Vergleichende Gedichtinterpretation
In meiner vergleichenden Gedichtinterpretation möchte ich gern näher auf die Gedichte von Else Lasker-Schüler ,,Ein Lied" und Eva Strittmatter ,,Trauer" eingehen.
Ich habe diese zwei Gedichte ausgewählt, weil ich mich in das Thema Trauer sehr gut hineinversetzen kann. Ich habe am eigenen Leib den Seelenzustand der Trauer erfahren müssen und kann mich daher gut mit der Problematik deren Überwindung auseinandersetzen.
Sowohl das Gedicht von Else Lasker-Schüler als auch das Gedicht von Eva Strittmatter setzen sich intensiv mit Trauer und Schmerz auseinander. Anhand des Vergleiches mit Geschehnissen aus der Natur wird die Bewältigung der Thematik in Szene gesetzt.Diese Naturereignisse stehen einerseits sinnbildlich für einen Neubeginn, anderseits aber für Resignation.
Es ist mir lediglich möglich, Else Lasker-Schülers Gedicht zeitlich einzuordnen. Dieses Werk entstand im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in der Epoche des Expressionismus. Dieser spiegelt, durch einen bildhaften Charakter in Kunst und Literatur, das Bedrängtsein und die Ängste des Volkes wieder, was man in dem Gedicht eindrucksvoll wiedererkennt.
Als Strukturansatz werde ich auf den Gedichtaufbau, auf das Thema Trauer und deren Überwindung näher eingehen.
Ich werde zunächst beide Gedichte, beginnend mit ,,Ein Lied", interpretieren und sie später miteinander vergleichen.
,,Ein Lied", geschrieben von Else Lasker-Schüler, ist für mich ein modernes Gedicht, welches stark an ein Lied erinnert. Es ist zwar in neun Strophen zu je zwei Versen geschrieben, doch reimen sich die Verse nicht, was für ein Lied natürlich untypisch ist. Aus diesem Grund ist für mich auch keine Reimform zu erkennen. Alle achtzehn Verse sind meiner Meinung nach durchgängig in einem zweifüßigen trochäischen Metrum gehalten. Es ist zu beachten, dass jeder Vers mit einem Großbuchstaben beginnt, egal ob ein Substantiv oder ein Pronomen zu
Beginn steht. Diese sechs in dem Gedicht enthaltenen Sätze, die relativ kurz sind, stellen meines Erachtens einen wunderbar fließenden Rhythmus dar, welcher eindrucksvoll von bildhaften, aus der Natur stammenden Szenen unterstrichen wird. In Bezug auf den Inhalt und den wehmütigen Charakter, stellt der Titel für mich einen groben Widerspruch dar. Mit einem Lied verbinde ich persönlich eine ausgelassene Stimmung mit viel Freude und Fröhlichkeit. Diese Vorstellung wird aber bereits mit der ersten Strophe drastisch widerlegt. Gleich zu Beginn wird der Leser des Gedichtes an die Trauer und den Schmerz erinnert, dem das lyrische Ich ausgesetzt sein muss. Ich glaube, dass die Ich-Erzählerin in Wahrheit Else Lasker-Schüler selbst ist, die in ihrem Leben einen sehr großen Verlust erleiden musste. Durch die im Vers 1 genutzte übertreibende Personifikation ,,stehen Wasser", soll dem Leser der wehmütige Charakter des Gedichtes bewusst gemacht werden, was durch ,,muss" und ,,alle" noch einmal verstärkt wird. Der Leser soll dadurch animiert werden, sich in die Erzählerin hineinzuversetzen und deren Gefühle selbst zu erleben, um diese besser nachvollziehen zu können. Im Vers 2 wird uns durch das Bild der ,,Zugvögel" der Wunsch näher gebracht, die Trauer und den Schmerz so schnell wie möglich zu überwinden: ,,Immer möchte ich auffliegen, Mit den Zugvögeln fort." Das heisst, all
