Stell dir vor, du stehst am Rande deines Lebens, die Mauern der Vergangenheit erheben sich vor dir, und jede Erinnerung ist ein Dolchstich. So ergeht es Kassandra, der trojanischen Seherin, die in Christa Wolfs eindringlicher Erzählung ihr Schicksal noch einmal durchlebt, kurz bevor sie in Mykene den Tod findet. Gefangen in der Kriegsbeute Agamemnons, blickt sie zurück auf ihre Jugend in Troja, eine Welt voller Intrigen, Machtkämpfe und einer drohenden Kriegsgefahr, die alles zu verschlingen droht. Doch Kassandra ist mehr als nur eine Königstochter; sie ist eine Seherin, verflucht mit der Gabe, die Zukunft zu erkennen, aber dazu verdammt, dass ihr niemand glaubt. Ihre Prophezeiungen werden als Wahnsinn abgetan, ihre Warnungen ignoriert, während Troja unaufhaltsam seinem Untergang entgegengeht. Wolf entwirft ein faszinierendes Porträt einer Frau, die sich gegen das Patriarchat auflehnt, die Sinnlosigkeit des Krieges erkennt und nach einer Wahrheit sucht, die jenseits von Heldenepen und Göttergunst liegt. Die Auseinandersetzung mit Homers Ilias wird hier zu einer tiefgründigen Reflexion über die Rolle der Frau in der Geschichte, die Verblendung der Macht und die zerstörerische Kraft des Krieges. Kassandra ist mehr als nur eine Nacherzählung eines antiken Mythos; es ist eine zeitlose Mahnung, die uns dazu auffordert, unsere eigene Realität kritisch zu hinterfragen und den Stimmen derer Gehör zu schenken, die unbequeme Wahrheiten aussprechen. Tauche ein in eine Welt, in der die Grenzen zwischen Mythos und Realität verschwimmen, in der die Vergangenheit die Gegenwart erhellt und in der die Frage nach Schuld und Verantwortung neu gestellt wird. Begleite Kassandra auf ihrem letzten Weg und entdecke die zeitlose Relevanz ihrer Geschichte für unsere heutige Gesellschaft. Dieses Buch ist eine fesselnde Mischung aus historischem Roman, feministischer Literatur und Antikerezeption, die Leserinnen und Leser gleichermaßen begeistern wird. Es ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Themen wie Kriegstrauma, Geschlechterrollen, Wahrheitssuche und der Bedeutung von Prophetie in einer Welt, die lieber wegschaut. Kassandra ist ein Muss für alle, die sich für die griechische Mythologie, starke Frauenfiguren und die Auseinandersetzung mit den großen Fragen der Menschheit interessieren.
Christa Wolf: Kassandra
Rezension
Die ErzählungKassandravon Christa Wolf stellt den Reflexionsprozess der trojanischen Königstochter Kassandra zum Zeitpunkt ihres unmittelbar be- vorstehenden Todes dar.
Kassandra, die Lieblingstochter des Königs Priamos von Troja, wird von Agamemnon, dem König der über Troja siegreichen Griechen, als Kriegs- beute nach Mykenae verschleppt. Im Anblick der Stadtmauern und sich ih- res baldigen Todes gewiss erinnert sich die mit der Sehergabe bekleidete Priesterin. Ihre Jugend in Troja, ihre familiären und freundschaftlichen Be- ziehungen sowie der Krieg gegen die Griechen und die damit einhergehen- den Veränderungen der trojanischen Gesellschaft ziehen noch einmal an ihrem inneren Auge vorbei.
Anlass für diese 1983 in beiden Teilen Deutschlands erschienene Erzählung waren die Eindrücke einer Griechenlandreise der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf. Das Studium antiker Texte und die Begegnung mit einer Kul- tur, die der Frau eine traditionell untergeordnete Stellung zuweist, inspirierte die 1929 in Landsberg an der Warthe geborene und heute in Berlin lebende Autorin. In den ebenfalls 1983 veröffentlichtenVoraussetzungen einer Er- zählung: Kassandrawird der Entstehungsprozess des Werkes anhand der Sammlung ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen dokumentiert. Gleichzeitig Dichterin und Mitglied der SED zu sein, wirkte sich auf das Schreiben Christa Wolfs aus. Der von ihr geprägte Begriff der „subjektiven Authenti- zität“ beinhaltet, dass persönliche Erlebnisse stets die größte Geltung und Wahrheit haben – für das Individuum ebenso wie für die Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Angst um atomare Aufrüstung und Atomkriege erschien Christa Wolf die antike Seherin Kassandra, deren Voraussagen niemand Glauben schenken wollte, in einem neuen Licht.
