Qualitative Sozialforschung
1. Einleitung
Etwa seit Mitte der 70er Jahre hat sich die sozialwissenschaftliche Forschung zunehmend hermeneutisch – lebensgeschichtlichen Fragestellungen zugewandt.
Daten, die bisher in approbierten methodischen Verfahren erhoben wurden, werden jetzt nur noch als ein Hinweis auf tiefer liegende Zusammenhänge akzeptiert. An die eigentlichen Phänomene hofft man dagegen mit „Beobachtungsverfahren und Fallstudien heranzukommen, die die Handlungsabläufe in ihrem situativen Kontext so weit wie möglich zu erhalten versuchen. Bevorzugt werden Vorgehensweisen, die vermeiden, Teilaspekte voreilig zu isolieren, und die sich bemühen, die beobachteten Vorgänge nicht unter Gesichtpunkten vorab definierter Konstrukte und Hypothesen analytisch zu zergliedern, sondern alle Anstrengung darauf verwenden, einzelne Prozesse und einzelne Fälle bis ins Detail zu erfassen.“ (Krappmann u.a. 1974, S.10; hier aus: Heinze,Qualitative Sozialforschung,1995)
DiesesneueInteresse an qualitativer Sozialforschung ist in erster Linie sozialkritischer Art: die Reflexion, das Anwachsen sozialer Probleme und die Unfähigkeit herrschender sozialwissenschaftlicher Richtungen zur Beschreibung und Erklärung gesamtgesellschaftlicher Erscheinungen.
Qualitative Methoden sind in dem Sinne als wissenschaftlich zu betrachten, dass sie im Forschungsprozeß reflektiert werden und eine systematische Verwendung finden.
Im Gegensatz zu quantitativen Methoden, bei denen die zugrundeliegenden Variablen vom Forscher festgelegt werden, sind die qualitativen Methoden als objektiv zu betrachten, obwohl auch hier die Subjektivität des Forschers nicht gänzlich auszuschließen ist.
Man kann sagen, dass quantitative Methoden in der Lage sind Erstinformationen über Grobstrukturen zu liefern, sie können Informationen überschaubarer und handhabbarer für die Analyse machen.
Qualitative Verfahren sind notwendig, um inhaltliche Dimensionen sozial hervorgebrachter Wirklichkeit analysieren zu können. Dabei ist es nicht möglich auf vorgegebene Regeln zurückgreifen, sondern es steht das in seiner
eingeschränkten Gültigkeit kritisch hinterfragte subjektive Bewusstsein des Forschers als wesentliches Untersuchungsinstrument zur Verfügung.
Allerdings muß man auch akzeptieren, dass qualitative und quantitative Verfahren in einem Verhältnis wechselseitiger Ergänzung stehen.
2. Was versteht man eigentlich genau unter qualitativer Sozialforschung?
Es gibt natürlich nicht nur eine Sichtweise, was man denn nun unter qualitativer Sozialforschung zu verstehen hat. Daher sollen im Folgenden drei Ansätze skizziert werden, die häufig vorzufinden sind, und die zeigen sollen, was qualitative Sozialforschung ist.
2.1. Qualitative Sozialforschung ist zu verstehen als die Analyse qualitativer Daten
Hier gibt es zwei verschiedene Varianten. Erstens werden qualitative Verfahren angewendet zur Gewinnung der Daten (zum Beispiel narrative Interviews), dann werden die qualitativen Daten transformiert in quantitative Daten und mit den üblichen statistischen Methoden ausgewertet.
Zweitens gibt es besondere Auswertungsverfahren, die auf die qualitativen Daten angewendet werden können. Zu diesen Verfahren zählen viele ‚nichtparametrische’ Tests und spezielle Weiterentwicklungen wie zum Beispiel die Kontingenzanalyse.
2.2. Unter qualitativer Sozialforschung versteht man die explorative Voruntersuchung zur Generierung von Hypothesen
Hier wird die qualitative Forschung nicht als eigenständige Methode angesehen, sondern nur für eine Vorbereitungsphase im Forschungsporzeß eingesetzt. Sie soll hier Neues und Unerwartetes aufzeigen, das dann im eigentlichen Prozeß wissenschaftlich untersucht wird. Daher werden hier auch nicht wie sonst üblich die hohen Ansprüche hinsichtlich der Gütekriterien gestellt.
