Im folgenden Essay werde ich mich mit der Landtagswahl in Thüringen im Oktober 2019, ihren Ergebnissen und politischen Folgen für das Land widmen. Zunächst soll eine kurze Einführung geschehen, die die Ausgangslage für das Land beschreibt. Darauf folgend werde ich mich auf die sich
nun im Amt befindliche Rot-Rot-Grüne Minderheitsregierung fokussieren und ihren Handlungsspielraum im thüringischen Parlament thematisieren. Hierfür werde ich auf die gängigen Methoden
der Forschung zu Parteien zurückgreifen. Hierzu zählt allen voran das räumliche Verortungsmodell,
welches sich aus den Zahlen der wordscore-Positionen der im Parlament vertretenen Parteien ergibt.
Abschließend folgt eine Betrachtung der vorgebrachten Anhaltspunkte, die dazu führen wird, eine
Spekulation über den Erfolg der Rot-Rot-Grünen Minderheitsregierung in Thüringen aufzustellen.
Essay - Eine Spekulation über den Handlungsspielraum der ersten rot-rot-grünen Minderheitsregierung
Im folgenden Essay werde ich mich mit der Landtagswahl in Thüringen im Oktober 2019, ihren Ergebnissen und politischen Folgen für das Land widmen. Zunächst soll eine kurze Einführung geschehen, die die Ausgangslage für das Land beschreibt. Darauf folgend werde ich mich auf die sich nun im Amt befindliche Rot-Rot-Grüne Minderheitsregierung fokussieren und ihren Handlungsspielraum im thüringischen Parlament thematisieren. Hierfür werde ich auf die gängigen Methoden der Forschung zu Parteien zurückgreifen. Hierzu zählt allen voran das räumliche Verortungsmodell, welches sich aus den Zahlen der wordscore-Positionen der im Parlament vertretenen Parteien ergibt. Abschließend folgt eine Betrachtung der vorgebrachten Anhaltspunkte, die dazu führen wird, eine Spekulation über den Erfolg der Rot-Rot-Grünen Minderheitsregierung in Thüringen aufzustellen. Beginnen wir nun mit den Rahmenbedingungen. 2014 löste Bodo Ramelow von den Linken Christine Lambrecht von der CDU als Ministerpräsidentin ab. Dies geschah, indem die SPD den Koalitionspartner CDU verließ und sich den Linken anschloss. Mit den sechs weiteren Abgeordneten der Grünen wurde so erstmals eine Rot-Rot-Grüne Landesregierung unter einem linken Ministerpräsidenten geschaffen.
Diese Landesregierung verlor im Oktober 2019 aufgrund von massiven Stimmverlusten der SPD und der Grünen ihre absolute Mehrheit. Die Besonderheit bei der Wahl in Thüringen ist allerdings, dass nicht wie in anderen ostdeutschen Bundesländern eine Mehrheit aus SPD, CDU und Grünen geformt werden konnte, nein nicht einmal für eine „Simbabwe-Koalition“ aus SPD, CDU, Grünen und FDP gibt es eine absolute Mehrheit im Parlament. Eine Mehrheitskoalition war also nur unter Beteiligung der Linken oder der AfD möglich. Problematisch hierbei ist, dass die drittgrößte Fraktion - die CDU - Kooperation mit beiden Parteien kategorisch ablehnte und auch die FDP nicht dazu bereit war, Rot-Rot-Grün zu unterstützen.
Somit stand das Land nun vor einer Patt-Situation. Eine Schwarz-blau-gelbe (im Folgenden Bahamas) Koalition schien nicht möglich, da keiner mit der AfD kooperieren wollte, aber auch mit den Linken wollte keiner außer SPD und Grüne regieren.
So kam es am 4. Februar 2020 zur Abstimmung über den Ministerpräsidenten Thüringens. Thüringens Verfassung weist dabei die Besonderheit auf, dass der Ministerpräsident im Dritten Wahlgang nur noch von einer relativen Mehrheit gewählt werden muss. So war davon auszugehen, dass weder Bodo Ramelow, noch Christoph Kindervater - der von der AfD aufgestellt worden war - in den ersten beiden Wahlgängen eine absolute Mehrheit auf sich vereinen können und im Dritten Wahlgang Ramelow mit 41 von 90 Stimmen zum Ministerpräsidenten ernannt wird.
Bekanntlich kam es anders. Thomas Kemmerich von der kleinsten Fraktion des Landtages - der FDP - ließ sich aufstellen, um einen „bürgerlichen“ Kandidaten für den Ministerpräsidentenposten aufzustellen. Die AfD vergab im folgenden Dritten Wahlgang ihre Stimmen an Kemmerich, der ebenso von CDU und FDP gewählt wurde, weswegen dieser die Wahl gewann, was von sämtlichen Politikern als „Dammbruch“ bezeichnet wurde.
