Den Ausgangspunkt der Forschungsarbeit bildet die terminologische Klärung zentraler Begrifflichkeiten. In vorliegender Untersuchung bilden das Ratingsystem und die institutionelle Reform die wesentlichen Forschungsobjekte. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun, das Ratingsystem hinsichtlich theoretischer und struktureller Aspekte kritisch zu evaluieren um ein konzeptionelles Umdenken zu einer institutionell-ökonomischen Reform des Systems zu begründen. Im Zuge dessen wird eine primär makroökonomische Perspektive eingenommen. Die Ergebnisse werden auf Basis theoretischer aber auch empirischer Anhaltspunkte entwickelt.
Zur Erreichung dieses Forschungsziels wird in drei Schritten vorgegangen. Das erste Kapitel beleuchtet die Entwicklung des Ratingmarktes hin zu dessen gegenwärtiger Verfassung. Zu Beginn werden die zentralen geschichtlichen Ereignisse des Ratingsystems in Form einer Chronik skizziert. Darauf aufbauend wird der Verlauf der Finanzkrise 2007/2009 als die Kehrseite des Aufstieges rekonstruiert, um die Verantwortlichkeit der Agenturen kritisch zu hinterfragen. Der letzte Abschnitt des Kapitels widmet sich hingegen den aktuellen Marktdynamiken innerhalb des Ratingwesens, welche eine erste Notwendigkeit der Umstrukturierung zugrunde legen. Im zweiten Schritt wird sich, in eine vermehrt produktorientierte Betrachtung begeben, um die Kreditwürdigkeitsprüfung als eigenes System zu umreißen. Im Zuge dessen ist die theoretische Grundlage der Ratingintermediation zu erörtern und deren Funktionalität anhand einer ausgewählten Studie empirisch zu untersuchen. Der darauffolgende Abschnitt befasst sich mit den verschiedenen Ausprägungen und Komponenten der Bonitätsbeurteilung. Kapitel zwei und drei entwickelt somit die theoretische und empirische Bestandsaufnahme des Erkenntnisobjektes der Forschungsarbeit.
Auf Basis dessen gilt es die Politikoptionen kritisch zu hinterfragen und zur Diskussion zu stellen. In diesem Zusammenhang schließt die Arbeit bei den US- und EU-Ratingreformen, in Folge der im Vorfeld dargelegten Finanzkrise an. Die Analyse empirischer Daten dient dabei folgend als Grundlage, für eine kritische Würdigung des Status quo der Regulierungspolitik des Ratingsystems. Abschließend wird ein theoretisches Konstrukt in Form eines Gedankenexperimentes präsentiert, welches in der institutionell-ökonomischen Reform des Ratingsystems gipfelt.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Problemstellung
2. Rating als zentrales Instrument des Finanzmarktes
2.1 Historische Entwicklung des Ratingsystems
2.2 Komplikationen, Krisen, Konsequenzen – Exemplarische Darstellung der globalen Finanzkrise 2007-2009 als Ratingkrise
2.3 Moderner Ratingmarkt und das Oligopol der Big Three
3. Theoretische Grundlage & ökonomische Funktion des Ratings
3.1 Theorie der Rating-Intermediation
3.1.1 Ökonomische Funktion des Ratings
3.1.2 Empirische Fundierung des Intermediationseffektes
3.2 Rating-Dekomposition
3.2.1 Formen
3.2.2 Kriterien
3.2.3 Skalen
3.2.4 Aussagekraft
3.2.5 Risikoprämien unter Betrachtung des europäischen Anleihenmarkts
3.3 Systemische Interessensproblematik
3.3.1 Interessenkollision als Folge eines verzerrten Anreizsystems
3.3.2 Reputationsmechanismus als Ansatz der Selbstregulation
3.4 Relevanz des Ratings – Ein Zwischenfazit
4. Reformperspektiven des Ratingsystems
4.1 Rating-Reformen in Folge der Weltfinanzkrise
4.1.1 Grundzüge der Regulierungstheorie
4.1.2 Reformmaßnahmen der USA
4.1.3 Reformmaßnahmen der EU
4.1.4 Maßnahmen auf supranationaler Ebene – Ein Blick auf Basel III
4.2 Kritische Würdigung des Konkurrenz-Ansatzes
4.3 Institutionell-ökonomische Reform – Ein theoretisches Konstrukt
4.3.1 Deprivatisierung
4.3.2 Supranationale Monopolisierung
5. Fazit & Schlussfolgerung
Literaturverzeichnis
Anhang..