2.3. Mit qualitativer Sozialforschung meint man das sinnverstehende Vorgehen
Hier werden individuelle Bedeutungszuschreibungen, situative Kontexte und gesellschaftliche Rahmenbedingungen mit einbezogen in den Forschungsprozeß und durch kommunikatives Handeln zugänglich gemacht. Man kann die qualitative Forschung verstehen als eine Alternative zur traditionellen Forschung, als eine Abgrenzung der Sozialwissenschaften vom naturwissenschaftlichen Modell.
3. Welche Unterschiede bestehen zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung?
Die beiden verschiedenen Methodologien unterscheiden sich vor allem in folgenden Punkten:
- Daten:Qualitative Daten sind weit weniger abstrakt, da meist Texte oder Bilder verwendet werden.
- Forschungsstrategie:In der qualitativen Sozialforschung wird eine zirkuläre Strategie angewendet, dagegen arbeitet die quantitative Forschung mit lineraren Strategien. In der qualitativen Forschung sollen Zusammenhänge aufgedeckt werden, aus denen man Hypothesen bilden kann, in der quantitativen Forschung werden vorgegebene Hypothesen überprüft.
- Fragestellung:Fragen in der qualitativen Forschung sind offen und eher breit gefächert, im Laufe der Untersuchung können sie auch verändert werden. Bei der quantitativen Forschung stehen die Fragen fest, sind eng gestellt, sie können während der Untersuchung nicht verändert werden.
- Umfang des Vorwissens:Das Vorwissen über den zu untersuchenden Gegenstand ist in der qualtitativen Forschung eher gering, dagegen setzt die quantitative Forschung ein umfangreiches Wissen voraus.
4. Drei Arten qualitativer Methodologie
Man kann drei Arten qualitativer Forschung unterscheiden: auf das forschendeSubjekt, auf den zu erforschendenGegenstand, oder auf die historischeEntwicklung.
4.1. Beispiele für subjekt – bezogene Methodologie
Diesen Methoden ist eigen, dass der Forscher interpretative Arbeit leistet.
- Hermeneutik:Sie ist eine interpretative Methode und das älteste Verfahren der Textanalyse. F. Schleiermacher nennt sie die philosophische Kunst der Interpretation. Hermeneutik im engeren Sinne bezieht sich auf Texte und Sprache. In allen hermeneutischen Verfahren steht die Fähigkeit des forschenden Subjektes die ‚Welt’ zu interpretieren im Vordergrund.
- Phänomenologische Psychologie:Nach Brentano ist Psychologie die
„Wissenschaft von den psychischen Erscheinungen“ (1874). Diese können sowohl in uns selbst sein, als auch um uns herum, im Äußeren. Daher kann man die psychologischen Methoden zweiteilen in
1. die direkte innere Wahrnehmung und
2. das Studium von Biografien, Kunstwerken usw.
- Phänomenologische Soziologie:Zentrales Thema ist hier das Verstehen des Alltagslebens; man hinterfragt die als ‚selbstverständlich’ angesehenen Annahmen des Alltagslebens. Auch hier besteht das Problem der Intersubjektivität.
4.2. Beispiele für gegenstandsbezogene Methodologie
Hier wird weniger interpretiert, es wird mehr beobachtet, erkundet und kritisch hinterfragt.
- Psychoanalyse:Ein Name, der fallen muß ist Sigmund Freud. Er hat Patienten dazu aufgefordert, alles frei zu erzählen, was ihnen in den Sinn kommt, auch wenn es unsinnig erscheint oder peinlich ist. Kennzeichen der Methode sind ein enorme Fülle vollkommen unzensierter Daten. Sind
Beobachtungen und Gespräche gut dokumentiert, eignen sich die Daten allerdings auch zu einer Analyse.
- Ethnologie:Als grundlegende Methode sind langfristige und nach Möglichkeit wiederholte Aufenthalte am Ort der Untersuchung notwendig. Der Forscher sollte versuchen sich in die fremde Kultur zu integrieren, dabei soll er fortwährend beobachten. Ziel dabei ist es, das Verhältnis der Bewohner zu ihrer eigenen Welt zu erfassen. Daran lässt sich schon erkennen, dass fast ausschließlich qualitativ gearbeitet wird.
- Symbolischer Interaktionismus:Strukturen sozialer Beziehungen sollen erforscht werden. Hauptsächlich werden als Methoden Beobachtung und Befragung angewendet.
