Beim deutschen internationalen, ethnografischen Filmfestival habe ich einen autoethnografischen Film namens "Emails to My Little Sister" bemerkt, der mir auch in den folgenden Tagen nach dem Filmfestival noch sehr im Gedächtnis geblieben ist. Im Rahmen einer Aufgabenstellung zum Seminar "Transkulturelle Medien – Kultur Film(en)" habe ich mit dem Filmemacher Solomon Abebe Mekonen in einer gleichermaßen interessierten Gruppe ein Interview geführt, dessen Ergebnisse mich auf einige interessante Gedanken gebracht haben, welche in diesem Essay weiter ausgeführt werden.
Der Film handelt von dem Austausch zweier Geschwister über E-Mail, wobei Solomon seine Erfahrungen und die sich verändernden Wahrnehmungen über das "Schwarz sein" während seinem Aufenthalt in Deutschland reflektiert, während das Leben seiner Schwester im Heimatland Äthiopien sich davon deutlich unterscheidet. Nur wenige Wochen im Anschluss an das Filmfestival wurde weltweit mit neu bekannten Fällen von Polizeigewalt gegen Afroamerikaner in den USA die seit dem Jahre 2012 andauernde, sogenannte "Black Lives Matter"-Bewegung wieder aktiv ins Leben gerufen, zu dessen Inhalten bezüglich "weißen" Privilegien sich mit denen aus "Emails to My Little Sister" einige interessante Parallelen erkennen lassen. Versucht man, diesen Film auf seine formalen Elemente zu analysieren, so fallen einem außerdem mehrere vermischte Filmgenres sowie Dokumentationstypen auf, was zur aktuellen Debatte zur notwendigen kulturellen Diversifizierung passt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Rahmen
3. Perspektiven vom Filmemacher & Gefilmten
4. Schlussfolgerung
Quellenverzeichnis
Interview: Solomon A. Mekonen | „Emails to My Little Sister”
1. Einleitung
Das deutsche internationale ethnografische Filmfestival, welches allgemein wohl besser unter seinem Akronym „GIEFF“ bekannt ist, musste zwar in diesem Jahr aufgrund der weltweit verhängten Kontaktbeschränkungen, bedingt durch die andauernde COVID-19-Pandemie, vollständig in einem improvisierten Online-Format abgehalten statt wie ursprünglich geplant in Göttingen veranstaltet werden - und doch hat dieser schwierige Zeitpunkt nicht dazu geführt, dass filmische Werke aus der Ethnologie, die mithilfe der Darstellung von Realität als Gegenpol zu den weitaus beliebteren Spielfilmen wertvolle Gedanken zur Entwicklung unserer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft hervorbringen, im Mai nicht mehr erlebt werden durften. Denn auch durch Improvisation lassen sich bedeutsame Inhalte vermitteln. Der gebürtige Äthiopier und derzeit in Berlin arbeitende Filmemacher Solomon Abebe Mekonen, dessen Forschungsinteresse dem visuellen Storytelling auf anthropologischer Basis gilt1, hat dies mit seinem autoethnografischen Kurzfilm „Emails to My Little Sister“ deutlich bewiesen. Dieser Film war für mich zwar beim vorbereitenden Durchlesen des Programms schon interessant, blieb mir jedoch während meiner Teilnahme am Festival sowie auch noch in den darauffolgenden Tagen in Erinnerung. Ein von mir nach dem Festival geführtes Interview mit dem Filmemacher Solomon Mekonen, welches für eine Aufgabenstellung zum Seminar „Transkulturelle Medien - Kultur Film(en)“ entstand, brachte mich schließlich auf interessante Gedanken, die im Folgenden ausgeführt werden sollen.
Der Film „Emails to My Littler Sister“ behandelt den Austausch zwischen Solomon und seiner Schwester über E-Mail, wobei Solomon seine Erfahrungen im Ausland und seine sich verändernden Wahrnehmungen über sein Dasein als „Schwarzer“ reflektiert, welches ihm während des Aufenthalts in Deutschland erst bewusst wird, während sich der Alltag seiner im Heimatland Äthiopien lebenden Schwester Tsion davon merklich unterscheidet. Nur wenige Wochen im Anschluss an das Filmfestival „GIEFF“ wurde weltweit mit neu bekannten Fällen von Polizeigewalt gegen Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten von Amerika, insbesondere dem tragischen Erstickungstod des 46-jährigen George Floyd, die sogenannte „Black Lives Matter“-Bewegung wieder aktiv ins Leben gerufen, nachdem diese erstmals im Jahre 2012 in den öffentlichen Diskurs getreten war (Boyd & Dumpson 2019). Der Film „Emails to My Little Sister“ entstand zwar in einem anderen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext, doch bezüglich der Aushandlung solcher „weißen Privilegien“ (McIntosh 1988) lassen sich mit der durchaus universellen Thematik bezüglich Fragen zum (Anti-)Rassismus einige interessante Parallelen erkennen, wodurch die Inhalte des Films auf diese Debatte übertragbar werden.
