Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater
Die Kurzgeschichte ,,Fenster-Theater" von Ilse Aichinger zeigt die menschlichen Verhaltensweisen von einsamen Menschen auf, indem sie beschreibt, wie diese auf bestimmte Situationen reagieren.
Geschildert wird wie eine sensationslustige, einsame Frau am Fenster in der gegenüberliegenden Wohnung einen alten Mann sieht, der scheinbar zu ihr hinüberwinkt. Sie nimmt an, dass er nur sie meinen kann, da unter ihrer Wohnung eine Werkstatt liegt, die um diese Zeit bereits geschlossen hat - und die Wohnung über ihr sollte leer stehen. Als der Alte sich dann weit über die Brüstung beugt und sich außerdem seltsame Verkleidungen zulegt, sieht sie die Möglichkeit sich in den Mittelpunkt zu stellen und ruft die Polizei an. Am Telefon wirkt ihre Stimme sehr aufgeregt, sodass die Polizei gleich angefahren kommt. Die Frau läuft nun hinter den Polizisten her in die Wohnung des alten Mannes, die aufgebrochen werden muss, da niemandöffnet. Natürlich stehen auch die anderen Hausbewohner im Hof herum. Als die Frau mit den Polizisten allerdings in das Zimmer des Alten kommt, können sie das Haus gegenüber sehen. Die Frau erblickt ihre Wohnung, und außerdem sieht sie in der Wohnung darüber einen kleinen Jungen, der ebenfalls winkt.
Erst wenn man die Geschichte bis zum Ende gelesen hat, kann man den eigentlichen Sinn erfassen. Der letzte Absatz ist dabei äußerst entscheidend, denn vorher kommt bei den Lesern die Erwartungshaltung auf, der Alte könnte verrückt sein und möchte sich vielleicht sogar umbringen indem er aus dem Fenster springt. In diesem besagten Absatz aber wird das Gegenteil klar, da der alte Mann sehr dem Leben zugewandt ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Figurenkonstellation ist so angelegt, das der Eindruck einer Bühne mit verschiedenen Rängen bzw. Logen entsteht. Hierbei dient das Fenster des Mannes als Bühne, das Fenster des Jungen und das der Frau als Zuschauerraum. Zwischen dem Kind und dem Mann erfolgt eine Spiel-Kommunikation und die Frau beobachtet dabei den Alten.
Sie kann die Zeichensprache des Mannes allerdings nicht verstehen und sieht eine Chance um ihre Sensationslust zu befriedigen, indem sie sich durch den Polizeieinsatz bei den anderen Bewohnern wichtig machen möchte. Doch als sie von der Wohnung des Mannes ihr eigenes Fenster, und vor allem das Fenster des kleinen Jungen sehen kann, ändert sich ihre Wahrnehmungsperspektive und ihre vermeintlich klare Wirklichkeitskonstruktion scheitert. Der alte Mann realisiert seine Beziehung zur Wirklichkeit über das Spiel, da eine Kontaktaufnahme mit den Erwachsenen nicht mehr möglich scheint, weil diese in einer Beziehungslosigkeit leben. Ein krasser Gegensatz besteht zwischen dem harmlosen Spiel des Mannes und dem überdimensioniert vollzogenen Polizeieinsatz, der ,,motiviert" wurde durch die aufgeregte Stimme der Frau und ihrer unklaren Schilderung der Ereignisse.
Die Hauptfiguren sind die Frau und der alte Mann. Beides sind statisch angelegte Figuren, die keine Veränderungen durchmachen. Allerdings besteht zwischen den Charaktereigenschaften der beiden eine Antithese. Die Frau wirkt geschlossen, weil ihre Charakterzüge nur andeutungsweise motiviert erscheinen. Sie nimmt ihr Schicksal der sozialen Isolation hin und ihre Sensationslust wächst dadurch. Der alte Mann dagegen wendet sich dem Leben zu, indem er die sich ihm bietenden Kommunikationsmöglichkeiten wahrnimmt. Seine Charakterzüge sind motiviert, da er den Willen zur Kommunikation hat, obwohl ihm schlechtere Bedingungen durch seine Schwerhörigkeit gegeben sind als der Frau.
Der Höhepunkt der Kurzgeschichte ist an der Stelle lokalisiert, als die Polizei eintrifft (Zeile 51 - 53). Dort besteht die Möglichkeit, das sich im Leben der Frau etwas ändern könnte - wenigstens für einen kurzen Moment. Sie bekommt durch den Auftritt der Polizei das Gefühl, sie stehe im Mittelpunkt. Endlich passiert in ihrem einsamen Leben etwas und sie kann ihre Sensationslust befriedigen. Nach diesem Punkt ebbt die Handlung wieder langsam ab bis zu der Stelle, wo die Frau bemerkt, das sie zu Unrecht die Polizisten verständigt hat und einen Blick in ihre leere Wohnung werfen kann. Außerdem sieht sie auch, das sie nicht einmal bemerkt hat, das über ihr eine neue Familie eingezogen ist.
Im Titel ,,Fenster-Theater" steckt die wichtigste Metapher des ganzen Textes. Hierbei wird der Zusammenhang zwischen dem Mann als Darsteller und der Frau als Zuschauerin beschrieben. Am Anfang der Kurzgeschichte (Zeile 1 - 15) wird die Frau mit mehreren Attributen charakterisiert. Es wird aufgezeigt, wie sie ihr Leben verbringt und das sie sehr einsam sein muss. Außerdem wird den Lesern klar, das sich das pulsierende Leben auf der Straße unter dem Fenster der Frau abspielt, und im Zimmer der Dame herrscht das absolute Alleinsein.