4.3. Beispiel für entwicklungsbezogene Forschungsmethoden
Man untersucht die Entwicklung und Veränderung von Individuen, Gruppen und von der Gesellschaft. Entwicklungsbezogene Methodologien versuchen die Subjekt- und Objektorientierungen miteinander zu verbinden.
- Dialektische Sozialforschung:Dialektik ist die Lehre von der Veränderung der Gesellschaft und des Geistes. Solche Methodologien sind bisher allerdings weitgehend unerschlossen.
5. Das Forschungsdesign
Der Untersuchungsplan beinhaltet Untersuchungsziel und –ablauf. Gleichzeitig sind in ihm Regeln enthalten, die die Kommunikation zwischen Forscher und Probend festlegen. Man kann fünf Verfahren unterscheiden:
5.1. Einzelfallanalyse
Sie ist der Mittelpunkt der qualitativen Forschung, da der Mensch als Individuum hier die Forschungsgrundlage bildet. Als Individuum soll aber in diesem Fall nicht nur eine einzelne Person verstanden werden, sondern auch ganze Einheiten, so zum Beispiel Gruppen, Kulturen oder Vereine. Die Materialien, die man bei der Einzelfallanalyse erhält, können zum Beispiel Lebensläufe oder ganze Biografien sein. Der ganze Lebensbereich eines Idividuums bzw. einer solchen ‚Einheit’ soll näher betrachtet werden. Ziel der Einzelfallanalyse ist es, einen besseren Einblick in das Zusammenwirken multipler Faktoren zu bekommen, man möchte Handlungsmuster wissenschaftlich rekonstruieren auf der Grundlage von realen Handlungen.
5.2. Dokumentenanalyse
Man verwendet diese Methode eher selten, zu finden ist sie beispielsweise in den Geschichtswissenschaften, wo ein direkter Zugang durch Befragung nicht mehr möglich ist, da es sich um historische Ereignisse handelt. Gleichzeitig kann sie auch zur Vorbereitung anderer Methoden dienen. Ausgehend von einer Fragestellung benutzt man dann jeglich auffindbares Material, das zur Beantwortung dieser Frage dienen kann. Der Vorteil hierbei ist, dass die notwendigen Materialien bereits vorliegen, man muß also nicht erst Daten erheben.
5.3. Deskriptive Feldforschung
Man möchte die zu beobachtenden Personen möglichst frei und unbefangen in ihrer natürlichen Umgebung belassen und ihr Verhalten und ihre Äußerungen festhalten. Das bedeutet, der Forscher muß sich an den Ort der Untersuchung begeben und die teilnehmende Beobachtung durchführen. Vorteil ist, dass die Ergebnisse nicht durch das Einsetzen der Versuchsinstrumente verzerrt werden. Allerdings ergibt sich das Problem, dass der Forscher sich in die bestehende Gemeinschaft - zum Beispiel einer fremden Kultur - integrieren muß, er muß Kontakt zu den Personen knüpfen. Es hängt dann von seinen Fähigkeiten ab, ob es ihm gelingt das Vertrauen seiner ‚Probanden’ zu gewinnen. Außerdem erhält er einen Fundus völlig unzensierter Materialien. Somit wird es recht schwierig, diese tatsächlich auszuwerten.
5.4. Handlungs – Aktionsforschung
Diese Methode ist nicht ganz einfach durchzuführen. Es sollen neue Vorgehensweisen durch die Mischung von Informationssammlung, Diskurs und Umsetzung erarbeitet werden ( etwa die Erarbeitung neuer Strukturmodelle für Unternehmen). Sie ähnelt somit der quantitativen Umfragetechnik, allerdings wird hier noch ein Diskurs zugefügt; außerdem kann man auch gezielte Erhebung an kleineren Gruppen durchführen.
5.5. Qualitatives Experiment
Im Gegensatz zum quantitativen Experiment beschäftigt es sich nicht mit vorgefertigten Thesen, sondern mit der Erforschung der Systematik von Strukturen und deren Wandel. Die Bedingungen sollen dabei möglichst naturbelassen sein, ähnlich der deskriptiven Feldforschung.
6. Die Erhebungsverfahren
Wie Daten erhoben werden können, ist im Großen und Ganzen bereits durch die Wahl eines Untersuchungsplans festgelegt.
