Die Arbeit strebt eine Übersicht und theoretische Fundierung der Entstehung psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters an. Neben Risikofaktoren, besonders entwicklungspsychopathologischer Art, wird auch auf protektive Faktoren und umfassendere Konzepte wie beispielsweise das Vulnerabilitätskonzept, Entwicklungspfadmodelle, die Salutogenese, Stressmodelle und die Resilienztheorie hingewiesen.
Der zentrale Gedankengang besteht darin, dass die COVID-19-Pandemie für Kinder, Jugendliche und ihre Familien einen systematischen epochalen Risikofaktor von hoher Relevanz darstellt, andererseits jedoch als protektiver Faktor Möglichkeiten der psychologischen Beratung und insbesondere auch der Psychotherapie bestehen, welche bisher noch nicht von Seiten des Gesundheitssystems ausgeschöpft sind.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen: Entstehung und Merkmale
1.1 Entstehung psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
1.2 Merkmale psychischer Störungsbilder von Kindern und Jugendlichen
2. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Störungen im Erwachsenenalter
2.1. Gemeinsamkeiten psychischer Störungen des Erwachsenenalters und des Kindes- und Jugendalters
2.2 Unterschiede zu psychischen Störungen des Erwachsenenalters
3. Therapiemöglichkeiten im Kindes- und Jugendalter
3.1 Niedrigschwellige Therapien, Beratung und Förderung
3.2 Psychotherapeutische Ansätze
4. Konzept "Therapie in der Pandemie"
4.1 Problemstellung und Ziele
4.2 Maßnahmen zur Zielerreichung
4.3 Evaluation
5. Zusammenfassung
Literatur
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung1: Multifaktorielle Ätiopathogenese der Schizophrenie.
Abbildung 2: Vulnerabilität: Grafische Regenfass-Metapher
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Störungsbilder des Kindes- und Jugendalters
Tabelle 2: Gemeinsamkeiten psychischer Störungen verschiedener Altersgruppen
Tabelle 3: Unterschiede psychischer Störungen verschiedener Altersgruppen
Tabelle 4: Psychologisch fundierte Maßnahmen
1. Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen: Entstehung und Merkmale
Im ICD-10 Kapitel V (F) (WELTGESUNDHEITSORGANISATION 2010) finden sich die wesentlichen (jedoch nicht vollständig alle möglichen) psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters in den Kapiteln F5 und F7 bis F9: Essstörungen (F5, F9), Intelligenzminderungen (F7), Entwicklungsstörungen (F8) sowie Verhaltens- und emotionale Störungen (F9) sind dort u.a. gelistet.
Diese Störungsbilder und ihre Therapie, sowie insbesondere auch das Ziel der Lösungserarbeitung auf der Ebene des Gesundheitssystems bzgl. des erhöhten Bedarfs durch die COVID-19 Pandemie, sind Gegenstand dieser Arbeit. (Anstelle einer weiteren Einleitung wird auf die Zusammenfassung (Kap. 5) aufmerksam gemacht.)
1.1 Entstehung psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
An der Ätiopathogenese können sowohl biologisch-medizinische (hierunter sollen sowohl genetische als auch organische Faktoren verstanden werden), als auch psychologische (incl. entwicklungspsychologische) und soziale (Risiko-)Faktoren mit variierender Gewichtung je nach Störungsbild und Einzelfall beteiligt sein. Grundsätzlich ist die Verursachung mittels verschiedener Modelle vorstellbar, wie bspw. dem Vulnerabilitäts-Modell oder anhand von Entwicklungspfadmodellen.
Das Vulnerabilitätsmodell (Vulnerabilität (lat.) bedeutet in etwa Verwundbarkeit, Verletzlichkeit) integriert bio-psycho-soziale Risikofaktoren als prädisponierende Faktoren mit störungsauslösenden Faktoren und solchen, die den weiteren Verlauf beeinflussen (MÖLLER et al. 2005: 135-140). Es zeigt, wie die Faktoren in Wechsel-wirkung miteinander eine erhöhte persönliche Verwundbarkeit i.S.v. Anfälligkeit für weitere hinzukommende Belastungen wie etwa kritische Lebensereignisse bedingen und damit die potentielle Ausbildung von Symptomen verursachen (KNOKE 2017: 67).
