Die forschungsleitende Hypothese der Arbeit lautet: Durch die Einführung, Verbreitung und Nutzung von Online-Medien im gesellschaftlichen sowie im politischen Bereich entwickelt sich die politische Öffentlichkeit der deutschen Gesellschaft in beschleunigtem Maße von einer „Synthese-Öffentlichkeit“ zu einer „Wettbewerbs-Öffentlichkeit“. Der strukturelle Wandel politischer Öffentlichkeit zeigt sich in gesellschaftlichen und demokratietheoretischen Folgeproblemen.
Politischer Öffentlichkeit gelingt es immer weniger, die systemtheoretische Funktion eines politischen Sinn- und Orientierungsrahmens zu erbringen. Die explosionsartige Vervielfältigung und die globale Verfügbarkeit politischer Informations- und Kommunikationsangebote durch Online-Medien und die daraus erwachsende Selektionsnotwendigkeit verschärfen die Frage nach der Entstehung politischer Wirklichkeit. Die gesellschaftliche Integration in eine gemeinsam geteilte politische Wirklichkeit kann von der politischen Öffentlichkeit kaum noch erbracht werden. Hierdurch verstärkt sich die Problematik der gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsfindung. Politische „Wirklichkeiten“ in Form von Meinungen und Einstellungen treffen ungebremst aufeinander und stoßen in zunehmendem Maße auf gegenseitiges Unverständnis.
Ohne die entsprechenden Verfahren und Regeln einer auf einem Wettbewerb beruhenden, diskursiven Auseinandersetzung institutionalisiert zu haben, kommt es hier zu einer Fundamentalisierung von Konflikten, indem die Zulassung unterschiedlicher Meinungen die Negation der eigenen politischen Wirklichkeit bedeutet. Die nachlassende Integrationskraft politischer Öffentlichkeit ist durch eine zunehmende Verschärfung von politischen Konflikten gekennzeichnet. Nur durch die Zulassung divergierender Meinungen in einem freien Wettbewerb kann einer Fundamentalisierung von Konflikten entgegengewirkt werden. Entsprechende Verfahren, Regeln und Institutionen der Konfliktbewältigung müssen daher auf allen gesellschaftlichen Ebenen geschaffen werden.
INHALT
1. EINLEITUNG UND FRAGESTELLUNG
1.1 Einführung in Thema und Forschungsstand
1.2 Hypothese und Vorgehensweise der Arbeit
2. POLITISCHE ÖFFENTLICHKEIT: EIN ÜBERBLICK
2.1 Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft
2.1.1 Öffentlichkeitsebenen
2.1.2 Öffentlichkeit als funktionales Teilsystem
2.1.3 Akteure massenmedialer Öffentlichkeit
2.1.4 Die Entstehung massenmedialer Öffentlichkeit
2.2 Politische Öffentlichkeit: Zwischen Volk und Staat
2.2.1 Öffentlichkeit als intermediäres System
2.2.2 Das politische System als funktionales Teilsystem
2.2.3 Politische Öffentlichkeit - Öffentlichkeit des Politischen
2.2.4 Öffentliche Meinung und politische Wirklichkeit
3. ZWEI DISKURSMODELLE POLITISCHER ÖFFENTLICHKEIT
3.1 Rationale Diskurse
3.1.1 Die Perspektive der Kritischen Theorie
3.1.2 Die Perspektive des Kritischen Rationalismus
3.2 Sozialkulturelle Mechanismen diskursiver Konsensfindung
3.2.1 Konsens durch Synthese
3.2.2 Konsens durch Wettbewerb
3.3 Modelle deliberativer und liberaler Öffentlichkeit
3.3.1 Deliberative Öffentlichkeit
3.3.2 Liberale Öffentlichkeit
3.4 Das Synthese- und das Wettbewerbsmodell politischer Öffentlichkeit
3.4.1 Politische Öffentlichkeit als Synthese
3.4.2 Politische Öffentlichkeit als Wettbewerb
4. ZWISCHENBETRACHTUNG
4.1 Zusammenfassung der theoretischen Überlegungen
4.2 Konkretisierung der Hypothese
5. ONLINE-MEDIEN UND KOMMUNIKATION
5.1 Grundlagen und Überblick
5.1.1 Begriffsbestimmung und historische Entwicklung
5.1.2 Dienste im Internet
5.2 Kommunikation im Internet
5.2.1 Kommunikationsleistungen von ICMC
5.2.2 Das Internet als Hybridmedium Exkurs: Das Internet als emanzipatorischer
6. POLITISCHE ÖFFENTLICHKEIT:
6.1 Die PROZEßSTUFE des Input politischer Öffentlichkeit
6.1.1 Informationssammlung: Zugänglichkeit und Selektivität
6.1.2 Kommunikativer Input des politischen Systems
6.1.3 Kommunikativer Input gesellschaftlicher Teilsysteme
6.1.4 Zusammenfassung: Expansion des kommunikativen Input
6.2 Die PROZEßSTUFE des Throughput politischer Öffentlichkeit
6.2.1 Informationsverarbeitung und Meinungsbildung
6.2.2 Verminderung der Synthetisierungsleistung
6.2.3 Steigerung der Synthetisierungsleistung
6.2.4 Zusammenfassung: Dynamisierung der öffentlichen Meinungsbildung...
6.3 Die PROZEßSTUFE des Output politischer Öffentlichkeit
6.3.1 Anwendung von Information und Entscheidung
6.3.2 Entscheidung durch Synthese
6.3.3 Entscheidung durch Wettbewerb
6.3.4 Zusammenfassung: Fragmentierung politischer Entscheidungsfindung..
7. SCHLUßBETRACHTUNG
7.1 Zusammenfassung und Validierung der Hypothese:
7.2 Gesellschaftliche und demokratietheoretische Folgeprobleme
ANHANG
I. Wachstum des Internet und des World Wide Web
II. Deutsche Netikette
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS
ZITIERWEISE
1. Einleitung und Fragestellung
1.1 Einführung in Thema und Forschungsstand
Mit der Veröffentlichung des „Starr-Report“ im Internet durch den Kongreß der Vereinigten Staaten von Amerika wurde deutlich, daß die Sphäre der Öffentlichkeit eine neue Dimension zu erreichen scheint. In der weltweiten Öffentlichkeit wurden Vorwürfe gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Bill Clinton, erhoben, Meineid geleistet, Zeugen beeinflußt und die Justiz behindert zu haben. Hintergrund dieser Vorwürfe gegen Clinton ist eine Sexaffäre, die durch die Ermittlungstaktik des Chef-Ermittlers Kenneth Starr zum Politikum wurde. Die Anklagepunkte, die ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten rechtfertigen sollen, sind im sogenannten Starr-Report aufgeführt, der seit dem 10. September 1998 aufgrund eines mehrheitlichen Beschlusses des amerikanischen Repräsentantenhauses im World Wide Web veröffentlicht ist und seither millionenfach abgerufen wurde.1 Auf 445 Seiten wird hier schonungslos und detailliert das sexuelle Verhältnis des amerikanischen Präsidenten zu einer Ex-Praktikantin im Weißen Haus beschrieben. Die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre scheinen zu verschwinden. Öffentlichkeit wird zu politischen Zwecken instrumentalisiert. Das politische Potential der neuen Kommunikationsmedien und speziell des Internet wird hier in bisher unbekanntem Ausmaß deutlich.
Seit wenigen Jahren erleben die auf der Basis von Computernetzen funktionierenden Online-Medien eine rasante Konjunktur. Die explosionsartige Entwicklung des Internet ist im wesentlichen auf die Benutzerfreundlichkeit des World Wide Web (WWW) zurückzuführen. So kam es in den vergangenen Jahren weltweit zu einem sprunghaften Anstieg von Internetanschlüssen und Webseiten.2 Der jährliche Zuwachs an neuen Host-Rechnern3 im Internet läßt auch in Deutschland ein exponentielles Wachstum erkennen, was sich auch in einer steigenden Anzahl von Online-Nutzern spiegelt (vgl. Batinic / Bosnjak / Breiter 1997; GfK Online-Monitor 1998a/b). Als politisches Medi- um zunächst unterschätzt, ist in neueren Studien zu erkennen, daß auch die Kommunikation mittels Online-Medien in zunehmendem Maße durch politische Inhalte geprägt ist (vgl. Hagen / Mayer 1998; Hagen 1997, Rilling 1998).
Politische Informations- und Kommunikationsangebote von Parteien, Institutionen, Organisationen, Vereinen, sozialen Interessengruppen und Bürgerinitiativen sind immer häufiger über das Internet zu erreichen und bieten dem Internet-Nutzer eine Reihe vielfältiger Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Abgeordnete und Parteien informieren auf „Webseiten“ über ihre politische Arbeit in Wahlkreisen und Parlament. Durch die Möglichkeit der elektronischen Post können sie in direkten Kontakt mit ihren Wählern treten. Im Bereich der politischen Kommunikation ergeben sich so durch das Internet neue Kommunikationspotentiale, die den bisherigen Informations- und Kommunikationsfluß erweitern und intensivieren können (vgl. Hagen 1998a; Zipfel 1998). So wurde das Internet nach den US-amerikanischen Präsidentschafts- und Kongreßwahlen (vgl. Bieber 1997; Bimber 1997; Kleinsteuber 1996; Klinenenberg / Perrin 1996) auch im Bundestagswahlkampf 1998 (vgl. Bieber 1998; Grassmann 1998) bereits umfangreich zur politischen Kommunikation genutzt.
Als Forschungsthema wurden Online-Medien und deren Nutzer lange Zeit von den Sozial- und Kommunikationswissenschaften ignoriert (Morris / Ogan 1996: 39). Die von Beck und Vowe (1997a: 8) diagnostizierte „vornehme Zurückhaltung“ der Wissenschaft in Bezug auf Online-Medien findet ihre Begründung vor allem in der dynamischen Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK). So ist bis zum heutigen Zeitpunkt weder der Status des Internet als neues Massenmedium eindeutig geklärt (vgl. Höflich 1997), noch liegen gesicherte Nutzerdaten von Online-Akteuren vor. Die Vielzahl der mittlerweile erschienenen Publikationen zum Thema OnlineMedien zeigt, daß sich die empirische Sozialforschung bislang nur peripher mit dem Thema befaßt hat.
Im Bereich der politischen Kommunikation sind es vor allem demokratietheoretische Fragen, die in Bezug auf die neuen IuK-Technologien diskutiert werden (vgl. Buchstein 1996; Geser 1996, 1998; Hagen 1997; Jarren 1998, Leggewie 1996, 1998; Neymanns 1998; Sarcinelli 1997). Betrachtet man den Diffusionsprozeß der herkömmlichen Medien, ist kaum zu bezweifeln, daß auch die neuen Kommunikationsmedien wie das Internet, in erheblichem Umfang Auswirkungen auf den politischen Prozeß der Demokratie und das gesamte Feld der Politik haben werden. In der Art, dem Einfluß und dem Umfang, in der Online-Medien den Prozeß der Demokratie prägen, herrschen jedoch unterschiedliche Standpunkte (vgl. Buchstein 1996).
