Das Selbstverständnis der heutigen Väter hat sich, verglichen mit ihren eigenen Vätern, stark gewandelt. Väter nehmen sich immer häufiger eine Auszeit oder reduzieren ihre Arbeitszeiten, um bei der Kinderbetreuung zu unterstützen. Auch die Forschung betrachtet Väter heutzutage als genauso bedeutsam für die Entwicklung des Kindes wie die Mutter.
Warum ist die Beziehung zwischen Vater und Kind so besonders? Welche Faktoren sind relevant, damit sich eine Bindung zwischen Vater und Kind ausbildet und wie unterscheidet sich dieser Vorgang verglichen mit der Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Kind? Und inwieweit beeinflusst die Qualität der Vater-Kind-Bindung die Entwicklung des Kindes?
Die Autorin Stephanie Treu beleuchtet die Beziehung zwischen Vater und Kind und erläutert, warum der Vater für die Entwicklung des Kindes so bedeutsam ist. Dazu betrachtet sie das Selbstbild der Väter, stellt ihre Andersartigkeit heraus und leitet distinktive Funktionen des Vaters in den verschiedenen Entwicklungsphasen des Kindes ab.
Aus dem Inhalt:
- Väterforschung;
- Bindungstheorie;
- Spielfeinfühligkeit;
- Geschlechterrollen;
- Kindererziehung
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
Einleitung
2 Methodik
3 Bindungstheorie und Väterforschung
3.1 Grundlagen der Bindungstheorie
3.2 Phasen der Väterforschung
3.3 Erweiterungen der Bindungstheorie in der Väterforschung
3.4 Die Rolle des Vaters
4 Einfluss der distinktiven Funktionen des Vaters
4.1 Distinktive Funktionen des Vaters im Säuglings-/Kleinkindalter
4.2 Distinktive Funktionen des Vaters im Schulkindalter
4.3 Distinkte Funktionen des Vaters im Jugendalter
5 Diskussion
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
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Impressum:
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Zusammenfassung
Die vorliegende Bachelorthesis befasst sich mit den Entstehungsbedingungen der Vater-Kind-Bindung unter Zugrundelegung der Bindungstheorie. Die für eine gelingende Bindung zwischen Vater und Kind relevanten und von der Forschung untersuchten Aspekte im Rahmen der Väterforschung werden beschrieben. Darauf aufbauend werden die daraus resultierenden Effekte auf dieEntwicklung des Kindes erörtert. Anhand dieses Vorgehens kann die Bedeutung der Vater-Kind-Bindung auf die Entwicklung des Kindes analysiert werden, was schließlich die Zielsetzung dieser Arbeit darstellt. Dies geschieht auf Basis von Befunden der Väterforschung.
Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit konnten den Einfluss derVater-Kind-Bindung sowie der distinktiven Funktionen des Vaters hinsichtlich verschiedener Faktoren und deren umfassendeBedeutung für diekognitive, soziale, emotionale sowie geschlechtsspezifische Entwicklung des Kindes dokumentieren.
Als Fazit konnte somit aufgezeigt werden, dass die Qualität der Vater-Kind-Bindung maßgeblich die Entwicklung des Kindes beeinflusst. Mit seinen distinktiven Eigenschaften und Rollen stellt der Vater eine Person im Leben des Kindes dar, die von enormer Bedeutung ist. Es wurde aber auch deutlich, dass weitere Forschung vieler bedeutsamer Aspekte und Kontexte, in Bezug auf die Interaktion zwischenVater und Kind und den väterlichen Einfluss auf die Entwicklungdes Kindes, unumgänglich ist.
Einleitung
Walter (Papa; 43 Jahre; verheiratet):
Ich persönlich liebe das Herumalbern mit meinem 7-jährigen Sohn und meiner 6-jährigen Tochter. Dabei kann ich auch wieder „ganz Kind sein“, im Spiel bin ich also meist nicht der Papa. Mit meinem Sohn ist das Spiel oft mehr körperlich betont und wilder, wobei er es liebt, wenn ich versuche, seinen Hals zu küssen, was ihn dann kitzelt. Das versucht er aber zu verhindern, sodass es zu kleinen Raufereien kommt, im Rahmen derer wir dann auch stets schmusen. So entsteht auch immer körperliche Nähe, verbunden mit Spiel und Lachen. Natürlich spielen wir auch andere, „ganz normale“ Spiele wie Pokern, Karten oder Tennis und Fußball. Mit meiner Tochter spielen wir mehr Rollenspiele, so bin ich zum Beispiel der Gast, der ins Restaurant kommt, und sie die Köchin, die den Gast bewirtet. Auch hier entsteht im Verlauf des Spiels körperliche Nähe mit kitzeln und schmusen. Wir denken uns auch oft verrückte Fantasienamen für alles Mögliche aus, machen viel Blödsinn und quatschen verrücktes Zeug. Daran, mit lackierten Fingernägeln zur Arbeit zu gehen, bin ich mittlerweile ebenfalls gewöhnt. Beide Kinder lieben diese Art von Spielen.
Sophie, 6 Jahre:
Ich finde an Papa so toll, dass er immer mit mir spielt und er immer sooooo lieb zu mir ist. Er ist immer ganz lustig und kann am besten Blödsinn machen. Ich kuschle gerne mit Papi, weil er so warm ist und mich so lieb streichelt
Fabian, 7 Jahre:
Papa ist der Beste, weil er immer was mit mir macht, wenn ich ihn frage. Wir ketschen ganz gerne und albern rum. Papa ist sehr lustig. Mama sagt oft, er ist ihr drittes Kind, weil er auch immer rumspielt und Quatsch macht. Wir liegen auch manchmal einfach auf der Couch rum und schauen eine Serie oder spielen Switch – das finde ich auch cool.
Mit diesen Beschreibungen möchte ich die vorliegende Arbeit zur Bindung zwischen Vater und Kind beginnen und ein Gefühl dafür geben, wie die Beziehung zwischen Vater und Kind im Jahr 2020 in den meisten Familien aussieht beziehungsweise vom Vater und seinen Kindern empfunden wird.