Das Modell kann auf verschiedene Störungen angewandt werden, wie bspw. Essstörungen, Sucht oder Depression. Am bekanntesten ist jedoch die Anwendung zur Beschreibung der Ätiopathogenese der Schizophrenie (WITTCHEN & HOYER 2011: 834-835, CASPAR et al. 2018: 86-88, EBERT 2003: 170-173, MÖLLER et al. 2005: 135-140).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung1: Multifaktorielle Ätiopathogenese der Schizophrenie (Quelle: MÖLLER et al. 2005: 136).
Im Rahmen des obigen Modells (Abb.1) sind (entwicklungs-)psychologische, familiäre, soziale und soziokulturelle Faktoren als psychosoziale Faktoren zusammengefasst. Behavioristen halten hier die Lerngeschichte eines Kindes für ausschlaggebend. D.h. dass die Summe (ungünstiger) Konditionierungen und anderer Lernerfahrungen (wie etwa Lernen am Modell bspw. aggressives Verhalten der Eltern oder Orientierung und Anschluss an problematische (subkulturelle) peer-groups) einen entscheidenden Beitrag zu einer ggfs. psychopathologischen Entwicklung liefert. Tiefenpsychologen hingegen halten regelmäßig nicht lösbare Konflikte, welche daher folglich abgewehrt werden müssen, für den entscheidenden Nährboden psychischer Störungen. Genetische Faktoren und zerebrale Schäden hingegen repräsentieren im Zuge des obigen Modells die biomedizinischen Faktoren (Details s.u.). Dieses zeigt insgesamt zunächst auf, wie die Faktoren im Zusammenwirken eine Störung bedingen können und wie im zweiten Schritt ihre Summe zum Überschreiten der individuellen Vulnerabilitätsschwelle führt, was die Störung auslöst. Es können, metaphorisch als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, noch auslösende Faktoren wie kritische Lebensereignisse oder Drogenkonsum hinzukommen, was aber nicht immer so sein muss. Auch der weitere Verlauf einer Störung wird im Übrigen von diesen bio-psycho-sozialen Faktoren abhängig sein.
Dies ließe sich vereinfacht (ohne explizite Berücksichtigung auslösender Faktoren) wie folgt darstellen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Vulnerabilität: Grafische Regenfass-Metapher (Quelle: TESMER 2020: 7)
Die entscheidende Idee dieses Modells besteht in der Integration biomedizinischer und psychosozialer Faktoren und damit in einer Abkehr von linear-monokausalen ätiopathogenetischen Betrachtungen psychischer Störungen zugunsten einer multiperspektivistischen Orientierung. Damit greift das Modell im Grunde auch die bekannte Anlage - Umwelt Interdependenz - im Sinne einer dynamisch-interaktiven Betrachtung von Entwicklungsfaktoren - auf und spezifiziert diese im Hinblick auf die Pathogenese psychischer Störungen.
Entwicklungspfadmodelle bieten darüber hinaus noch Hinweise auf zeitliche Abfolgen bzw. Verläufe der Entstehung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter (KNOKE 2017: 69). Auch hier ist, wie im Rahmen des Vulnerabilitätsmodells, vorab eine Betrachtung gewisser Risikofaktoren angebracht. Zu diesen gehören u.a.:
Organische Störungen: Als Beispiele mögen hier autistische Störungen (laut ICD-10 F84.x "tiefgreifende Entwicklungsstörungen") und Intelligenzminderungen (F7) dienen. Beiden Störungsspektren liegen ätiopathogenetisch neben anderen Faktoren (bspw. genetischen Abweichungen) wohl auch organische Störungen zugrunde. Allgemein können pränatal Teratogene (bspw. Drogen und Umweltgifte) körperliche und funktionelle Schädigungen (mit) hervorrufen wie bspw. Intelligenzminderung (F7) und andere (KNOKE 2017: 67). Bekannt ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch das FAS. Perinatal kann insbesondere eine Sauerstoffunterversorgung, bspw. im Zuge eines protrahierten Geburtsverlaufs, zu Hirnschädigungen führen (KNOKE 2017: 67). Auch leichtere kognitive Defizite (Lernbehinderungen, IQ 70-90) können den Entwicklungsverlauf eines Kindes verzögern, insbesondere wenn gleichzeitig ein schwieriges Temperament (s.u.) vorliegt. Bspw. können pädagogische Hinweise, Gespräche und Interventionen der Eltern oder auch Erzieher*innen in der Kita nicht gut verstanden werden und oft nur verzögert abgespeichert werden.