In vielfältiger Weise werden vor allem die „segensreichen“ Kommunikationsvoraussetzungen der neuen Medien von „Netzapologeten“ beschrieben ( vgl. Rheingold 1994; Gates 1995; Dyson 1997; Negroponte 1998). Online-Kommunikation wird hier oftmals als eine universelle, anti-hierarchische, komplexe und anspruchsvolle Interaktionsform gesehen, durch die sich das Ideal einer demokratischen Öffentlichkeit verwirklichen läßt. Die potentiellen Kommunikationsmöglichkeiten des Internet, wie der universelle Zugang zu Informationen und Kommunikationen, Kommunikation ohne Zwang, die Freiheit des Ausdrucks, die thematische Unbeschränktheit, die Teilnahme außerhalb der traditionellen politischen Institutionen und die Generierung öffentlicher Meinung durch Diskussionsprozesse werden hier betont (vgl. Buchstein 1996: 588). So ist oftmals von einer „elektronischen Agora“ (Rheingold 1994: 27) und einem „neuen athenischen Zeitalter der Demokratie“4 die Rede. Schlagwörter wie „Cyber-Demokratie“ (Geser 1996; Rilling 1996), „Computerdemokratie“ (Buchstein 1996), „elektronische Demokratie“ (Hagen 1997) und „digitale Demokratie“ (Leggewie 1998) kursieren im wissenschaftlichen, wie im nicht-wissenschaftlichen Bereich.
Die Sphäre der politischen Öffentlichkeit, die als der „Grundstein jeder demokratischen Gesellschaft“ (Leggewie 1996: 3) gilt, ist in den bisherigen Untersuchungen über Onli- ne-Medien nur unzureichend beachtet worden. Die demokratietheoretische Relevanz erhält die politische Öffentlichkeit als Ort der Meinungs- und Willensbildung des Volkes. Meinungen und Einstellungen, die gegenüber dem Staat vertreten werden, entstehen im Kommunikationssystem Öffentlichkeit durch öffentlich geführte Diskurse. Politische Öffentlichkeit wird somit zum Kristallisationspunkt der Meinungs- und Willensbildung und zum Motor demokratischer Gesellschaftsordnungen. Trotz der demokratietheoretischen Bedeutung, die der Sphäre der politischen Öffentlichkeit beigemessen wird, wurde die politische Öffentlichkeit in Bezug auf Online-Medien als Forschungsthema bisher weitgehend vernachlässigt. Zwar wurden die Demokratisierungspotentiale von Online-Medien betont, indem auf die theoretischen Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten von Online-Medien verwiesen wurde, die politische Öffentlichkeit als Basis gesellschaftlicher und politischer Kommunikationsprozesse fand dabei jedoch kaum Beachtung. Die vorliegende Arbeit befaßt sich deshalb exemplarisch mit dem Strukturwandel politischer Öffentlichkeit durch Online-Medien.
1.2 Hypothese und Vorgehensweise der Arbeit
Im Mittelpunkt der Betrachtungen dieser Arbeit steht der Strukturwandel politischer Öffentlichkeit durch Online-Medien sowie die gesellschaftlichen und demokratietheoretischen Auswirkungen eines solchen Wandels. Der strukturelle Wandel der politischen Öffentlichkeit, wie er hier beschrieben wird, bezieht sich im wesentlichen auf die politische Öffentlichkeit der deutschen Gesellschaft.
Die forschungsleitende Hypothese dieser Arbeit lautet: Durch die Einführung, Verbreitung und Nutzung von Online-Medien im gesellschaftlichen sowie im politischen Bereich entwickelt sich die politische Öffentlichkeit der deutschen Gesellschaft in beschleunigtem Maße von einer „Synthese-Öffentlichkeit“ zu einer „ WettbewerbsÖffentlichkeit“. Der strukturelle Wandel politischer Öffentlichkeit zeigt sich in gesellschaftlichen und demokratietheoretischen Folgeproblemen.
Um den strukturellen Wandel politischer Öffentlichkeit im näheren darstellen zu können, muß zuvor die Struktur und Beschaffenheit politischer Öffentlichkeit näher betrachtet werden. Nach der einführenden Bestandsaufnahme wird in Kapitel 2 der Arbeit zunächst ein einleitender Überblick über Wesen und Struktur von Öffentlichkeit im allgemeinen und politischer Öffentlichkeit im speziellen gegeben. Politische Öffentlichkeit wird als intermediäres Kommunikationssystem aus makrosoziologischer Perspektive beschrieben. Die politische Öffentlichkeit der modernen Gesellschaft ist eine massenmediale Öffentlichkeit. Hier stehen besonders systemtheoretische und konstruktivistische Überlegungen von Luhmann (1970, 1992, 1996), Gerhards (1994), Neidhardt (1994) sowie Gerhards und Neidhardt (1993) im Mittelpunkt der Analyse.
In Kapitel 3 werden zwei Diskursmodelle politischer Öffentlichkeit entwickelt. Aus mikrosoziologischer Perspektive werden hier diskurstheoretische Überlegungen zu den sozialen Mechanismen der Konsensfindung gesellschaftlicher Diskurse unternommen. Dabei werden rationale Diskurse aus der Perspektive der Kritischen Theorie und der Perspektive des Kritischen Rationalismus unterschieden. Die theoretischen Grundlagen bieten hier die diskurstheoretischen Schriften Habermas (1976, 1995, 1996) und die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Poppers (1987, 1995a), sowie die wissen- schafts- und diskurstheoretischen Überlegungen von Aretz (1990, 1996). In Anlehnung an demokratietheoretische Überlegungen, nach denen sich Öffentlichkeit als liberales Öffentlichkeitsmodell bzw. deliberatives Öffentlichkeitsmodell beschreiben läßt, wird ein Synthese- und ein Wettbewerbsmodell politischer Öffentlichkeit entwickelt und beschrieben. Die demokratietheoretischen Überlegungen zu einem deliberativen Öffentlichkeitsmodell finden sich im wesentlichen in den Schriften Habermas (1992, 1994a, 1994b). Die theoretischen Grundlagen eines liberalen Öffentlichkeitsmodells, die sich keinem einzelnen Autor zuschreiben lassen, finden sich vor allem in den systemtheoretischen Überlegungen von Luhmann (1970, 1992) und demokratietheoretischen Überlegungen von Dahrendorf (1965, 1993) und Ackerman (1989).
In einer Zwischenbilanz werden in Kapitel 4 die bisherigen Betrachtungen zusammengefaßt und die einleitend gestellte Forschungshypothese konkretisiert, bevor in Kapitel 5 ein Überblick über die Grundeigenschaften und Kommunikationspotentiale von Onli- ne-Medien gegeben wird. In einem anschließenden Exkurs wird das Internet in Anlehnung an die kommunikationstheoretischen Überlegungen von Brecht (1992) und Enzensberger (1997) als neues Medium der politischen Kommunikation - als emanzipato- rischer Kommunikationsapparat - beschrieben. Inwieweit Online-Medien die Struktur einer massenmedialen politischen Öffentlichkeit beeinflussen und verändern, wird im nächsten Kapitel dargestellt. Das 6. Kapitel befaßt sich exemplarisch mit dem Strukturwandel politischer Öffentlichkeit durch Online-Medien. Der strukturelle Wandel der politischen Öffentlichkeit in der deutschen Gesellschaft wird dabei beispielhaft an den unterscheidlichen Prozeßstufen des intermediären Kommunikationssystems Öffentlichkeit dargestellt. Anhand empirischer Untersuchungen läßt sich zeigen, daß der kommunikative Input in das System politischer Öffentlichkeit durch die Nutzung der neuen Kommunikationspotentiale von Online-Medien enorm expandiert. Immer mehr „politische Netzakteure“ (Rilling 1997) nutzen Online-Medien und das Internet in den unterschiedlichsten Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Dies hat weitreichende Folgen für den Throughput-, den Informationsverarbeitungsprozeß politischer Öffentlichkeit. Die von Münch (1995) beschriebene Dynamisierung der öffentlichen Meinungsbildung erfährt durch Online-Medien eine erneute Beschleunigung. Dies läßt sich deutlich am Throughputprozeß politischer Öffentlichkeit zeigen. Eine einheitliche Konsensfindung in der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ist so unmöglich. Unterschiedliche gesellschaftliche und politische Interessen und Standpunkte werden nicht synthetisch zusammengefaßt, sondern existieren nebeneinander, wie in einem konkurrierenden Wettbewerb.
Im 7. und abschließenden Kapitel werden die bisherigen Überlegungen in einer Schlußbetrachtung zusammenfassend dargestellt. Es zeigt sich, daß sich die politische Öffentlichkeit der deutschen Gesellschaft durch die Einführung und Nutzung von OnlineMedien in der gesellschaftlichen und politischen Kommunikation in beschleunigtem Maße von einem Synthese-Modell politischer Öffentlichkeit zu einem WettbewerbsModell politischer Öffentlichkeit entwickelt. Dadurch ergeben sich gesellschaftliche und demokratietheoretische Folgeprobleme die abschließend skizziert werden.
2. Politische Öffentlichkeit: Ein Überblick
Begriffe wie Öffentlichkeit, politische Öffentlichkeit und öffentliche Meinung bilden in den unterschiedlichen Zusammenhängen gesellschaftlicher und politischer Kommunikation eine dauerhafte und bedeutsame Bezugsgröße (vgl. Gerhards / Neidhardt 1993: 52). Gesellschaftliche und politische Handlungen sind immer mehr darauf angelegt, in der Öffentlichkeit „anzukommen“, von der Öffentlichkeit akzeptiert zu werden. Politiker versuchen in der Öffentlichkeit gut dazustehen, ein gutes Image zu haben. Parlamentarische Gesetzesvorhaben werden dahingehend überprüft, ob sie von der Öffentlichkeit getragen werden. Parteien, Verbände, Kirchen, Unternehmen, soziale Bewegungen und Interessengruppen versuchen sich in der Öffentlichkeit durch Selbstdarstellung und Inszenierungen Reputation zu verschaffen.
Was jedoch macht politische Öffentlichkeit aus? Wie entsteht Öffentlichkeit und was sind die Voraussetzung für die Entstehung von Öffentlichkeit? Welche gesellschaftlichen und politischen Funktionen übt Öffentlichkeit aus? Was ist unter der Meinung, die die Öffentlichkeit angeblich hat, zu verstehen? Wie ist Öffentlichkeit aufgebaut? Diese Fragen sollen im folgenden anhand makrosoziologischer Überlegungen beantwortet werden. Grundlage der theoretischen Überlegungen bilden die systemtheoretischen und konstruktivistischen Ansätze von Luhmann (1970, 1992, 1996), Gerhards (1994), Neidhardt (1994) sowie Gerhards und Neidhardt (1993).