Nun haben wir den Salat. Thomas Kemmerich von der FDP, die bis zur allerletzten Sekunde um den Einzug in den Landtag fürchten musste, ist Ministerpräsident, gewählt durch die viel verschmähte AfD um den völkischen Rechtsradikalen Bernd Hocke. Um nun den Absprung zu schaffen: Kurz nachdem in der ganzen Republik Unruhe herrschte, Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Rücktritt als CDU-Chefm verkündete und Christian Lindner von der FDP ein Misstrauensvotum über sich ergehen lassen musste, legte Kemmerich sein Amt wieder nieder und einen Monat später wurde Bodo Ramelow doch noch Ministerpräsident Thüringens.
Nun möchte ich nach all diesen Ereignissen auf die Handlungsfähigkeit der nun regierenden RotRot-Grünen Minderheitsregierung zu sprechen kommen und eventuelle Alternativen anbieten. Hierfür zeige ich den Wordscore der sechs im Parlament vertretenen Parteien und werde anhand der Position im zweidimensionalen Koordinatensystem aufzeigen, welche Parteien für eine Zusammenarbeit prädestiniert sind, wer die Medianpartei ist und welche Möglichkeiten sich für die Rot-RotGrüne Minderheitsregierung beziehungsweise andere Zusammensetzungen anbieten.
Abbildung aus Gründen des Urheberrechts entfernt
Zu sehen ist, dass sich mehr oder weniger zwei Blöcke von Parteien herauskristallisieren. So stehen sich Linke, Grüne und SPD was Wirtschaftspolitik sowie Gesellschaftspolitik anbelangt sehr nahe. Auch CDU und AfD stehen sich was Politikinhalte angeht sehr nahe. Einzig die FDP scheint ambivalent zu sein, zwischen den zwei sich gegenüberstehenden Blöcken zu wählen. Die FDP könnte ihre favorisierte Gesellschaftspolitik mit Rot-Rot-Grün verfolgen, ihre Wirtschaftspolitik aber mit Blau-Schwarz. Somit kann die FDP, obwohl sie lediglich über 5 von 90 Sitzen im Parlament verfügt, das Zünglein an der Waage sein.
Diese Position befähigt eigentlich gerade die FDP, eine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten zu stellen. Jedoch wirkt es gerade in Deutschland zunächst einmal befremdlich, sollte die kleinste Fraktion des Parlaments die Regierung stellen, denn in Deutschland gilt ja stets, dass die meist gewählte Partei den Regierungsauftrag habe.
Nun aber stellt die Linke die Minderheitsregierung zusammen mit den Grünen und der SPD. Da die FDP dieser Koalition gesellschaftspolitisch sehr nahe steht, sollten die Chancen für Rot-Rot-Grün gut stehen, ihre Gesellschaftspolitik durchzusetzen. Keine Chance haben dürften sie dagegen, wenn sie wirtschaftspolitische Maßnahmen verabschieden wollen.
Das Fazit hierzu lautet also rein modellhaft erklärt: Rot-Rot-Grün kann seine Gesellschaftspolitik wie gehabt weiterverfolgen, in der Wirtschaftspolitik müssen sie wohl entweder starke Zugeständnisse an die CDU machen oder Abstimmungsniederlagen gegen sich ertragen.
Doch das ist nur die Modellerklärung anhand des Wordscores. Wie sehen nun die reellen Bedingungen im Thüringer Landtag aus?
Eine Mehrheitskoalition aus Rot-Rot-Grün + FDP scheint ausgeschlossen, schon alleine wegen der großen Differenz in der Wirtschaftspolitik. Noch dazu kommen andere Politikbereiche, die im Diagramm nicht abgebildet sind. So sind sich Grüne und FDP in der Umweltpolitik nicht eins und die SPD würde nur sehr ungern ihr Wirtschaftsministerium an die FDP abtreten. Viel gravierender aber ist, dass die FDP mit dem Ziel zur Wahl antrat, Rot-Rot-Grün abzusetzen (Debes 2019). Allein diese Ansage zu Beginn des Wahlkampfes macht es für die FDP unmöglich, mit Rot-Rot-Grün zu paktieren, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit behalten wollen. Noch dazu wird die Linkspartei vor allem in Ostdeutschland immer wieder gerne als ehemalige SED bezeichnet, womit wiederum begründet wird, keine Zusammenarbeit mit ihr zu pflegen (CDU 2018).
