Entwicklung und Transformationsprozess ostdeutscher Presseerzeugnisse am Beispiel der Wochenpost
Die Wochenpost erschien erstmals zu Weihnachten 1953 als Reaktion auf die Demonstrationen von Arbeitern vom 17. Juni. Mit neuen Presseerzeugnissen sollte dem Bedürfnis der ,,Massen" nach Unterhaltung Rechnung getragen werden. Der ,,Eulenspiegel", der den weitaus kritischeren ,,Frischen Wind" ablöste, und das ,,Magazin" gehörten ebenfalls zu diesem Versuch der SED, die Bevölkerung ruhigzustellen. In einer Tradition mit der beliebten ,,Grünen Post" (1927 - 1944 bei Ullstein, Berlin), der ,,Deutschen Woche" (1948 - 52 von der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands herausgegeben) sowie der von der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft betreuten ,,Friedenspost" (bis November 1953) stehend, hat sie rasch viele treue Leser erreicht. Die Auflage stieg schnell, sie betrug im August 1973 bis Ende 1989 1.286.560 Exemplare. Die Wochenpost wurde im Durchschnitt von drei Lesern pro Exemplar genutzt, absolut also von 3,5- 4 Millionen Lesern. Die Verteilung im Jahr 1973 kann man sich wie folgt vorstellen (in % der Einwohner im jeweiligen Bezirk):
- 12,5 % in Berlin
- 9,6 % in Rostock (wegen der zahlreichen Urlauberzentren!)
- 8,8 % in Leipzig
- 8,6 % in Dresden
- 5 % in Suhl und Schwerin.
Der geringe Verkaufspreis erwies sich auf Dauer als unwirtschaftlich (seit 1953 betrug er 30 Pfennig): 1957 warf die Wochenpost 2 Millionen DM Gewinn ab, davon 1 ausser Plan, 1970 gab es einen bereinigten Nettogewinn von nur noch 112.800 M und 1988 einen Verlust von ca. 13.000 M. Zu diesem Zeitpunkt hat der Wochenpost-Leser drei Groschen für seine geliebte Wochenzeitung gezahlt, der DDR-Bürger ,,als solcher" (egal ob Leser oder nicht) dieses Lesevergnügen mit 20 Pf subventioniert. Dies galt gleichermassen für Kleinanzeigen, so dass die absurde Situation entstand, dass bei hohen Auflagen und vielen Kleinanzeigen (normalerweise ein Traum jeder Zeitung) die höchsten Zuschüsse fliessen mussten.
Das Leserprofil sah folgendermassen aus: 1972 waren 81 % zwischen 15 und 49 Jahre alt, davon 13 % zwischen 15 und 19. Älter als 60 waren 9 % der Leser. Das Verhältnis Mann zu Frau betrug 49 zu 51. Nach Berufsgruppen untergliedert ergibt sich folgendes Bild: Angestellte 22 %, Schüler und Studenten 20 %, Arbeiter 19 %, ,,Intelligenz" 13 %, Hausfrauen/Rentner 12 %. 91 % der Wochenpost-Leser lasen eine Tageszeitung.
Im Jahr 1990 stellt sich die Lage deutlich verändert dar: 30 % der Leser sind nun über 60, nur 6,1 % zwischen 14 und 19 Jahre alt und geringe 17,7 % verfügen über einen Hoch- oder Fachschulabschluss. Diese Überalterung rührte aus der aus der Not geborenen ,,Sitte", Abonnements weiterzuvererben. Neue Abos waren nur sehr schwer zu bekommen.
Zum ,,Innenleben" der Wochenpost: Die Redakteure lebten zwischen dem ständigen Dilemma beschränkter Reisemöglichkeiten und dem Wunsch nach authentischen Reise- bzw.
Auslandsberichten. Negative Berichte auch übers ,,Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet" (NSW) wurden immer öfter nicht möglich, da 1. sich Diplomaten von Entwicklungsländern beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten beschwerten und 2. auf ,,Argus" Redakteure vergattert wurden aus Angst vor ,,Konsequenzen in Außenpolitik und Außenhandel". Dies schränkte die Themen- und Länderauswahl erheblich ein, es blieb die Flucht in historische Ereignisse und ,,unbedeutende" Kleinstaaten.