Genetische Störungen: Hier können sowohl ADHS (F90.x) als auch umschriebene Entwicklungsstörungen (F8x) als Beispiele dienen. Gendefekte können außerdem zu schwerwiegenden körperlichen, aber auch psychischen (incl. geistigen) Beeinträchtigungen führen oder beitragen (KNOKE 2017: 67).
(Angeborenes) Temperament: Hierunter versteht man allgemein bereits frühkindlich sichtbare Verhaltensweisen und Eigenschaften, welche relativ stabil sind und damit letztlich auch die Persönlichkeit mit beeinflussen (KNOKE 2017: 50). Grundsätzlich unterscheiden Forscher drei Temperamentstypen, nämlich das einfache, positive Kind, das schwierige, wenig anpassungsfähige Kind und das langsam auftauende Kind (KNOKE 2017: 51). Das Temperament ist im Übrigen entscheidend genetisch mitgeprägt, eine Variabilität über die Lebensspanne ist aber möglich (KNOKE 2017: 51). Spätere Anpassungsprobleme können daher besser vorhergesagt werden, wenn die neben dem kindlichen Temperament auch das elterliche Verhalten betrachtet wird (KNOKE 2017: 51). Wenn Eltern bspw. ein schwieriges kindliches Temperament in der Interaktion mit Geduld und Verständnis kompensieren können und behutsam pädagogisch lenkend Verhaltensänderungen initiieren, mag ein schwieriges Temperament mit der Zeit kaum mehr ins Gewicht fallen. Ungeduldige und überforderte, möglicherweise auch mit sich selbst beschäftigte Eltern hingegen, die deutlich disziplinierend oder unstet reagieren (inkonsistentes Erziehungsverhalten) können ein schwieriges Temperament des Kindes jedoch noch befördern (KNOKE 2017: 52).
Bezüglich des Elternverhaltens ist also entscheidend, wie passgenau sie die Interaktion mit ihrem (schwierigen) Kind zu gestalten vermögen. Tatsächlich ist die Familie insgesamt oft genug Quelle der wesentlichen protektiven Faktoren, gleichzeitig aber auch potentiell der Ort der größten Belastungen. Wichtige Aspekte bzgl. des Elternverhaltens sind das Angebot von Liebe und Nestwärme, die angemessene Bedürfnisbefriedigung der kindlichen Bedürfnisse, der Aufbau von Urvertrauen und sicherer Bindung, das stete Angebot eines "sicheren Hafens" sowie Sicherheit und Zuverlässigkeit allgemein sowie eines konsistenten Erziehungsstils.
„Consistency is a critical parenting behavior. Research has found that children can tolerate a variety of adult behavior as long as that behavior is predictable. Children have greater difficulty tolerating inconsistency.“ (GOLDSTEIN & GOLDSTEIN 1990: 116-117)
Weiter ist sicherlich noch die Förderung explorativen Verhaltens des Kindes von Bedeutung, das Erkennen und Fördern von Interessen, gemeinsame Beschäftigung (unter Vermeidung von Bildschirmmedien), insbesondere auch Vorlesen, Geduld bei kindlichen Missgeschicken und Unterstützung in schwierigen Situation ebenso wie Zurückhaltung in Situationen, die das Kind allein zu bewältigen vermag. Eltern, die obige Aspekte nicht oder kaum bedienen können, werden für ihr Kind einen Risikofaktor darstellen. Häufig geraten hier strukturell gestörte Familien (bspw. Einelternfamilien) in Überforderungssituationen oder andere Schwierigkeiten und die familiären Funktionen können nicht vollständig erfüllt werden. Aus einer strukturell gestörten Familie wird so auch schnell eine funktionell gestörte Familie.
Sozioökonomische Ressourcen sind im Übrigen ebenfalls von Bedeutung für die kindliche Entwicklung (KNOKE 2017: 67). Diese bedingen die Möglichkeiten der kindlichen Bedürfnisbefriedigung, der Spiel- und Explorationsmöglichkeiten, die Schul- und Wohnumgebung, ja umfassend die Art und Anzahl der Wahlmöglichkeiten entscheidend mit. Die Armut der Eltern bedingt oft auch die Armut der Kinder und damit schlechtere Möglichkeiten der Teilhabe und Entwicklung. Darüber hinaus führt ein ständiger Mangel finanzieller Mittel potentiell zu Stress, Insuffizienzerleben, Unzufriedenheit, Angst, Ärger, Scham oder anderen belastenden Gefühlen bei den Eltern, was ebenso die elterliche Förderung der kindlichen Entwicklung beeinträchtigen kann.