dem zu entfliehen, was einem an die eigene Trauer erinnern könnte und zu ,,fliegen" weg von diesem Ort. Da sich diese szenische Darstellung im Vers 9 nochmals wiederholt, wird mir klar, dass das Verlangen nach Überwindung dieser negativen Empfindungen sehr stark ausgeprägt ist. Das gleiche Verlangen drückt sich, meiner Meinung nach, im Vers 3 ,,Buntatmen mit den Winden" aus. Das Gefühl zu erleben seine Schmerzen hinter sich gelassen zu haben und ,,In der großen Luft." zu entschwinden, muss für das lyrische Ich etwas Wunderbares sein. Die hoffnungsvollen Gedanken werden jedoch gerade zu brutal durch den Ausspruch ,,O ich bin so traurig----" unterbrochen. Uns wird damit klar gemacht, dass man seliges Leid nicht überwinden kann, ohne sich mit ihm auseinandergesetzt zu haben. ,,Das Gesicht im Mond weiß es.", das lyrische Ich weiß es, aber niemand sonst weiß es und zwar wie es ist, die Einsamkeit zu erleben, wenn man den bitteren Verlust einer zerbrochenen Liebe ertragen muss. An dieser Liebe, dessen Gegenpart jemand mit ,,steinernen Herzen" war, brachen die ,,Flügel" der Erzählerin. Durch den Tempuswechsel von der Gegenwart in die Vergangenheit im Vers 6 wird gezeigt, dass dieser Verlust schon einige Zeit zurückliegt und ein Neubeginn dringend erforderlich ist. Der Vergleich liegt nahe, dass man mit gebrochenen Flügeln nicht ,,auffliegen" kann. Daraus folgt, dass man mit gebrochenen Herzen auch nicht der Trauer entfliehen kann. Nach dem Absturz ,,Hoch vom blauen Gebüsch", also nach dem Verlust der großen Liebe und dem Glück zu zweit ,,Will... Alles verhaltene
Gezwitscher...wieder jubeln", das heißt zurückfinden zu der Freude am Leben und der Hoffnung, eine neue Liebe zu finden. Natürlich ist das nur möglich, wenn man noch einmal von neuem beginnt und das Vergangene ruhen lässt. Aufgrund des Farbsymbols ,,blau" und dem leidenschaftlichen Verlangen nach Überwindung der Trauer wird meine Theorie über die zeitliche Einordnung in den Expressionismus gestärkt.
Das Gedicht ,,Trauer" von Eva Strittmatter ist ebenfalls in einer modernen Form geschrieben. Es besitzt eine Strophe, die sich in zwanzig Verse unterteilt. In diesem Gedicht liegt, meiner Ansicht nach, eine Mischung zwischen Binnen- und Endreimen vor. Diese werden entweder verknüpft, wie im Vers 4 ,,Trauer" und Vers 6 ,,Lauer", oder einzeln, wie im Vers 1 ,,Lügen" und Vers 3 ,,betrügen", verwendet. In den dreizehn Sätzen, welche das Gedicht umfasst, stelle ich einen durchgängigen zweifüßigen Jambus als Metrum fest. Die verwendeten Sätze sind entweder kurz und prägnant, wie im Vers 5 erster Teil, oder lang und erklärend, wie im Vers 5 zweiter Teil bis Vers 7 erster Teil. Die Versanfänge beginnen, außer im Vers 16 ,,Wem", genau nach grammatischen Regeln. Auch in diesem Gedicht erkenne ich einen fließenden Rhythmus. Der Titel ,,Trauer" bereitet uns, anders als es im vorangegangenen Gedicht der Fall war, auf das vor, was wir inhaltlich in diesem Werk zu erwarten haben, nämlich die Empfindung der Trauer und der Versuch diese zu überwinden, was leider nicht gelingen mag. Eva Strittmatters Gedicht beginnt sofort mit dem Versuch der Trauerbewältigung. Nach außen hin ,,schützen mich die Lügen," ,,Aber mich selbst zu betrügen, ist sinnlos." Das ist für mich ein klarer Widerspruch im Verhältnis mit dem Umgang der Trauer. Es anderen, Außenstehenden zu verbergen ist leicht und geschieht auf unterschiedlichste Weise. Auch wenn das lyrische Ich es nun ,,mit lautem Singen" versucht nach außen hin zu verbergen, "Selbstbetrug hilft nicht bei Trauer." Solche Antithesen zeugen von der Sinnlosigkeit des Selbstbetruges. Der Versuch des Unterlassens hilft nichts;