Beispiele für derartiges Lavieren in der Berichterstattung:
Wegen der Wahrung unterschiedlicher Interessen äußerte sich die Abteilung Agitation beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nicht zum Überfall Irans auf die Teheraner US-Botschaft (die ideologische Hauptlinie richtete sich selbstverständlich gegen den US-amerikanischen Imperialismus, ebenso aber gegen den Terrorismus iranischer Prägung - zumindest offiziell, wenn man die Aufnahme von RAF-Mitgliedern aus der BRD berücksichtigt). Ebenfalls kein Kommentar kam zum Krieg zwischen Irak und Iran, zur Kurdenfrage, zum Völkermord in Kambodscha (da es als ,,antiimperialistischer" bzw.
,,sozialistischer" Staat galt, obwohl die Roten Khmer die DDR in einen Topf mit BRD und USA warfen). Sehr aufschlussreiche Ergebnisse zum Thema der Auslandsreportagen in der Wochenpost liefert eine Magisterarbeit aus Westberlin von 1983: Danach wurde thematisch und quantitativ am umfangreichsten über die USA berichtet (mit einem Anteil von 17 %), dann erst (!) über die UdSSR mit 11 und die BRD mit 9 %. Diese ,,Westorientierung" rührte aus der Schwierigkeit, über ,,sozialistische" Länder interessant zu berichten.
Eingriffe, die ihre Ursache in der zentralistischen Wirtschaftsform hatten, führten sogar zur Formatänderung. Seit Anfang 1965 wurde die Wochenpost statt im ,,Berliner Format" im ,,Halbem Ghfdlf-Format" gedruckt, da die ostdeutsche Druckindustrie eine neue Offsetrotationsmaschine für die Ghfdlf entwickelt hatte (mit einem von den in Deutschland üblichen Standards abweichenden Papierformat). Das Neue Deutschland bekam ebenfalls solche Druckmaschinen, auf denen dann auch die Wochenpost gedruckt wurde.
Den Umgang mit Westmedien kennzeichneten einerseits Kampagnen gegen Fernsehen und Radio bundesdeutscher Provenienz, andererseits ,,Lesezimmer" in der Wochenpost-Redaktion für Presse aus dem sogenannten NSW. Von 1962 an aber wurde der Bezug ,,wegen Devisenknappheit" eingeschränkt. Der ,,Transport" dieser Konterbande erfolgte in verschlossener Aktentasche; über die entnommenen Presseerzeugnisse musste penibel Buch geführt werden. Der permanente Devisenmangel führte auch zum hemmungslosen Abkupfern von Zeichnungen, Witzen etc. aus ausländischen Zeitungen.
Der Umsturz in der DDR wurde von der Wochenpost recht vorsichtig begleitet. Zum 40. Jahrestag erschien noch die übliche Gedenkausgabe, aber mit unterlassenem Jubel. Im Unterschied zu anderen (ost- wie westdeutschen Medien) nahm sie sich des Privilegien- und sonstigen Sumpfes der politischen Klasse nur zögernd an, veröffentlichte vielmehr Abhandlungen über die Geschichte des Stalinismus. Einer der Besonderheiten dieser Wochenzeitung bestand darin, dass die Chefredaktion im Amt blieb. Am 16. März vor acht Jahren beschloss die Redaktionsvollversammlung ein neues Statut, in der die Wochenpost als ,,linke Massenzeitung eigenen freien Sinns", ,,dem Humanismus und sozialistischen Gedankengut verpflichtet" und ,,für Frieden und Abrüstung" beschrieben wurde. Die freie Wahl eines Redaktionsrates mit der alten und neuen Chefredakteurin Zimmermann löste bei Gruner + Jahr aber nach der Übergabe des Berliner Verlags im Sommer 1990 von der Treuhandanstalt nur ein nachsichtiges Lächeln aus. (Der Berliner Verlag gehörte im übrigen der ZENTRAG, der Zentralen Revisions- und Auftragsgesellschaft, einem SED-, also NICHT volkseigenen, Unternehmen). Durch die grossangelegte Marktübernahme des DDR- Pressemarktes durch BRD-Großverlage (die schon Anfang 1990 ihre Produkte im Verhältnis 1 M : 1 DM verkauften) sank natürlich auch die Auflage der Wochenpost kontinuierlich ab, von 1,3 Millionen Exemplare im Jahr 1989 auf 550.000 Anfang Juli 1990, Ende Juli 521.000 bis 398.000 Stück der Nummer 46 vom 15. November 1990, zumal sich der Postzeitungsvertrieb der Deutschen Post weigerte, neue Abonnementbestellungen anzunehmen, und Drückerkolonnen über Land zogen mit der Behauptung, die Wochenpost wäre eingestellt.