Den (historischen) Hintergrund der Erzählung stellt der Trojanische Krieg dar, wie er aus der griechischen Mythologie überliefert ist: Nach zehnjähriger Belagerung gelingt es den Griechen schließlich mit einer List, Troja zu besiegen. In den Vordergrund treten die Figuren und deren Bezie- hungen zueinander, die durch die Ich-Erzählerin Kassandra charakterisiert werden. Dabei werden bewusst Veränderungen vorgenommen, um die zent- ralen Themen deutlich herauszustellen. Es geht Christa Wolf um die Rolle der Frau in einer von Männern beherrschten Gesellschaft und um das ent- sprechende Bild des Mannes. Sie äußert auch Überlegungen zur Notwen- digkeit von Kriegen. Und nicht zuletzt spricht sie mit der Erzählung die Ge- fahr an, sich der Realität zu verschließen.
Die Figur der Kassandra macht eine Entwicklung mit, die den Wandel der treuen Königstochter zur kritischen, selbständigen Frau darstellt. Sie ver- lässt die Scheinwelt des Palastes, erlebt die Veränderung der Menschen um sie herum während des Krieges und lernt gleichzeitig ein anderes, das wahre Leben kennen. Bei den Frauen, die außerhalb der Stadt am Fluss Skamander und am Berg Ida leben, erfährt sie neben Mitmenschlichkeit und Solidarität vor allem die Erkenntnis, „zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Le- ben.“ Von den Männern wird Kassandra nicht ernst genommen. Ihre Vor- aussagen werden nicht gehört, sie wird vergewaltigt, zur Heirat gezwungen und zum Objekt der Männerwelt gemacht. Lediglich Aineias, der sich von den übrigen Männern abhebt, kann ihre Liebe gewinnen.
Im Gegensatz zu Kassandra spielt ihre hübsche Schwester Polyxena die Rolle der Verführerin. Sie macht sich bewusst zum Objekt männlicher Be- gierde um Beachtung und Macht zu erlangen, zerbricht aber daran und ver- fällt dem Wahnsinn. Ihre Gegenspielerin ist Penthesilea, die ihre Weiblich- keit leugnet und die Rolle des Mannes annimmt. Sie kämpft gegen die Män- ner, besiegt sie und fällt ihnen letztendlich doch zum Opfer.
Anders als die historische Überlieferung kennt Christa Wolf in ihrer Erzäh- lung keine Helden. Von Herrschaftssucht und Machtbegierde besessen se- hen die ichbezogenen Männer der Antike ihren einzigen Sinn in der Kunst der Kriegsführung. Zwei, die sich an diesem Treiben nicht beteiligen, sind Aineias und dessen weiser Vater Anchises. Sie bleiben die einzigen durch- weg positiv dargestellten männlichen Figuren der Erzählung und verkörpern mit Aineias, dem Geliebten Kassandras, den krassen Gegensatz zu „Achill, dem Griechenheld“, der sich durch seine „Heldentaten“ den Beinamen „das Vieh“ verdient hat.
In der ErzählungKassandra wird der Irrsinn des (Trojanischen) Krieges darin deutlich, dass er lediglich um ein Phantom geführt wird. Der angebli- che Raub der schönen Helena, Frau des Spartaner-Königs Menelaos und Schönheitsideal der Antike, durch Paris, einen Bruder Kassandras, gilt als Auslöser der Auseinandersetzung. Und obwohl selbst die Führer Trojas wis- sen, dass sich Helena nicht in der Stadt befindet, wollen sie nicht einsehen, „dass ein Krieg, der um ein Phantom geführt wird, nur verloren werden kann“.
Dies alles sieht und sagt Kassandra voraus. Im Palast lässt sie der eigene Vater, König Priamos, wegen ihrer fatalen Vorhersagen einsperren. Man will Kassandra nicht hören, will der bitteren Realität nicht begegnen müssen und erklärt sie kurzum für verrückt.
Kassandra findet kein Gehör in der von Männern dominierten Gesellschaft, sie kann keinen Einfluss auf ihre Umgebung nehmen. Die Sehergabe, die sie sich stets wünschte, stellt den Versuch dar, sich der Gesellschaft als Objekt zu entziehen. Für sie bedeutet Sehen gleichzeitig auch, sich ein Bewusstsein der Dinge zu bewahren, die Realität so zu erleben, wie sie tatsächlich ist. Diese Gabe verteidigt Kassandra bis zum Schluss und nimmt sie mit in den Tod.
Christa Wolf bereitet dem Leser mit ihrem besonderen Schreibstil zunächst einige Schwierigkeiten. In Kassandra wechseln die Erzählperspektiven e- benso wie die Erzählzeiten. Die Titelfigur führt einen inneren Monolog, der den Leser die gesamte Handlung erfahren lässt. Ein auktorialer Erzähler leitet diesen Monolog ein und beendet ihn auch. Innerhalb der Ich- Erzählung bewegt sich Kassandra ständig zwischen Gegenwart und Ver- gangenheit – nicht selten innerhalb eines Satzes. Unvermittelt werden ihre Gedanken, Gefühle und Berichte durch Voraussagen über die Zukunft un- terbrochen. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft lassen sich kaum noch auseinander halten, sie verschmelzen miteinander.
