Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Biographie Jurek Beckers
3. Aufbau des Buches
3.1. Erzählstil
4. Das Grauen und das Lachen nach Auschwitz - eine erlaubte Kombination?
4.1. Das Grauen und das Lachen
4.2. Ambivalenz der Kombination: Grauen und Lachen
4..3. Jakob der Lügner: Ein exemplarisches Beispiel für die Kombination des Grauens und Lachens
5. Abschließende Gedanken
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Living is seeing the humour in a different situation“ - frei übersetzt: Leben ist Lachen in einer grauenvollen Situation.
Dieses sehr persönliche Zitat ist der erste Gedanke gewesen, der mir nach Erhalt mei- nes Facharbeitsthemas: „Das Grauen und das Lachen - eine erlaubte Kombination? Komik in Jurek Beckers Roman ‚Jakob der Lügner‘“ durch den Kopf gegangen ist.
Ein Pastor, der mir an meinem allerersten Wochenende in den Vereinigten Staaten, in denen ich ein Schüleraustauschjahr verbracht habe, begegnet ist, sieht mir während seiner Predigt meine Traurigkeit an, kommt nach dem Gottesdienst auf mich zu und fragt mich, warum ich dem Weinen so nahe sei? Als ich ihm erkläre, wie sehr ich meine Familie und Freunde in Deutschland vermisse, antwortet er mit dem obigen Zitat und nimmt mich in die Arme. Nicht nur damals hat mich dieses Zitat bewegt und mir geholfen, bis heute ist es mir als Lebensmotto ins Herz geschrieben. Kurz: Ein passenderes Facharbeitsthema hätte sich für mich wohl nicht finden lassen kön- nen.
Die Recherche zu diesem Thema hat mich sehr interessiert und auch das Schreiben habe ich äußerst spannend gefunden. Anfangs hat meine vorläufige Gliederung weit mehr Aspekte enthalten, wie z.B. die Ghettosituation der Juden oder der historische Hintergrund mit besonderem Augenmerk auf Polen; doch habe ich mich aus Platz- gründen dafür entschieden, das Thema auf die Biographie Beckers zu beschränken, in der Bezüge zu dem Roman „Jakob der Lügner“ erklärt werden. Danach befasse ich mit dem Aufbau und der Erzählweise des Romans, welche die Komik unterstreicht. Die Frage, ob nach Auschwitz das Grauen und das Lachen eine generell erlaubte Kombination ist, führt mich zum wichtigsten Punkt: dem Beschreiben, Analysieren und Interpretieren der Ambivalenz Grauen und Lachen in diesem Buch. Am Schluss erfolgt eine persönliche Stellungnahme. Nur soviel sei jetzt schon verraten, so wie auch mein Leben in den USA durch das Lachen leichter geworden ist, schafft es auch die Hauptfigur Jakob in Jurek Beckers Roman das Leben Tausender zu erleichtern, indem er ihnen die Möglichkeit gibt, das Lachen im Grauenvollsten zu sehen.
2. Biographie Jurek Beckers
Schon am Anfang der Biographie ist es nicht möglich, eindeutige Fakten zu benennen, da Jurek Beckers offizielles Geburtsdatum, der 30. September 1937, willkürlich von seinem Vater gewählt worden ist. Max Becker macht seinen Sohn älter, damit er die Chance erhält, zu arbeiten und somit Auschwitz zu entgehen.1 Zwar entkommt Jurek Becker Auschwitz, doch das Ghetto von Lodz (1939), das Konzentrationslager Ravensbrück und später Sachsenhausen bleiben ihm nicht erspart.
All jene Kindheitserfahrungen verdrängt Jurek soweit, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann. Beim Betrachten diverser Fotos aus seiner Kindheit fällt es Becker schwer, sich diese ins Gedächtnis zu rufen. „Ohne Erinnerung an die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt du nicht kennst.“2 Weiterhin bemerkt Becker, dass er beim Betrachten der Fotos zu ihnen hinabsteigen möchte, jedoch den Weg nicht findet.3
Dieses Unwissen plagt ihn sein Leben lang; so erwähnt er in dem letzten Interview kurz vor seinem Tode, es war meine „lebenslange Beschäftigung, rauszukriegen, was in diesem verfluchten Sack drin ist, den ich da auf dem Rücken habe“, und vergleicht sich, so wie er „in die Welt gefallen“ ist, mit Kaspar Hauser.4 Vermutlich ist gerade deshalb eines seiner literarischen Hauptthemen die Nazi - Zeit in Deutschland, sozusagen als Suche nach den eigenen Anfängen.
1945 übersiedelt Jurek Becker mit seinem Vater nach Ost - Berlin und fängt dort mit acht, fast neun Jahren an, die deutsche Sprache zu erlernen. Die Zeit, in der er zwi- schen zwei Sprachen lebt, ist für ihn äußert schwierig: „Als ich acht Jahre alt war, hörte mein Vater (...) von einem Tag zum nächsten auf, mit mir polnisch zu sprechen; seine Absicht war die beste, er vermutete, dass mir gar nichts anderes übrig bleiben würde, als im Handumdrehen Deutsch zu lernen. Was er nicht bedacht hat war, dass ich das Polnische viel schneller vergaß, als ich die neue Sprache lernte. So musste ich einige Zeit buchstäblich sprachlos leben.“5 - möglicherweise ein Beweggrund für sein literarisches Schaffen.
Nach etlichen Zusammenstößen mit dem kommunistischen System betätigt er sich als freier Schriftsteller. 1968 wird das Drehbuch zu „Jakob der Lügner“ abgelehnt, allerdings nach der Umarbeitung in einem Roman (1969) im Jahre 1974 doch verfilmt. Die Idee zu dem Drehbuch und später zum Buch bekommt Becker von seinem Vater Max, der ihm von einem jüdischen Ghettoinsassen erzählt, der tatsächlich ein Radio besessen und Nachrichten verbreitet hat. Tragischerweise ist er jedoch verraten und ermordet worden. Max Becker ist, nachdem er den Erstlingsroman seines Sohnes zu lesen bekommt, so empört, dass er für einige Zeit jeglichen Kontakt zu seinem Sohn abbricht. Dieser Umstand ist insofern unglücklich, da es das einzige literarische Werk seines Sohnes bleiben soll, das vor seinem Tod entsteht.