2.1 Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft
Von „öffentlich“ wird gesprochen, wenn etwas nicht geschlossen, also offen zugänglich ist. Eine öffentliche Veranstaltung wie einen Jahrmarkt, kann, im Gegensatz zu einer geschlossenen Veranstaltung, wie eine private Feier oder ein geheimes Treffen, jeder besuchen. Die Veranstaltung ist öffentlich, also allen offen zugänglich. Öffentlichkeit grenzt sich somit zur Sphäre des Privaten und des Geheimen durch die generelle freie Teilnahmemöglichkeit für jedermann ab. „Öffentlich ist, was nicht geheim ist. Öffentlich ist aber auch, was nicht privat ist“ (Fraenkel 1964: 134). Die freie Zugänglichkeit, also die „prinzipielle Unabgeschlossenheit des Publikums“ (Habermas 1996: 98), ist somit für Öffentlichkeit konstitutiv. Die in der Öffentlichkeit stattfindenden Interaktionen sind den Wahrnehmungen eines potentiell unbegrenzten Publikums zugänglich. „Öffentlichkeit scheint als ein offenes Kommunikationsforum für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen“ (Neidhardt 1994: 7). Öffentlichkeit entsteht also immer dann, wenn prinzipiell alle Menschen frei miteinander kommunizieren können.
In einem solchen Kommunikationsforum agieren verschiedene Öffentlichkeitsakteure. Dies sind zum einen die Sprecher und zum anderen das Publikum. Die verschiedenen Öffentlichkeitsakteure solcher Kommunikationsforen vertreten dabei Meinungen zu bestimmten Themen und geben diese durch Kommunikation an die Öffentlichkeit weiter. Die Meinungsäußerungen werden dabei von einem unbegrenzten Publikum beobachtet. Das Publikum darf hier jedoch nicht als passiver Adressat und stummer Beobachter im Sinne eines Empfängers von Kommunikationen begriffen werden. Vielmehr ist das Publikum prinzipiell als weiterer Öffentlichkeitsakteur in den offenen Kommunikationsprozeß einbezogen und kann ebenfalls jederzeit frei Meinungen äußern.
In diesem Kommunikationsprozeß können sich Fokussierungen und Übereinstimmungen von Themen und Meinungen ergeben, die als Konsonanz des offenen Kommunikationsforums „öffentliche Meinungen““ sind. Unter Öffentlichkeit kann also im Sinne Habermas (1973: 61) ein Bereich des gesellschaftlichen Lebens verstanden werden, in dem sich so etwas wie öffentliche Meinung bilden kann. „Dabei verstehen wir unter „öffentlicher“ Meinung eine Meinung, die in öffentlichen Kommunikationen mit breiter Zustimmung rechnen kann, eine Meinung, die sich in den Arenen öffentlicher Meinungsbildung durchgesetzt hat und insofern „herrschende“ Meinung darstellt“ (Gerhards / Neidhardt 1993: 58). Öffentliche Meinung ist in diesem Sinne eine kollektive Größe (ebd.), die als „die vorherrschende Ansicht einer unbestimmten Menge Menschen“ (Oeckel 1976: 32) vom Publikum wahrgenommen werden kann. Nicht die Addition aller gesellschaftlichen, individuellen Meinungen, sondern die vorherrschende Meinung aller Öffentlichkeitsakteure, die am öffentlichen Kommunikationsprozeß teilnehmen, konstituiert öffentliche Meinung.
Im folgenden wird Öffentlichkeit als ein Kommunikationsforum dargestellt, das sich in mehrere Ebenen differenzieren läßt.
2.1.1 Öffen tlich keitseben en
Öffentlichkeit ist als ein offenes Kommunikationssystem eine diffuse Größe. Das öffentliche Gespräch von Privatleuten in einer Kneipe, die politische Veranstaltung im Bürgerzentrum sowie die Fernsehübertragung einer Verhandlung des Deutschen Bundestages beschreiben zugleich Öffentlichkeit. Sie unterscheiden sich jedoch in der Art und in der Zusammensetzung. Besonders unterscheiden lassen sich hier: Die Anzahl der an der Öffentlichkeit beteiligten Individuen, das quantitative Verhältnis von Sprechern und Publikum, die Differenzierung von Leistungsrollen und die Interaktivität, d. h. die Möglichkeit, in einen öffentlich laufenden Kommunikationsprozeß kommunikativ einzugreifen. Den Überlegungen von Gerhards und Neidhard (1993: 63) folgend, kann Öffentlichkeit als ein in mehrere Ebenen differenziertes System dargestellt werden, das eine Vielzahl kleiner und großer Foren umfaßt, die nur teilweise miteinander vernetzt sind. Die verschiedenen Öffentlichkeitsebenen lassen sich zum einen nach der Reichweite, also der Menge der potentiellen Kommunikationsteilnehmer, und zum anderen nach dem Grad der strukturellen Verankerung unterscheiden. Es lassen sich drei Öffentlichkeitsebenen differenzieren, die im folgenden vorgestellt werden:
1. Einfache Interaktionssysteme bilden die elementarsten Formen einer „kleinen“ Öffentlichkeit. Sie basieren auf Kommunikationen von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die mehr oder weniger zufällig aufeinander treffen. Durch die freie Zusammenkunft von Menschen, z. B. im Bus, am Arbeitsplatz oder in einer Kneipe, entstehen solche Formen politischer Öffentlichkeit fast zwangsläufig. Die Häufigkeit solcher Öffentlichkeiten hängt von den makrostrukturellen Kontextbedingungen, vor allem von der „Dichte“ einer Gesellschaft ab (Gerhards / Neidhardt 1993: 63). Einfache Interaktionssysteme sind kaum strukturiert und besitzen eine große Offenheit und Themenflexibilität. Sie zeichnen sich in der Regel durch einen Episodencharakter aus, in dem die einzelnen Kommunikationsepisoden nicht miteinander verbunden sind. Dadurch wird eine Kontinuität der Themenführung weitgehend verhindert, was die Zerbrechlichkeit dieses Öffentlichkeitstyps ausmacht. „Die Themen fluktuieren, und mit dem Wechsel der Teilnehmer verändert sich der Meinungsstand“ (ebd.: 64).5
2. Öffentliche Veranstaltungen sind thematisch zentrierte Interaktionssysteme, die offen zugänglich sind. Sie sind „organisierte“ Öffentlichkeit. Ort, Thema, Sprecher und Publikum müssen durch einen Veranstalter (Personen, Gruppen und Institutionen) organisiert werden.
Veranstaltungen als Öffentlichkeitsforum sind sozial „voraussetzungsvoller“, was sich in der Rollendifferenzierung der verschiedenen Öffentlichkeitsakteure verdeutlicht. Komplementär zu den Leitungsrollen der Referenten und Diskussionsleiter, die Themen und Meinungen vorgeben, bilden sich Publikumsrollen, deren Äußerungsmöglichkeiten beschränkter sind. Während der größte Teil des Publikums schweigt, bilden Beifall, Pfiffe, Raunen und der frühzeitige Weggang durchaus wirksame Äußerungsformen des Publikums (ebd.: 65). Wortmeldungen des Publikums müssen sich auf die Äußerungen der Veranstaltungsleiter beziehen und sind „insofern in der Rückhand“ (ebd.).
Das Thema ist für öffentliche Veranstaltungen strukturbildend, denn die Teilnahme an einer öffentlichen Veranstaltung setzt ein Themeninteresse voraus. Die Auswahl und Teilnahme der Referenten und des Publikums wird so durch das Thema gesteu- ert.6
3. Massenmedienkommunikation stellt eine Öffentlichkeitsebene dar, die sich erst in modernen Gesellschaften herausbildet. Mit den Massenmedien tritt ein weiterer Kommunikationsakteur in das Forum der Öffentlichkeit. „Sprecher und Publikum werden über Kommunikateure vermittelt und verlieren ihren interaktiven Zusammenhang. Dies aber steigert die Reichweite der Sprecher, und die Größe des Publikums kann erheblich steigen. Öffentliche Kommunikation wird zur Massenkommunikation“ (Neidhardt 1994: 10).
„Massenmedienkommunikation“ unterscheidet sich in mehreren Punkten von den anderen Öffentlichkeitsebenen. Die Voraussetzung für Massenkommunikation ist eine technisch entwickelte Infrastruktur. Dadurch wird die Möglichkeit gewährleistet, die öffentliche Meinung breitflächig und kontinuierlich zu beeinflussen. Innerhalb der Massenmedienkommunikation kommt es zu einer Ausdifferenzierung verschiedener Leistungsrollen. Auf der einen Seite stehen die Sprecher, auf der anderen Seite das Publikum. Dazwischen stehen die Massenmedien, die die beiden Seiten kommunikativ miteinander verbinden. Durch die Massenmedienkommunikation verändert sich die Rolle des Publikums. „Das Publikum wird abstrakter (keine Präsenzöffentlichkeit), zudem viel größer, in seinen Handlungsmöglichkeiten aber reduzierter“ (Gerhards / Neidhardt 1993: 66). So beschränken sich die Gestaltungsformen des Publikums bei den herkömmlichen Massenmedien wie Zeitung, Rundfunk und Fernsehen, von Leserbriefen und Telefonanrufen abgesehen, auf das „Ausschalten bzw. Abbestellen der „veröffentlichten Meinung““ (ebd.). Öffentliche Meinung, die vom politischen System moderner Gesellschaften wahrgenommen werden kann, konstituiert sich in erster Linie durch die Massenmedien. Zwar werden auch auf anderen Ebenen der Öffentlichkeit Themen und Meinungen artikuliert; „öffentliche Meinungen entstehen im Kreislauf über alle Ebenen hinweg“ (ebd.). Zu gesamtgesellschaftlich politisch wirksamer Öffentlichkeit werden Themen und Meinungen in komplexen Gesellschaften aber erst durch die massenmedial hergestellte Öffentlichkeit.
Zusammenfassend lassen sich die drei vorgestellten Öffentlichkeitsebenen als quantitativ und qualitativ differente Stufen im Ausdifferenzierungsprozeß des Öffentlichkeitssystems interpretieren. Die unterschiedlichen Merkmale der verschiedenen Öffentlichkeitsebenen sind in Abbildung 1 schematisch dargestellt.