Man unterscheidet drei verschiedene Kategorien:
6.1. Teilnehmende Beobachtung
Der aufmerksamen Beobachtung misst man innerhalb der qualitativen Forschung große Bedeutung zu. Man kann mit dieser Technik die größtmögliche Nähe zum untersuchten Gegenstad erreichen.Wichtig sind die natürliche Belassenheit der Situation und das möglichst wenig dominierende Auftreten des Beobachtenden. Nur so kann man realitätsnah beobachten.
Gegenstand der Beobachtung können sowohl Alltagssituationen sein, als auch Gruppendiskussionen und Interviews. Dabei ist die Mitwirkung des Beobachters nicht untersagt.
Man unterscheidet folgende Formen von Beobachtungen:
- Naive versus wissenschaftliche Beobachtung
- Strukturierte und unstrukturierte Beobachtung
- Offene und verdeckte Beobachtung
- Teilnehmende und nichtteilnehmende Beobachtung
- Aktiv und passiv teilnehmender Beobachter
- Direkte und indirekte Beobachtung
- Feld- und Laborbeobachtung
6.2. Gruppendiskussion
Dabei soll die Gruppenhaltung und das ‚Funktionieren’ einer Gruppe erkundet werden. Dazu beobachtet man die Gruppe bei der Diskussion einer Thematik. Dabei kann der Beobachter mitwirken, allerdings sollte er sich eher im Hintergrund halten, um die Dynamik der Gruppe nicht zu behindern. Ein Vorteil ist vor allem der ökonomische Aufwand des Verfahrens. Allerdings ist es recht schwierig, Protokolle anzufertigen (wenn zum Beispiel mehrere Personen gleichzeitig reden). Es könnte auch sein, dass sich jemand nicht zu Wort meldet, weil er eine andere Meinung hat als andere und er sich fürchtet diese frei zu äußern. Außerdem besteht die Gefahr, dass vom für den Forscher relevanten Thema abgewichen wird. Dann muß der Diskussionsleiter eingreifen, was eigentlich vermieden werden sollte, um die Gruppendynamik nicht zu stören.
6.3. Interviewverfahren
Sie können sowohl in der Gruppe als auch mit einzelnen Personen durchgeführt werden. Im Unterschied zur Gruppendiskussion werden hier die Aussagen zum Thema / zur Frage festgehalten, die Gruppendynamik ist nicht so wichtig. Es gibt verschiedene Interviewtypen:
- Struktur - oder Dilemma – Interviews
- Klinische Interviews
- Biografische Interviews
- Problemzentrierte Interviews
- Fokussierte Interviews
- Narrative Interviews
- Diskursive Interviews
7. Die verschiedenen Analyse – Verfahren
Im Folgenden sollen hier einige Verfahren angesprochen werden, die häufig verwendet werden.
7.1. Qualitative Inhaltsanalyse
Das Ziel von Inhaltsanalysen besteht darin, das Material aus Kommunikationen zu bearbeiten. Wichtig dabei ist, dass das Kommunikationsmaterial in irgendeiner Form festgehalten wurde (schriftlich, plastisch, usw.). Dabei wird bei der Analyse nicht nur auf den Inhalt der verbalen Äußerungen geachtet, sondern auch auf den darin enthaltenen Sinn. Man kann drei Arten von qualitativer Inhaltsanalyse unterscheiden:
- Zusammenfassende Inhaltsanalyse:Man versucht, das Material so zu kürzen, dass die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben. Solche Analysen bieten sich vor allem dann an, wenn man nur am Inhalt der Äußerungen interessiert ist und man sich einen überschaubaren Kurztext schaffen will.
- Explizierende Inhaltsanalyse:Hier wird nicht gekürzt, sondern sogar erweitert. Zu einzelnen unklaren Textpassagen (Begriffe, Sätze...) soll zusätzlich Material gefunden werden, damit man die Textstellen verständlicher machen kann.
- Strukturierende Inhaltsanalyse:Man möchte nur bestimmte Aspekte in Augenschein nehmen und filtert die benötigten Angaben aus dem Gesamtmaterial heraus.
Der größte Vorteil der qualitativen Inhaltsanalyse liegt in ihrer Systematik, das heißt, in ihrer Regelhaftigkeit und dem schrittweisen Vorgehen, das durch bestimmte Techniken bereits vorher festgelegt wurde.