Das Selbstverständnis der heutigen Väter hat sich, verglichen mit ihren eigenen Vätern, stark gewandelt. 70 Prozent der Väter geben an, dass sie sich mehr in die Erziehung und Betreuung der Kinder einbringen als die Väter ihrer Elterngeneration. Sie beschreiben dies als einen empfundenen persönlichen Gewinn. Väter nehmen sich heutzutage eine Auszeit oder reduzieren ihre Arbeitszeiten, um sich um die Kinderbetreuung zu kümmern. Der Großteil der Väter, die in Elternzeit waren, würden dies auch noch einmal machen. Sie sprechen von einer Zunahme des eigenen Wohlbefindens und der eigenen Zufriedenheit. Aktive Väter sind starke Partner, weshalb auch die Frauen davon profitieren, weil ihre Männer sie in ihrer beruflichen Weiterentwicklung unterstützen. In dieser Arbeit soll der Fokus jedoch auf den Vorteilen der Kinder liegen, die sich durch das verstärkteväterliche Engagement ergeben. Neben den positiven Einflüssen auf die Vater-Kind-Bindung konnten die positiven Einflüsse auf die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung der Kinder wissenschaftlich nachgewiesen werden. Für Kinder, deren Eltern beide im Alltag stark präsent sind und so die Vielfalt an unterschiedlichen Einflüssen, Kompetenzen und Rollenvorbildern wahrnehmen, hat dieser Einfluss viele entwicklungsbezogene Vorteile (BMFSJF, 2018).
In Ann Arbor, nahe Detroit, kamen 2016 zum ersten Mal die führenden Wissenschaftler1 aus der Väterforschung zusammen. Brenda Volling ist Psychologieprofessorin an der University of Michigan und erforscht sei 30 Jahren was Väter von Müttern unterscheidet und welche Bedeutung sie für die Entwicklung ihrer Kinder haben. Sie spricht von einer Neudefinierung der Vaterschaft in der Gesellschaft. Was für die Väter in der Gegenwart völlig normal ist, war vor wenigen Jahrzenten noch die Ausnahme. Heute begleiten Väter ihre Partnerin vom ersten Ultraschall bis in den Kreissaal. Sie sprechen schon während der Schwangerschaft mit ihrem Kind im Bauch der Mutter. Auch das Wickeln, Trösten und Spielen ist für Väter zur Selbstverständlichkeit geworden (Metzger, 2017).
Eine sichere emotionale Bindung eines Kindes stellt das unentbehrliche Fundament für eine gesunde physische wie auch psychische Entwicklung dar (Brisch, 2010). Hierzu zählt nicht nur die sichere Bindung zur Mutter, sondern auch die sichere Bindung zum Vater.
„Die Zeit ist reif für die Erforschung der Väter“ sagt Lieselotte Ahnert, Psychologieprofessorin an der Universität Wien, Expertin für Bindung und Väterforscherin. Welche Erkenntnisse in der Väterforschung schon gewonnen werden konnten, möchte ich in dieser Arbeit darlegen.
Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der Bedeutung des Vaters für die Entwicklung seines Kindes auseinander. Die im Rahmen der Recherche ausgewählte Literatur solleinen zusammenfassenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Thema ermöglichen. Diese Auseinandersetzung zielt darauf ab, zu klären
- wie die Ausbildung einer Bindungsbeziehung erfolgt und welche distinkten Merkmale in diesem Zusammenhang beim Vater identifiziert werden können
- inwiefern sich diedistinktiven Funktionen des väterlichen Verhaltens auf die Entwicklung des Kindes auswirken.
Es soll aufgezeigt werden, wie außergewöhnlich die Beziehung zwischen dem Vater undseinem Kind ist und wie sehr das Kind in seiner Entwicklung durch die differenzierten Erfahrungen in der Interaktion mit seinem Vater profitieren kann.
Zunächst wird auf die Geschichte und die Grundlagen der Bindungstheorie eingegangen. Es erfolgt die Beschreibung bedeutsamer Aspekte im Verlauf der Entwicklung einer Bindungsbeziehung. Die vom Gründungsvater der Bindungstheorie, John Bowlby, postulierten zentralen Aussagen werden behandelt. Diese Auseinandersetzung führt zu einem generellen Verständnis der Entwicklung einer Bindungsbeziehung.Thematisiert wird auch der Verlauf der langanhaltendenmutterfokussierten Forschung, bis schließlich der Vater ins Interesse der Forschung rückt. Die Betrachtung der einzelnen Phasen der Väterforschung soll aufzeigen, welchen Wandel das Vaterbild und die Rolle des Vaters vollzogen hat. Eingang in die Arbeit findet in diesem Zusammenhang auch die aktuelle Situation der Väter. Aktuelle Studien zeigen, dass das Selbstbild der Väter weg vom Brotverdiener hin zum Versorger des Kindes geht, sich in diesem Kontext die gelebte Realität aber andersdarstellt. Generell kann von einem Zuwachs des Forschungsinteresses an der Rolle des Vaters und der Bedeutung für die kindliche Entwicklung gesprochen werden. Ein besondererFokus liegt im Rahmen der Väterforschung auf der dritten Phase. Hier erfolgte die Entdeckung der Andersartigkeit des Vaters, im Vergleich zur Mutter, in der Interaktion mit seinen Kindern.
Darauf aufbauend wird im zweiten Teil der Arbeit der Fokus auf diese Andersartigkeit des Vaters mit seinen neu entdeckten distinktiven Funktionen gelegt. Vom Säuglings- beziehungsweise Kindesalter bis zum Schulkindalter wird die Vater-Kind-Beziehung in Bezug auf die frühe Triangulierung, Spielfeinfühligkeit, kognitive Entwicklung, Emotionsregulation, sowie Geschlechtsrollenidentität und soziale Entwicklung beschrieben. Die daraus resultierenden Einflüsse auf die Entwicklung des Kindes werden beleuchtet.
In der anschließenden Diskussion werden die anhand der Studien gewonnenen Erkenntnisse zur Vater-Kind-Bindung sowie den identifizierten distinktiven Funktionen des Vaters zusammenfassend dargestellt und besprochen. Auch Überlegungen über zukünftige Forschungstätigkeiten werden angestellt.
2 Methodik
Die vorliegende Arbeit basiert auf einer umfassenden Literaturrecherche. Die für das Thema als relevant identifizierte Literatur wurde bearbeitet und systematisch sortiert. Im Rahmen der ersten Auseinandersetzung mit der Thematik und den damit verbunden Fach- und Forschungsgebieten wurden Fachbücher herangezogen. Es wurden vor allem Fachbücher für Entwicklungspsychologie und Psychotherapie sowie Bücher, die sich direkt mit dem Thema Väter beziehungsweise Väterforschung beschäftigen, gewählt. Die Auseinandersetzung mit dieser Literatur ermöglichte einen ersten Überblick sowie Einstieg in die, für die vorliegende Arbeit, bedeutsamen Bereiche der Bindungstheorie, der Vaterschaft sowie den jeweils aktuellen Stand der Forschung.