Abbildung 1: Quantitative und qualitative Differenzierung unterschiedlicher Öffentlichkeitsebenen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei der Phasenfolge und der Ausdifferenzierung der Kommunikationsweisen der verschiedenen Öffentlichkeitsebenen handelt es sich nicht einfach um einen Prozeß der Verdrängung und Substitution des einen durch das andere (vgl. Luhmann 1993: 312). „Eher handelt es sich um einen Prozeß des Hinzufügens von voraussetzungsvolleren Formationen, die dann die Bedingungen des Möglichen neu definieren und von daher umfunktionieren, was an älterem Strukturgut schon vorhanden ist“ (ebd.). Mit zunehmender Ausdifferenzierung des Öffentlichkeitssystems zu einer Massenmedienöffentlichkeit, so folgern Gerhards und Neidhardt (1993: 67), steigt die Leistungsfähigkeit und die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Kommunikationssystems. Je größer der Teilnehmerkreis einer Öffentlichkeit im Sinne der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Publikums ist, desto mehr braucht Öffentlichkeit technische Hilfsmittel zur Verbreitung von Kommunikationen, um ihrem konstitutiven Ideal gerecht zu werden. In modernen Gesellschaften läßt sich Öffentlichkeit durch die „massenhafte“ Verbreitung von Kommunikationen durch die Massenmedien verwirklichen. In die Öffentlichkeit der heutigen Massengesellschaften tritt so ein weiterer Öffentlichkeitsakteur hinzu: die Massenmedien.7 Nur so kann der Anschluß potentiell aller Menschen an öffentliche Vorgänge sichergestellt werden (Rucht 1994: 162) und nur so kann sich Öffentlichkeit als Kommunikationsforum in einer Massengesellschaft verwirklichen. Die Öffentlichkeit moderner Gesellschaften wird massenmedial hergestellt.
2.1.2 Öffentlichkeit als funktionales Teilsystem
Aus systemtheoretischer Perspektive können moderne Gesellschaften als funktional differenzierte Gesellschaften beschrieben werden. Die vormals hierarchisch gegliederte Gesellschaftsordnung differenziert sich in modernen Gesellschaften in horizontale, mehr oder weniger autonome, Teilsysteme. Die Autonomie solcher Teilsysteme, wie z. B. Politik, Wissenschaft oder Kunst, beruht darauf, daß sich diese Teilsysteme an den systemeigenen Kriterien und nicht an der Rationalität anderer Systeme orientieren. Die Grundmerkmale funktional differenzierter Gesellschaften können wie folgt beschrieben werden: „(a) Spezialisierung auf eine Funktion, (b) Entwicklung einer spezifischen Sinnstruktur, (c) strukturelle Absicherung des Systems durch spezifische Leistungsrollen und deren Einbindung in Organisationen einerseits und die Ausdifferenzierung von Publikumsrollen andererseits sowie eine Verknüpfung der verschiedenen Teilsysteme durch Leistungsbezüge zwischen ihnen“ (Gerhards 1994: 83).
a) Teilsysteme moderner Gesellschaften übernehmen eine Funktion in der Gesamtgesellschaft. So läßt sich ein Teilsystem als ein spezialisiertes Lösungssystem für spezifische Bezugsprobleme der Gesellschaft beschreiben. Das politische System hat zum Beispiel die gesellschaftliche Funktion der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Die Funktion der Wirtschaft ist es, Güter zu produzieren, um Bedürfnisse zu befriedigen.
b) Soziale Systeme sind Sinnsysteme. Funktionale Teilsysteme sind durch einen spezifischen Sinnzusammenhang strukturiert, der sich gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilsystemen abgrenzt. Die spezifische Sinnstruktur eines Teilsystems dient als generalisierte Handlungsorientierung für Einzelhandlungen innerhalb dieses Sinnzusammenhangs. Nach systemtheoretischer Vorstellung werden die generalisierten Sinnorientierungen eines Systems durch binäre Codes festgelegt. Der binäre Code des Rechtssystems ist dann „recht / unrecht“, der des Wissenschaftssystems „wahr / falsch“.
c) Teilsysteme sind dauerhafte Sinnsysteme, die durch eine Ausdifferenzierung von Leistungsrollen geprägt sind. Politiker, Juristen und Wissenschaftler sind Berufsrollenträger innerhalb spezifischer Teilsysteme. Die verschiedenen Leistungsrollen sind in Organisationen eingelassen. Neben den verschiedenen Leistungsrollen der Teilsysteme und deren Einbindung in Organisationen, bestehen in fast allen Teilsystemen spezifische Publikumsrollen wie z. B. Wähler, Konsumenten, Zuschauer. Durch diese Publikumsrollen kann die Gesamtbevölkerung in das jeweilige Teilsystem über Partizipationsregeln eingeschlossen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß funktionale Differenzierung die Menschen einer Gesellschaft nicht in verschiedene Teilsysteme aufteilt. Vielmehr können grundsätzlich alle Menschen an allen Teilsystemen partizipieren, vorausgesetzt, sie machen die Rationalität des jeweiligen Teilsystems zur Grundlage ihrer Sinnorientierung. Die Ausdifferenzierung spezifischer Teilsysteme beinhaltet zudem immer den gegenläufigen Aspekt einer zunehmenden Verflechtung zwischen den einzelnen Systemen. „Insofern steigert Ausdifferenzierung die Unabhängigkeit der Systeme via Autonomiegewinn und die Abhängigkeit der Systeme voneinander zugleich“ (Gerhards 1994: 84).
Betrachtet man den Prozeß der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, stellt sich die Frage, inwieweit auch von Öffentlichkeit als einem Teilsystem der Gesellschaft gesprochen werden kann. Um diese Frage klären zu können, ist es notwendig, sich das eingangs beschriebene Postulat der „freien Zugänglichkeit“ zur Öffentlichkeit erneut vor Augen zu führen. Wird der freie Zugang zur Kommunikation als eine Voraussetzung zur Entstehung von Öffentlichkeit verstanden, so ist die Entstehung der Öffentlichkeit aus systemtheoretischer Perspektive unmittelbar mit der Entstehung moderner, funktional differenzierter Gesellschaften verbunden (ebd.). Erst durch das Aufkommen von Massenmedien gewinnt Öffentlichkeit den Charakter eines ausdifferenzierten Teilsystems der Gesellschaft. Um Öffentlichkeit im folgenden als Teilsystem moderner Gesellschaften beschreiben zu können, muß parallel dazu der Ausdifferenzierungsprozeß des Massenmediensystems näher betrachtet werden. Dieser läßt sich anhand vier grundlegender Faktoren systematisieren (vgl. Gerhards 1994: 85):
1. Die technische Entwicklung, die im geschichtlichen Verlauf bis heute die massenhafte Verbreitung von Kommunikation erlaubt, ist eine grundlegende Voraussetzung für die Ausdifferenzierung des Mediensystems.
2. Eng mit der technischen Entwicklung zur massenhaften Verbreitung von Kommunikation verbunden ist die Entwicklung einer Infrastruktur zum Transport von Informationen. Diese bildet die zweite Voraussetzung für die Ausdifferenzierung des Mediensystems.
3. Eine weitere Bedingung für die Entstehung eines autonomen Mediensystems ist die „erfolgreiche Zurückdrängung systemexterner Einflußfaktoren“ (ebd.). Kirchliche und politische Freiheit sind Voraussetzungen für die Ausdifferenzierung eines autonomen Mediensystems, die in der historischen Entwicklung hart „erkämpft“ wurden und einen hohen Stellenwert in demokratischen Verfassungsstaaten genießen. Mei- nungs- und Pressefreiheit sowie Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit bilden „die Freiheiten, die die Voraussetzungen eines jeden öffentlichen Wirkens sind“ (Smend 1994: 466).8
4. Die zunehmende Alphabetisierung und Bildung der Bevölkerung sind ebenfalls eine Voraussetzung für die Ausdifferenzierung des Mediensystems, denn nur so kann die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Leistungs- und Publikumsrollen des Öffent- lichkeitssystems ausgeglichen werden. Das publizistische Angebot steigt mit der Nachfrage nach publizistischen Inhalten.
Mit der öffentlichen Verbreitung von Kommunikation in modernen Gesellschaften wird Kommunikation auf Dauer sichergestellt. Dies geschieht durch technische Entwicklung der Kommunikationsmittel und der Kommunikationsinfrastruktur, die verfassungsrechtliche Garantierung der „kommunikativen Grundrechte“ sowie der kulturellen Einbettung massenmedialer Kommunikation in die Gesamtbevölkerung.9 Öffentlichkeit, im Sinne einer freien Zugänglichkeit von Kommunikation, entsteht durch die Ausdifferenzierung des Mediensystems als massenmediale Öffentlichkeit bzw. Massenmedienöffentlichkeit. So wird Öffentlichkeit als Teilsystem der Gesellschaft institutionalisiert und auf Dauer gestellt (Gerhards 1994.: 87).
In modernen Gesellschaften wird Öffentlichkeit publizistisch hergestellt. „Publizistische Teilsysteme beobachten Gesellschaft und Welt und bieten die publizistisch verarbeiteten Beobachtungen der Gesellschaft an“ (Seeling 1996: 10). Aus systemtheoretischer Sichtweise liegt die zentrale Funktion von Öffentlichkeit „in der Ermöglichung der Beobachtung der Gesamtgesellschaft durch die Gesellschaft, in der Ermöglichung von Selbstbeobachtung“ (Gerhards 1994: 87). Die Massenmedien bilden das Beobachtungssystem der Gesellschaft und ermöglichen durch die Beobachtung der Gesellschaft erst die Selbstbeobachtung der Gesamtgesellschaft durch die Öffentlichkeit. Die Funktion der Massenmedien kann somit wie folgt beschrieben werden: Zum einen liegt die Funktion der Massenmedien in der Ermöglichung der Selbstbeobachtung der Gesamtgesellschaft (Gerhards 1994: 88), indem sie die Gesellschaft beobachten und diese Beobachtungen der Öffentlichkeit zur Beobachtung anbieten; zum anderen liegt die Funktion der Massenmedien im Dirigieren der Selbstbeobachtung durch die Öffentlichkeit (Luhmann 1996:173), „indem sie ein nach ihrer Rationalität selektiertes Bild der Gesellschaft zeichnen und dies der Gesellschaft zur Selbstbeobachtung zurückfunken“ (Gerhards 1994: 87). Während die Massenmedien die Beobachter der Gesellschaft darstellen, kann Öffentlichkeit als Beobachter von Beobachtungen (durch die Massenmedien) oder als Beobachter „zweiter Ordnung“ beschrieben werden (vgl. Luhmann 1990, 1992, 1996). „Öffentlichkeit ist mithin ein allgemeines gesellschaftliches Reflexionsmedium, das die Unüberschreitbarkeit von Grenzen, und dadurch inspiriert, das Beobachten von Beobachtungen registriert“ (Luhmann 1996: 187).10 Durch die Öffentlichkeit kann sich die Gesellschaft selbst beobachten, sie sieht bildlich gesprochen in einen Spiegel. Mittels der Massenmedien können Teilsysteme der Gesellschaft sich selbst und andere Teilsysteme durch die Öffentlichkeit beobachten. So leistet öffentliche Kommunikation die Partizipation von Teilen am Ganzen, und somit die gesellschaftliche Inklusion der Bürger in die Gesellschaft insgesamt (Gerhards 1994: 88). Luhmann sieht die gesellschaftliche Primärfunktion der Massenmedien „in der Beteiligung aller an einer gemeinsamen Realität oder, genauer gesagt, in der Erzeugung einer solchen Unterstellung, die dann als operative Fiktion sich aufzwingt und zur Realität wird“ (Luhmann 1993: 320). An dieser Stelle wird gleichzeitig die integrative Funktion von Öffentlichkeit deutlich. Um sich in der Gesellschaft orientieren und mit fremden Individuen kommunizieren zu können, muß die Akzeptanz von Themen bzw. Kommunikationsangeboten, die eigentlich immer erst im Nachhinein festgestellt werden kann, unterstellt werden. Öffentlichkeit kann somit als die „Unterstellbarkeit der Akzeptiertheit von Themen“ (Luhmann 1970: 18) oder als die „jeweils unterstellbare Verbreitung und Akzeptanz von Kommunikationsangeboten“ (Merten / Westerbarkey 1994: 198) bezeichnet werden. So können Individuen und gesellschaftliche Teilsysteme durch Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung an den gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß anschließen. Öffentlichkeit nimmt also am publizistischen Prozeß der Thematisierung und Herstellung von Gesellschaft in zweierlei Hinsicht teil (vgl. Seeling 1996: 10): Auf der einen Seite ist Öffentlichkeit Beobachter der durch die Massenmedien verbreiteten Kommunikationsangebote, auf der anderen Seite ist Öffentlichkeit auch Anbieter von Kommunikationen, indem sie die Akzeptiertheit von Themen unterstellt und in den gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß zurückführt.