Nach Mayring (1988) sieht der Ablauf einer allgemeinen Inhaltsanalyse so aus:
Stufe 1: Festlegung des Materials:Es soll genau definiert werden, welches Material der Analyse zugrunde liegen soll. Nicht alle Interviewprotokolle werden ausgewertet, sondern nur die Ausschnitte, die sich auf den Gegenstand der Forschungsfrage beziehen.
Stufe 2: Analyse der Entstehungssituation:Es werden Informationen über den Entstehungzusammenhang des Interviewprotokolls gesammelt. Dazu gehört beispielsweise eine Liste der beim Interview anwesenden Personen.
Stufe 3: Formale Charakterisierung des Materials:In welcher Form liegt das Material vor (schriftlich, als Bandaufzeichnung)?
Stufe 4: Richtung der Analyse:Man kann die Analyse zum Beispiel sowohl auf den im Protokoll widergegebenen Inhalt richten, als auch auf die emotionale Befindlichkeit des Probanden. Es ist also zu entscheiden, was man eigentlich analysieren will.
Stufe 5: Theoriegeleitete Differenzierung der Fragestellung:Die Fragestellung der Analyse muß im Voraus genau geklärt sein.
Stufe 6: Bestimmung der Analysetechnik:Welches Verfahren wendet man an? Zusammenfassende, explizierende oder strukturierende
Inhaltsanalyse?
Stufe 7: Definition der Analyseeinheit:Entsprechend dem ausgewählten Verfahren werden die Teile des Materials bestimmt, die analysiert werden sollen. Außerdem wird festgelegt, wie ein Textstück beschaffen sein muß, damit es ein Teil des zu analysierenden Materials werden kann.
Stufe 8: Analyse des Materials:Die Analyse des Materials hängt vom gewählten Verfahren ab. Entweder Zusammenfassung, Explikation oder Strukturierung.
Stufe 9: Die Interpretation: Die Ergebnisse aus der Inhaltsanalyse sollen in Richtung der Hauptfragestellung interpretiert werden, so, dass man die individuellen Einzelfälle fallübergreifend generalisieren kann.
7.2. Konversationsanalyse
Diese Analyse – Methode beschäftigt sich vorrangig mit ‚natürlichen’ Texten. Damit gemeint sind Transskriptionen von Tonband- und Videoaufzeichungen. Sie stellt die Frage, welche Verfahren ein Kommunikationspartner anwendet, um zum Beispiel die Äußerungen des Handlungspartners zu interpretieren. Sie beschäftigt sich also mit den Prinzipien der sozialen Organisation sprachlicher und nichtsprachlicher Handlungen. Man versucht die sozialen Prozesse in ihrer inneren Logik und Dynamik erkennbar und beschreibbar zu machen.
Dies bedeutet, dass man sich nicht nur mit der Äußerung an sich beschäftigt, sondern auch die Motive, die dahinter stecken könnten, hinterfragt.
Dem Forscher bleibt dabei keine andere Wahl, als von seiner Kompetenz als ‚Gesellschaftsmitglied’ Gebrauch zu machen.
7.3. Objektive Hermeneutik
7.3.1. Einleitender Gedanke
Dieses Konzept geht im wesentlichen auf die Arbeiten von Ulrich Oevermann zurück. Ursprünglich wurde es im Rahmen familientherapeutischer und sozialisationssoziologischer Untersuchungen entwickelt (Oevermann et al. 1979).
Die objektive Hermeneutik soll dazu dienen, objektive Bedeutungsstrukturen (welchen Sinn hat eine Handlung?) von Texten zu rekonstruieren.
Diese Strukturen sind allerdings - laut Oevermann - keine Rekonstruktion, sondern eine Realität, „unabhängig davon, ob sie von den an der Interaktion beteiligten Subjekten intentional realisiert wurde oder nicht“ (Oevermann et al. 1983, S. 98, hier aus Lamnek 1989, S. 214).
Untersucht werden sollen die in der Gesellschaft vorhandenen, üblichen Deutungsmöglichkeiten einer Interaktion. Hat man verschiedene Deutungsmöglichkeiten herausgearbeitet, filtert man die heraus, die am wahrscheinlichsten erscheint.
Die Suche nach objektiven Bedeutungsstrukturen darf nicht ein einzelner Forscher vornhemen. Wichtig ist, dass sich mehrere Wissenschaftler gegenseitig kontrollieren und inspirieren.