Nach der „Biermann - Ausweisung“ verlässt auch Becker wie viele andere Kunst- schaffende die DDR. Auf die Frage, welche Enttäuschungen er im Westen erlebt ha- be, antwortet er, dass er sich plötzlich gezwungen sieht, als Jude zu fühlen; etwas, das so gut wie keine Rolle in der DDR gespielt habe. Diese Aussage gibt Beckers Ver- hältnis zu seiner Religion unmissverständlich wieder. Er beklagt sich, dass „schon so lästig oft über meinen Kopf hinweg entschieden wurde, was ich bin: unter anderem eben Jude.“6 Ein weiterer aufschlussreicher Satz, der vieles über seine Einstellung zum Thema Religiosität besagt, ist folgender: „Wenn es keinen Antisemitismus ge- ben würde - denkst du, ich hätte mich auch nur eine Sekunde als Jude gefühlt?“7
Doch trotz dieser Lebensbrüche gelingt es einschlägige Erfolge zu erzielen; er veröffentlicht Romane, schreibt Drehbücher, erhält Gastprofessuren und Filmpreise. Becker verstirbt im Alter von 59 Jahren an einem Krebsleiden in Berlin.
3. Aufbau des Buches
Ist es möglich, Leben und Leiden Tausender in einem Ghetto literarisch zu verarbei- ten, ohne dass der Leser den Überblick verliert, sich mit den Personen identifizieren kann und ohne dass es zu Vereinfachungen und Verkürzungen kommt? Jurek Becker entscheidet sich zwar nicht für eine feste Kapiteleinteilung, trotzdem gibt es weitge- hend in sich geschlossene Episoden, die meist durch einen Einleitungssatz vorgestellt werden.8 Diese Episoden werden dann in einer „lockeren Reihenfolge“9 hintereinan- der erzählt.
Schon am Anfang des 1964 erschienenen Romans „Jakob der Lügner“, der wohl in die Kategorie der „optimistischen Tragödie“10, also Tragikomödie, einzuordnen ist, stellen sich zwei Handlungsstränge heraus, die, während die Geschichte fortschreitet, parallel weiterlaufen und sich zum Ende hin immer näher kommen. Der erste Hand- lungsstrang vertritt das „Prinzip Hoffnung“11, erzählt also von den Radiogeschichten und deren Auswirkungen auf Jakobs Mitmenschen (z.B. die auf null sinkende Selbstmordrate, die zunehmende Zukunftsplanung der Ghettoinsassen). Der andere steht für die Realität, die kontinuierlich versucht, Jakobs vermittelte Hoffnung einzu- holen (z.B. Herschel Schtamms Ermordung, das Verschwinden von Fayngold, die Selbstmorde des Professor Kirschbaums und Kowalskis). Am Ende scheint der zwei- te Handlungsstrang zu siegen, indem alle Ghettobewohner abtransportiert werden. Jedoch schafft es Becker durch einen „Kunstgriff“12 das Prinzip Hoffnung zu retten, indem er dem Buch ein hoffnungsvolles Ende gibt. Zwar stirbt Jakob, wird jedoch durch den Angriff der Russen gerächt.
3.1. Erzählstil
Die Erzählweise Jurek Beckers ermöglicht dem Leser, ein facettenreiches und leben- diges Bild des Ghettolebens zu erlangen, ohne den inhaltlichen Faden zu verlieren und durch die mannigfaltigen Protagonisten in Verwirrung zu geraten. So geben die verschiedenen Figuren durch ihre unterschiedlichen Charaktere einen Einblick in Le- ben und Denken der Ghettoinsassen. Z.B. steht Kowalski, einer der Neugierigsten, für all die Ghettobewohner, die sprichwörtlich an Jakobs Lippen hängen, um Neuigkeiten zu erfahren.
Einem chronologischem Ablauf folgend wird der Roman des öfteren durch kleinere „Rückblenden aus Figurensicht“13 unterbrochen, damit sich der Leser einen detaillierteren Eindruck über die Situation verschaffen kann.
Allgemein werden verschiedene Perspektiven, die parallel oder vermischt nebenein- ander laufen, in unterschiedlichen Zeitebenen erzählt. Wenn sich beispielsweise der fiktive Ich - Erzähler in die Handlung einmischt, wird automatisch die Gegenwart verwendet: „Weiter weiß ich nicht...“14 All diese „Unterbrechungen“15 bringen dem Leser die Charaktere und die Ghettosituation näher und erleichtern ihm die Identifikation. Der Erzähler berichtet, was ihm hauptsächlich Jakob und andere wie Mischa auf der Zugfahrt nach Auschwitz zutragen; jedoch weist er des Öfteren auf seine Unwissenheit hin und benutzt immer wieder einen einleitenden Satz, wie „Ich stelle mir vor..“16
In der Sekundärliteratur finden sich Diskussionen, ob Jurek Becker mit dem Erzähler identisch sei, doch davon distanziert er sich. Er hat sich für einen „fiktiven Chronis- ten, der als ungefähr 46- jähriger von dem Geschehen im Ghetto nach ca. 22 bis 23 Jahren erzählt, an dem er als 23 - 24 - Jähriger beteiligt war“17, entschieden. Der Erzähler erfüllt vielfältige Aufgaben innerhalb des Romans: er berichtet, kommentiert und ergänzt Geschichten, er ist sozusagen der „Fadenzieher des Romans“, also der auktoriale Erzähler, und Begleiter des Lesers durch die Geschichte. Das wird beson- ders an den Stellen deutlich, in welchen er den Leser direkt anspricht: „Ihr könnt auf- hören zu raten...“18. Trotzdem steht er nicht im Mittelpunkt des Geschehens, sondern hält sich vornehm zurück und lässt allen Figuren einen breiten eigenen Spielraum. Über sein Ghettoleben erfahren wir bis auf einige Kleinigkeiten fast gar nichts, son- dern er mischt sich in den Handlungsgang ein, um die erzählten Geschichten wahr- haftig erscheinen zu lassen; so z.B. um sein Wissen über Kirschbaums Selbstmord zu begründen.19
Ein jedoch die beiden Ebenen verknüpfendes Leitmotiv sind Bäume, die ihn ein Le- ben lang begleitet haben (Baumabstinenz im Lager, seine erste Liebeserfahrung unter einem Baum, der Selbstmord seiner Frau Chana an einem Baum ...). Das Motiv der Bäume spielt eine große Rolle im Leben des Erzählers, jedoch ist nur ein Baum in der Lage, ihm die Augen zu „verklären“20. Er sieht in diesem Baum mehr als in anderen, er verbindet ihn mit Jakob. Trotz anfänglicher Verneinung „Dabei erinnert Jakob, wenn man ihn sieht, in keiner Weise an einen Baum“21, wird im weiteren Roman deutlich, dass er Jakobs Mut mit der von Bäumen ausgehenden Hoffnung gleichsetzt.22 Er bewundert seine Courage, Widerstand zu leisten, da es sonst kein anderer tut, „Wir haben es [Widerstand] nicht getan.“23. So unterstützt die Symbolik der Bäume Jakob in seiner Aufgabe, das Prinzip Hoffnung zu tragen,24 welches das wichtigste Leitmotiv des Romans ist.