2.1.3 Akteure massenmedialer Öffentlichkeit
Mit der Ausdifferenzierung der Öffentlichkeit zum funktionalen Teilsystem moderner Gesellschaften ist eine Differenzierung der Öffentlichkeitsakteure in spezifische Leistungsrollen verbunden. Öffentlichkeitsakteure lassen sich in Massenmedien, Publikum und Sprecher differenzieren. Diese werden im folgenden näher betrachtet:
1. Die Massenmedien stellen eine zentrale Leistungsrolle im Öffentlichkeitssystem dar. Durch die Entwicklung der Kommunikationstechniken, wie Druck-, Funk- und Fernsehtechnik, erfahren politische Kommunikationen massenhafte Verbreitung. In Folge der Ausdifferenzierung des Mediensystems lassen sich, in Anlehnung an Neidhardt (vgl. Neidhardt 1994: 11ff.), für die modernen Massenmedien drei charakteristische Leistungsmerkmale spezifizieren:
a) Autonomie: Moderne Massenmedien sind durch ein hohes Maß an Selbstbestimmung geprägt. Durch die Befreiung vom „Diktat kirchlicher und politischer Instanzen“ erhalten die Medien in der Öffentlichkeit die Rolle eines „neutralen“ Vermittlers. Sie werden zu einem Akteur besonderer Art, „dessen Eigenlogik - abhängig von seinen spezifischen Produktionsbedingungen, Leistungsprogrammen und Zieldefinitionen - öffentliche Kommunikation nachdrücklich prägt“ (ebd.: 11). Dem Mediensystem wird daher häufig die Rolle eines „gatekeepers“11 zugesprochen, der darüber entscheidet, über was wie öffentlich kommuniziert wird.
b) Professionalisierung: Parallel zum Autonomiesierungsprozeß erfährt das Mediensystem die Professionalisierung der Medienproduktion. „Es entstehen betriebsförmige Anstalten und Verlage mit zunehmend zweckförmiger Rationalisierung medialer Leistungserstellung“ (ebd.). Es kommt zu einer Ausdifferenzierung von Journalistenrollen.
c) Medienmärkte: Durch die Kommerzialisierung des Mediensektors gerät das Mediensystem in zunehmendem Maße in die ökonomische Abhängigkeit der Werbewirtschaft. Verschiedene Medienorganisationen konkurrieren um die Gunst des Publikums. Die Anzahl der Leser und Zuschauer sowie die Einschaltquote werden zum Erfolgskriterium der ökonomisch orientierten Massenmedien. Themen und Darstellungen der Massenmedien zielen daher in zunehmendem Maße darauf ab, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erreichen, um so potentielle Marktanteile zu sichern.
2. Das Publikum ist als Adressat massenmedialer Kommunikation eine „öffentlichkeitskonstituierende Bezugsgröße“ (ebd.:12). Im Hinblick auf die potentielle Reichweite der Massenmedien kann das Publikum als Gesamtheit der Staatsbürger betrachtet werden. Das tatsächliche Publikum bildet sich allerdings erst durch die Beteiligung am öffentlichen Kommunikationsprozeß, was ein Mindestmaß an Aktivität voraussetzt. So ist die Publikumsbeteiligung eine Variable, die in Abhängigkeit von Medien, Sprechern, Themen und Meinungen schwankt. Größe und Zusammensetzung des Publikums korrelieren miteinander, so daß sich mit der Größe auch die Zusammensetzung des Publikums ändert. In der Regel ist das Publikum nicht bevölkerungsrepräsentativ. Politisch Interessierte sind im Prozeß der politischen Kommunikation meist überrepräsentiert. Drei allgemeine Merkmale kennzeichnen jedes Publikum (vgl. Neidhardt 1994: 12ff.):
a) Laien (Nicht-Experten im Hinblick auf Themen) : Die Anzahl der Laien im öffentlichen Kommunikationsprozeß wächst mit der Größe des Publikums. Je größer das Publikum, desto stärker ist das Übergewicht der Laien. Öffentlichkeitsakteure müssen sich daher, um im öffentlichen Kommunikationsprozeß erfolgreich zu sein, auf eine begrenzte Verständnisfähigkeit des Publikums einstellen.
b) Heterogenität des Publikums: Auch wenn davon auszugehen ist, daß die Zusammensetzung des Publikums zumeist nicht repräsentativ ist, muß mit einem heterogenen Publikum gerechnet werden. Das Publikum besteht aus verschiedenen Bezugsgruppen, auf die sich die Sprecher einstellen müssen.
c) Schwacher Organisationsgrad: Der Organisationsgrad des massenmedialen Publikums ist nur schwach ausgeprägt. Das Publikum erfüllt nicht die Organisationsbedingungen eines öffentlichen Akteurs. Die Handlungsfähigkeit des Publikums bleibt in der Regel auf die Summe individueller Reaktionen auf unterster Ebene beschränkt.
3. Die Sprecher sind ebenso wie die Massenmedien im öffentlichen Kommunikationsprozeß von zentraler Bedeutung. Die Leistungsrollen der Sprecher lassen sich in Abhängigkeit der Leistungsrollen der Massenmedien spezifizieren. „Je konsequenter sich Massenmedien an ihre „Chronistenpflicht“ halten und vor allem als Nachrichtenträger verstehen, um so eigenständiger und deutlicher wird der öffentliche Kommunikationsbeitrag der Akteure, deren Stimme sie weitertragen“ (ebd.: 14) Die Leistungsrollen der Sprecher lassen sich wie folgt charakterisieren (vgl. Neidhardt 1993: 14f.; Peters 1994: 57f.):
a) Repräsentanten: Bei diesen Sprecherrollen handelt es sich um Vertreter unterschiedlicher sozialer Gruppierungen und Organisationen, wie Interessenverbände, Parteien, Vereine und soziale Bewegungen.
b) Experten: Diese Sprecherrolle zeichnet sich durch die Vertretung spezialisierter Professionen und wissenschaftlicher Disziplinen aus. Zu Experten werden diese Akteure erst dann, „wenn sie sich in der öffentlichen Sphäre bewegen, um dort ihre Reputation in öffentlichen Einfluß umzumünzen“ (Peters 1994: 57).
c) Advokaten: Von diesen Sprechern werden soziale Gruppen vertreten, die nicht oder nur unzureichend in der Lage sind, ihrer eigenen Interessen adäquat zu erkennen und zu artikulieren. Bei solchen sozialen Gruppen handelt es sich zumeist um Kinder, geistig Behinderte und marginalisierte Gruppen, denen Kompetenzdefizite zugesprochen werden (Peters 1994: 57). Ein besonderes Problem ergibt sich hier aus der fehlenden Kontrollmöglichkeit der Advokaten durch die repräsentierten sozialen Gruppen.
d) Intellektuelle: Diese Sprecher übernehmen, mit Anspruch auf allgemeine Verständlichkeit, die Rolle eines „Zeitdeuters“ (ebd.). Sie geben nicht wie Experten spezielles Wissen an die Öffentlichkeit ab, sondern nehmen öffentlich „sozialmoralische Sinnfragen“ auf, und machen allgemeine Zeitdeutungen öffentlich (Neidhardt 1994: 14).
e) Kommentatoren: Die Rolle der Kommentatoren wird in der Regel von Journalisten wahrgenommen. Über öffentliche Angelegenheiten wird von Journalisten nicht nur berichtet, sondern auch kommentiert. Betont subjektive Meinungen und Einstellungen zu Themen werden so in den öffentlichen Kommunikationsprozeß mit eingebracht.
Zusammenfassend zeichnen sich die drei vorgestellten Öffentlichkeitsakteure durch differenzierte Rollenleistungen aus. Massenmedien und Sprecher stellen die zentralen Akteure der Öffentlichkeit dar. Die einzelnen Rollenleistungen und Typisierungsgrade der Öffentlichkeitsakteure variieren dabei in Abhängigkeit von den Interessen, Themen und Meinungen des Publikums. Das Publikum ist als Adressat und Bezugsgröße für die Öffentlichkeit konstituierend.
2.1.4 Die Entstehung massenmedialer Öffentlichkeit
Öffentlichkeit entsteht, aus systemtheoretischer Perspektive betrachtet, auf der Basis von Aufmerksamkeitsregeln. Die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften führt zu Selektionszwang. Aufgrund der Knappheit von Aufmerksamkeit bilden sich Regeln über die Verteilung von Aufmerksamkeit. In Anlehnung an die Theorie Luh- manns kann „Aufmerksamkeit / Nicht-Aufmerksamkeit“ als der binäre Code des gesellschaftlichen Teilsystems Öffentlichkeit bezeichnet werden. Dieser Code bildet den Mechanismus der Steuerung von Selektionen in der Öffentlichkeit. Er ist zugleich der zentrale Code des Mediensystems. Die „Aufmerksamkeitsregeln“, wie z. B. Neuigkeitswert und Status des Absenders, die sich auf Grundlage des binären Codes der Öffentlichkeit (Aufmerksamkeit / Nicht-Aufmerksamkeit) bilden, steuern so die thematische Struktur öffentlicher Kommunikationsprozesse. Anhand verschiedener Bezugsdimensionen, wie Zeit-, Sach- und Sozialdimension (vgl. Luhmann 1990: 177 ff.; Gerhards 1994: 89 f.), lassen sich die „Aufmerksamkeitsregeln“ spezifizieren.
