wie die Zone der nächsten Entwicklung zum aktuellen geistigen Alter. Nur der Unterricht ist gut, der der Entwicklung vorauseilt und sie lenkt. Dies zeigt aber auch, daß die Möglichkeiten des Unterrichts durch die Zone der nächsten Entwicklung bestimmt werden. Im aktuellen Beispiel kann man also sagen, daß bei beiden beobachteten Kindern die Möglichkeiten des Unterrichtes verschieden sein werden, obwohl sie das gleiche geistige Alter haben. Dieser Unterschied der Möglichkeiten entsteht aus der Divergenz ihrer Zonen der nächsten Entwicklung. „Bisher fragte man: Ist das Kind für den Unterricht reif? Die Frage der reifen Funktion behält ihre Gültigkeit. Wir müssen stets die unterste Grenze des Unterrichts bestimmen. Aber damit ist die Sache nicht getan, wir müssen im Stande sein, die oberste Grenze des Unterrichts zu bestimmen. Nur innerhalb dieser Grenzen kann der Unterricht fruchtbar sein. „... Die Pädagogik muß sich nicht auf die kindliche Entwicklung von gestern, sondern auf die von morgen orientieren. Nur dann wird sie imstande sein, im Unterricht die Entwicklungsprozesse auszulösen, die jetzt in der Zone der nächsten Entwicklung liegen“(L.S. Wygotski -Denken und Sprechen).
Ergebnis der vier Versuchsreihen
Wygotskis Versuchsreihen haben eindeutig gezeigt, daß Lernen und Entwicklung zwei verschiedene Prozesse sind, die aber in komplizierten Wechselbeziehungen zueinander stehen. Eine der zentralen Aussagen Wygotskis war: „Das Lernen ist nur dann gut, wenn es Schrittmacher der Entwicklung ist. Dann werden dadurch eine ganze Reihe von Funktionen, die sich im Stadium der Reifung befinden und in der Zone der nächsten Entwicklung liegen, geweckt und ins Leben gerufen.“ Er sieht darin die wichtigste Bedeutung des Lernens für die Entwicklung, und gleichzeitig den Unterschied zum Erlernen von rein technischen Fähigkeiten wie z.b. Radfahren oder schreiben mit der Schreibmaschine. Lernen ist nur dann sinnvoll, wenn es innerhalb einer gewissen, durch die Zone der nächsten Entwicklung bestimmten Periode erfolgt. Der Biologe De Vries hat diese Phasen als sensitive Phasen bezeichnet und meinte damit Phasen in der ontogenetischen Entwicklung in denen der Organismus für Einflüsse bestimmter Art besonders empfindlich ist. In diesen Phasen lösen bestimmte Einflüsse eine merkliche Wirkung auf den Verlauf der Entwicklung aus und können darin tiefgreifende Veränderungen hervorrufen. Die selben Einflüsse können, wenn sie im Verlauf einer anderen Phase auftreten, neutral gewertet werden oder sogar den Gegenteiligen Effekt ausüben. Montessori hat in den sensitiven Phasen eine direkte biologische Analogie in der Entwicklung von niederen Lebewesen und den komplizierten Entwicklungsprozessen, wie dem Erwerb der Schriftsprache, gesehen. Wygotskis Untersuchungen haben allerdings gezeigt, daß es sich bei diesen Perioden um Entwicklungsprozesse der höheren psychischen Funktion handelt, die aus der kulturellen Entwicklung des Kindes entstehen, und ihre Wurzeln im Unterricht haben. Trotz dieses Unterschiedes in der Lehrmeinung ist es Montessori gelungen den Nachweis zu erbringen, daß viereinhalb- bis fünfjährige Kinder mit so großer Leichtigkeit die Schriftsprache erlernen können, wie es in späteren Jahren nicht mehr möglich ist. Dies ließ sie zu dem Schluß kommen, daß gerade in diesem Alter der optimale Zeitpunkt, die sensitive Phase, für den Schreibunterricht