Dabei ist es günstig, wenn sich die Forscher nicht kompromissbereit auf etwas einigen, sondern geradzu ‚streitsüchtig’ gemeinsam einen Text analysieren.
Dadurch kann man möglichst verschiedene Deutungsmöglichkeiten ansammeln.
Generell betreibt die objektive Hermeneutik nur Einzelfallanalysen. Die Gültigkeit der Analyse hängt vor allem von der richtigen Anwendung der hermeneutischen ‚Kunstlehre’ ab.
Vom Einzelfall zur allgemeinen Aussage gelangt die objektive Hermeneutik mittels des Falsifikationsprinzips: Während der Textanalyse wird rekonstruiert, welche Struktur im untersuchten Text aufzufinden ist. Findet sich bei der Analyse des Textes eine Stelle, die der zuvor explizierten Strukturbeschreibung widerspricht, gilt die Hypothese als falsifiziert. Findet sich kein gegenteiliger Textbeleg, wird sie als gültig angesehen, zumindest bis auf weiteres.
7.3.2. Verschiedene Varianten der objektiven Hermeneutik
In der Literatur finden sich bisher fünf verschiedene Varianten einen Text zu analysieren:
- Die summarische Interpretation:Analyse des Textes unter Heranziehen eines breiten Kontextwissens. Dieses Verfahren wird kaum noch angewendet.
- Die Feinanalyse:Der Text wird auf acht unterschiedlichen Ebenen analysiert (siehe weiter unten). Sie wird innerhalb der qualitativen Sozialforschung am meisten angewendet.
- Die Sequenzanalyse:Jeder einzelne Interaktionsbeitrag wird ohne Kenntis des Kontextes analysiert.
- Die ausführliche Interpretation der objektiven Sozialdaten aller an der Interaktion Beteiligten:Diese Analyse erfolgt bereits, bevor man den Text überhaupt zur Hand genommen hat.
- Die Adaptation:Hier erfolgt eine Adaptation der Begrifflichkeit der objektiven Hermeneutik. Hinter diesen Begriffsübernahmen verbergen sich verschiedene Auslegungsprozeduren.
7.3.3. Die Feinanalyse nach Oevermann
Die Feinanalyse stellt das eigentliche inhaltsanalytische Vorgehen im Rahmen einer objektiven Hermeneutik dar. Die verschrifteten Interaktionsprotokolle werden interpretiert.
In der ersten Phase wird nicht die tatsächliche Deutung einer Handlungsfigur rekonstruiert, sondern die wahrscheinlichste Bedeutungsmöglichkeit. Die erste Phase umfasst die Ebenen null bis sechs.
Im zweiten Teil werden Aussagen über allgemeine familiensoziologische Zusammenhänge getroffen. Sie stellen die Ebene sieben dar (in manchen Veröffentlichungen ist auch eine achte Ebene zu finden).
Voraussetzung für die Feinanalyse ist, dass die Interaktion, die untersucht werden soll, als schriftliches Protokoll aller kommunikativen Akte aller beteiligten Personen vorliegt. Sie wird auf jede einzelne Textstelle angewendet.
Die Feinanalyse:
Ebene 0:Explikation des einem Interakt unmittelbar vorausgehenden Kontextes: Der Interaktionskontext wird aus der Sicht der Interagierenden analysiert.
Ebene 1: Paraphrase der Bedeutung eines Interakts gemäß dem Wortlaut der begleitenden Verbalisierung: Der objektive Bedeutungsgehalt des Interaktionsteils wird dargelegt und nicht der möglicherweise abweichende subjektive Bedeutungsinhalt.
Ebene 2: Explikation der Intention des interagierenden Subjekts: Nachdem die Ausgangslage genauer untersucht wurde, werden nun „extensiv und bewusst auch spekulativ Vermutungen über die Bedeutung und die Funktion des Interakts aufgestellt, die das interagierende Subjekt ‚bewußt’ durchsetzen, realisieren und hervorrufen wollte“ (Oevermann et al. 1983, S.114f, in: Lamnek 1989, S.217).