Im Besonderen konnte hier das Buch „Väter – Die Bedeutung des Vaters für die psychische Entwicklung des Kindes“ aus dem Jahr 2001 von Jean Le Camus zu einer ersten gedanklichen Organisation des Themenbereichs beitragen. Für die Erarbeitung einer geschichtlichen Übersicht zum Thema Vaterschaft und die Veränderungen der Vaterrolle im Laufe der Zeit konnte das Buch „Zur Psychologie der Vater-Kind-Beziehung“ (Band 1, 1988) von Wassilios E. Fthenakis verwendet werden. Zur distinktiven Rolle und Funktionen des Vaters und der Interaktion mit seinem Kind sowie Väter im Kontext der Familie und der Gesellschaft leistete das Buch von Inge Seiffge-Krenke „Väter, Männer und kindliche Entwicklung“ von 2016 einen großen Beitrag bei der Bearbeitung. Besonders hervorzuheben ist das Standardwerk zur Bindungsforschung von Karin und Klaus Grossmann: „Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit“ in der 5. überarbeiteten Auflage von 2017.
Nach dieser Einarbeitungsphase erfolgte die weitere Recherche. Hierzu wurde mit Hilfe des „Schneeballrechercheprinzips“ durch Sichten der Literaturverzeichnisse der genannten und noch anderer Bücher nach weiterer relevanter Literatur, mit Fokus auf wissenschaftlichen Zeitschriften, gesucht. In diesem Zusammenhang war der vom Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebene Bericht „Väterreport – Vater sein in Deutschland heute“ aus dem Jahr 2018, sowie das ebenfalls vom Bundesministerium beauftragte Exposé„Vaterschaft und Elternzeit“ von Jörg Fegert et al. aus dem Jahr 2011 eine enorme Unterstützung. Beide Schriftstückeenthaltenein umfangreiches Literaturverzeichnis mit aktuellen Artikeln zum Thema.
Im zweiten Schritt wurden die elektronische Datenbank „Psyndex“ sowie die Online-Bibliothek der Medizinischen Universität Graz zur systematischen Literatursuche herangezogen. In der Online-Bibliothek der Medizinischen Universität Grazwurden diezuvor identifizierten wissenschaftlichen Zeitschriften beziehungsweise Journale ausgewählt und schließlich nach wissenschaftlichen Artikeln zum Thema gesucht.
UnteranderemwurdenfolgendewissenschaftlichanerkannteZeitschriften und Journaleherangezogen:Applied Development Science, Attachment and Human Development, Canadian Journal of Behavioral Science, Child and Adolescent Social Work Journal, Early Child Development and Care, Forum Psychoanalyse, Infant and Child Development, Journal of Child and Family Studies, Journal of Family Psychology, Journal of Family Research, Journal of Family Theory and Review, Monitor Familienforschung, Monographs oft the Society for Research in Child Development, Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Psyche, PsychoanalytischePerspektiven, Ruhr Economic Papers, Science an Practice und Social Development.In den vorwiegend englischsprachigen Journalen erfolgte die Suche mit den Schlüsselwörtern„father-child-attachment“,„attachmenttofather“, „fatherinvolvement“,„fatherroles“ und „fatherhood“.Im Rahmen der deutschsprachigen Suche wurden die entsprechenden Schlüsselwörter „Vater-Kind-Bindung“, „Bindung zum Vater“, „Vaterrollen“ sowie „Vaterschaft“ benutzt. Es wurden hauptsächlich englischsprachige Fachzeitschriften mit relevanten Artikeln ausfindig gemacht. Bei der Recherche in der Online-Bibliothek der Medizinischen Universität Graz sowie der elektronischen Datenbank „Psyndex“ erfolgte eine Einschränkung auf Publikationen der Jahre 2010 bis 2020. Der Fokus der Literaturauswahl lag auf Untersuchungen zum Thema Vater-Kind-Bindung oder auch Untersuchungen mit Vergleich der Mutter-Kind-/Vater-Kind-Bindung.
Ausschlusskriterien wurden ebenfalls festgelegt. So wurden Arbeiten, welche rein die Mutter-Kind-Bindung untersuchen nicht miteinbezogen. Arbeiten im Zusammenhang mit gleichgeschlechtlichen Paaren und alleinerziehenden Vätern, in Bezug auf die Vater-Kind-Bindung, wurden ebenfalls nicht in die vorliegende Arbeit mit aufgenommen.
Des Weiteren erfolgte eine Kontaktaufnahme mit Prof. Dr. Lieselotte Ahnert, um mehr über die Studienergebnisse der CENOF-Studie (The Central European Network on Fatherhood) in Erfahrung zu bringen. Die von Prof. Dr. Ahnert freundlicherweise übermittelten Unterlagen wurden für die Bearbeitung herangezogen und fanden Eingang in die Arbeit.
Wie im Flussdiagramm des Rechercheprozesses (Anhang A) dargestellt, wurden nach dieser ersten Literaturrecherche und dem Lesen der Abstractsinsgesamt 41 Artikel aus wissenschaftlichen Journalen ausgewählt. Nach genauerer Auseinandersetzung und Prüfung auf tatsächliche Relevanz für das Thema, wurden schließlich 23 irrelevante Artikel extrahiert und somit18 für die Erstellung und Bearbeitung der vorliegenden Arbeit herangezogen.
Im Rahmen der weiteren Literaturrecherche, die auch noch während des gesamten Schreibprozesses durchgeführt wurde, wurde entsprechend der obigen Beschreibung vorgegangen. Aspekte, welche im Verlauf des Schreibprozesses als besonders bedeutsam für die weitere Bearbeitung identifiziert werden konnten, wurden immer wieder nachrecherchiert. So wurden im Laufe des gesamten Bearbeitungszeitraumes insgesamt 26 Studien in die vorliegende Arbeit miteinbezogen.
Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass auch Literatur mit Publikation vor2010 in diese Arbeit miteingeflossen ist. Die Eingrenzung auf Publikationen zwischen 2010 und 2020 erfolgte bezogen auf die ausgewählten Studien zum Thema, im Rahmen der Literaturrecherche in der Onlinebibliothek der medizinischen Universität Graz sowie der elektronischen Datenbank „Psyndex“.Für eine übersichtliche Darstellung der Studien, die Eingang in diese Arbeit gefunden haben, dient der tabellarische Überblick im Rahmen der angefertigten Studienmatrix im Anhang (Anhang B).Es erfolgt eine alphabetische Auflistung mit jeweiliger kurzer Beschreibung der Stichprobe, Methodik, Hypothesen und zentralen Ergebnisse.
3 Bindungstheorie und Väterforschung
Für eine Auseinandersetzung mit der Väterforschung ist die Kenntnis der Entstehung von Bindung unumgänglich. Aus diesem Grund werden im Anschluss Themen der Bindungstheorie von Bowlby beschrieben, welche für die Beantwortung der Forschungsfrage im Rahmen der vorliegenden Arbeit von Bedeutung sind. Hierzu zählen neben der Definition und Entstehungsfaktoren von Bindung auch Bindungsstile im Kindesalter, bevor im nächsten Kapitel der Fokus auf die Vater-Kind-Bindung und die Erweiterungen der Bindungstheorie in der Väterforschung gelegt wird.