Neben dem leitmotivischen Baum tritt unübersehbar ebenfalls die Kombination Komik und Grauen auf, jedoch folgt diese Analyse in den folgenden Kapiteln, da es sich um den Schwerpunkt meiner Arbeit handelt.
4. Das Grauen und das Lachen nach Auschwitz - eine erlaubte Kombination?
Seitdem es das schriftliche Wort gibt, wird auch Grauenvolles und Schreckliches dar- gestellt. Trotzdem, denke ich, wird niemand verneinen, wenn ich behaupte, dass die Literaten, die nach Auschwitz etwas zu Papier brachten, vor einer fast unlösbaren Aufgabe standen. Schwer genug, gefundene Dokumente zu veröffentlichen, aber gar mit einem ironischen Ansatz diese Thematik zu erörtern, scheint gar vermessen. So oder ähnlich argumentieren zumindest Schriftsteller wie Reinhard Baumgart.25 Auto- ren wie Jurek Becker halten dagegen, dass reines Datenmaterial (vgl. u.a. Peter Weiß: Die Ermittlung) nur Ohnmacht offenbare und erzeuge.26 Folglich ermöglichen also gerade fiktionale Texte dem Leser größere Einsichten und bessere Identifikations- möglichkeiten. Und wenn diese Texte nun auch noch mit Ironie bestückt sind, werden die Statistiken der Holocaust - Opfer lebendig, erhalten menschliche Züge, haben gute und schlechte Charaktereigenschaften und erlauben dem Leser dadurch eine iro- nische Distanz, um unbegreifbare Situationen ansatzweise nachzuvollziehen anstelle einfach Mitleid zu erzeugen.
Doch Ironie ist nicht gleich Ironie und Lachen nicht gleich Lachen. Es gibt viele un- terschiedliche Formen des Lachens. Das lauthalse Lachen über einen erzählten Witz oder das freudige, alberne, ironische, zynische27 Lachen. Und dann gibt es noch das verzweifelte Lachen, ein Lachen, das Menschen über Schreckliches gar Grauen hin- wegtröstet; eine Art angewandter Komik, die „die Wahrnehmung widersprüchlicher Prinzipien als ein belustigender, aber auch befremdender Eindruck“28 eröffnet. Diesen befremdenden Eindruck erhält der Leser bei einer Tragikomödie, während des Lachens bleibt einem sprichwörtlich der Kloß im Halse stecken.
Die Anwendung von eng miteinander verknüpfter Tragik und Komik findet sich aber nicht nur in Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“. Schon bei Plautus sind erste Ansätze erkennbar, obwohl die Tragikomödie erst in der Renaissance als besondere Gattung begründet wird.29 In Frankreich und England gewinnt die Tragikomödie an Popularität (s. P. Corneille „Der Cid“, 1637 und Shakespeare „Maß für Maß“, 1623); jedoch in Deutschland wird sie als „Bastardgattung“ (J.C. Gottsched) abgetan. Erst durch die Romantik erlangt die Tragikomödie in Deutschland Bedeutung. Sinn dieser Literaturgattung ist, dass die „Tragik durch humoristische Berechnung gemildert wird oder aber die gebrochene Komik die tragischen Aspekte noch vertieft“30. Aus dieser Definition kann man also schließen, dass die Kombination des Grauen und des La- chens auf alle Fälle eine angewandte ist.
Ist sie deswegen auch nach Auschwitz erlaubt? Über diese Frage wird unveränderlich gestritten. So unterstützen Schriftsteller wie Elie Wiesel den Baumgartschen Stand- punkt: „Eigentlich darf es eine literarische Inspiration überhaupt nicht mehr geben, nicht mehr in Verbindung mit Auschwitz.(...) Nein, es ist Gotteslästerung!“31 Als literarische Annäherung an das Unschreibare entstehen in den 40 - 50 Jahren Beiträ- ge „geprägt von tieferster, verzweifelter oder heroisch sich artikulierender, sinnsu- chend - sinngebender Betroffenheit.“32 Beispiele hierfür sind u.a. Ilse Aichingers „Die größere Hoffnung“ (1948) oder Stephan Hermlins „Die Zeit der Gemeinsam- keit“ (1949). Die deutsche Literatur scheint sich sozusagen erst einmal erholen zu müssen, bevor sie sich auf Experimente der Auschwitz - Beschreibungen einlassen kann. So bietet Edgar Hilsenrath seinen Roman „Der Nazi und der Friseur“, der vol- ler schwarzer Humor und Satire ist, neun Jahre lang vergebens auf dem deutschen Mark an und ist gezwungen, ihn in Amerika übersetzt drucken zu lassen.33 Den glei- chen „Wagemut“ Auschwitz komisch zu beschreiben, haben neben Hilsenrath und Becker, Johannes Bobrowski oder Jakov Lind. Sie verbinden in ihren Werken „den Holocaust auf sehr unterschiedliche, aber immer nachdrückliche Weise mit Humor, Komik und Groteske“34, ohne dabei jedoch die Würde der Opfer anzutasten und ge- nau dieser Ausgangspunkt lässt den Leser den drohenden Zeigefinger hinter der Literatur vergessen und ermöglicht einen ansatzweisen Verständnisaufbau.