Doch was spricht nun doch für die linksgeführte Rot-Rot-Grüne Minderheitsregierung in Thüringen? Wichtig ist, dass auch die Opposition zerstritten ist beziehungsweise nicht miteinander arbeiten möchte. Genauso wie die CDU nämlich eine Zusammenarbeit mit den Linken ausschließt, so schließt sie auch eine Zusammenarbeit mit der AfD aus. Auch der FDP Vorsitzende Christian Lindner äußerte sich ähnlich. Im Bundestag sagte er: „Mit einer Partei wie der AfD kann es keine Zusammenarbeit geben“ (zitiert nach Zeit Online 2020).
Folgen beide Parteien ihren Versprechungen, so kann es im Thüringer Landtag auch keine wechselnden Mehrheiten geben, es bedarf also einer Tolerierung der Minderheitsregierung. Diese Minderheitsregierung könnte auch von CDU und FDP mit Tolerierung durch die AfD funktionieren, doch auch dagegen wehrt man sich in beiden Parteien. Die Linken wiederum wollen sich nach ihrem fulminanten Wahlerfolg mit 31 % der Stimmen nicht mit der Rolle als Königsmacher für CDU und FDP zufrieden geben.
Noch pikanter wird die ganze Sache, wenn man nicht bloß darauf schaut, wer mit wem nicht Zusammenarbeiten möchte, sondern auch darauf, was vor der endgültigen Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten Thüringens geschah.
Wie in der Einleitung beschrieben, wurde zunächst nicht Bodo Ramelow von den Linken zum Ministerpräsidenten gewählt, sondern Thomas Kemmerich von der FDP und das sogar mit der absoluten Mehrheit der Stimmen, da die AfD entschied, all ihre Stimmen dem FDP Kandidaten statt dem eigenen zu geben. Dieser Coup veranlasste Linkenchefin Susanne Henning-Wellsow dazu, dem neu gewählten Ministerpräsident Thomas Kemmerich den obligatorischen Blumenstrauß vor die Füße zu werfen, was deutlich macht, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen Rot-Rot-Grün und der FDP seit diesem Moment sein muss, vor allem da immer wieder angenommen wurde, es habe sich hierbei um ein abgekartetes Spiel gehandelt (Zeit Online 2020).
Noch dazu hinterließ Kemmerich immer wieder ein seltsames Bild seiner politischen Ansichten. So marschierte er Anfang Mai 2020 auf einer Corona-Demonstration Seite an Seite mit AfDlern, Verschwörungsideologen und Antisemiten, missachtete das Abstandsgebot und trug keine Schutzmaske. Zudem wurde er als einzig legitimer Ministerpräsident Thüringens angekündigt (Locke 2020). Was sagt dies nun über die Handlungsfähigkeit der Rot-Rot-Grünen Minderheitsregierung aus? Für sie spricht, dass die Opposition gespalten zu sein scheint, obwohl sie nach dem Wordscore ähnliche, vor allem wirtschaftspolitische, Ziele verfolgen. Betrachtet man beispielsweise die Rot-Grüne Minderheitsregierung in NRW von 2010-2012, kann es für die Minderheitsregierung nützlich sein, wenn die Opposition sich uneins ist und keine gemeinsame Politik gegen die Minderheitsregierung machen kann (Ganghoff et. Al 2012). Hierbei ist allerdings zu beachten, dass FDP und CDU keine Fundamentalopposition stellen wollten (ebd.: 887), während vor allem FDP und AfD aber auch in Teilen die CDU keine Zusammenarbeit mit der rot-rot-grünen Regierung eingehen wollten (Debes 2019).
Schließlich war es die CDU, die sich dazu entschied, mit der Minderheitsregierung eine „Stabilitätsvereinbarung“ zu entwickeln. Diese besagt, dass die CDU die Regierung in ihrer Politik vorerst toleriert. Im Gegenzug wurden Neuwahlen für den April 2021 beschlossen (Debes 2020). Kurz darauf kam es dann zur weltweiten Coronavirus-Pandemie, die auch Thüringen nicht verschonte. Während FDP und AfD in Thüringen ein sofortiges Ende der Maßnahmen forderten, stellte sich die CDU hinter die vergleichsweise lockeren Maßnahmen der rot-rot-grünen Minderheitsregierung, einerseits wegen der Stabilitätsvereinbarung, andererseits wohl auch, weil ihre Partei die Bundeskanzlerin stellt. Erschwerend kommt hinzu, dass die SPD ihre eigene Koalition bereits beim Landesflüchtlingsprogramm auflaufen ließ (ebd.).
[...]
- Arbeit zitieren
- Alexander Engel (Autor:in), 2020, Handlungsspielraum der rot-rot-grünen Minderheitsregierung in Thüringen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/992633
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.