Entwicklungspfadmodelle zeigen grundsätzlich nicht nur die Summe der Risikofaktoren, sondern auch deren Abfolge (KNOKE 2017: 69). Es wird deutlich, welche Problemlagen im Verlaufe welche dann folgenden weiteren Probleme bedingen (können). Die Modelle wollen insbesondere die frühzeitigen Entwicklungsrisiken herzeigen und auf diese abgestimmte, ebenfalls möglichst frühzeitige Präventions- und Interventionsmöglichkeiten entwickeln (KNOKE 2017: 69). Darüber hinaus sollen auch in den späteren Verlauf eingreifende Interventionen entwickelt werden. Grundsätzlich soll neben der Beschreibung insbesondere die Reversibilität solcher kritischen Pfade betont werden.
Schutzfaktoren wirken diesbezüglich grundsätzlich in eine gewünschte, positive Richtung. Sie können in gewisser Weise Risikofaktoren (teilweise) aufwiegen, ausgleichen und/ oder die Beziehung zwischen Risikofaktoren und Ausbildung von Symptomen im positiven Sinne intervenieren.
"Unter Schutzfaktoren, auch protektive Faktoren genannt, werden im allgemeinen Ressourcen verstanden. Schutzfaktoren sind die Faktoren, die einem Individuum verfügbar sind, um allgemein im Leben gut zurecht zu kommen, aber auch um sich gegen Risikofaktoren und Belastungen "zur Wehr zu setzen" oder mit ihnen eine den Umständen entsprechend konstruktive Umgehensweise zu entwickeln. Man kann sich Schutzfaktoren in vereinfachter erster Näherung als intervenierende Variablen vorstellen. Sie intervenieren die Beziehung zwischen Risikofaktoren (UV) und tatsächlicher Erkrankung (AV), sowie in diesem Zuge auch Ausprägung der Symptome, Verlauf der Erkrankung, Remission, ggfs. Residualzustände oder Rezidive." (TESMER 2020: 8)
KNOKE (2017: 67) benennt als Schutzfaktoren günstige genetische Konstellationen, stabile soziale Beziehungen (welche soziale Unterstützung bieten können), ein positives Schul- und Klassenklima sowie autoritativer Erziehungsstil der Eltern.
"Der autoritative Erziehungsstil führt – wenn man so will – zu den günstigsten Ergebnissen. Er beinhaltet, dass Eltern ihre Kinder kontrollieren, ihnen Strukturen vorgeben und Grenzen setzen und dabei ein Gefühl von elterlicher Wärme und Zuneigung vermitteln. Kinder, die autoritativ erzogen werden, sind im Vergleich zu anderen Kindern selbstständiger, selbstbewusster, geselliger und insgesamt zufriedener." (SCHMITHÜSEN & FERRING 2015: 273)
Schutzfaktoren sind damit in gewisser Weise das Gegenteil von Risikofaktoren. Darüber hinaus ist die Betrachtungsweise nützlich, dass Schutzfaktoren über das Gegenteil von Risikofaktoren hinausweisen können. Bspw. können stabile soziale Beziehungen (s.o.) Ersatzbeziehungen zu den primären Bezugspersonen sein, wenn bspw. ein Kind aus schwierigen Familienverhältnissen überwiegend im Haus einer Nachbarsfamilie verkehrt und dort Anschluss, Wertschätzung, Orientierung, Stabilität und Bedürfnisbefriedigung findet. Solche Betrachtungen finden sich im Rahmen der Theorien der Resilienz (PETZOLD & MÜLLER 2004; SIEGRIST & LUITJENS 2012) und der Salutogenese (ANTONOVSKY 1985; PETZOLD 2010) integriert, deren umfassende Darstellung hier jedoch nicht erfolgen kann. Dagegen sei ein wichtiger Schutzfaktor im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit noch ergänzend genannt: Bedeutsam ist die Verfügbarkeit einer spezifischen, zielgruppenadäquaten Psychotherapie (PETZOLD & MÜLLER 2004: 185-186) für Kinder und Jugendliche. In der Bundesrepublik Deutschland ist diese Forderung insbesondere durch den Beruf und die Verfügbarkeit der Kinder- und Jugendlichentherapeut*innen prinzipiell eingelöst, wenn auch die Wartezeiten dort lang sind (s. Kap. 4).