4.1. Das Grauen und das Lachen
„Stell dir vor, ein Jude sitzt verbotenerweise auf der Toilette der Deutschen im War- schauer Ghetto und plötzlich kommt ein SS - Mann auf das Klohäuschen zugelau- fen...“ Das klingt nicht gerade wie ein Witz oder eine Stelle, die einem vernünftigen Menschen ein Lachen abringen würde. Eher im Gegenteil, die meisten hätten wohl größte Angst um den jüdischen Klobesucher in dieser grauenvollen Situation. Ja, eine grauenvolle und lebensgefährliche Situation spielt sich hier ab. Aber das habe ich beim Lesen des Originals „Jakob der Lügner“ doch gar nicht so empfunden, ich habe geschmunzelt - das ist wohl eine Reaktion vieler Leser auf Jurek Beckers Erstlings- roman. Und genau darin besteht die Kunst Beckers, das Grauen mit dem Lachen so zu kombinieren, dass es erträglich ist, dass man sich an dem Lachen im Grauen er- freuen kann.
Der Einleitungssatz ist eine sehr vereinfachte Zusammenfassung der sogenannten Klo - Episode, ein Paradebeispiel neben vielen für die Komik in diesem Roman. Die Zu- sammensetzung von Komik und verharmlosenden Ausdrücken - „nichts ist in Ord- nung“35 - für Jakob schwebt in akuter Lebensgefahr - verdeutlichen keinesfalls das Grauen, sondern lenken eher davon ab. Ein weiterer Faktor, welcher der Ablenkung dient, ist der Plauderton Jakobs und die Abschweifungen hin zu oberflächlich be- trachtet unwichtigen Geschichtchen. So beschwert sich Jakob einen Absatz lang, ob- wohl er in Lebensgefahr schwebt, über den SS - Mann, der die Juden „Knoblauch- fresser“36 genannt hat. In einer nie erlaubten Dreistigkeit meckert Jakob den SS - Mann gedanklich an und beschimpft ihn als „Idiot“37, denn „du lieber Himmel, Knob- lauch, wenn man eine einzige Zehe hätte, hauchdünn auf warmes Brot gestrichen (...)“38. Diese stille Komik, die sich nicht aufdrängt wie ein Witz, hilft dem Leser die- se Szenen zu lesen, ohne vor dem Grauen zu kapitulieren. Sie ermöglichen es, menschliche Züge in den SS - Schergen zu sehen, was meiner Meinung nach viel bedrückender ist. Denn man fragt sich oft, wie diese „verblendeten Mörder“ wohl ausgesehen haben und nun stellt man erstaunt fest, dass es auch Menschen mit menschlichen Makeln (Durchfall) gewesen sind. Auch ärgert man sich eher mit Jakob über die Dummheit des Ghettobewachers, als sich Jakobs missliche Lage klar vor Augen zu führen. „Die Tragik wird durch humoristische Berechnung gemildert“39, die schon vorher niedergeschriebene Definition der Tragikomödie findet hier ein exemplarisches Beispiel. Doch zieht sich die Komik durch das ganze Buch, sehr unaufdringlich, aber trotzdem bei genauerem Lesen offensichtlich.
Auch in der Beschreibung der Ermordung Herschel Schtamms überdeckt das Lachen das Grauen. Herschel Schtamm, ein äußerst gläubiger und frommer Mann, der sich nicht von seinen jüdischen Schläfenlöckchen trennt und dafür in Kauf nimmt selbst in der größten Hitze eine Fellmütze zu tragen, ist einer der Radiogegner. Schtamm fürchtet Konsequenzen bei der Entdeckung des Radios. In humoristischer Darstel- lungsart beschwört er mit göttlicher Hilfe einen Stromausfall, welcher dem Radio zeitweilig den Garaus macht. Herschel und sein Gebetmarathon wird mit den Worten „Nicht lockerlassen!“40 von seinem Bruder angefeuert, dabei überhört Herschel die zynischen Glückwünsche seines Bruders, die der Leser mit einem Lachen annimmt. Nein, es ist kein direktes Auslachen, eher eine Freude über so viel Überzeugungskraft (oder Naivität). Herschel wächst einem ans Herz, auch wenn er eigentlich gegen Ja- kobs Radio ist. Als jener, wegen seiner tiefen Frömmigkeit nicht immer ganz ernst Genommene, nun einigen Menschen, die abtransportiert werden, Hoffnung spenden will, wird er mit einem einzigen Schuss hingerichtet. Diese in keiner Weise komi- sche, sondern nur grauenvolle, Situation wird mit der sarkastischen Bemerkung des Erzählers „Gott hat gehustet, Gott hat Herschel eins gehustet“41 beschrieben. Der sar- kastische Ansatz bringt den Leser in erster Sekunde zum lauten Auflachen, um ihn dann nur einen Moment später so zu erschrecken, dass er sich über sein eigenes La- chen schämt. In der beschriebenen Episode mildert die Komik Herschels Tod, der ür so viele willkürliche Ermordungen im Ghetto steht. Die offensichtlichere Komik ü- berdeckt auch hier das versteckte, jedoch nicht verschwiegene, Grauen. Beides, Grauen und Komik, gehen in Beckers Roman eine unauflösbare Symbiose ein. So ist das Grauen genau wie die Komik zwar die ganze Zeit präsent, wird jedoch nur in Nebensätzen erwähnt.42