Der Film kann im Zuge dessen als Vermittlungsmedium sowie eine Art von „öffentlichem Raum“ (vgl. Wildner & Berger 2018) betrachtet werden. Als Massenmedium besitzt der Film eine normative Kraft, die an kulturellen Aktivismus grenzt, einen Bewusstseinswandel ermöglichen kann und sich durch gesellschaftlichen Zeitgeist selbst in einem stetigen Wandel befindet. Dieser Essay verfolgt somit die Fragestellung, welche politischen Ziele der Filmemacher Solomon Mekonen, der sich mit Themen wie Entkolonisierung oder „alternativer Zukunft“ beschäftigt2, mit seinem Film „Emails“3 verfolgt und auf welche Weise diese transportiert werden.
Versucht man diesen Film einer Analyse der formalen Elemente zu unterziehen, wird eine Vermischung mehrerer Filmgenres sowie Dokumentationstypen (Nichols 2001) sichtbar, was passend zur aktuellen Debatte von notwendiger kultureller Diversifizierung erscheint. In der Diversitätsforschung wird unter Einbezug der praktischen Theorie von „Intersektionalität“ (El-Tayeb 2019) häufig die Wichtigkeit zur Information über vorherrschende wie auch sich verändernde Zustände von Machtkonstellationen und der eigenen Positionierung im Netzwerk mehrerer, sich überschneidender Faktoren (Ebd.; 39-40) betont. Ich behaupte, dass dokumentarische Filme aufgrund ihrer Zugänglichkeit zu diesem Zweck besonders geeignet sind.
2. Theoretischer Rahmen
Aufschlussreicher als eine Analyse von filmischen Mitteln auf oberflächlicher Ebene scheint für den Gegenstand dieser Arbeit der Versuch, den Film „Emails“ in eines der bekanntesten ethnografischen Filmgenres einzuordnen, bzw. eher mehrere Genres, wie die folgende Ausführung zeigen wird. Zunächst sollte hierzu die wohl offensichtlichste Gattung, der autoethnografische Film, behandelt werden. Bei diesem Subgenre handelt es sich um einen Forschungsansatz, der versucht, eine dichte Beschreibung persönlicher Erfahrungen durch systematische Analyse zu vollziehen und kulturelle Erfahrung zu ermöglichen. Konventionelle Forschungsmethoden, die ein Vertreten bestimmter Gemeinschaften anstreben, werden dabei hinterfragt, indem diese als politischer, sozial gerechter und bewusster Akt behandelt werden. ForscherInnen beziehen sich zum Schreiben von Autoethnografie auf Grundsätze der Autobiografie und Ethnografie. Insofern ist Autoethnografie als Methode zur selben Zeit sowohl Prozess als auch Produkt (vgl. Ellis et al. 2011: 273).
Ein weiteres ethnografisches Subgenre, dessen Merkmale sich in „Emails“ wiederfinden, ist das sogenannte kollaborative Filmmaking. Die Argumentationsbasis bildet für seine Definition das Konzept der „regards comparés“ vom Urvater des ethnografischen Films, dem französischen Ethnologen Jean Rouch. Dieser fasst unter dem Begriff „shared anthropology“ den Ansatz zusammen, das eigene Wissen über andere Kulturen auf bestimmte Weise mit Mitgliedern dieser repräsentierten Kultur zu erzeugen und mit ihnen zu teilen. Die Produktion des ethnografischen Films erfolge somit aufgrund kollaborativer Bemühungen (vgl. Ginsburg 1995: 65-66). Beim kollaborativen Filmemachen kann zudem durch gleichberechtigte, gemeinsame Produktion die Autorenschaft geteilt (Ruby 1995) und unter Einbezug mehrerer, eventuell sogar widersprüchlicher Perspektiven eine „Intertextualität“ geschaffen werden (MacDougall 1991).