Am 06. April war der Berliner Verlag endlich als GmbH im Handelsregister eingetragen worden, mit der PDS als Gesellschafter. Diese verkaufte den Berliner Verlag an Maxwell Communications, der sich Gruner + Jahr als Partner anschloss. Es folgten Wechsel in der Chefredaktion, verschiedene ,,Berater", die alle nicht genau wussten, was denn mit dieser Zeitung anzustellen wäre, da das Hamburger Verlagshaus gleichwertiges nicht zu bieten hatte.
Daraus folgte ein Spagat im Versuch, alte Ostleser zu halten und neue Westleser zu gewinnen. Da der deutsche Zeitungsmarkt nach wie vor gespalten ist, schien dieser Versuch von vornherein aussichtslos. Auch Umzüge in neue Räume oder gar der Wechsel vom gewohnten Wochenpost-Grün zu Blau, zu einem neuen Format und zur Klammerheftung halfen nicht.
Dies als ,,relaunch" apostrophiertes Vorgehen kann bei Zeitschriften funktionieren, bei Zeitungen ist es tödlich, da sich der Leser wiedererkennen möchte. Der im Zeitungsgeschäft unerfahrene Herausgeber von Boetticher konnte auch nicht mehr retten, was der desinteressierte Großverleger G +J versiebt hatte. Zu Jahresbeginn 1996 betrug die Auflage 80.000, am Ende angeblich 105.000. Boetticher landete am Ende des Jahres einen für Abonnenten und Redaktion (!) überraschenden Coup: er stieg mit 49 % beim Konkurrenten DIE WOCHE ein; der Kaufpreis bestand in der Abonnentenkartei und dem guten Namen Wochenpost. Zum 31.12.1996 wurden schon alle Kunden mit einer WOCHE beliefert, denen ein achtseitiges Pseudowochenpostanhängsel beigefügt war.
So ging die Geschichte der Wochenpost fast auf den Tag genau nach 43 Jahren zu Ende. Die erste Ausgabe war am 22. Dezember 1953 ausgeliefert worden, die letzte - Nummer 01/ 1997 - am 23. Dezember 1996. In der Zwischenzeit sind 2.244 Ausgaben erschienen mit 72.144 Druckseiten. Davon entfielen 1.905 Ausgaben mit 56.576 Seiten auf die DDR-Zeit.
Am 30. Mai 1997 enthielt DIE WOCHE zum letzten Mal eine Beilage mit der Titelzeile Wochenpost.
Zeitschriftenentwicklung allgemein Nach 1989 sind fast alle Publikumstitel vom Markt verschwunden, sogar solche mit über 1 Millionen Auflage (ausser der Wochenpost, auch ,,Für Dich" und ,,Neue Berliner Illustrierte", erst schnell inextraumbenannt, dann eingestellt). Es gab 575 Fach-, Publikums- und Wissenschaftszeitschriften mit Reichweiten, die 1989 vergleichbar mit denen in der BRD waren (dort konnte man zu diesem Zeitpunkt 5.155 Titel kaufen). Zur Aufteilung:
- Publikumszeitschriften für aktuelle Themen: 10,3 %
Diese erreichten eine geringe Titelzahl wegen der homogenisierten Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft. Der ,,Versorgungsauftrag" war ja auch mit wenigen, reichweitenstarken Titeln zu erfüllen. 1989 umfasste die Gesamtauflage 23,1 Millionen (durch 59 Titel), in BRD 112 Millionen (entspricht ungefähr dem Verhältnis der Erwachsenenbevölkerungsgrößen)
Die geringe Zahl ließ Publikumszeitschriften zur ,,Bückware" werden, Abonnements vererbte man weiter.
- Nichtwissenschaftliche Fachzeitschriften (sparten- und/ oder ziel-gruppendefiniert): 36,3 %
Berufsfelder, Organisations- und Freizeitinteressen wurden über ein breites Spektrum bedient, dies diente der Stärkung des Gruppenzusammenhalts. Beispiele sind der Verlag Technik mit 21 technischen Titeln und der Verlag Junge Welt mit 10 Jugendtiteln.