Genauso charakterisiert Becker die Täter fast gar nicht, im Gegensatz zu den Opfern. So kann man sagen, die Opfer definieren sich teilweise über die Komik, die Täter fast ausschließlich über das Grauen. Sie schlagen unkontrolliert um sich43, morden44 und lösen durch ihr Erscheinen im Ghetto gelegentlich Panik aus45. Die Deutschen besit- zen absolute Verfügungsgewalt und ihr Verhalten ist schwankend und willkürlich. So schlägt ein Soldat Kowalski zusammen, nachdem dieser einen Stapel Kisten zu Fall gebracht hat, um dann zwei Zigaretten für ihn auf den Boden fallen zu lassen.46 Wei- ter kann man über die Täter sagen, dass sie ideologisch verblendet sind und rassisti- sche Vorurteile haben: „Köpfchen haben sie ja, die Itzigs, schlauchen sich immer durch und fühlen sich überall sofort wie zu Hause.“47 oder „laut Verordnung bist du eine Laus, eine Wanze, wir [damit meinen sie die Juden] alle sind Wanzen.“48 Die Täter stehen allerdings nicht im Mittelpunkt des Romans; einige werden namentlich zwar erwähnt, aber die wenigsten gewinnen an Persönlichkeit. Die einzigen SS - Soldaten, die ein wenig genauer beschrieben werden, sind Preuß und Meyer. Sie rep- räsentieren zwei verschiedene Tätertypen mit derselben Ideologie.49 Beide haben den Auftrag, den Herzspezialisten Professor Kirschbaum abzuholen, damit dieser dem Gestapochef Hardtloff helfen kann, der am Morgen eine Herzattacke hatte.50 Preuß ist höflich und bewegt sich im angemessenen Rahmen. Meyer dagegen ist ein Grobian, der auch äußerlich zu dieser Beschreibung passt, „bullig“.51 Der klaffende Unter- schied in ihren Persönlichkeiten lässt darauf schließen, dass es Becker nicht auf eine Individualisierung der Täter angelegt hat, er sie nicht genau charakterisieren will, sondern die Spannbreite möglicher Täterprofile aufzeigen möchte, von dumm zu in- telligent, von ungebildet zu gebildet, von unhöflich zu höflich. Genau wie das Grauen oft nur Nebensätze wert ist „Herschel hat die üblichen Schläge eingesteckt, aber das war nicht das Schlimmste, er hat sich beim Stolpern einen Fuß verstaucht, konnte kaum noch laufen, konnte also auch nicht mit Roman weitertragen, und deshalb steht er jetzt mit mir auf dem Waggon.“52, werden auch die Deutschen nur nebensächlich und selten erwähnt. So gehören die üblichen Schläge zum Ghettobild und haben et- was Alltägliches, so hat man sich an die Deutschen und ihre Willkür gewöhnt und freut sich höchstens mal über einen neuen, jungen Soldaten, denn „er schlägt noch wenig.“53 All diese kleinen Randbemerkungen deuten das Grauen an, ohne es jedoch komplett auszusprechen.
Beckers Augenmerk gilt den Opfern und ihrer Persönlichkeit, die sich teilweise über die Komik definiert. So ist z.B. der Friseur Kowalski, ein alter Freund Jakobs, ein Schwätzer und einer der Neugierigsten, wenn es um neue Nachrichten geht. Wie so viele blüht er durch die Radiomeldungen auf und fängt an den Sinn in seinem Leben und in seiner Zukunft wieder zu sehen. Doch allein die Art, in der Jakob ihn sozusa- gen als Antiheld54 betitelt, macht ihn sympathisch. Das Schmunzeln, welches dem Leser, bei Kowalskis Versuchen das angeblich zerstörte Radio zu reparieren, um die Lippen spielt, verdeutlicht wie „liebenswert“55 er eigentlich ist. Selbst Nebencharak- tere gewinnen durch die Komik ein Eigenleben. Fajngold, Mischas Zimmergenosse, wird so beispielsweise als taub - stumm beschrieben, damit sich Rosa ihrem Gelieb- ten Mischa öffnet. Eines Nachts fängt jener an zu sprechen, welches Rosa - zum Glück für Mischa - nicht mitbekommt. Diese humorvolle Anekdote ist einem sofort wieder parat, wenn man erfährt, dass Fajngold verschollen ist. Somit berührt den Le- ser das Verschwinden Fajngolds noch viel mehr, als es ohne diese Episode der Fall gewesen wäre.
Auch der Hauptfigur Jakob mangelt es nicht an Humor. Als sie sich z.B. nach Her- schels Tod entschlossen hat, die Radiomeldungen zu intensivieren, lauten seine Ge- danken: „In dieser Branche sind Zurückhaltung und falsche Scham nicht ange- bracht,...“.56 Die Wortwahl „in dieser Branche“ unterstreicht Jakobs humorvolle A- der, betont aber auch gleichzeitig die Wichtigkeit, die Jakob in seiner Aufgabe sieht. Er nimmt sie so ernst wie einen Beruf. Von Anfang an kann Jakob nicht mehr aufhö- ren, die Hoffnung weiterzutragen. Schon nach der ersten Nachricht, die er Mischa übermittelt, bemerkt er die Auswirkungen, die hoffnungsvollen Augen, den plötzli- chen Lebenswillen, „ganz plötzlich war morgen auch noch ein Tag“.57 Jakob wird sich seiner Aufgabe als Hoffnungsträger sehr schnell bewusst und steht ihr nicht nur erfreut gegenüber, sondern vergleicht sie ironisch mit alten Zeiten, als er in seinem kleinen Restaurant noch Kartoffelpuffer im Winter und Himbeereis im Sommer ver- kauft hat: „(...) sie schwirren um einen herum wie die Ausgehlustigen um die Litfass- säule, (...). So einen Andrang wünscht man sich in geregelten Zeiten, (...). Aber da macht ihr euch selten, da muss man jeden von euch behandeln wie einen König, sonst geht ihr und kommt nicht wieder, und jetzt behandelt ihr einen selbst wie einen König und geht nicht und kommt immer wieder, man brauchte eine Leibwache gegen euch.“58 Obwohl Jakob nicht ausgesprochen glücklich über seine neugewonnene Po- pularität ist, eröffnet sie ihm und sehr vielen anderen Ghettobewohnern, die Möglich- keit gar eine „ironische Haltung gegenüber dem übermächtigen Feind“59 einzuneh- men. Die gespielte Enttäuschung über die Essenausteilung voller Humor verdeutlicht die neue Haltung der Ghettoinsassen dank Jakob: „(...) schon wieder dieses Essen, kaum hat man sich richtig eingearbeitet, wird man schon wieder unterbrochen durch eine der vielen Mahlzeiten.“60 Solch bissigen Spott ist man nur in der Lage zu benut- zen, wenn man eine - durch Hoffnung wiedererweckte - Selbstachtung hat.