Es ist hier festzuhalten, dass der Umfang dieser Arbeit eine umfassende Behandlung der Bindungstheorie nicht zulässt. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Bindungstheorie kann das Werk von Karin und Klaus Grossmann „Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit“ (7. Auflage, 2017, Klett Cotta) empfohlen werden.
3.1 Grundlagen der Bindungstheorie
Die uns heute bekannte Bindungstheorie geht auf die Zusammenarbeit des Psychoanalytikers John Bowlby und Mary Ainsworths zurück. John Bowlby definierte die grundlegenden Annahmen der Bindungstheorie. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth erfolgte durch sie die Erweiterung und empirischen Bestätigung der Theorie (Grossmann&Grossmann, 2017).
Während des zweiten Weltkrieges führte Bowlby Analysen and Kleinkindern in Krankenhäusern und Wohnheimen durch. Zum ersten Mal erfolgte eine Beurteilung der seelischen Folgen für ein Kind, ausgelöst durch die Trennung von der Mutter. Diese Auswirkungen waren klar im Verhalten des Kindes beobachtbar. Es gelang ihm damit aufzuzeigen, dass die gezeigte Apathie und Ruhe der Kleinkinder in den Einrichtungen kein Anzeichen von Eingewöhnung waren. Die vorliegende Passivität der Kinder war ein Ausdruck für ihre negative und leidvolle Annahme einer Situation, auf deren Änderung sie selber keinen Einfluss hatten (Grossmann&Grossmann, 2017).
Diese Beobachtungen zu den negativen Auswirkungen von langer Trennung bildeten die Basis für die Formulierungen der Bindungstheorie, welche klinisch-psychoanalytische Erkenntnisse und evolutionsbiologische Ansichten implizieren. Durch Mary Ainsworth erfolgte in den 1950iger und 1960iger Jahren erstmals die empirische Überprüfung Bowlbys theoretischer Hypothesen über eine längere Trennung von der Bezugsperson und den damit verbundenen negativen Konsequenzen für die Entwicklung der betroffenen Kinder. Hierfür fanden Untersuchungen an Schulkindern statt, welche in ihrer Vorschulzeit lange Aufenthalte in Tuberkulose-Stationen durchmachen mussten. Im Rahmen dieser Untersuchung benutzen Bowlby und Ainsworth zum ersten Mal die Bezeichnung „Bindung“. Im Gegensatz zum bis dahin gebräuchlichen Begriff der „Abhängigkeit“ von der Bezugsperson. Ihre definierten Ansätze der Bindungstheorie differenzieren diese von den Annahmen der Persönlichkeitsentwicklung und Psychopathologie. Diese Ansätze charakterisieren die Bindungstheorie als eine Theorie der normalen und pathologisch abweichenden Entwicklung. Folgenden Postulate sollen dies zum Ausdruck bringen:
1. In der Entwicklung eines Kindes ist kontinuierliche und feinfühlige Fürsorge von enormer Wichtigkeit. Dies trägt zu seelischer Gesundheit bei.
2. Es liegt die biologische Notwendigkeit vor, zu mindestens einer Person eine Bindung aufzubauen, welche als stärker eingeschätzt wird. Gewöhnlich ist diese Bindungsperson ein Erwachsener, der Schutz und Versorgung gewährleistet.
3. Der Unterschied einer Bindungsbeziehung zu anderen Beziehungen liegt in der Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems und der Deaktivierung des Explorationsverhaltenssystem bei Angst. Hingegen wird bei Wohlbefinden das Bindungsverhaltenssystem gestoppt und Exploration und Spiel werden wieder aufgenommen.
4. Die Qualität der Bindungen kann anhand der vermittelten psychischen Sicherheit differenziert werden.
5. Die Bindungstheorie stellt ein Erklärungsmodell dar, um aufzuzeigen wie früh erlebte Bindungserfahrungen kognitiv verarbeitet und zu internalen Arbeitsmodellen integriert werden (Grossmann&Grossmann, 2017).
Ainsworth (1979) beschreibt die Bindungstheorie als ein umfassendes Konzept für die Entwicklung der Persönlichkeit als Auswirkung der erlebten sozialen Erfahrungen. Die Bindungstheorie beschäftigt sich mit der emotionalen Entwicklung eines Kindes und den grundlegenden Einflüssen, denen diese Entwicklung unterliegt. Bindung stellt im Rahmen dieser Entwicklung ein emotionales Band dar. Es entwickelt sich in der Kindheit, bleibt aber nicht auf diese beschränkt, sondern umfasst die gesamte Lebensdauer (Brisch, 2010). Dieses Band ist in den Gefühlen verankert und verbindet zwei Personen über Zeit und Raum miteinander (Ainsworth, 1979).
Bowlby (1982) sieht den Aspekt der Bindung als nur einen Teil des umfassenden Beziehungssystems eines Kindes an. Jedoch bezeichnet er diesen Teil als den wichtigsten. Bindungen haben den größten Einfluss auf die emotionale und soziale Entwicklung.Eine schwächere Person, das Kind, bindet sich an eine Person, welche als andauernder Interaktionspartner wahrgenommen wird und welcher Schutz und Fürsorge gewährleistet. Um den Kontakt zur schutzgebenden Person herzustellen, ist der Säugling mit genetisch angelegten Verhaltensweisen ausgestattet. Diese sogenannten Bindungsverhaltensweisen ermöglichen es, durch Bewegungen, Laute, Gestik und Mimik verschiedene Bedürfnisse zu signalisieren. Zu den markantesten Bindungsverhaltensweisen zählen Weinen, Rufen Anklammern, Nachfolgen und Protest beim Verlassenwerden.Offen gezeigtes Bindungsverhalten repräsentiert den Wunsch nach Nähe bei Belastung, wie beispielsweise Krankheit, Erschöpfung und Angst (Bowlby, 1982; Grossmann&Grossmann, 2017).
Der Bindungsaufbau des Kindes an seine Bindungsperson vollzieht sich in vier Phasen:
Die erste Phase, die Phase der unspezifischen sozialen Reaktionen, vollzieht sich in den ersten sechs Lebenswochen. Im Fokus stehen hier sofort aktivierbare Verhaltenssysteme. Der Säugling zeigt reflexartige soziale Reaktionsweisen wie Festklammern, Schreien, Anschmiegen und Umklammern. Diese Reaktionen richten sich noch nicht gezielt an eine Person, obwohl das Neugeborene schon fähig ist, seine primäre Bezugsperson anhand von Stimme und Geruch von anderen Personen zu unterscheiden (Bowlby, 1982; Grossmann & Grossmann, 2017).
Zwischen dem zweiten/dritten Monat und dem sechsten/siebten Lebensmonat erfolgt die zweite Phase, die Phase der unterschiedlichen sozialen Reaktionsbereitschaft. Der Säugling beginnt mit der Fokussierung einer spezifischen Person und wendet sich in erster Linie an die primäre Bezugsperson. Der Kontakt wird vornehmlich mit ihr und vertrauten Personen gesucht (Bowlby, 1982; Grossmann & Grossmann, 2017).