- wissenschaftlich ausgerichtete Fachzeitschriften: 40 % (breit gefächert, vergleichsweise recht groß trotz fehlendem Wissenschaftspluralismus und geringer Zahl von Forschungseinrichtungen, da kleines Land)
- konfessionelle Zeitschriften (kirchlicher Träger) 5,9 %
- Funktionärszeitschriften 7,1 %
Bis Ende 1993 sind 60 % der Ostpresseerzeugnisse unter- oder in Westtiteln aufgegangen, Neugründungen blieben häufig ohne Chancen (bis auf Ausnahmen), neun Prozent wurden unter anderem Titel weitergeführt, 31,8 % sind noch oder wieder existent.
Bei den Publikumszeitschriften fehlte Professionalität und Flexibilität, um den Marktumbruch unbeschadet zu überstehen, bei Fachzeitschriften Öffentlichkeitsarbeit und Akquisition, wobei letztere häufig an sogenannte ,,Massenorganisationen", Verbände usw. gebunden waren (z.B. der ,,sammler express" an den Philatelistenverband im Kulturbund der DDR).
Wissenschaftstitel verloren Anteile durch den Verlust ausländischer Abonnenten und den Zusammenbruch des osteuropäischen Marktes.
Folgerichtig haben nur solche ostdeutschen Verlage und Herausgeber die Systemtransformation gut durchgestanden, die sich bereits wenige Monate nach dem Fall der Mauer mit Investitionen und innovativem Engagement ? mit neuen redaktionellen Konzepten, technischen Neuerungen und/oder Verlagsmarketing ? dem geöffneten Markt zuwenden konnten. Tatsächlich aber mussten zahlreiche Verleger selbst gut etablierter Fachtitel redaktionelles Personal abbauen, die Umfänge reduzieren und die Bezugspreise erhöhen, mithin die Produktqualität senken - dies in einer Zeit, als umgekehrt wegen neuer Konkurrenten, auch gegen den Neugiereffekt vieler Abonnenten die Steigerung der Produktqualität gefordert war.
Besonders benachteiligt waren solche Titel, die noch viele Monate nach der Wiedervereinigung durch die Treuhand verwaltet wurden: Neben innovativen Anstößen und Konzepten fehlten ihnen auch die monetären Ressourcen, um im offenen Wettbewerb gegen westdeutsche Konkurrenten bestehen zu können.
In der Übergangsphase der Jahre 1990 und 1991 waren auch sonst viele ostdeutsche Herausgeber gegenüber ihren westdeutschen Konkurrenten entscheidend im Nachteil, weil sie häufig weder das Marketing-Know-how noch die finanziellen Mittel für eine erfolgreiche Expansion auf den gesamtdeutschen Markt mitbrachten.
In diesem Transformationsprozess wirkte sich der Umbau des zentralen Postzeitungsvertriebs in ein marktwirtschaftliches Vertriebsgrosso verschärfend aus. Eine ,,abstinente" Verhaltensweise (Abkehr von den alten DDR- und zugleich Ignoranz gegenüber westlichen Titeln) liess ein Vakuum entstehen, das von anderen Unterhaltungsmedien ? in erster Linie von den privaten Fernsehanbietern ? gefüllt wurde.EinGrund dafür, warum Ostdeutsche mehr fernsehen als Westdeutsche ...
& Literaturliste:
Klaus Polkehn: Das war die Wochenpost, Berlin: Christoph Links Verlag - LinksDruck GmbH, 1. Auflage 1997
Michael Haller, Klaus Puder, Jochen Schlevoigt (Herausgeber):Leipziger Beiträge zur Kommunikations- und Medienwissenschaft, Band 1. Schriftenreihe des Instituts für KMW, Universität Leipzig; Berlin: VISTAS Verlag, 1995
Heide Riedel (Herausgeberin):Mit uns zieht die neue Zeit ... 40 Jahre DDR-Medien. Eine Ausstellung des Deutschen Rundfunkmuseums, dito, 1993
Edith Spielhagen: So durften wir glauben zu kämpfen ... Erfahrungen mit DDR-Medien, dito, 1993 und natürlich die Wochenpost, Berliner Verlag
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- Marko T. Hinz (Autor:in), 2000, Entwicklung und Transformationsprozess ostdeutscher Presseerzeugnisse am Beispiel der Wochenpost, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99321
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