anzusehen ist. Der Unterricht kann nur dann seinen Einfluß auf die Entwicklung ausüben, wenn der entsprechende Entwicklungszyklus noch nicht abgeschlossen ist. Sobald der Entwicklungszyklus in bestimmten Bereichen abgeschlossen ist können die gleichen Bedingungen, die vorher ein Maximum an Entwicklung gebracht hätten, bereits neutral sein. Die Unabgeschlossenheit bestimmter Entwicklungsprozesse ist als notwendige Voraussetzung anzusehen, daß die betreffende Periode sich unter bestimmten Bedingungen als sensitiv erweist. Die Beobachtung des Schulunterrichtes zeigt, daß jedes Unterrichtsfach vom Kind mehr verlangt, als es im Moment fähig ist zu geben. Dies bedeutet, daß das Kind im Unterricht dazu gezwungen ist über sich hinaus zu wachsen. Dies tritt immer dann ein, wenn der Unterricht fruchtbar ist. Wird ein analphabetisches Kind in einer Klasse unterrichtet, in der schon alle Kinder lesen und schreiben können, wird es in seiner Entwicklung genau so gehemmt, wie ein Kind, welches bereits lesen und schreiben kann und in einer Gruppe von Analphabeten unterrichtet wird. Das eine Kind wird in seiner Entwicklung dadurch gehemmt, daß der Unterricht zu schwer; das andere dadurch, daß er zu leicht ist. In beiden Fällen geschieht der Unterricht außerhalb der Zone der nächsten Entwicklung. Einmal liegt das Unterrichtsniveau darunter und einmal darüber. Alle am Schulunterricht beteiligten Hauptfunktionen drehen sich hauptsächlich um die wesentlichsten Neubildungen des Schulalters: die Bewußtheit und die Willkürlichkeit. „...Diese zwei Momente stellen die grundlegenden Unterscheidungsmerkmale aller sich in diesem Alter herausbildenden psychischen Funktionen dar. Folglich ist das Schulalter die optimale Periode des Unterrichts oder die sensitive Phase für die Fächer, die sich maximal auf bewußtgewordene und willkürliche Funktionen stützen“(L.S. Wygotski -Denken und Sprechen). Der Unterricht in diesen Fächern kann daher die besten Bedingungen für die Entwicklung der in der Zone der nächsten Entwicklung liegenden höheren psychischen Funktionen bieten.
Zum Vergleich, die Sichtweise kognitiver Entwicklungspsychologen
Bis in die fünfziger Jahre galt in psychologischen Kreisen die Mahnung von Watson, sich nur mit Prozessen zu beschäftigen, die direkt zu beobachten sind. Die technische Entwicklung dieser Zeit, konkret die Konstruktion der ersten Computer, also die Erfindung der „künstlichen Intelligenz, hat wahrscheinlich dazu beigetragen, daß sich auch die eingefleischtesten Behavioristen mit den Vorgängen im Menschen zu Beschäftigen begannen. Etwa zu dieser Zeit wurden in Fachkreisen die Studien von Jean Piaget, der sich der behavioristischen Strömung von Anfang an entzogen hatte, bekannt. Piaget studierte wie Kinder in verschiedene Altersstufen aktiv Probleme lösen um daraus logische Schlußfolgerungen ziehen können. Mit seinen Studien wurde er zum Begründer der kognitiven Entwicklungspsychologie, die sich um die Klärung der Frage bemühte, wie sich Kinder und Jugendliche Wissen und Verständnis aneignen. Piaget lehrte schon sehr früh, daß das Kind nicht einem weißem Blatt Papier gleich (das Bild von der „tabula rasa“ drängt sich auf) von seiner Umwelt beschrieben wird. Er sah Kinder als aktive Wesen. So erklärt Piaget warum Kinderzeichnungen kein Abbild der physikalischen Umwelt darstellen, sondern ein Konstrukt ihres Verständnisses von