irgendwann muss man sich seinen Gefühlen stellen und versuchen sie zu überwinden. Wie im Vers 5 ff gesagt, wird man leider immer wieder von seinen Gedanken eingeholt. Der Vergleich mit einem Polyp, ,,der tausend Arme hat" ist zwar eine Übertreibung, spiegelt aber eindrucksvoll und sehr bildhaft die Zwickmühle wieder, die das lyrische Ich erfährt. Ob es sich nun den Gefühlen stellt oder versucht ihnen zu entfliehen, muss jeder für sich selbst entscheiden. Der Vergleich mit einem unbezwingbaren Gegner wirkt auf den Leser des Gedichtes natürlich faszinierend und bewegt ihn ungemein. Leider schlägt die Hoffnung in diesem Werk fehl. Die Erzählerin versucht es mit Selbstmitleid, mit dem ,,verfluchten" Selbstmitleid und schafft es für kurze Zeit. Diese Versuche werden verglichen mit dem Bild
der Hunde, die immer wieder zurückkehren und das trauernde Ich im "Dunkel", in der Einsamkeit, anfallen. Wie schon erwähnt, gibt es im Vers 15 noch den Versuch, durch lautes ,,Singen" die Heiterkeit nach außen hin zu symbolisieren. Durch die rhetorische Frage ,,Warum auch nicht?" stimmt die Erzählerin ebenso der Unterdrückung zu, wie auch die Aussage, dass das Leben mit ihr weiterzieht. Da das lyrische Ich sich als ,,Vorspann" oder als Vorreiter sieht, ist es für sie auch egal, ob man nun die inneren Schmerzen überwindet oder unterdrückt. Man kann erkennen, dass das lyrische Ich die lang anhaltende innere Trauer als etwas Individuelles und etwas tief Empfundenes ansieht (Vers 19 f), was ein sehr leidvoller und konfliktreicher Prozess ist, den jeder Einzelne durchlaufen muss, um sich selbst und seinen inneren Frieden zu finden.
Es liegt nun nahe, beide Gedichte durch die Gleichheit ihrer Themen zu vergleichen. Beide Autorinnen setzen sich mit dem tiefgründigen Gefühl der Trauer auseinander und beziehen ihre augenblickliche Befindlichkeit stark ein.
Else Lasker-Schüler betrachtet das Thema aus einem etwas distanzierteren und subjektiven Blickpunkt, indem sie den Leser durch den Tempuswechsel und den Vergleich mit der Natur, einen starken Eindruck ihrer Gefühlslage vermittelt hat.
Eva Strittmatter beschreibt das Thema mindestens genau so eindrucksvoll, indem sie die Trauer von innen und außen betrachtet. Dieses Gedicht regt den Leser sehr stark zum Nachdenken an, wie er ganz persönlich mit der Trauer umgehen würde. Beide Gedichte sind sehr selbstkritisch und geprägt durch bildhafte Vergleiche.
Zum Schluss möchte ich noch einmal, wie ich es eingangs schon getan habe, darauf hinweisen, dass diese zwei Gedichte meine Gefühle sehr berührt haben und mich zum Nachdenken bewegten, wie ich persönlich mit der inneren Trauer umgehen würde.
Name: Christian Becker Datum: 2000-12-21
Kurs: DeLK 1
Hausaufsatz
Thema: Interpretierender Gedichtvergleich
Else Lasker-Schüler ,,Ein Lied" und Eva Strittmatter ,,Trauer"
- Arbeit zitieren
- Christian Becker (Autor:in), 2001, Lasker-Schüler, Else - Ein Lied - Vergleich mit Eva Strittmatter - Trauer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100113
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