Ebene 3:Explikation der objektiven Motive des Interakts und seiner objektiven Konsequenzen: „ Die Interpretationen auf dieser Ebene gehen von der Überzeugung aus, dass verbalisierte Interakte (aber nur diese) objektiv gleichsam Träger von möglichen Sinnstrukturen oder Sinntextstrukturen darstellen und insofern als soziale Strukturen abgelöst
von der aktuellen Intention des Sprechers Sinn konstruieren, soziale Realität setzen“ (Oevermann et al. 1983; S.115, in: Lamnek 1989, S. 217). Außerem werden eine Reihe zusätzlicher Informationen an die zu interpretierende Textstelle herangetragen, zum Beispiel Erkenntnisse aus anderen Textstellen. Diese Zusatzinformationen verwendet der Interpret, um die objektiven Motive herauszustellen.
Ebene 4:Explikation der Funktion des Interakts in der Verteilung von Interaktionsrollen: Nun wird untersucht, in welche Richtung sich die weitere Interaktion entwickeln kann. Diese Ebene wird von Oevermann für weniger wichtig gehalten.
Ebene 5:Charakterisierung sprachlicher Merkmale des Interakts: Syntaktische, semantische und pragmatische Besonderheiten werden festgehalten.
Ebene 6:Exploration des Interpretationsaktes auf durchgängige Kommunikationsfiguren: Die Ergebnisse des untersuchten Interakts werden mit den Befunden der Feinanalyse anderer Interakte verglichen. Dieser Vorgang kann den Forscher im Idealfall „zur Rekonstruktion einer sogenannten Kommunikationsfigur führen“ (Oevermann et al. 1983, S.118, in: Lamnek 1989,S. 219), die durchgängig in allen Interakten zu finden ist.
Ebene 7:Explikation allgemeiner Zusammenhänge: Auf der vorausgegangenen Ebene versuchte der Forscher eine kommunikative Figur herauszuarbeiten. Nun wird die gefundene Figur gleichzeitig mit anderen Figuren in Kontrast gestellt und verallgemeinert. Diesem Verallgemeinerungsvorgang nennt man Typisierung oder Musterbildung.
( Ebene 8:Unabhängige Prüfung der auf der Vorebene formulierten, allgemeinen Hypothesen anhand von Interaktionsfolgen aus weiteren Fällen.)
7.3.4. Aktualität und Kritik an der objektiven Hermeneutik
Das Verfahren der objektiven Hermeneutik gilt zur Zeit als eines der verbreitetsten innerhalb der deutschen qualitativen Sozialforschung, und das, obwohl es keine ‚Schule’ der objektiven Hermeneutik gibt.
Man verwendet dieses Verfahren auf fast alle Arten von Daten und in vielen Gegenstandsbereichen.
Allerdings sind die Ansätze der objektiven Hermeneutik im europäischen Ausland noch weitgehend unbekannt (laut dem„Handbuch der qualitativen Sozialforschung“von 1991). Allein in (damals noch West-) Deutschland gab es größere Auseinandersetzungen mit dem Konzept von Oevermann (zum Beispiel Matthes-Nagel, 1982; Wagner, 1984).
Die Kritik, die gegen die objektive Hermeneutik ausgesprochen wird, begründet sich hauptsächlich auf der Tatsache, dass die Interpretation von Texten nicht vollkommen operationalisiert werden kann. Entweder lernt man es vom Begründer Oevermann oder man erlernt die Fähigkeit erst nach jahrelanger Übung mit geeignetem Datenmaterial. Dadurch erlangt Oevermann eine Art Monopol – Stellung: er kann Analysen anderer Wissenschaftler als objektiv – hermeneutisch ausgeben - oder eben nicht.
Darüber hinaus sei das Verfahren (vor allem der Feinanalyse) viel zu zeitaufwendig, also nicht ökonomisch.
Ein weiteres Argument richtet sich gegen die These Oevermanns, die Welt sei vollständig zu ‚vertexten’. Nur ein sehr kleiner Teil der Lebenswelt sei durch Texte ‚einzufangen’, so die Zweifler.
8. Wertung und Kritik
Insgesamt sind die qualitativen Forschungsmethoden durchaus als positiv zu bewerten. Allein der Versuch, die Sozialwissenschaften von den Naturwissenschaften zu distanzieren ist schon lobenswert.
Man kann nicht alles in Zahlen ausdrücken, so wie es in der quantitativen Forschung üblich ist. Gerade in den Sozialwissenschaften sollte man dies vermeiden. Bei vielen Fragestellungen ist es auch nicht möglich, etwas in Zahlen zu messen, also Daten zu erheben, die quantitativ analysiert werden können. Untersucht man zum Beispiel einen erst entdeckten Stamm von Ureinwohnern in den Regenwäldern Südamerikas, wie soll man dann Daten ‚messen’? Methoden wie die teilnehmende Beobachtung sind hier wesentlich effektiver.