Die aus der griechischen Mythologie überlieferte Realität liest sich heute unter dem Einfluss persönlicher Erfahrungen neu. Für den Leser ergeben sich Parallelen zur heutigen Frauen- und Friedensbewegung, die von Christa Wolf durchaus erwünscht sind und die Absicht der Erzählung deutlich ma- chen. Indem Kassandra ihr Leben rekapituliert, wird die Problematik der Frauengestalt aufgezeigt. Sie ist hilflos und hoffnungslos dem logischen Denken der Männergesellschaft ausgesetzt, aus dem die Konflikte Mann und Frau, Krieg und Frieden oder Leben und Tod entstehen. Kassandra ent- zieht sich diesem Denken auf ihre Art. Sie entsagt der Liebe zu Aineias und entscheidet sich schließlich für den Tod, der ihr zumindest erspart, ihre Er- fahrungen mit dieser Gesellschaft noch einmal machen zu müssen.
Trotz oder gerade wegen ihrer Hilflosigkeit hat sich Kassandra stets die Kraft bewahrt, die Verhältnisse zu analysieren. Daraus entsteht auch ihre Kultur- und Gesellschaftskritik. Das Heldentum ist für sie keines. Die Hel- den sind nichts weiter als Mörder. Und sie kritisiert die Notwendigkeit eines Feindbildes, ohne das sich ein Krieg überhaupt nicht führen lässt.
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in Christa Wolfs "Kassandra"?
Die Erzählung "Kassandra" von Christa Wolf stellt den Reflexionsprozess der trojanischen Königstochter Kassandra zum Zeitpunkt ihres unmittelbar bevorstehenden Todes dar. Sie erinnert sich an ihre Jugend, familiären Beziehungen, den Krieg und die Veränderungen in der trojanischen Gesellschaft.
Was war der Anlass für diese Erzählung?
Anlass waren die Eindrücke einer Griechenlandreise Christa Wolfs, das Studium antiker Texte und die Begegnung mit einer Kultur, die der Frau traditionell eine untergeordnete Stellung zuweist.
Was beinhaltet der Begriff der "subjektiven Authentizität" von Christa Wolf?
Der Begriff beinhaltet, dass persönliche Erlebnisse stets die größte Geltung und Wahrheit haben – für das Individuum ebenso wie für die Gesellschaft.
Welche Themen stehen im Vordergrund der Erzählung?
Es geht um die Rolle der Frau in einer von Männern beherrschten Gesellschaft, das entsprechende Bild des Mannes, Überlegungen zur Notwendigkeit von Kriegen und die Gefahr, sich der Realität zu verschließen.
Wie entwickelt sich die Figur der Kassandra?
Kassandra macht eine Entwicklung von der treuen Königstochter zur kritischen, selbständigen Frau durch. Sie verlässt die Scheinwelt des Palastes und lernt ein anderes, wahres Leben kennen.
Welche Rolle spielen Polyxena und Penthesilea?
Polyxena spielt die Rolle der Verführerin, die sich zum Objekt männlicher Begierde macht, aber daran zerbricht. Penthesilea leugnet ihre Weiblichkeit und nimmt die Rolle des Mannes an, fällt aber letztendlich den Männern zum Opfer.
Wie werden die Männer in der Erzählung dargestellt?
Anders als in der historischen Überlieferung kennt Christa Wolf keine Helden. Die Männer sind von Herrschaftssucht und Machtbegierde besessen und sehen ihren Sinn in der Kriegsführung. Aineias und Anchises sind die einzigen durchweg positiv dargestellten männlichen Figuren.
Warum wird der Trojanische Krieg geführt?
Der Krieg wird um ein Phantom geführt, den angeblichen Raub der schönen Helena, obwohl selbst die Führer Trojas wissen, dass sie sich nicht in der Stadt befindet.
Warum findet Kassandra kein Gehör?
Kassandra findet kein Gehör in der von Männern dominierten Gesellschaft, da sie der bitteren Realität nicht begegnen wollen und sie für verrückt erklären.
Welche Schwierigkeiten bereitet der Schreibstil von Christa Wolf?
Die Erzählperspektiven und Erzählzeiten wechseln. Kassandra führt einen inneren Monolog, der ständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselt. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verschmelzen miteinander.
Welche Parallelen ergeben sich zur heutigen Zeit?
Für den Leser ergeben sich Parallelen zur heutigen Frauen- und Friedensbewegung. Die Problematik der Frauengestalt wird aufgezeigt, und es entstehen Konflikte zwischen Mann und Frau, Krieg und Frieden oder Leben und Tod.
Was kritisiert Kassandra?
Kassandra kritisiert das Heldentum, die Notwendigkeit eines Feindbildes und die Verhältnisse in der von Männern dominierten Gesellschaft.
Was macht die Erzählung "Kassandra" lesenswert?
Die Erzählung bietet die Möglichkeit der Identifikation mit der Titelfigur. Die Entwicklung der Kassandra und die Art der Darstellung als innerer Monolog lassen eine spontane Identifikation zu. Die Parallelen zwischen antiker Mythologie und Gegenwart machen das Buch lesenswert.
- Citation du texte
- Norbert Lindemann (Auteur), 2000, Christa Wolf - Kassandra, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99737