In der dritten Phase, der Phase des aktiven und initiierten zielkorrigierten Bindungsverhaltens, sind Bindungsverhaltensweisen deutlichidentifizierbar. Ab dem sechsten Monat bis circa zum dritten Lebensjahr kommt es zu einer Erweiterung des Sozialverhaltens. Dies ist vor allem bedingt durch Entwicklungsfortschritte wie der Möglichkeit eigenständiger Fortbewegung durch Krabbeln oder Rutschen. Auch das gezielte Greifen und die Fokussierung auf einige wenige Bindungspersonen ist charakteristisch für diese Phase. Ein Vorhersagen von Reaktionen der Bindungsperson auf ein gezeigtes Verhalten wird in dieser Phase ebenfalls gelernt. Das Bindungsverhalten wird nicht nur gezielt auf eine Person hin gezeigt, sondern kann mittlerweile auch der Situation entsprechend angepasst werden. Dies stellt eine zielkorrigierte Partnerschaft dar. Der Säugling sieht die Bindungsperson als sicheren Hafen, welcher Schutz, Trost und Wohlbefinden verspricht. Dieses Wohlbefinden ermöglicht gleichzeitig das neugierige Explorieren. In diesem Zusammenhang sind die Indikatoren sicherer Bindung erkennbar. Es zeigen sich Trennungsleid sowie Erleichterung oder Freude bei Wiederkehr der Bindungsperson. Bleiben diese Indikatoren aus oder sucht das Kind bei Angst keine Nähe zur Bindungsperson, so kann vermutet werden, dass keine Bindung vorliegt (Bowlby, 1982; Grossmann & Grossmann, 2017).
Ab dem dritten Lebensjahr bildet sich die vierte Phase, die Phase der zielkorrigierten Partnerschaft, aus. Diese beginnt, sobald das Kind sprechen kann und die Absichten und Ziele der Bindungsperson verstehen kann. Da diese vom Kind in sein Denken und Planen integriert werden, kommt es zur Entwicklung einer zielkorrigierten Partnerschaft. Im Vorschulalter verstehen Kinder, dass auch ihr Gegenüber etwas will, denkt und fühlt. Ab diesem Zeitpunkt sind die gemachten Erfahrungen mit den Eltern ausschlaggebend dafür, wie auf die Wünsche, Gedanken und Gefühle des Gegenübers reagiert wird (Bowlby, 1982; Grossmann&Grossmann, 2017).
Bowlby (1975) spricht von einem evolutionär determinierten Bindungsverhaltenssystem. Dieses erfährt Responsivität durch das Fürsorgeverhaltenssystem der Bindungsperson. Auf Basis dieser beiden Systeme erfolgt eine Regulierung von Nähe und Distanz zwischen dem schutzbedürftigen Kind und der schutzbietenden Bindungsperson. Als bedrohlich wahrgenommene Situationen wie Krankheit, Müdigkeit oder Abwesenheit der Bindungsperson aktivieren das Bindungsverhaltenssystem beim Kind. Das Fürsorgeverhaltenssystem der Bindungsperson kann ein Sicherheitsgefühl beim Kind erzeugen, indem adäquate Verhaltensweisen wie Zuwendung und Beruhigung gezeigt werden. Ist diese Sicherheit für das Kind gegeben, pausiert das Bindungsverhaltenssystem. Es erfolgt eine Aktivierung des Explorationsverhaltenssystems und das Kind zeigt Erkundungsverhalten.Kommt es im Rahmen dieser Erkundung der Umwelt zu einer Bedrohung oder wird die Distanz zur Bezugsperson zu groß, wird das Bindungsverhaltenssystem reaktiviert und das Kind möchte die Nähe wiederherstellen (Bowlby, 1975). Diese Balance zwischen Sicherheit und Exploration stellt eine wichtige Funktion der Bindungsperson dar (Kindler, Grossmann & Zimmermann,2002). Bowlby (1975) betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der von den Eltern vermittelten „sicheren Basis“ für das Kind, gleichwohl in Kombination mit Anregung zur Exploration.
Nicht nur evolutionär betrachtet stellt der Verlust der schutzbereitstellenden Person für das Kind eine Bedrohung dar. Auch heute kann dies zu Misshandlung führen oder sogar den Tod zur Folge haben. Wie bereits beschrieben, besteht Bindung über Zeit und Raum hinweg. Bindungsverhaltensweisen sorgen für die Aufrechterhaltung der Bindung. Ist der Erhalt der Bindung nicht bedroht, ist es nicht notwendig Bindungsverhaltensweisen zu zeigen. Unter positiven Rahmenbedingungen, wenn sich das Kindin Anwesenheit seiner Bindungsperson wohlfühlt, dürfen ausbleibende Bindungsverhaltensweisen nicht als Fehlen von Bindung betrachtet werden. Soll das Vorliegen von Bindung identifiziert werden, muss dies durch eine unfreiwillige Trennung provoziert werden (Grossmann&Grossmann, 2017). Auf ein Testverfahren, welches genau dies impliziert, wird nachfolgend eingegangen.
Bindungsqualitäten
Das Testverfahren mit der Bezeichnung „Fremde-Situation“ (strangesituation) ist ein standardisiertes Verfahren zur Identifizierung von Bindungsqualitäten, entwickelt von Mary Ainsworth. Diese Testung kann ab dem zwölften Lebensmonat durchgeführt werden und ist bis zu einem Alter von neunzehn Monaten valide. Kinder werden bei An- und Abwesenheit ihrer Bindungsperson beobachtet. Anschließend erfolgt eine Beurteilung des Verhaltens bei Trennung und Wiedervereinigung. Aufgrund unterschiedlicher Verhaltensstrategien der Kinder können verschiedenen Organisationen von Bindung identifiziert werden. Diese verschiedenen Qualitäten von Bindung werden als sicher, unsicher-vermeidend sowie unsicher-ambivalent bezeichnet. Weiters werden auch desorganisierte sowie zwanghaft-kontrollierende Bindungsmuster dargestellt, welche als die Übergangsformen von Normalität zur Psychopathologie gelten (Kindler et al., 2002). Die Bindungsmuster im „Fremde-Situation-Test“ werden wie folgt definiert:
Sichere Bindung
Als sicher gebunden eingestufte Kinder zeigen ein starkes Explorationsverhalten im Beisein der Bezugsperson. Sie meiden die fremde Person (Testleiterin) und sind ängstlich ihr gegenüber. Die Reaktion auf die Abwesenheit der Mutter ist geprägt durch Verzweiflung. Bei Rückkehr der Mutter suchen sie sofort ihre körperliche Nähe, was zu Beruhigung führt. Sie beginnen danach erneut mit dem Explorieren. Dieses gezeigte Verhalten basiert auf wiederholten Interaktionserfahrungen mit einer feinfühligen und hilfsbereiten Bezugsperson. Dieser gelingt es, den emotional desorganisierten Reaktionen des Kindes durch effiziente Beruhigung entgegenzuwirken. Diese Kinder können Belastungssituation relativ organisiert meistern und stufen negative Gefühle weniger bedrohlich ein (Fongay&Target, 2011).