Außerdem sind die quantitativen Methoden oft auch sehr ‚weltfremd’. Damit soll gemeint sein, dass die Untersuchungen einer bestimmten Fragestellung oft auch im Labor durchgeführt werden. Die Probanden werden nicht im ‚Feld’, in ihrer natürlichen Umgebung untersucht, wie es die qualitativ orientierten Forscher bevorzugen. Dabei besteht dann auch der Vorteil der qualitativen Sozialforschung, dass sich der Proband weniger als eine Art ‚Versuchstier’ vorkommt.
Geht man von der Textanalyse aus, zum Beispiel die Analyse von protokollierten Interviews, dann bestehen hier natürlich auch etliche Probleme.
So stellt sich zunächst einmal die Frage nach der Objektivität der Forschung, vor allem der Objektivität des Forschenden. Inwiefern kann der Wissenschaftler subjektiv auf das Ergebnis einwirken?
Gerade bei der Textanalyse muß der Forscher auf seine eigenen Ressourcen zurückgreifen. Dieses Problem versuchte man dadurch zu beseitigen, dass sich mehrere Wissenschaftler mit der Analyse beschäftigen und dann ‚streitartig’ ihre Ergebnisse diskutieren.
Geht man dabei von der Beobachtung aus, stellt sich auch hier die Frage nach der Objektivität des Forschenden. Hilfreich wäre es vielleicht, mehrere Beobachter einzusetzen, die sich gegenseitig überprüfen.
Andererseits könnte man anführen, dass gerade in einigen Bereichen der Sozialwissenschaften ein gewissens Maß an Subjektivität des Wissenschaftlers erwünscht ist. So ist es zum Beispiel in der Sonderpädagogik bei Untersuchungen mit Kindern wichtig, dass sich der Forscher in seine Probanden einfühlen kann.
Was tun, wenn die Daten aus einem Interview gar nicht der Wahrheit entsprechen? Wie kann sich der Wissenschaftler sicher sein, dass seine Probanden ehrlich waren?
Mit dem Prinzip der Triangulation will man diese Schwachstelle beseitigen: Informationen und Daten werden erst dann als wahr betrachtet, wenn sie von mindestens einer anderen Quelle bestätigt wurden.
Ein weiteres Problem liegt in der Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Oftmals liegt nur ein Einzelfall vor, und von diesem kann man nicht auf Strukturen in der ganzen Gesellschaft schließen. Daher finden die qualitativen Methoden wenig Anerkennung innerhalb der Forschung.
Allerdings gibt es auch viele Forschungen qualitativer Art, deren primäres Ziel nicht eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist, sondern eine Lösung, eine Antwort auf die Fragestellung für einen einzelnen Fall.
Abschließend lässt sich sagen, dass sich die Sozialwissenschaften langsam aber sicher mehr und mehr zu den qualitativen Methoden wenden. Dies kann man vor allem an den zunehmenden Veranstaltungen zum Thema ‚Qualitative Sozialforschung’ sowohl in Universitäten als auch auf Fachtagungen erkennen. Aber man sollte nicht Partei ergreifen für die eine oder die andere Methode, wichtig ist zu erkennen, dass sich die quantitative und qualitative Sozialforschung sinnvoll ergänzen können und auch müssen.
Literatur:
Flick, Uwe et al.:Handbuch Qualitative Sozialforschung, Psychologie Verlags Union, München 1991
Heinze, Thomas:Qualitative Sozialforschung – Erfahrungen, Probleme und Perspektiven, Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1995
Lamnek, Siegfried:Qualitative Sozialforschung,Band 1:Methodologie,Weinheim 1988; Band 2:Methoden und Techniken, Psychologie Verlags Union, München 1989
Witt, Harald:Welche Forschung ist normal oder wie normal ist qualitative Sozialforschung?, Universität Hamburg, 16.08.2000
http://www.rrz.uni-hamburg.de/psych-1/witt/ringvorlesung%2096/rvtxt4.html
- Arbeit zitieren
- Daniela Schwan (Autor:in), 2000, Qualitative Sozialforschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99302
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