Zusätzlich zur Genreanalyse lässt sich eine Verschmelzung dreier Dokumentationstypen (Nichols 2001) in „Emails“ feststellen. Das Hinarbeiten auf eine bestimmte Argumentation mit metaphorischen, gar poetischen Mitteln, erzeugt eher Stimmung und betont die bewirkten Affekte, statt direkte Informationen zu übermitteln und deutet auf die von Bill Nichols definierte Poetische Dokumentation (Ebd.; 102-105) hin. Bei diesem recht (selbst-)reflexivem Modus wird kein eindeutiger Lösungsvorschlag der vorgestellten Problematik erarbeitet und eine fragmentierte Repräsentation weltlicher Fakten vermittelt. Ort und Zeit geraten in solchen Filmen oftmals durcheinander, unkonventionelle Erzähltechniken werden genutzt und die Handlung, eventuell auch die auftretenden Figuren, sind inkohärent.
Bei der Erklärenden Dokumentation (Ebd.; 105-109) besitzen Bilder eine unterstützende oder auch widersprüchliche Funktion, wobei sich in „Emails“ hauptsächlich letzteres wiederfindet4. Durch Schnitttechniken kann die im Film verfolgte Argumentationskette, welche sich meistens auf generalisierender und großflächiger Ebene bewegt, verstärken. Die aufgeführten Argumente ergänzen allerdings eher ein menschliches Vorwissen und basieren hauptsächlich auf „common sense“ (109). Mekonen verlässt sich mit seinem Film ebenfalls darauf, dass problematische Zustände in Afrika ein bekanntes Phänomen sein und Anti-Diskriminierung grundsätzlich von allen Menschen unterstützt werden sollte. Für diesen Dokumentationstypen4 5 außerdem charakteristisch ist das Voice-Over, wovon es noch weitere verschiedene Arten gibt. Beim sogenannten „voice of god“-Kommentar (105-106) ist der Sprecher im Film nicht zu sehen und beurteilt das Handlungsgeschehen, ohne selbst daran teilzunehmen. Mit seinen neutralen und allwissenden Erklärungen wird dem Film mehr Glaubwürdigkeit verliehen, die durch einen nicht „professionellen“ Sprecher (Ebd.), der Mekonen vermutlich ebenfalls nicht ist, zusätzlich untermauert werden kann. Auf das Voice-Over in „Emails“ treffen zwar nicht alle Merkmale des klassischen „voice of god“ zu, wohl aber dieses, dass der Film durch eine subjektive Perspektive erzählt wird.
Schließlich finden sich Elemente aus der Reflexiven Dokumentation (Ebd.; 125-130) im Handlungsverlauf von „Emails“ wieder. Die Repräsentation bei diesem Modus erfolgt „von innen“ und ist teilweise inszeniert und experimentell, weshalb auch Entfremdungsprozesse (128) entstehen können. Die Lücke zwischen Wissen und Begehren, welche dieser Dokumentationstyp beschreibt (130), weist Parallelen zur häufig gestellten Aufforderung der „Black Lives Matter“-Bewegung, vorherrschende Zustände nicht als Problem der fernen Zukunft zu sehen, sondern mit allen gegenwärtig zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen, auf.
Abseits vom ethnografischen lassen sich jedoch auch Eigenschaften vom indigenen Film feststellen, da die Produktion von „Emails“ vordergründig biografisch motiviert scheint und eine Reflektion eigener Vergangenheit und Identität verhandelt. An dieser Stelle möchte ich mich auf die amerikanische Anthropologin Faye Ginsburg und ihre Schrift zum „Parallax-Effekt“ (Ginsburg 1995) beziehen, welche auf meine Auseinandersetzung sehr gut anwendbar ist, da ein recht ähnliches Phänomen darin beschrieben wird. Ginsburg erläutert nämlich, dass der indigene Film unter anderem als Resultat von Unabhängigkeitsbewegungen kolonisierter Völker entstand (Ebd.; 67), wobei aktuelle Debatten wie „Black Lives Matter“ demonstrieren, dass problematische Rassenkonstruktionen selbst 25 Jahre nach Entstehung dieses Werks noch immer nicht aufgelöst sind. Die Produktion eigener Bilder sei aufgrund zunehmenden Bewusstseins für Repräsentationspolitiken ferner durch den Wunsch zur Kontrolle seitens der indigenen Bevölkerung provoziert worden (Ebd.). Trotz wiederholter Forderung nach mehr solchen dialogischen Forschungsansätzen komme dieser Entwicklung in der zeitgenössischen Anthropologie noch wenig Aufmerksamkeit zu (68), und bezüglich der Produktion und Zirkulation von Medien werden soziokulturelle Fragen eröffnet (73). Dies mache ein umfassenderes Verständnis von der Komplexität des sozialen Phänomens „Kultur“ sowie die selbstreflexive Medienrepräsentation durch Gegenüberstellung verschiedener, aber verwandter filmischer Perspektiven auf Kultur erforderlich (65).