Unsicher-vermeidende Bindung
Eine unsicher-vermeidende Bindung liegt vor, wenn Kinder auf die Trennung von der BP weniger ängstlich reagieren. Bei Rückkehr der Bezugsperson wird von Seiten des Kindes der Kontakt nicht sofort gesucht. Dieses Bindungsmuster repräsentiertKinder, die in ihrer emotionalen Erregung nicht effektiv von ihrer Bezugsperson stabilisiert werden. Sie rechnen also nicht mit der Unterstützung der Mutter, weshalb sie ihren Affekt überregulieren, indem sie die Kontaktaufnahme mit der Mutter und die vermeintlich beruhigende Situation meiden (Fongay&Target, 2011).
Unsicher ambivalente Bindung
Dieses Bindungsmuster ist charakterisiert durch Verstärkung von Verzweiflungsäußerungen. Das Kind unterreguliert seinen Affekt. Die Bezugsperson soll dadurch zu erwartbaren Reaktionen aufgefordert werden. Die Nähe zur Bezugsperson wir gesucht, gleichzeitig wird aber Frustration ausgedrückt, wenn dieser Kontakt hergestellt ist. Im Fremde-Situation-Test zeigen diese Kinder ein freudloses Explorieren und Spielen. Die Trennung von der Bezugsperson geht mit Weinen und Schreien einher. Beim Wiedersehen dauert es lange, bis eine Beruhigung eintritt. Sie zeigen passive Verweigerung, möchten nicht umarmt werden und hören nicht auf zu weinen. Angst und Wut des Kindes verhindern hier aus der Nähe der Mutter Trost zu beziehen. Ihre Anwesenheit und die Versuche zu beruhigen, bewirken daher nichts (Fongay&Target, 2011).
Desorganisierte/desorientiere Bindung
Diese Kategorie betrifft Kinder, bei denen die Aktivierung des Verhaltenssystems der Bindung inkonsistente Motive anregt. Es wird angenommen, dass hier die Bezugsperson als beängstigend und beruhigend zugleich erlebt wird. Es können ziellose Verhaltensweisen identifiziert werden. Im Rahmen des Fremde-Situation-Test können Verhaltensweisen wie Kopfanschlagen, Körperversteifen oder In-die Hände-Klatschen beobachtet werden. Für die weitere psychische Entwicklung und damit verbundene eventuell auftretende psychopathologische Veränderungen, ist die desorganisierte/desorientierte Klassifizierung von enormer Bedeutung. Bindungsforscher konnten in den 1970iger und 1980iger Jahren feststellen, dass die gezeigten Verhaltensweisen auf Misshandlung des Kindes, aber auch auf ein unbewältigtes Trauma der Bezugsperson zurückzuführen sind. Auch konnten sie subtilere Erfahrungen ausmachen, welche verstörend auf Säuglinge und Kleinkinder wirken. Hierzu zählen dissoziale Momente oder furchterregende Äußerungen der Bezugsperson gegenüber ihren Kindern. Das Verhaltenssystem der Bindung wird durch eine Bindungsfigur, welche Sicherheit und Gefahr zugleich ausstrahlt, endstabilisiert (Fongay&Target 2011). Fongay und Target (2011) sehen in der desorganisierten Bindung dasjenige Bindungsmuster mit der signifikantesten Prognosekraft für eine spätere psychische Störung.
Für Brisch (2019) liegt in einer sicheren beziehungsweise unsicheren Bindung ein Schutz- beziehungsweise ein Risikofaktor für die Entstehung von Psychopathologien. Während die psychische Vulnerabilitätsschwelle bei sicher gebundenen Kindern erhöht wird, kommt es bei unsicher gebundenen Kindern zu einer Herabsetzung dieser Schwelle und somit zu einer Reduktion der Protektionsfaktoren.In klinischen Studien konnten Zusammenhänge von unsicheren Bindungsmustern und psychischen Störungsbildern aufgedeckt werden.Auch hier konnte vor allem das desorganisierte Bindungsmuster als bedeutsam für die Entwicklung psychopathologischer Veränderungen identifiziert werden.
Kerstis, Åslund und Sonnby (2018) gingen in ihrer Untersuchung der Frage nach, ob eine sichere Bindung an Vater und Mutter mit einer geringeren Ausprägung depressiver Symptome bei Jugendlichen einhergeht und ob diesbezüglich Geschlechtsunterschiede vorliegen. Im Rahmen einer schulbasierten Umfrage erhoben sie demografische Daten, Informationen zur Bindung an Vater und Mutter sowie zu depressiven Symptomen von 3.988 Jugendlichen. Sie konnten nachweisen, dass eine sicherere Bindung an den Vater oder die Mutter mit weniger depressiven Symptomen verbunden war. Dies war sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen der Fall.
In einer früheren Studie zur Bindungssicherheit und depressiven Symptomen im Jugendalter, an 225 Jugendlichen, stelltenPuissant, Gauthier und Van Oirbeek (2011) fest, dasseine sichere Bindung an beide Elternteile die Symptome einer Depression bei Jugendlichen reduzierte. Von besonderem Interesse ist jedoch ein weiterer Befund ihrer Untersuchung. Sie konnten nachweisen, dassdie Qualität der Vater-Kind-Bindung einen stärkeren Effekt aufwiesals die Mutter-Kind-Bindung.
Eine sichere Bindungsqualität schützt das Kind in der Entwicklung und prosoziale Verhaltensweisen werden hierdurch angestoßen. Sie zeigen ein umfangreicheres Gemeinschaftsverhalten, verfügen über mehr freundschaftliche Beziehungen und führen häufiger erfüllende Beziehungen. Ihr Problemlöseverhalten sowie ihre kognitiven und sprachlichen Kompetenzen sind ausgeprägter. Vor allem eine erhöhte Empathiefähigkeit, durch welche ein Einfühlen in das Denken und Verhalten andere Menschen möglich ist, bringt enorme Vorteile in sozialen Interaktionen mit sich (Brisch,2019).