4.2. Ambivalenz der Kombination: Grauen und Lachen
Stellt euch vor, jedes Mal, wenn einer von uns draufgeht, kriegen die Deutschen nichts zu fressen. Das möchte ein schönes Hungern sein!“61 Exakter kann man das Grauen und das Lachen wohl nicht kombinieren. Kowalski machte diesen „Scherz“62 als Reaktion auf die nicht stattfindende Essensausgabe, was niemanden sonst zum Lachen bringen würde, da nichts so knapp wie Nahrung im Ghetto ist, und dieses Defizit täglich eine Anzahl von Opfern fordert. Doch was ist der Sinn daran, das Grauen und das Lachen zu kombinieren? Auf diese Frage gibt es nicht nur eine ein- deutige Antwort. Wie Kowalski diesen Scherz hier anwendet, um über den großen Hunger hinwegzutrösten, benutzen auch die anderen Figuren die Komik als „Überle- bensstrategie“63, sie verwenden sie, um nicht in der Verzweiflung unterzugehen, um sich trotz allem noch selbst behaupten zu können, als eine innere, stille Revolte (vgl. dazu auch, als Jakob den SS - Soldaten vor dem Klohäuschen einen Idioten schimpft64 ). Somit ist die Komik, die Jurek Becker anwendet, genau so wichtig für die Opfer, um ihre menschliche Würde zu erhalten65, wie für die Leser. Die Form, die Kowalski anwendet, um vom Hungern und vom Massensterben im Ghetto zu berich- ten, tröstet sozusagen über das Grauen hinweg. Sie macht es möglich, über den Schrecken zu lesen, ohne daran zu verzweifeln. Der Leser kann durch die Komik, eine gewisse Distanz zum Gelesenen erlangen, denn er hat die Wahl, die Wahrheit hinter der Komik in ihrem ganzen Grauen zu erfassen oder sie nur partiell zuzulassen. Man kann das Grauen ironisch betrachten, welches die Wirkung eventuell potenziert (jedes Mal, wenn einer draufgeht ... nichts zu fressen ... hungern) oder sich mit dem oberflächlicheren Scherz zufrieden geben. Auch bietet sich die Chance, die Charaktere der unterschiedlichen Opfer genauer zu erfassen, denn sie haben die Gelegenheit sich zu entwickeln. Man kann ihre Vor- und Nachteile sehen, anstelle nur Mitleid zu spüren. Die Art, in der Jakob Kowalski mit ironischem Unterton als Anti - Held bezeichnet: „(...) man bekommt nicht jeden Tag das Leben gerettet, dazu noch von einem, (...), von dem man es (...) nicht erwartet hätte“66, macht ihn uns sympathischer. Kowalski ist zwar feige, steht aber für seine Freunde ein.
Die letzte Antwort auf die Sinnfrage, die ich anbringen möchte, ist eine, welche die Figuren und den Leser verbindet. Die Komik, die das Grauen umspielt, ist dazu da, um das Prinzip Hoffnung aufrecht zu erhalten. Die Figuren können durch Scherze oder humorvolle Anekdoten ihren Selbsterhaltungstrieb stärken und die Leser können durch die wiederkehrende Komik die Willensstärke der Charaktere erkennen, welches die Hoffnung auf ein gutes Ende wider besseren Wissens vermittelt. So z.B. wenn Jakob neuen Mut fasst und beschließt mit dem Radio noch mehr Hoffnung zu verbreiten. „In dieser Branche sind Zurückhaltung und falscher Scham nicht ange- bracht...“67 Jakob deutet mit diesem ironischen Gedankengang neuen Willen an, die Zuhörer von Jakobs Geschichten werden wieder Kraft schöpfen und der Leser Hoff- nung. Eine Art der Hoffnung, die wie eine verbotene Blume aus dem Mauerritzen blüht.68
Becker sagt selbst, dass alles was komisch daherkam, ihm immer das Eindrücklichere gewesen war.69
4..3. Jakob der Lügner: Ein exemplarisches Beispiel für die Kombination des Grauens und Lache ns
Die ungenauen Geburtsdaten sind der Anfang eines sich hier im letzten Punkt schlie- ßenden Kreises. Wie das Geburtsdatum Jurek Beckers ungenau ist (vgl. Biographie), so ist auch eine Antwort auf die Frage, ob die Kombination des Grauens und des La- chens erlaubt sei, nicht eindeutig. Meine Facharbeit beginnt mit unterschiedlichen Möglichkeiten und endet auch so. Zwei verschiedene Standpunkte werden in den Nachbesprechungen vertreten. Beide Standpunkte sind berechtigt und nachvollzieh- bar. Marcel Reich Ranicki schreibt 1970 wie folgt: „Bei so einem Thema lässt sich mit Düsterkeit am wenigsten ausrichten, eher schon mit hellen und heiteren Kontrast- effekten, mit Witz und Komik. Das allerdings ist sehr schwierig und waghalsig. Aber Becker hat es geschafft.“70 Dieser Meinung schließen sich auch die Kritiker Dr. Wer- ner Neubert, Günter Herburger, Wolfgang Werth u.v.a. an. Die zweite Sichtweise beleuchtet ein Betroffener, jemand der im Ghetto gelebt und es überlebt hat, Jurek Beckers Vater. Jurek Becker selbst beschreibt die Reaktion seines Vaters auf das Buch „Jakob der Lügner“, als „Unglück, weil er nach diesem Buch lange nicht mit mir gesprochen hat. Er hat das Buch für empörend gehalten.“71