1. Zeitdimension: Die Zeitdimension bezieht sich in erster Linie auf den Neuigkeitswert von Informationen. Der Neuigkeitswert wird zum Selektionskriterium der massenmedialen Öffentlichkeit. Der Spruch „Nichts ist älter als die Zeitung von gestern“ gibt diesen Sachverhalt pointiert wieder. Das Zeitalter der Massenmedien ist geradezu gekennzeichnet durch eine Beschleunigung von Kommunikation (Münch 1992), die, abgesehen von der Möglichkeit der schnelleren Verbreitung von Kommunikationen, im wesentlichen auf den Neuigkeitswert als Selektionskriterium massenmedialer Öffentlichkeit zurückzuführen ist. Je neuer eine Information ist, desto eher erfährt sie massenmediale Verbreitung.
2. Sachdimension: Zeit- und Zahlendifferenzen gelten als zweites wichtiges Selektionskriterium. So sind quantitative „Zu- und Abnahmen“ von Ereignissen immer eine Nachricht wert. Sie erzielen ebenfalls einen Neuigkeitswert und erregen so öffentliche Aufmerksamkeit. Aktienkurse und das Wetter z. B. bilden quantitative Veränderungen, die ebenfalls einen Neuigkeitswert besitzen. Je größer die quantitative Veränderung, egal um was für einen Informationsbereich es sich handelt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie als Information durch die Massenmedien verbreitet wird.
3. Sozialdimension: Die Sozialdimension bezieht sich in erster Linie auf den sozialen Status des Absenders und auf Konflikte zwischen Akteuren. An prominenter Stelle stehende Sprecher haben die größten Chancen von der massenmedialen Öffentlich- keit wahrgenommen zu werden. Soziale Konflikte zwischen gesellschaftlichen Akteuren finden ebenfalls in Abhängigkeit ihrer Größe Aufmerksamkeit in den Massenmedien und somit in der Öffentlichkeit. Je höher der Status des Absenders ist, und je größer der soziale Konflikt ist, desto mehr Aufmerksamkeit erlangen sie in der Öffentlichkeit.
Betrachtet man die Entstehung von Öffentlichkeit anhand der aufgestellten Aufmerksamkeitsregeln, ist eine deutliche Beziehung zur Nachrichtenwertforschung zu erkennen (vgl. Galtung / Ruge 1965; Schulz 1976).12 Massenmedien selektieren aufgrund von Nachrichten werten Informationen. Die Beobachtung der Gesellschaft durch die Massenmedien ist somit ein, nach der Operationslogik der Massenmedien, selektiertes „Bild“ der Wirklichkeit. Diese vorselektierten „Bilder“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit dienen der Öffentlichkeit zur Selbstbeobachtung der gesellschaftlichen Realität. Massenmediale Öffentlichkeit erlaubt somit immer nur die Selbsbeobachtung eines selektiven Teils der Gesamtgesellschaft. Massenmedien sind maßgeblich an der Konstruktion gesellschaftlicher Realität beteiligt.
Zusammenfassung
Öffentlichkeit moderner Gesellschaften läßt sich als ein virtuelles Teilsystem begreifen, das sich aufgrund funktionaler Differenzierung parallel zur Ausdifferenzierung des Mediensystems gebildet hat. Dabei wird Öffentlichkeit moderner Gesellschaften vornehmlich als massenmediale Öffentlichkeit verstanden. In einer Phasenfolge von verschiedenen Öffentlichkeitsebenen, die sich nach qualitativen und quantitativen Gesichtspunkten differenzieren lassen, erlangt massenmediale Öffentlichkeit gesamtgesellschaftliche Bedeutung. „Die massenmedial gesteuerte Öffentlichkeit ist der dominierende Kontext gesell schaftsweiter Kommunikation in modernen Gesellschaften“ (Daele / Neidhardt 1996: 18).
Öffentlichkeit entsteht auf der Basis von Aufmerksamkeitsregeln. Als Sinnsystem hat Öffentlichkeit die Primärfunktion, die Selbstbeobachtung der Gesellschaft zu ermöglichen. Als „Beobachter zweiter Ordnung“ beobachtet die Öffentlichkeit die bereits vorselektierten Beobachtungen des Mediensystems und bietet diese der Gesellschaft zur Selbstbeobachtung an. Was, und wie etwas durch die Gesellschaft selbst beobachtet werden kann, wird durch die Operationslogik des Mediensystems bestimmt. Massenmediale Öffentlichkeit ermöglicht so die Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsysteme, auch wenn die Beobachtungen im wesentlichen durch den Selektionsmechanismus des Massenmediensystems geprägt sind. Dadurch wird die Sinn- und Handlungsorientierung der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme untereinander und in bezug auf die Gesamtgesellschaft ermöglicht.
2.2 Politische Öffentlichkeit: Zwischen Volk und Staat
Der Begriff der Öffentlichkeit ist im wesentlichen stark von einem normativ politischen Verständnis geprägt. Als „regulatives Ideal demokratischer Regierungsformen“ (Ben- habib 1997: 26) hat der Begriff der Öffentlichkeit eine lange Tradition und ist nicht selten mit Nostalgie behaftet. So wird Öffentlichkeit in der Idealform von der athenischen Polis (vgl. Arendt 1996) bis zu den Salons der Aufklärung (vgl. Habermas 1996) als ein „Raum des Handelns und der Deliberation, der Partizipation und der kollektiven Entscheidungsfindung“ (Benhabib 1997: 26) betrachtet. Als Kollektiv soll sich das souveräne Volk über Angelegenheiten von allgemeinem Belang verständigen und diese gegenüber dem Staat äußern. „Politische Öffentlichkeit (...) vermittelt den Staat mit Bedürfnissen der Gesellschaft“ (Habermas 1996: 90) Die manifestierten Meinungen und Bedürfnisse der Gesellschaft erhalten im normativen Verständnis den Charakter eines Gemeinwillens. Politische Öffentlichkeit wird zum zentralen Moment der politischen Willensbildung und des politischen Prozesses der Demokratie. Wird Politik als ein Prozeß der Herstellung und Umsetzung gesamtgesellschaftlicher Entscheidungen begriffen, „ist politische Öffentlichkeit das sichtbare Forum, in dem dieser Geltungsanspruch initiiert, kommentiert, repräsentiert, begründet und exekutiert wird“ (Rucht 1994: 163). Öffentlichkeit wird im folgenden als ein intermediäres System beschrieben, daß zwischen dem politischen System auf der einen Seite und der Gesellschaft bzw. den gesellschaftlichen Teilsystemen auf der anderen Seite, vermittelt.
2.2.1 Öffentlichkeit als intermediäres System
Die Funktion von Öffentlichkeit als intermediärem System kann nur in Zusammenhang mit der Sonderstellung des politischen Systems in der Grundstruktur moderner Gesellschaften betrachtet werden. Auch das politische System zeichnet sich durch funktionale Differenzierung aus. Die spezialisierte Funktion, die allein dem politischen System im Rahmen der Gesamtgesellschaft zukommt, ist „die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen“ (vgl. Gerhards / Neidhardt 1993: 53). Die Sonderstellung des politischen Systems ergibt sich aus der Funktion des gesamtgesellschaftlichen Steuerungsakteurs. „Politik kommt sowohl eine besondere, übergeordnete Stellung als Problemadressat zu (Input), als auch eine Sonderstellung als Problemlösungssystem, als Steuerungsakteur der Gesamtgesellschaft (Output)“ (ebd.). So ist das politische System der zentrale Problemadressat für alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme, deren Probleme nicht gelöst werden können.
An dieser Stelle wird die Bedeutung von Öffentlichkeit als einem „kommunikativen Vermittler“ deutlich. So läßt Öffentlichkeit zwischen dem politischen-administrativen System auf der einen Seite und den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen auf der anderen Seite verorten. Öffentlichkeit stellt ein intermediäres System dar, dessen Funktion darin besteht, Kommunikation zwischen den beiden Systemwelten zu ermöglichen, indem sie Anschlüsse nach beiden Seiten herstellt. Der kommunikative Austausch vollzieht sich dabei nicht entlang linearer Grenzen, sondern im Rahmen eigener Bereiche. Öffentlichkeit ist somit als Interpenetrationszone (Münch) zu verstehen, in der spezifische Handlungsträger agieren. Die Umwelt dieser Interpenetrationszone bilden spezifische Handlungssysteme13 sowie verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme auf der einen Seite und das politisch-administrative System auf der anderen Seite (vgl. Rucht 1994: 164). „Über zwei Schnittstellen werden diese Außenwelten samt ihren eigenen Rationalitäten kommunikativ miteinander verbunden“ (ebd.). Öffentlichkeit gilt als eine Sphäre, die zwischen Gesellschaft und Staat vermittelt (Habermas 1973: 62). „In komplexen Gesellschaften bildet Öffentlichkeit eine intermediäre Struktur, die zwischen dem politischen System einerseits, den privaten Sektoren der Lebenswelt und funktional spezifizierten Handlungssystemen andererseits vermittelt“ (Habermas 1994: 451). So kann das politische System als Problemadressat zum einen mit den Problemen der gesellschaftlichen Teilsystem versorgt werden und Lösungsvorschläge bzw. - versuche an die Gesamtgesellschaft zurücksenden. Zum anderen ist es der Gesellschaft durch die Öffentlichkeit ebenfalls möglich, das politische System mit ungelösten Problemen zu beliefern sowie die Problemlösungen und Steuerungsaktivitäten des politischen Systems kontrollieren zu können.
Dieser Vermittlungsprozeß der Öffentlichkeit kann in drei Prozeßstufen gegliedert werden (vgl. Gerhards / Neidhardt 1993: 59; Neidhart 1994: 8): Informationen werden gesammelt, verarbeitet und verbreitet. Öffentlichkeit stellt ein Kommunikationssystem dar, „in dem Themen und Meinungen (A) gesammelt (Input), (B) verarbeitet (Throughput) und (C) weitergegeben (Output) werden“ (Neidhardt 1994: 8). Die Leistungsstärke und Verarbeitungskapazität des Kommunikationssystems Öffentlichkeit, bezogen auf den Input-Throughput-Output Prozeß steigt dabei in Abhängigkeit zur Öffentlichkeitsebene (vgl. Kap. 2.1.1) Diese Überlegungen sind in Abbildung 2 zusammengefaßt.
Abbildung 2: Öffentlichkeit als intermediäres System
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Anhand dieses kybernetischen Funktionsmodells explizieren Gerhards und Neidhardt (1993: 59) Kriterien, mit deren Hilfe man die Leistungsfähigkeit von Öffentlichkeit überprüfen kann.