Brisch (2010) konstatiert weiters, dass die Erfahrung einer sicheren Bindung mit einer Bezugsperson in der frühen Kindheiteine höhere psychische Resilienz auf emotionale Belastung zur Folge hat. Kinder mit unsicheren Bindungsmustern weisen ein größeres Risiko auf, aufgrund einer Belastung Psychopathologien zu entwickeln. Weniger prosoziale Verhaltensweisen werden gezeigt, was wiederum dazu führt, dass im Jugendalter weniger Freundschaftsbeziehungen vorliegen. Die soziale Konfliktlösekompetenz ist nur gering ausgeprägt, was unter anderem auch mit der reduzierten Empathiefähigkeit zusammenhängt.
Bindungserfahrungen und die damit verbundenen Bindungsstile sind die Grundlage für spätere Ansichten und Einstellungen und die individuelle Ausbildung der Selbstregulationsfähigkeit. Eine sichere Bindung ermöglicht eine bessere Bewältigung von inneren und äußeren Stresssituationen sowie Belastungen (Vavrik, 2010).
Internale Arbeitsmodelle
Auf Basis der beobachtbaren Bindungsmuster beschreibt Bowlby die Entstehung von „internalen Arbeitsmodellen“. Aus den vielen Erfahrungen, die der Säugling in der Interaktion mit seiner Bindungsperson macht, entwickeln sich in den ersten zwölf Lebensmonaten diese inneren Arbeitsmodelle (Bowlby, 1975). Es kommt zu einem Aufbau von Erwartungen, hinsichtlich des eigenen Verhaltens, aber auch hinsichtlich der Verhaltensweisen der Bezugsperson (Fongay, 1998). Diese Internalisierung interpersonaler Beziehungen stützt laut Bowlby (1975) auf kognitiven Systemen. Diese kognitiven Systeme organisieren das Verhalten des Kindes gegenüber der Bindungsperson und auch anderen Menschen, angesichts früherer Interaktionserfahrungen. Die so gebildeten internalen Arbeitsmodelle beeinflussen über die gesamte Lebensspanne den Umgang mit und die Beziehungen zu anderen Menschen.
Das Kind verfügt somit über explizite bewusste sowie unbewusste Arbeitsmodelle für jede einzelne Bezugsperson, also sowohlfür die Mutter als auch den Vater. Diese formen sich im Laufe der Entwicklung zu Bindungsrepräsentationen aus, indem sie immer stabiler und schließlich zu einem psychischen Charakteristikum werden. Stabile Bindungsrepräsentationen führen zu psychischer Stabilität, was wiederum eine gesunde psychische Entwicklung begünstigt. Häufig lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Bindungsrepräsentation der Bezugsperson und der Bindungsqualität des Kindes feststellen (Brisch, 2019).
Di Folco und Kollegen (2016) konnten mit ihrer Studie eine Übereinstimmung der Bindungsqualität gegenüber Mutter und Vater bei 6- bis 7-jährigen Kindern belegen. Der Fokus ihrer Untersuchung lag auf der Analyse der Bindungsrepräsentationen im Übergang von der frühen zur mittleren Kindheit. Dieser Zeitraum stellt eine besondere Phase in der Entwicklung in Bezug auf Kognition und Emotionsregulation dar.
An dieser Stelle soll kurz das Adult Attachment Interview (AAI) beschrieben werden, welches für die Erhebung der Bindungsrepräsentationen verwendet wird. Dieses halbstrukturierte Bindungsinterview für Erwachsene misst die Bindungsrepräsentationen, welche aus den Erfahrungen mit den Bezugspersonen im Kindesalter entstehen. Im Rahmen des Interviews werden bindungsrelevante Erinnerungen aus der Kindheit erhoben. Es wird die aktuell vorliegende emotionale und kognitive Verarbeitung dieser früheren Bindungserfahrungen der Person als Narrativ erhoben. Hauptkriterium der Auswertung stellt die Kohärenz der Darstellung der genannten Erinnerungen dar. Die verschiedenen Bindungsmuster sind die autonome/sichere Bindung, die abweisende Bindung, die verstrickte Bindung und die ungelöste-desorganisierte Bindung (Lohaus&Vierhaus, 2019; Strauß & Herpertz, 2017).
Die erwähnte Feinfühligkeit der Bezugsperson im Umgang mit dem Säugling beziehungsweise dem Kind stellt einen wichtigen Aspekt der Bindungsentwicklung dar und wird nachfolgend behandelt.
Das Konzept der Feinfühligkeit
Die Bindungstheorie beruht auf der Evolutionstheorie und demzufolge auf dem artspezifischen Grundbedürfnis nach Bindung zu einem Erwachsenen. Das Kind ist von Geburt an mit Fähigkeiten ausgestattet, die es ermöglichen, diese Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. Dieses Mitteilen von Gefühlen, welche vom Gegenüber erfasst werden, stellt das erste Fundament der Bindungstheorie dar. Das zweite Fundament bildet die Kommunikation von Emotionen durch den Säugling. Aufgrund biologischer Mechanismen empfindet die Bezugsperson diese Emotionsäußerungen als Intention des Säuglings etwas mitteilen zu wollen. Durch diese Verhaltensweisen erlangen die Eltern Informationen über das weitere Verhalten des Säuglings. Außerdem können Absichten identifiziert werden, durch welche sich die Eltern der jeweiligen Situation beziehungsweise dem vorliegenden Bedürfnis entsprechend verhalten. Dieser kommunikative Faktor des Verhaltens des Säuglings ist Grundlage des Konzepts der Feinfühligkeit, welches ein qualitatives Merkmal der Fürsorge einer Bindungsperson darstellt (Grossmann&Grossmann, 2017). Ainsworth definiert Feinfühligkeit als die Fähigkeit die kindlichen Signale zur Kenntnis zu nehmen, richtig zu interpretieren und schnellstmöglich adäquat darauf zu reagieren (Grossmann&Grossmann, 2017). Die Bedeutung der Feinfühligkeit der Bezugsperson gegenüber dem Säugling erkannte sie im Rahmen der Untersuchungen der „Fremden Situation“. Sie konnte beobachten, dass Kinder von Müttern, welche ein sehr feinfühliges Pflegeverhalten zeigten, häufiger die für eine sichere Bindung sprechenden Verhaltensmuster aufwiesen. Umgekehrt konnte bei Kindern mit weinigerfeinfühligagierenden Müttern öfter eine unsichere Bindung festgestellt werden (Brisch, 2019).
Die Feinfühligkeit der Bindungsperson beeinflusst in hohem Maße die Qualität der Bindung. Wichtige Aspekte von feinfühligem Verhalten sind emotionale Wärme in der Interaktion, Regelmäßigkeit und Stabilität in der Versorgung sowie resonantes Verhalten in Bezug auf die vom Säugling gezeigten Bedürfnisse. Ist die Bindungsbeziehung dadurch gekennzeichnet, so wird durch das vorherrschende Gefühl der Sicherheit ein grundlegendes Vertrauen in sich und die Umwelt aufgebaut. Dies gelingt jedoch nicht, wenn die Bindungsperson die genannten Aspekte der Feinfühligkeit nicht zeigt (Vavrik, 2010). Zeigt die Bindungsperson im ersten Lebensjahr zu wenig Feinfühligkeit, wird es für das Kind nicht möglich sein seine Gefühle zu organisieren. Die Wahrnehmung der Bindungsperson als sicheren Hafen, den das Kind bei Exploration sowie zum Erlernen von Lösungsstrategien und Affektregulation benötigt, wird nicht gebildet (Brisch,2019).