Nun stellt sich die Frage, warum und wie beide Seiten zu ihren Standpunkten kom- men. Wieso halten die Literaturkritiker diese Kombination für gelungen und damit erlaubt? Die Kritiker von 1970 verbinden noch sehr viele persönliche eigene Erinne- rungen mit der NS - Zeit. Vielleicht haben sie selbst mit ihrer Schuldfrage zu kämp- fen, sind zwischen 1933 und 1945 zu jung, zu verblendet oder zu wenig mutig gewe- sen, um Widerstand zu leisten oder sind mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Ge- schichte beschäftigt. Sicherlich quält alle in irgendeinem Sinne wohl die eigene Schuld - oder Opferfrage. Und die Kombination des Grauens und des Lachens in Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ erleichtert den Zugang zu einem solchen Thema. Doch dies ist nur eine Vermutung, gewiss ist jedoch, dass die meisten Literaturkriti- ker damals und wir heute nicht nachvollziehen können, wie das wahre Ghettoleben ausgesehen hat, auch wenn wir uns noch so viel informieren, werden wir nie in der Lage sein, es auch nur ansatzweise nachzuvollziehen. Aber muss man dann nicht sa- gen, dass nur Betroffene, wie Jurek Beckers Vater wirklich bestimmen können, ob diese Kombination erlaubt ist, da sie sich einzig und allein ein Urteil bilden können? Meiner Meinung nach nein. Denn weil wir, die nie eine Ghettoerfahrung erlitten ha- ben, uns sowieso kein genaueres Bild machen können, welches wir auch noch nach- zuvollziehen in der Lage sind, verschafft gerade die Ironie die nötige Distanz, um nicht über dem Thema zu verzweifeln. Genauso muss es vermutlich dem jüdischen Literaturkritiker Marcel Reich - Ranicki gegangen sein, der als Überlebender des Warschauer Ghettos zu dem Schluss kommt, dass Beckers Buch eine adäquate Umsetzung des Ghettolebens darstellt und die Kombination des Lachens und Grauens als erlaubt herausarbeitet. Die Antwort auf die Ausgangsfrage meiner Facharbeit „Das Grauen und das Lachen - eine erlaubte Kombination“ ist folglich eine individuelle Antwort, die jeder nur aus seinen eigenen Erfahrungen heraus geben kann.
5. Abschließende Gedanken
„Living is seeing the humour in a different situation“ - das einleitende Zitat wird mich nun auch durch den Schlussteil begleiteten. In dem Film „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni ist mir zum ersten Mal die Kombination Grauen und Lachen begegnet. Ich erinnere mich lebhaft, wie lauthals ich über die Komik gelacht und wie sehr ich über das Grauen am Ende des Filmes geweint habe. Für mich ist diese Kom- bination dort sehr gelungen und dementsprechend auch erlaubt. Mit dem Film im Hinterkopf habe ich das Buch zum ersten Mal gelesen. So sehr es mir auch gefallen hat, desto verzweifelter bin ich beim Lesen geworden. Kaum eine Stelle, die Lachen erzeugt, habe ich entdeckt. Das Grauen überwiegt, ist mein Eindruck gewesen. Dem- entsprechend nervös habe ich begonnen, die Verfilmung des Buches anzuschauen, um komische Sequenzen zu entdecken. Dank der überspitzten filmischen Darstel- lungsweise ist das auch eingetreten. Beim Nachlesen im Buch habe ich erst bemerkt, wie komisch diese Szenen überhaupt sind und wie viele Wortspiele mir beim erstma- ligen Lesen nicht aufgefallen sind. Mich über meine eigene „Blindheit“ wundernd, habe ich die Kritiken zu „Jakob dem Lügner“ gelesen und bemerkt, dass die Kritiker dieses Problem scheinbar nicht haben „(...) der Roman sei trotzdem leicht und amü- sant, dies sei ein Stück Literatur, mit Charme und Grazie und viel Humor- (...).“72 Ich bin nach langem Nachdenken dazu gekommen, dass es sich eventuell um ein Genera- tionsproblem handelt. Ich habe mit Gleichaltrigen gesprochen und sie haben meiner Ansicht zugestimmt. Während der Kloszene, für viele Kritiker das Paradebeispiel für Komik, empfinden ich und die von mir Befragten nur Angst um Jakob. Besorgt um ihn haben wir nach einem möglichen Ausweg aus seiner prekären Situation gesucht.
Aus dieser Sorge heraus haben wir wohl die Komik, die mir persönlich erst beim zweiten Lesen bewusst geworden ist, überlesen. Daher stellt sich die Frage für meine Generation, ob die Kombination erlaubt sei oder nicht, eventuell gar nicht mehr, da wir durch unser geschichtliches Vorwissen schon so auf das Grauen fixiert sind, dass uns die Komik gar nicht entsprechend ins Auge sticht, wie früheren Kritikern. Da die heutige junge Generation historisch gesehen frei von der Schuldfrage ist, gehen wir eine Thematik wie diese wahrscheinlich unbelasteter an, als die Kritiker in den 70er Jahren, die noch mit ihrer eigenen Vergangenheit oder der ihrer Väter zu kämpfen haben. Der Brisanz dieser Kombination ist wohlmöglich heute deshalb der Wind aus den Segeln genommen, weil „die Gnade der späten Geburt“ uns ein schuldfreies Um- gehen mit den Schrecken der Nazizeit ermöglicht. Das heißt aber nicht, dass man jemals aufhören darf, über die Verbrechen der Nazi - Zeit zu sprechen und sie ins historische Bewusstsein der nachfolgenden Generationen zu führen, damit den Litera- ten nie wieder so ein grausamer Grund zum Schreiben gegeben wird.