Das sog. Entwicklungsaufgabenmodell von HAVIGHURST (1981, zitiert nach KNOKE 2017: 68) geht davon aus, dass sich jedem Menschen zwangsläufig Entwicklungsaufgaben stellen, welche individuell bewältigt werden müssen. Solche Entwicklungsaufgaben ergeben sich bspw. regelmäßig aus normativen, aber auch nichtnormativen Einflüssen (BERK 2005: 13-14). Letztere sind solche, die nur von einem Menschen oder wenigen Menschen erlebt werden, quasi nicht reguläre Einflüsse wie bspw. das Betroffen sein von einer seltenen Krankheit (BERK 2005: 13-14). Normative Einflüsse hingegen werden von (fast) allen Menschen einer Gesellschaft geteilt. Sie können altersbedingt sein wie bspw. das Laufen lernen mit etwa 15 Monaten oder aber epochal (BERK 2005: 13) wie bspw. das Erleben der COVID-19 Pandemie derzeit. Diese Betrachtungen implizieren mindestens zwei neue Aspekte: Zunächst erfordert die Bewältigung eine individuelle Auseinandersetzung und Bearbeitung der Entwicklungsaufgabe, was als aktiver Beitrag des Individuums verstanden werden sollte. Und zum Zweiten leistet das Individuum mit der erfolgreichen Bewältigung nicht nur eine produktive Anpassung und damit das Erklimmen einer nächsten Entwicklungsstufe, sondern es gewinnt auch Vertrauen in seine Bewältigungskompetenz angesichts herausfordernder Aufgaben, was salutogenetisch betrachtet zumeist wiederum das Kohärenzgefühl stärken wird. Eine in gewisser Weise ähnliche Betrachtung findet sich im Übrigen bei ERIKSON:
"Das menschliche Wachstum soll hier unter dem Gesichtspunkt der inneren und äußeren Konflikte dargestellt werden, welche die gesunde Persönlichkeit durchzustehen hat und aus denen sie immer wieder mit einem gestärkten Gefühl innerer Einheit, einem Zuwachs an Urteilskraft und der Fähigkeit hervorgeht, ihre Sache >>gut zu machen<<, und zwar gemäß den Standards derjenigen Umwelt, die für diesen Menschen bedeutsam ist." (ERIKSON 2020: 56)
Dies ist deshalb interessant, weil HAVIGHURST deutlich von ERIKSON beeinflusst wurde (SCHMITHÜSEN & FERRING 2015: 269). D.h. die grundsätzliche Idee, dass bewältigte Entwicklungsaufgaben - bzw. bei ERIKSON (2020: 56) innere und äußere Konflikte bzw. Krisen (ERIKSON 2020: 60-62) - zu einer Art inneren Wachstum und Vertrauen in sich selbst führt findet sich auch bei ERIKSON (2020: 55-62). Das Bewältigungsmodell findet sich außerdem später bei ANTONOVSKY (1985), in der Resilienztheorie und bei LAZARUS (2005; LAZARUS & LAUNIER 1981).