Ein hohes Maß an Feinfühligkeit erweist sich als vorhersagekräftig für eine sichere Bindungsqualität zwischen Vater und Kind. In der Interaktion zwischen Vater und Kind ist vor allem die Feinfühligkeit im Spiel von Bedeutung. Darauf wird in Kapitel 4.1.2 näher eingegangen. Die bereits beschriebene Sensitivität der Mutter sieht die Bindungsforschung als entscheidenden Faktor für eine sichere Mutter-Kind-Bindung. Diese mütterliche Feinfühligkeit beeinflusst jedoch auch immer den Aufbau einer sicheren Bindung zwischen Vater und Kind (Lamb, 2010). Eine zunehmende Fokussierung auf ökologische Einflüsse in der Entwicklungspsychologie führte im Rahmen der Bindungstheorie zu einem vermehrten Interesse an der Vater-Kind-Beziehung (Kindler et al., 2002). Bevor auf diese Erweiterungen der Bindungstheorie hinsichtlich des Vaters eingegangen wird, wird zuerst ein Blick auf die Phasen der Väterforschung geworfen, um den Wandel und die Entwicklung derVaterrolle beleuchten zu können.
3.2 Phasen der Väterforschung
Der Fokus des wissenschaftlichen Interesses lag also in der Vergangenheit auf der Mutter-Kind-Beziehung. Der Vater wurde von der entwicklungspsychologischen Forschung erst nach und nach als wichtiger Bestandteil der kindlichen Entwicklung erkannt. Dieser Umstand, dass der Vaterfigur nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wird den frühen psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds zugeschrieben. Hier wird der Vater vor allem in Hinblick auf die phallische Entwicklungsstufe, der psychosexuellen Entwicklung des Kindes, betrachtet. In der Psychoanalytik wird der Einfluss des Vaters vor dem vierten Lebensjahr lange nicht erforscht. Eine trianguläre Beziehung ist nach Freud erst mit Beginn der ödipalen Phase möglich. Dies trug zum Bestehenbleiben einer Exklusivität der Mutter-Kind-Beziehung bei (Fthenakis, 1988).
Mit Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sehen jedoch immer mehr Forscher den Vater ab der frühen Entwicklung als bedeutsam an (Fthenakis, 1988). Magret Mahler zählt zu jenen Wissenschaftlern, die das Vorhandensein einer triangulären Beziehung schon in der präödipalen Phase annehmen. Für sie stellt der Vater ab dem zweiten Lebensjahr das dritte Objekt in der Mutter-Vater-Kind-Beziehung dar. Mahler betont im Rahmen ihrer Individuationstheorie die entscheidende Rolle des Vaters als Förderer der Selbständigkeit des Kindes und für die Loslösung aus der Symbiose mit der Mutter(Heberle 2012). Ernest Abelin sorgt schließlich in den 1970iger Jahren für einen Sichtwandel in der psychoanalytischen Forschung weg von der Mutter-Kind-Dyade hin zur Mutter-Vater-Kind-Triade. Abelin stellt sein Triangulierungsmodell, welches auf den Beobachtungen von Magret Mahler basiert, vor. Damit unterstreicht er die präödipale Bedeutung des Vaters als dritte Person in der Mutter-Kind-Dyade. Der Vater stellt hier sowohl die von der Mutter separierte andere elterliche Personals auch den mit ihr in Verbindung stehenden Partner dar (Heberle 2012).
Vor allem der gesellschaftliche Wandel kann als Anstoß für eine wissenschaftsbasierte Väterforschung angesehen werden (Fthenakis, 1988). Als explizite Auslöser, für die wachsende Auseinandersetzung mit der Vater-Kind-Beziehung sieht Fthenakis (1988) unter anderem die Frauenemanzipationsbewegung. Die daraus resultierende bessere Ausbildung für Frauen und ihr zunehmendes berufliches Engagement stieß Veränderungen im Familiensystem an und führte zu einer vermehrten egalitären Aufgabenteilung in der Kinderversorgung. Die innerfamiliäre Angleichung der Mutter- und Vaterrolle und die stärker partnerschaftlich geprägte Vorstellung von Elternschaft waren ebenfalls Wegbereiter für einen Anstieg der Vater-Kind-Forschungsaktivitäten.Auch die neue Möglichkeitder selbstbestimmten Familienplanung durch Kontrazeption und ein anwachsendes Interesse der Öffentlichkeit an Kindern wirkten sich positiv auf das Forschungsinteresse aus.
Im angloamerikanischen Raum können schön Mitte der 70iger Jahre Anstiege des wissenschaftlichen Interesses festgestellt werden, bis dannEnde der 70iger Jahre auch im deutschsprachigen Raum eine Zunahme der wissenschaftlichen Väterforschung erkennbar war (Fthenakis, 1988).
Es kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass erst seit den 1970iger Jahren des 20.Jahrhunderts ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse an der Beteiligung des Vaters an der kindlichen Entwicklung und an der triadischen Beziehung von Vater, Mutter und Kind besteht. Allerdings muss hier auch erwähnt werden, dass die Durchsetzung und wirkliche Anerkennung dieser Ansätze erst 30 Jahre später erfolgt.Der Fokus auf die Mutter in der Forschung und Behandlung war in diesem Zeitraum noch immer dominanterals der auf den Vater und seinem Einfluss auf die Kindesentwicklung. Auch wurde der Vater von 1970 bis circa 2000 vor allem in Bezug auf seine negative Einflussnahme betrachtet. Thematisiert wurden insbesondere Gewalt und Missbrauch (Seiffge-Krenke, 2016). Nach Seiffge-Krenke(2016) ist seit dem Jahr 2000 eine deutliche Zunahme des Interesses an Vätern zu erkennen. Mit einem Forschungshoch in der Väterforschung von 50 bis 70 Studien pro Jahr, zwischen 1997 und 2007, kann auch weiterhin eine Zunahme der Forschungsaktivität verzeichnet werden.
[...]
1 Personenbezeichnungen werden im Interesse der leichteren Lesbarkeit in der maskulinen Form verwendet. Sie beziehen sich auf Personen beiderlei Geschlechts.
- Citation du texte
- Stephanie Treu (Auteur), 2021, Distinktive Funktionen des Vaters für die Entwicklung des Kindes. Was die Beziehung zwischen Vater und Kind so besonders macht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1000720
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