Das Ende ist sehr überraschend und lenkt die gesamte Handlung in eine neue Bahn. Hierbei werden dem Leser viele Deutungsmöglichkeiten über den weiteren Verlauf der Geschichte überlassen. Der Schluss ist in keiner Weise vorherzusehen und vollkommen unerwartet. Dadurch das die personale Erzählperspektive verwendet wird und man sozusagen durch die Augen der Frau sieht, rechnet man vielleicht damit, das der Alte sich aus dem Fenster stürzt oder etwas dergleichen, aber nichts derartiges passiert.
Ilse Aichinger verwendet in der Kurzgeschichte ,,Fenster-Theater" eine Alltagssprache ohne Fremdwörter oder fachsprachliche Ausdrücke. Vergleiche treten nur sehr selten auf. Einmal in den Zeilen 10 bis 13 (,,Licht [...] machte den merkwürdigen Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen") und dann in den Zeilen 33 bis 34 (,,wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf").
Der Titel ist eine Metapher. Die regulären Merkmale eines Theaters sind im Text zu finden.
Die Bühne wird dargestellt durch das Fenster des Mannes; die jeweiligen Fenster des Kindes und der Frau bilden die verschiedenen Zuschauerränge.
Der alte Mann spielt mit den verschiedenen Elementen des Theaters, wie zum Beispiel der Pantomime, der Verkleidung, artistischen Einlagen, sowie der Kommunikation mit einem Publikum. Es gibt nur wenige bildhafte Ausdrücke. Der wichtigste allerdings wird am Ende der Geschichte wiederholt (,,schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten"). Eine deutliche Antithese besteht zwischen den Helligkeiten in den Fenstern. Hierbei steht die Dunkelheit im Fenster der Frau für deren Kontaktunfähigkeit, das Alleinsein und ihre Ausgeschlossenheit. Die Helligkeit in dem Fenster des Mannes dagegen zeigt dessen Lebensfreude, sowie menschliche Nähe, Kontaktbereitschaft und -fähigkeit. Der Satzbau ist meist sehr einfach, da viele Parataxen verwendet werden. Nur einmal tritt eine Häufung von Attributen auf. Dies passiert gleich am Anfang der Geschichte in den Zeilen 3 bis 4 (starr, neugierig, unersättlich).
,,Fenster-Theater" ist im Allgemeinen ein reiner Erzählbericht, der im ersten Absatz telling und showing beinhaltet. In den weiteren Absätzen wird vorwiegend showing benutzt, mit der Ausnahme des Gedanken der Frau ,,Meint er mich? dachte die Frau" in der Zeile 16. Außerdem ist eine erlebte Rede erkennbar, wie zum Beispiel in Zeile 57 (,,Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte,...") und ein innerer Monolog der Frau (,,Meint er mich?"). Der Text ist vollkommen linear ohne irgendwelche Vorausdeutungen oder Rückwendungen. Es gibt zum Teil ein zeitdeckendes, zeitraffendes (z.B. Zeile 54) und zeitdehnendes (z.B. Zeile 47 bis 51) Erzählen.
Überwiegend ist die personale Erzählperspektive vorhanden, die bewirkt, das der Leser die Handlung aus dem Blickwinkel der Frau sieht. Es gibt nur einzelne auktoriale Textpassagen, wie in den Zeilen 3 bis 4 in der es heißt: ,,Die Frau hatte den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind.".
Der Text wirkt auf den Leser im ersten Moment etwas verwirrend, da man keinen wirklichen Sinn in der Handlung sieht. Durch die Überschrift und die anfängliche Schilderung entsteht bei den Lesern die Idee es handele sich um einen verrückten alten Mann, der versucht sich einen Schabernack mit der Frau zu erlauben. Die Frau scheint Angst um das Leben des Mannes zu haben und ruft vorsichtshalber die Polizei. Doch wenn man den Schluss gelesen hat, dann wird dieser Eindruck schnell widerlegt. Hier wird nämlich klar, das es einzig und allein um die Einsamkeit von verschiedenen Menschen geht und darum, was sie tun, um diesen Zustand zu ändern. Bei der Frau ist es in dem Fall die versuchte Befriedigung ihrer Sensationslust, und bei dem Mann erkennt man den Willen zur Kommunikation und auch die spielerische Umsetzung.
Die Absicht der Autorin Ilse Aichinger liegt wahrscheinlich darin, das sie die Leute darauf hinweisen möchte, das man nie den Kontakt zur Außenwelt verlieren sollte. Gegen die Einsamkeit muss etwas unternommen werden - egal ob in spielerischer Art oder durch Gespräche. Selbst im Alter muss man weiterhin mit irgendwelchen anderen Menschen kommunizieren und wenn man dies nicht tut, kommt es oft zur völligen Isolation wie wir es in der Geschichte ,,Fenster-Theater" bei der Frau beobachten können. In ihrer scheinbar heilen Welt passiert rein gar nichts und sie hat auch eigentlich keine Idee, wie sie das ändern könnte. Der Mann dagegen möchte sich artikulieren und hat auch die Phantasie dazu, das zu schaffen.
- Quote paper
- Franziska (Author), 2000, Aichinger, Ilse - Fenster-Theater, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100028
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