Ella Shohat und Robert Stam, die Ginsburg für ihre Ausarbeitung zitiert, sprechen in diesem Zusammenhang von „kreuzenden Identifikationen“. Identität sei nicht etwa als Besitz, sondern als Handlungakt zu verstehen. Es bestehe eine theoretische Möglichkeit sowie auch politische Notwendigkeit, Herrschaftskritik innerhalb einer Gesellschaft gemeinsam auszuüben und die „Last der Repräsentation“ als kollektive Verantwortung wahrzunehmen (Ebd.; 71).
Komplexe narrative bzw. formale Strategien zur Reflexion subjektiver und objektiver Bedingungen der Identitätsbildung werden von Ginsburg als Mittel zur „Darstellung von Realität“ (Ebd.; 73) bezeichnet. Es ließe sich außerdem eine Verbundenheit von medialen Praktiken mit breiteren Bemühungen für politische Rechte beobachten (69). Ginsburg verweist unter Einbezug des Begriffs „Multikulturalismus“, der im Werk vom amerikanischen Anthropologen Terence Turner ergründet wird, auf den Schutz und die Förderung von menschlicher Kulturfähigkeit als allgemeines Menschenrecht (Ebd.). Die „Muttersprache“ eines indigenen Volkes müsse als solche neu verstanden werden, die mit anthropologischer Interpretation in direkterem Dialog stehen sollte (67). Das Wiederherstellen von historischer und kultureller Präsenz durch eine weithin zugängliche Medienform, darunter den Film, sei durch die schweren Angriffe auf indigene Völker in der Vergangenheit und den Parallelen zur anthropologischen Praxis bezüglich Selbstreflexivität über Formen von kultureller Produktion besonders gefordert (64).
Laut Ginsburg befindet sich der ethnografische Film nicht mehr nur in einer einzigen Nische. Durch eine Notwendigkeit von Dialog, Debatte und fundamentaler „Re-Konzeptualisierung“ visueller Anthropologie vor dem Hintergrund multikultureller Transformationen verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation (Ebd.). Eine gegen- bzw. wechselseitige Relativierung zwischen verschiedenen Kulturpositionen müsse durch zumindest die Anerkennung der anderen Sichtweise sowie die Bereitschaft zur eigenen Veränderung erfolgen (Ebd.). Der ethnografische Film werde somit zu einer Sozialtheorie, dessen Mittelpunkt der umstrittene Charakter kultureller Produktion sei (65). Zwar werden das konventionelle Verständnis vom ethnografischen Film eher als getrennt vom indigenen angesehen, doch Ginsburg stellt fest, dass diese beiden Filmgenres hinsichtlich der Kommunikation von sozialer und kollektiver Identität ein gemeinsames Charakteristikum aufweisen, insofern sie unabhängig davon, ob nun die eigene oder eine fremde Gruppe gefilmt wird, Fragen zur Ethik, sozialen Beziehungen, Macht und Vertretungsrechten verhandeln (68-69).
[...]
1 vgl. Biografie auf der GIEFF -Homepage, unter: https://www.gieff.de/biographies-2020.html#Solomon%2QMe- konen (letzter Zugriff am 16.07.2020).
2 vgl. Homepage von Solomon Mekonen, unter: https://solomonmekonen.com/ (letzter Zugriff am 16.07.2020). Die Website diente außerdem als Bildquelle für das Deckblatt dieser Arbeit.
3 Zwecks Pragmatismus habe ich den vollständigen Titel des Films an dieser Stelle abgekürzt und werde diesen Namen im weiteren Verlauf ebenso verwenden.
4 Obwohl es hierfür viele Beispiele gibt, wird dies meiner Meinung nach besonders deutlich, als im Film ein über den See fahrendes Boot während einer Geschichte über ein Weihnachten in Deutschland gegenüber dem äthiopischen Äquivalent gezeigt wird oder im Zimmer der Schwester der Strom ausfällt, während Solomon von den Konsequenzen des Kolonialismus erzählt. Vgl. hierzu Mekonen (2018), 14:41 - 15:18 und 26:10 - 26:59.
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