Betrachtet man die Informationssammlung (Input), ist einerseits die Selektivität, mit der ein Informationssystem arbeitet, von großer Bedeutung. Andererseits ist auch die eigentliche „Offenheit“, also die Zugänglichkeit der Öffentlichkeit gegenüber der für sie relevanten Umwelten, von hohem Belang. Als Folge einer geringen Umweltsensibilität kann es zu einer Art „Autismus“ der Öffentlichkeit (ebd.) kommen. Die Öffentlichkeit beschäftigt sich dann vor allem mit sich selbst. Der Politisierungsgrad der öffentlichen Kommunikation kann dann so niedrig sein, daß die politischen Funktionen der Öffent- lichkeit völlig verschwinden. Hier stellen sich folgende Fragen. Inwieweit nimmt die Öffentlichkeit die politischen Interessen der Bürger und die Aktivitäten des politischen Systems überhaupt wahr? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden?
Anhand der eingehenden Informationen (Input), kann sich durch die Informationsverarbeitung (Throughput) des Öffentlichkeitssystems öffentliche Meinung bilden. Der Prozeß der Informationsverarbeitung muß dabei folgende Qualitäten erbringen: Die Informationsmengen müssen verdichtet, Zusammenhänge hergestellt und Einzelheiten zu umfassenden Sinnzusammenhängen geschlossen werden (ebd.). Durch diese Mechanismen der Synthetisierung entsteht Ordnung. Auch hier ergeben sich Probleme: „Zu wenig Synthetisierung konserviert Überkomplexität, gibt den Beteiligten zu wenig Orientierung, macht keinen Sinn und strukturiert in zu geringem Maße den Forderungscharakter von Öffentlichkeit gegenüber dem politischen System“(ebd.). Zuviel Synthetisierung hingegen konzentriert den Blickwinkel der Öffentlichkeit auf Kosten der Umweltoffenheit auf einzelne Aspekte des Input und tendiert zu Scholastizismus und Ideologi- sierung (ebd.). Hier stellt sich die Frage, wie im Prozeß der Informationsverarbeitung ein angemessenes Maß an Synthetisierung zu finden ist. Ist Öffentlichkeit in der Lage, die verschiedenen Synthetisierungstendenzen auszubalancieren?
Die Informationsanwendung (Output), also die Übersetzung der Information in Entscheidung und deren Weitergabe, erscheint ohne ein Mindestmaß an Synthetisierung nicht möglich. Synthetisierung wird somit zur Voraussetzung für die Anwendung von Information. Eine weitere Voraussetzung für den Output ist zusätzliches Wissen über Handlungsvoraussetzungen und Handlungsfolgen, was indirekt wieder mit dem Informationsinput zusammenhängt. Hier bleibt zu fragen, inwieweit das Kommunikationssystem Öffentlichkeit diese Entscheidungsvoraussetzungen erbringen kann. Öffentlichkeit erhält als intermediäres System den Charakter eines Vermittlers, der zwischen dem Staat auf der einen Seite und den Bedürfnissen der Staatsbürger auf der anderen Seite steht. Aus demokratietheoretischen Gesichtspunkten ist Öffentlichkeit somit das zentrale Moment der gesellschaftlichen Willensbildung und der politischen Legitimitätsbeschaffung. Öffentlichkeit wird zum Motor des demokratischen Prozesses.
So gesehen ist Öffentlichkeit per definitionem mit dem Politischen verbunden. Soll der Begriff der „politischen“ Öffentlichkeit jedoch im einzelnen betrachtet werden, muß zuvor ein weiterer Blick auf das politische System als Teilsystem funktional differenzierter Gesellschaften geworfen werden.
2.2.2 Das politische System als funktionales Teilsystem
Auch das politische System übernimmt als funktionales Teilsystem eine spezielle Funktion für die Gesamtgesellschaft. Die spezialisierte Funktion besteht in der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Darüber hinaus ist das politische System durch einen spezifischen Sinnzusammenhang gekennzeichnet, „der als Leitorientierung für Einzelhandlungen innerhalb dieses Sinnzusammenhanges dient“ (Gerhards 1994: 94). Da sich kollektiv verbindliche Entscheidungen nur finden und durchsetzen lassen, wenn man als politischer Akteur an der politischen Machtausübung beteiligt ist, kann in Anlehnung an Luhmann (1986: 170) „Regierung / Opposition“ als der binäre Code des politischen Systems betrachtet werden. Die Akteure des politischen Systems versuchen Regierungspositionen zu erreichen oder zu erhalten. Durch den Prozeß der Ausdifferenzierung des politischen Systems entwickeln sich spezifische Leistungs- und Publikumsrollen. Es lassen sich verschiedene Leistungsrollen von politischen Akteuren unterscheiden: „Interessengruppen und Parteien sind die Akteure, die kollektive Ziele artikulieren und aggregieren, Regierung und Parlament sind die Akteure, die in demokratischen Gesellschaften kollektiv verbindliche Entscheidungen herstellen, die politische Administration der Akteur, der die beschlossenen Entscheidungen durchsetzen soll“ (Gerhards 1994: 95). Die Publikumsrolle übernimmt eine zentrale Stellung im politischen System. In demokratischen Gesellschaften weist die Publikumsrolle Merkmale der Universalisierung und Generalisierung auf, da alle Staatsbürger durch ihre Staatsbürgerschaft die Möglichkeit besitzen, als Publikum am politischen System teilzuhaben. Die mächtige Position des Publikums ergibt sich neben der primären Möglichkeit Kritik und Kontrolle auszuüben sowie der verschiedenen Möglichkeiten der Mitwirkung vor allem aus der Rolle des Wählers. Da die Machtausübung politischer Akteure in demokratischen Gesellschaften zeitlich begrenzt ist und immer wieder durch Wahlen legitimiert werden muß, sind die kollektiven Akteure des politischen Systems auf die Zustimmung des Publikums angewiesen. Politische Leistungsträger geraten so in eine Abhängigkeit zu den Publikumsrollen der Wähler. Dies hat weitreichende Folgen für die „politische Öffentlichkeit“.
2.2.3 Politische Öffentlichkeit - Öffentlichkeit des Politischen
Wie die Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften aus der eingangs vorgestellten systemtheoretischen Perspektive durch die Funktion bestimmt ist, die Selbstbeobachtung der Gesellschaft zu ermöglichen, besitzt auch die politische Öffentlichkeit moderner Gesellschaften eine Beobachtungsfunktion. So ermöglicht massenmedial hergestellte politische Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften den Akteuren des politischen Systems, sich selbst und die anderen Akteure des politischen Systems durch die Massenmedien zu beobachten (vgl. Fuchs / Pfetsch 1996). Die Selbst- und Fremdbeobachtung des politischen Systems wird so ermöglicht. Während nach Habermas (1973: 61) diskurstheoretischer Perspektive von politischer Öffentlichkeit dann gesprochen werden kann, „wenn sich die öffentlichen Diskussionen auf Gegenstände beziehen, die mit der Praxis des Staates zusammenhängend bezieht sich der Begriff der politischen Öffentlichkeit aus systemtheoretischem Blickwinkel auf die Beobachtbarkeit politischer Handlungen durch Akteure des politischen Systems. So kann politische Öffentlichkeit als der Teil politischer Handlungen definiert werden, „der in der massenmedialen Öffentlichkeit, nach den Regeln des Öffentlichkeitssystems selektiert, für das politische System beobachtbar ist“ (Gerhards 1994: 97). Hier ist zu betonen, daß der Begriff der politischen Öffentlichkeit als Teil der massenmedialen Öffentlichkeit verstanden wird. Politische Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft entsteht durch mediale Berichterstattung über politische Themen und kann als der Teil der politischen Handlungen verstanden werden, der vom politischen System durch die Beobachtungen der Massenmedien beobachtbar ist. Betrachtet man die unterschiedlichen Öffentlichkeitsebenen (vgl. Kap. 2.1.1), läßt sich der Begriff der politischen Öffentlichkeit, wie er hier gebraucht werden soll, näher bestimmen. Das öffentliche Gespräch über politische Themen mit einem Abgeordneten in einer Kneipe beispielsweise, also eine einfache face-to-face Interaktion stellt zwar auch eine Form von „Öffentlichkeit des Politischen“ dar, da öffentlich über „das Politische“ gesprochen wird. Zu „politischer Öffentlichkeit“ im hier verstandenen Sinn wird die beschriebene Form der Öffentlichkeit aber erst, wenn in den Massenmedien über das Gespräch berichtet wird und die politische Handlung somit von den Akteuren des politischen Systems beobachtet werden kann. Unter politischer Öffentlichkeit soll im folgenden der Teil politischer Handlungen in der Öffentlichkeit verstanden werden, der durch die systemimmanente Logik des massenmedialen Öffentlichkeitssystems für die Akteure des politischen Systems beobachtbar ist. Durch die massenmediale Verbreitung politischer Kommunikationsangebote wird die Öffentlichkeit des Politischen zur politischen Öffentlichkeit und erreicht so gesamtgesellschaftliche Relevanz. Für die verschiedenen Akteure des politischen Systems ist es, bezogen auf die spezifischen Publikums- und Leistungsrollen, aus folgenden Gründen rational, sich selbst und die anderen politischen Akteure über das Massenmediensystem zu beobachten. Unmittelbare politische Informationen zu beschaffen, ist für das politische Publikum mit einem finanziellen und enormen zeitlichen Aufwand verbunden.14 Um das politische System und die politischen Akteure des Systems dennoch beobachten zu können, ist es daher sinnvoll, auf die Beobachtungen des Massenmediensystems zurückzugreifen. Das politische Publikum greift so auf ein durch die Massenmedien bereits vorselektiertes „Bild“ zurück.
Die Leistungsrollen der politischen Akteure sind durch eine ähnliche Rationalität gekennzeichnet. Einfache Interaktionen zwischen den Trägern politischer Leistungsrollen und den Trägern der politischen Publikumsrollen, in denen die Bürger ihre Interessen artikulieren, sind in modernen Massengesellschaften ein Ausnahmefall. Teilsysteme der Gesellschaft und politisches System stehen sich in funktional differenzierten Gesellschaften gegenüber. Um die Vielzahl der Interessen der Staatsbürger und all ihre Interessengruppen beobachten zu können, ist es daher auch für die Träger der politischen Leistungsrollen, wie Regierung und Parteien, sinnvoll, auf die Beobachtungen des Mediensystems zurückzugreifen bzw. es zu beobachten. So lassen sich Themen und Präferenzen der Staatsbürger in Erfahrung bringen.