In gewissem Sinne bietet dieses "Bewältigungsmodell" (bzgl. Konflikten, Krisen oder Entwicklungsaufgaben) darüber hinaus die Möglichkeit, die hier insgesamt ausgeführten Überlegungen zu integrieren. Im Einzelnen: Die Betrachtung des Vulnerabilitätsmodells und insbesondere auch tiefenpsychologische und behavioristische Konzepte liefern eine klare Idee bio-psycho-sozial kritischer Risikofaktoren. Das Schutzfaktorenkonzept und auch die Konzepte der Resilienz und der Salutogenese benennen umfassend Faktoren und Dynamiken, welche in eine positive Richtung wirken (können). Entwicklungspfadmodelle liefern darüber hinaus entwicklungspsycho(patho)logische Prozessmodelle. Diese Betrachtungen werfen nun die Frage auf, wie es nun zu Störungen der Entwicklung kommt (KNOKE 2017: 68). Ausgehend von der Tatsache, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens immer wieder herausgefordert ist, anstehende Konflikte, Krisen und Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, besteht auch die Möglichkeit, dass er an diesen scheitert oder sie nur partiell oder verzögert zu bewältigen vermag. Wenn das geschieht bedingt es an sich bereits eine Verzögerung oder Störung der Entwicklung, darüber hinaus jedoch bauen sich parallel oft keine ausreichende Bewältigungskompetenz und keine ausreichenden Bewältigungsressourcen auf (HAVIGHURST 1981, zitiert nach KNOKE 2017: 68). Letzterer Gedankengang findet sich ganz ähnlich in der Theorie der Salutogenese: Gescheiterte Bewältigungsversuche mindern potentiell das Kohärenzgefühl sowie die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Widerstandsressourcen aufgebaut werden können (ANTONOVSKY 1985, Modell im Anhang1; PETZOLD 2010). Solcherlei mangelnde Ressourcen, Kompetenzen und Stimmigkeit (i.S.v. Kohärenzgefühl) bedingen potentiell weitere Fehlentwicklungen, denn unaufhörlich stellen sich dem Menschen weitere und zusätzliche Entwicklungsaufgaben, ohne dass er für diese adäquat gerüstet erscheint. Umgekehrt ist es aber auch so, dass Stressoren, Herausforderungen und eben auch Entwicklungsaufgaben bei erfolgreicher Bewältigung das Kohärenzgefühl, die Bewältigungskompetenzen, das Selbstwirksamkeitsgefühl und die weitere Aneignung von Ressourcen fördern. Das bedeutet, das nicht von vornherein gesagt werden kann, ob ein Stressor oder eine schwierige Entwicklungsaufgabe pathologisch wirkt. Gelingt die Bewältigung, geschieht das Gegenteil: Die Person wächst meist an der erfolgreich bewältigten Herausforderung und geht gestärkt aus dem Prozess hervor. Daraus ergibt sich folgerichtig, dass nicht die Abwendung von gewissen Belastungen und Aufgaben das Ziel psychologischer oder pädagogischer Bemühungen sein kann, sondern deren Bewältigung bzw. (fachliche) Unterstützung bei deren Bewältigung.
1.2 Merkmale psychischer Störungsbilder von Kindern und Jugendlichen
Die zentralen Merkmale psychischer Störungsbilder von Kindern und Jugendlichen lassen sich wie folgt definitorisch zusammenfassen (KNOKE 2017: 66): Das Kind bzw. der*die Jugendliche
- kann alterstypische Entwicklungsaufgaben nicht altersgemäß angemessen bewältigen
- weicht für einen längeren Zeitraum deutlich im negativen Sinne von relevanten Normen ab (z.B. Einengung der sozialen Bezüge (ASSEN 2016: 125)).
- verursacht Leidensdruck bei sich selbst oder anderen Personen.
Weit überwiegend treffen bzgl. der Mehrzahl der Störungsbilder von Kindern und Jugendlichen diese Merkmale zu, wobei allerdings nur das erste Merkmal hinreichend ist (KNOKE 2017: 66), welches mit umfasst, dass es zu einer Interferenz mit der Entwicklung kommt (ASSEN 2016: 125). Gelegentlich kommt eine Selbst- und/ oder Fremdgefährdung hinzu (KNOKE 2017: 66).
Die Störungsbilder des Kindes- und Jugendalters können Symptome verschiedener Qualität einzeln oder in Kombination zeigen: Neben kognitiven, emotionalen und Verhaltenssymptomen und deren Kombinationen (KNOKE 2017: 66) können auch alle anderen Symptome des psychopathologischen Befundes vorkommen, wobei allerdings psychotische Symptome (Wahn und Halluzinationen) im Kindesalter eher selten sind.
Die psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalter selbst können aufgrund ihrer erheblichen Anzahl und Komplexität hier nicht im Einzelnen beschrieben werden. Sie können jedoch, im Sinne eines Überblicks, nach vorherrschenden Symptomen - wobei Kombinationen vorkommen können - grob wie folgt gruppiert werden:
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- Quote paper
- Dr. Björn Tesmer (Author), 2020, Psychotherapie in der Pandemie. Steigende Bedarfe und Lösungen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/996058
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