der Welt. Das Kind konstruiert aktiv sein Bild von sich, von anderen Menschen und von der Welt der Dinge. Stimmt das Verständnis des Kindes nicht mit den Gegebenheiten der Umwelt überein, so entsteht für das Kind ein kognitiver Konflikt. Eine Möglichkeit diesen Konflikt zu lösen findet das Kind laut Piaget in der Anpassung seines Wissen und seines Verständnisses an die neue Erfahrung. Dadurch verändert sich die kognitive Struktur und die Welt wird anders verstanden als vorher. Piaget meinte, daß nur durch diese Wechselwirkung kognitive Lernfortschritte möglich sind. Entwicklungsprozesse sieht er als genetisch bedingt, weil sie sich in qualitativ unterscheidbaren Phasen, deren Entwicklungsschritte vorbestimmt sind, darstellen. Fortschritte in der Entwicklung kommen nur als Ergebnis von Reifungsprozessen und Erfahrung zustande. Im Gegensatz zu Piaget waren die Behavioristen davon überzeugt, daß sich Wissenslücken bei Kindern ausschließlich auf mangelndes Training zurückführen lassen. Piaget war der Überzeugung, daß Kinder nur das lernen können, was der Stufe ihrer Entwicklung entspricht.
Ich bin der Meinung, daß Wygotski den „ganzheitlicheren“ Ansatz gefunden hat als Piaget. Beide sind der Meinung, daß sich die Entwicklung des Kindes in Stufen vollzieht, die aufeinander aufbauen und nicht übersprungen werden können. Piaget betrachte ich als das Bindeglied zwischen dem Behaviorismus und Wygotskis Ansatz. Watson und die Vertreter seiner Lehre sind der Auffassung, daß das Kind in jede beliebige Richtung formbar ist und, daß das Wissen eines Kindes nur von den Informationen abhängig ist, die man ihm vorher eingegeben hat. Piaget sieht ganz im Gegensatz dazu die Entwicklung als genetisch vorherbestimmten Stufenplan. Die äußeren Einflüsse gehen für mich aus seinen Schriften nicht sehr klar hervor, obwohl sie von ihm nicht geleugnet werden. Wygotski kommt zu dem Schluß, daß die Entwicklung zwar vorherbestimmt ist, sie aber in sehr komplizierten Zusammenhängen mit den äußeren Einflüssen steht. Das Eine kann von dem Anderen nicht getrennt werden. Entwicklung ohne äußere Einflüsse ist nicht möglich, aber der äußere Einfluß kann nur dort wirksam werden, wo der Boden schon bereitet ist bzw. wo er auf die entsprechende Zone der nächsten Entwicklung trifft. Ich würde mir für meine Kinder Wünschen, daß unser Schulsystem auf dieses Prinzip eingehen kann. Daß Pädagogen mit den Möglichkeiten, der Zeit und den Mitteln ausgestattet werden, um zu erkennen welchen Entwicklungsschritt der jeweilige Schüler gerade macht und auch darauf eingehen können. Ich glaube die Härte des Unterrichtssystems würde dadurch für viele Schüler gar nicht zum Tragen kommen und der Ausspruch: „Für die Schule und nicht fürs Leben Lernen wir“, würde viel von seiner Gültigkeit verlieren.
Literaturliste:
„Denken und Sprechen“ von L. S. Wygotski 5. Auflage / Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt 1993
„Wege in die Entwicklungspsychologie“ von Gerd Mietzel 2. Auflage / Psychologie Verlagsunion, Weinheim 1995
„Wörterbuch zur Psychologie“ von J. Drever / W. Fröhlich Deutscher Taschenbuchverlag, München 1968
W. Corell (Lernpsychologie, Donauwörth 1967) dem Internet entnommen
- Citar trabajo
- Horst Engele (Autor), 2000, Lernen von Volksschulkindern, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100420
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