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
I. Primärliteratur
Jurek Becker, Jakob der Lügner, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1976
II. Sekundärliteratur
Volker Hage, Die Wahrheit über Jakob Heym, in: „Die Zeit“ vom 15.3.1991
Irene Heidelberger - Leonard (Hrsg.), Jurek Becker, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Verlag 1992 (suhrkamp taschenbuch 2116)
Günter Herburger, Ein Radio im Ghetto, in: Der Spiegel vom 28.9.1970
Jochen Huber, Epos des Eisverkäufers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.3.1997
J.H., Jurek Becker: Lüge als Hoffnung, in: Mannheimer Morgen vom 27.11.1970
Thomas Jung (Hrsg.), „Widerstandskämpfer oder Schriftsteller sein...“ Jurek Becker - Schreiben zwischen Sozialismus und Judentum, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang, 1998 (Osloer Beiträge zur Germanistik, Bd. 20)
Manuel Köppen (Hrsg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1993
Sigrid Lüdke - Haertel, W. Martin Lüdke, Jurek Becker, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) Kritisches Lexickon zur deutschsprachigen Gegenwartslitera- tur, München 1993, edition text + kritik, 29. Nachlieferung, S. 1 - 13 Dr. Werner Neubert, Wahrheitserpichter Lügner, in: Neues Deutschland vom 14.5.1969
Fritz J. Raddatz, Wie DDR - Autoren resignieren, in: Süddeutsche Zeitung vom 20./21.6.1970
Marcel Reich - Ranicki, Das Prinzip Radio, in: Die Zeit vom 20.11.1970
Jürgen P. Wallmann, Lügner aus Menschlichkeit, in: Der Tagesspiegel vom 7.3.1971
Wb., Jurek Becker, in: Neue Züricher Zeitung vom 6.12.1970
Wolfgang Werth, Das imaginäre Radio, in: Monat (1971), Heft 268
Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, Interpretationen, München: Oldenbourg Verlag 1998
Werner Zimmermann, Jurek Becker: Jakob der Lügner in: Werner Zimmer- mann (Hrsg.), Deutsche Prosadichtungen des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1988, Bd. 3
III. Sonstige Hilfsmittel
Daniela Bazer, Jurek Becker, http:// www.schwaben.de/ home/ fsg/ referate/ becker1.htm
Frank Beyer, Jakob der Lügner, DDR 1974 (Film)
Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1999
Microsoft® Encarta® 98 Enzyklopädie. © 1993-1997 Microsoft Corporation
Patty Starke, Jurek Becker (1937 - 1997), http://www.germanembassy- india.org/ news/may97/21agn05.htm
[...]
1 Jochen Huber, Epos des Eisverkäufers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.3.1997
2 Vgl. Jurek Becker, Die unsichtbare Stadt , in: Irene Heidelberger - Leonard (Hrsg.), Jurek Becker, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1992 (suhrkamp taschenbuch 2116), S. 25 ff.
3 Vgl. Jurek Becker, Die unsichtbare Stadt, a.a.O., S. 27
4 Der Spiegel vom 24.03.1997, Nr. 13, in: Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, Interpretationen, München: Oldenbourg Verlag 1998, S. 112
5 Jurek Becker, Antrittsrede, in: Irene Heidelberger - Leonard (Hrsg.), Jurek Becker, a.a.O., S. 13
6 Jurek Becker, Mein Judentum, in Irene Heidelberger - Leonard (Hrsg.), Jurek Becker, a.a.O., S.19
7 Jurek Becker, Mein Judentum, in Irene Heidelberger - Leonard (Hrsg.), Jurek Becker, a.a.O., S.19
8 Vgl. Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O., S. 46
9 Werner Zimmermann, Jurek Becker: Jakob der Lügner in: Werner Zimmermann (Hrsg.), Deutsche Prosadichtungen des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1988, Bd. 3, S. 21
10 Fritz J. Raddatz, Wie DDR - Autoren resignieren, in: Süddeutsche Zeitung vom 20./21.6.1970
11 Wolfgang Werth, Das imaginäre Radio, in: Monat (1971), Heft 268
12 Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O., S. 47
13 Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O.,S. 46
14 Jurek Becker, Jakob der Lügner, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1976, S. 67
15 Fritz J. Raddatz, Wie DDR - Autoren resignieren, a.a.O.
16 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 259
17 Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O.,S. 48
18 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 7
19 Vgl. Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 207
20 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 8
21 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 9
22 Vgl. Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S.44
23 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 99
24 Vgl. Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O., S. 64
25 Vgl. Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O., S. 112
26 Vgl. Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O.,S. 53
27 Vgl. Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1999
28 Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1999
29 Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1999
30 Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1999
31 Eugen Kogon Johann Baptist Metz (Hrsg.): Gott nach Auschwitz. Dimensionen des Massenmords am jüdischen Volk. Freiburg 1979, S. 25 f. zitiert bei: Rüdiger Stein-lein, Das Furchtbarste lächerlich? in: Manuel Köppen (Hrsg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz, Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 97
32 Rüdiger Steinlein, Das Furchtbarste lächerlich?, a.a.O., S. 98
33 Vgl. Rüdiger Steinlein, Von der Erzählbarkeit des Holocaust, in: Manuel Köppen (Hrsg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz, Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 98
34 Rüdiger Steinlein, Das Furchtbarste lächerlich?, a.a.O., S. 101
35 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 105
36 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 106
37 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 106
38 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 106
39 Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1999
40 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 87
41 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 139
42 Vgl. Günter Herburger, Ein Radio im Ghetto, in: Der Spiegel vom 28.9.1970
43 Vgl.: Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 68
44 Vgl.: Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 100 und 139
45 Vgl.: Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 240
46 Vgl.: Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S.107 und 110
47 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 198
48 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 21
49 Vgl. Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O., S. 43
50 Vgl.: Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 201
51 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 197
52 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 68
53 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 74
54 Vgl. Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 109
55 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 256
56 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 151
57 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 32
58 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 70
59 Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O., S. 32
60 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 37
61 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 215
62 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 215
63 Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O.,S. 61
64 Vgl. Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 106
65 Vgl. Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 61
66 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 109
67 Jurek Becker, Jakob der Lügner, a.a.O., S. 151
68 Vgl. Fritz J. Raddatz, Wie DDR - Autoren resignieren, a.a.O.
69 Vgl.: Jurek Becker, Werkstattgespräche, in: Lothar Wiese, Jurek Becker: Jakob der Lügner, a.a.O., S. 54
70 Marcel Reich - Ranicki, Das Prinzip Radio, in: Die Zeit vom 20.11.1970
71 Jurek Becker im Gespräch mit Marianna Birnbaum (1988) in: Irene Heidelberger - Leonard (Hrsg.), Jurek Becker, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1992 (suhrkamp taschenbuch 2116), S. 104
72 Marcel Reich - Ranicki, Das Prinzip Radio, a.a.O.
- Arbeit zitieren
- Judith Forysch (Autor:in), 1999, Becker, Jurek - Jakob der Lügner - Das Grauen und das Lachen - Eine erlaubte Kombination? #, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99797
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