Politische Öffentlichkeit ist durch zwei Arten von Beobachtungen geprägt. Politische Publikumsrollen beobachten die politischen Leistungsträger und vice versa. Die Tatsache jedoch, daß politische Akteure im Grunde wissen, daß sie durch das politische Publikum beobachtet werden, hat weitreichende Folgen im Hinblick auf ihre politischen Handlungen. „Sie kommunizieren im Hinblick auf die Tatsache, daß es ein Beobachtungssystem gibt und versuchen selbst mit ihren Handlungen, das Bild von sich und den anderen Akteuren des politischen Systems in der politischen Öffentlichkeit zu gestalten“ (Gerhards 1994: 99). Politische Öffentlichkeit ist deshalb aufgrund ihrer Systemlogik als massenmediale Öffentlichkeit an der Konstruktion politischer Wirklichkeit beteiligt. Die sich daraus ergebende Problematik soll im folgenden skizziert werden.
2.2.4 Öffentliche Meinung und politische Wirklichkeit
Als öffentliche Meinung wird in Anlehnung an Oeckel (1976: 32) „die vorherrschende Meinung einer unbestimmten Menge von Menschen“ verstanden. Politische Relevanz erhält die öffentliche Meinung, wenn sie sich auf Handlungen des politischen Systems bezieht. Politische Akteure sind darauf bedacht, in der Öffentlichkeit und in der öffentlichen Meinung gut dazustehen, um politische Macht, in der Form der Wiederwahl, zu erhalten.
Die Entstehung der öffentlichen Meinung ist im wesentlichen mit der Entstehung der Öffentlichkeit verbunden. Auch die öffentliche Meinung kann als ein Konstrukt von Aufmerksamkeitsregeln beschrieben werden. Die konstruktivistische Theorie weist darauf hin, daß sich Individuen bei der Konstruktion von Wirklichkeit an anderen Individuen orientieren (vgl. Merten/Westerbarkey 1994: 200). Die Orientierung an anderen wird dabei als Bestätigung der eigenen individuellen Wirklichkeitskonstruktion verstanden, wodurch der Knappheit von Aufmerksamkeit entgegengewirkt und die gesellschaftliche Komplexität reduziert wird. Da Individuen im Grunde wissen, daß ihre Wirklichkeit subjektiv (konstruiert) ist, sind sie darauf angewiesen, ihre Wirklichkeitsentwürfe fortlaufend zu bestätigen.15
Öffentliche Meinung ist, als eine Aussage über eine Aussage, fiktiv. Obwohl dies jedem bekannt ist, richten die Individuen ihr Verhalten danach aus. Die Absicherung der eigenen Meinung durch die Orientierung an anderen wird in modernen Gesellschaften durch die Massenmedien geleistet. Die Meinungen anderer Individuen, Interessengruppen und Parteien werden durch die Medien gespiegelt bzw. für andere beobachtbar. Die Massenmedien werden so als Entwurf für die eigene Meinungsbildung genutzt. Was nicht über die Massenmedien thematisiert wird, kann in der Regel nicht öffentlich meinungsbildend werden. Öffentliche Meinung kann daher definiert werden als ein „Kommunikationsprozeß zur Auswahl von relevanten oder für relevant ausgegebenen Sachverhalten oder Problemen, die als Themen etabliert werden und zu denen vor allem durch die Medien Meinungen erzeugt werden. Die Präsentation von Meinungen in der Öffentlichkeit provoziert eine Auswahl relevanter oder für relevant gehaltener Meinungen, die von einer Mehrheit akzeptiert werden oder akzeptiert zu werden scheinen und dadurch politische Wirkung entfalten“ (Merten / Westerbarkey 1994: 202).
Da sich die Öffentlichkeit und die „Meinung der Öffentlichkeit“ an dem orientiert, was publiziert wird, kann auf die öffentliche Meinung relativ leicht Einfluß genommen werden. Öffentliche Meinung wird dann zur „veröffentlichten Meinung“, d. h. die öffentliche Meinung wird durch die veröffentlichte Meinung konstruiert. Diese Problematik stellt sich besonders im Hinblick auf die im vorangegangenen beschriebenen Leistungsrollen der politischen Akteure. Handlungen politischer Akteure sind durch das Wissen konstituiert, von der Öffentlichkeit wahrgenommen, beobachtet zu werden. So müssen die kollektiven Akteure des politischen Systems zwei Handlungsrationalitäten zugleich berücksichtigen (Gerhards 1994: 99f.): „Als Akteure des politischen Systems ist es ihr Ziel, Unterstützung für ihre Anliegen bei den Bürgern zu maximieren bzw. zu optimieren. Nur so kann es ihnen gelingen, Regierungspositionen zu besetzen. Wollen sie ihre Botschaften aber über das Öffentlichkeitssystem lancieren, müssen ihre Botschaften nach der Sinnstruktur von Öffentlichkeit resonanzfähig sein: sie müssen die Aufmerksamkeit des Publikums von Öffentlichkeit gewinnen.“ Durch die Benutzung von Nachrichtenwertfaktoren wird die Handlungsrationalität von Öffentlichkeit operationalisiert. Politische Handlungen werden inszeniert (vgl. Meyer 1992). Pseudo-Ereignisse (Boor- stin 1964) und die Selbstdarstellung politischer Akteure (vgl. Laux / Schütz 1996) prägen den politischen Alltag. Es kommt zu einer steigenden Bedeutung symbolischer Politik (vgl. Sarcinelli 1989). Politische Wirklichkeit wird durch Nutzung der operativen Logik des Öffentlichkeitssystems konstruiert.
[...]
1 URL: http://www.house.gov/icreport/ (13.09.1998).
2 Tabellarische Darstellungen zum Wachstum des Internet und des WWW auf globaler und nationaler Ebene siehe Renderland 1998 sowie im Anhang auf Seite 146-148.
3 Als Host-Rechner wird ein einzelner Computer im Netzwerk bezeichnet, der als „Wirt“ Kommunikati- onsangebote im Internet bereithält.
4 So Al Gore in seiner Rede vor der International Telecommunications Union in Buenos Aires am 21. März 1994 (zitiert nach Leggewie 1996).
5 In totalitären Herrschaftssystemen können die Schwächen der einfachen Interaktionssysteme zu ihren Stärken werden, da die politische Kontrolle solcher kleinen Öffentlichkeiten sehr aufwendig und schwierig ist. So kann sich durch kleine Öffentlichkeiten ein spezifischer, örtlich zentrierter Kommunikationsrahmen bilden - man denke nur an die Salons der Aufklärung (vgl. Habermas 1996) - der als öffentliche Meinung massiven politischen Druck ausübt.
6 Gerhards und Neidhardt (1993: 84, Anm. 15) weisen darauf hin, daß bei einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage von 1989, an der sich die Autoren mit Fragen zur Öffentlichkeitsbereitschaft beteiligt hat-
7 Als Massenmedien werden hier im Sinne Luhmanns alle Einrichtungen der Gesellschaft begriffen, „die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Hilfsmittel der Vervielfältigung bedienen“ (vgl. Luhmann 1996: 10). Online-Medien, und speziell das Internet als neuzeitliche Kommunikationstechnik, werden in den Ausführungen hier nicht berücksichtigt und werden in den Kapitel 5 und 6 gesondert betrachtet.
8 In der Bundesrepublik Deutschland sind die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit unter den besonderen Schutz des Grundgesetzes gestellt. Art. 79 III GG garantiert diese Rechte als Grundrechte und betont ihren besonderen Charakter als „Abwehrrechte“ gegenüber dem Staat (vgl. Avenarius 1995, Hesse 1991, Kempen 1975).
9 Der Inklusionsprozeß der Gesamtbevölkerung in das Öffentlichkeitssystem ist in westlichen Demokratien durch die Ausdifferenzierung des Mediensystems sehr weit fortgeschritten. So ist die Reichweite von Fernsehen und Hörfunk in den letzten drei Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen. 1995 lag die Reichweite des Fernsehens in der Bundesrepublik bei 83 Prozent, die des Hörfunks bei 75 Prozent. Die Reichweite der Tageszeitung ist leicht rückläufig und lag 1995 bei 65 Prozent. Etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung benutzen alle angesprochenen Medien (Fernsehen, Hörfunk, Tageszeitung) täglich (vgl. Kiefer 1996, Berens / Kiefer / Meder 1997) und partizipieren so an der massenmedialen Öffentlichkeit.
10 In Anlehnung an Luhmann (1990: 181) kann Öffentlichkeit, als eine “Beobachtung von Beobachtern“ mit dem Preissystem des Marktes verglichen werden. Das Preissystem des Marktes entsteht durch die Beobachtung des Marktes. Indem die verschiedenen ökonomischen Akteure das Preissystem als Beobachter „zweiter Ordnung“ beobachten, können sie sich selbst und die anderen Akteure des Marktsystems beobachten. Durch die Beobachtung zweiter Ordnung ist Selbst- und Fremdbeobachtung möglich.
11 Als „gatekeeper“, zu deutsch „Schleusenwärter“ oder „Torhüter“, werden im allgemeinen die spezifischen Leistungsrollen der Journalisten im Mediensystem bezeichnet. Der Auffassung der GatekeeperForschung aus den 50er Jahren folgend, entscheiden Journalisten darüber, wer oder was das Tor passieren darf, also darüber, was wie publiziert wird (Schulz 1991: 233). Es wird vermutet, daß sich die Vorlieben und Abneigungen, Interessen und Einstellungen der Journalisten in der Nachrichtenauswahl manifestieren. „Neuere“ Forschungsergebnisse zeigen jedoch, daß der Einfluß der „gatekeeper“ auf die öffentliche Themenstruktur überschätzt wird (vgl. Nissen / Menningen 1977, Pfetsch 1994).
12 Schulz (1976:31 ff.) greift auf die historische Analyse von Galtung und Ruge (1965) zurück und erstellt einen überarbeiteten Katalog von Nachrichtenwertfaktoren. In diesem Katalog werden die Einflußgrößen in sechs Faktordimensionen gegliedert: 1. Zeit, 2. Nähe, 3. Status, 4. Dynamik, 5. Valenz und 6. Identifikation.
13 Dieser Aspekt bleibt hier ausgeklammert.
14 Wie sich dieser Aspekt durch die Einführung von Online-Medien verändert hat soll hier noch ausgeklammert bleiben. Ausführlich dazu siehe Kap. 5 und 6.
15 Die Theorie der Schweigespirale (Noelle-Neuman 1989) unterstützt die Annahme, daß sich Individuen bei der Meinungsbildung an anderen Individuen orientieren. Aus theoretischer Sichtweise stützt sich das Modell auf sozialpsychologische Ergebnisse der Konformitätsforschung. Hier wird besonders die Isolationsangst der Individuen betont, die Individuen dazu treibt, sich Meinungen „anzupassen“.
- Arbeit zitieren
- Ingo Seeligmüller (Autor:in), 1998, Strukturwandel politischer Öffentlichkeit durch Online-Medien. Politische Öffentlichkeit zwischen Synthese und Wettbewerb, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1000740
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