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Die Geschichte des Ratingsystems - Chronologischer Überblick
Abbildung 2: Komprimierte Übersicht von strukturierten Finanzprodukten
Abbildung 3: Exemplarische Darstellung einer CDO-Strukturierung
Abbildung 4: Zusammenhänge innerhalb der globalen Finanzkrise
Abbildung 5: Prozentuale Marktanteile der EU-Registrierten Ratingagenturen –
Abbildung 6: Merkmale des NRSRO-Ratingmarktes
Abbildung 7: Informationsintermediation der Ratingagenturen
Abbildung 8: Informationsgewinne durch Ratingintermediation
Abbildung 9: Systematisierung der Ratingformen anhand ausgewählter Kriterien
Abbildung 10: Systematisierung der Corporate-Ratingkriterien anhand ausgewählter Kataloge
Abbildung 11: Ratingskalen und ihre Bedeutung
Abbildung 12: Credit Spreads ausgewählter EU-Corporate und Sovereign Bonds
Abbildung 13: Makro- und mikroprudenzielle Konzeption der Regulierung
Abbildung 14: Mikro- / makroprudenzielles System der europäischen Finanzmarktaufsicht
Abbildung 15: Marktanteilswerte der ECAIs im Vergleich (2013 - 2019)
Abbildung 16: Vergleich der Unternehmensratings in niedrigem und hohem Wettbewerbszenario
Abbildung 17: Organisation des Ratinggutes im Vergleich
Abbildung 18: Schemata der institutionell-ökonomischen Reform
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Prozentuale Marktanteile der NRSRO-Ratingagenturen im Vergleich 2011 - 2018
Tabelle 2: Prozentuale Marktanteilsdifferenz von S&P und Moody's im Zeitraum 2012-2017
Tabelle 3: Einnahmen der Big Three auf dem NRSRO-Ratingmarkt
1. Problemstellung
"Wenn wir die Banken-, Finanz- und Staatsschuldenkrise mit dem Instrumentarium untersuchen, das uns Schumpeter, Olson, Acemoglu und Robinson an die Hand geben, dann ergibt sich so etwas wie ein Anfangsverdacht. Er lautet: Auf den Finanzmärkten und in ihrem rechtlichen und politischen Umfeld sind zulasten der Nationen und zum Nutzen einer kleinen Oligarchie extraktive Institutionen aufgebaut worden.“1 postuliert der ehemalige Bundespräsident Prof. Horst Köhler im Januar 2013 in seiner Rede über den Kapitalismus als kreative Zerstörung. In Folge der konsekutiven wirtschaftlichen Krisen seit Beginn der 2000er Jahre haben sich die Struktur sowie das Machtgefüge des globalen Finanzmarktes zunehmend als Gegenstände politischer und ökonomischer Debatten herausgebildet. Elementarer Bestandteil jenes oben genannten oligarchischen Systems sind die sog. Ratingagenturen, deren Bedeutung und Einflussnahme auf das Wirtschaftsgeschehen vornehmlich im Verlauf der Finanzkrise 2007/2009 einer breiteren Öffentlichkeit zuteilwurde. Die Aufarbeitung der Krisendynamiken identifiziert die Ratingagenturen als die wesentlichen Treiber2 und schreibt ihnen eine maßgebliche Mitverantwortlichkeit an den ökonomischen Kosten und gesellschaftlichen Schäden der Krisen zu. Die Präsenz der Agenturen scheint davon jedoch weitestgehend unbeeinflusst geblieben zu sein.
Um zu erklären was den Institutionen des Ratings, als Prüfer der Kreditwürdigkeit, eine solche ökonomische Macht und scheinbare Unantastbarkeit zuschreibt, ist eine Vergegenwärtigung des fortschreitenden Finanzkapitalismus3 unumgänglich. Die Beurteilung der Bonität besitzt innerhalb des heutigen, kreditbasierten Wirtschaftssystems4 eine fundamentale Bedeutung. Die Nutzung des Kapitalmarktes, bildet mit zunehmender Manifestation der Fremdfinanzierung als Hauptfinanzierungsquelle, eine unerlässliche Grundlage für den Erfolg aber auch das Bestehen von Staaten und Unternehmungen. Ratings bestimmen in diesem System unter anderem darüber, ob und in welcher Höhe Kredite gewährt werden, welche Zinsen und Risikoprämien Unternehmungen oder ganze Staaten zu zahlen und zu tragen haben. So definieren die Agenturen nicht nur die zu erwartende Rendite, sondern auch, welche Institution das Ziel produktiver oder sogar substanzieller Investitionen sein kann oder nicht. Sie determinieren die Akzeptanz des Marktes und richten unmittelbar über die Würdigkeit und Kredibilität von diversen Objekten.5 Eine Leistung, die insbesondere auf staatlicher Ebene, man bedenke hier die zunehmende Staatsfinanzierung durch Verschuldung, ein großes Interesse aber auch Konflikte weckt. Das Rating ist dabei nicht nur ein erwerbbares Wirtschaftsgut, es ist gleichermaßen ein Instrument. Die Agenturen, wenngleich selbst gewinnorientierte Institutionen, gewähren oder verweigern bspw. Unternehmen den Zugang zum Kapitalmarkt und ebnen oder entziehen ihnen damit eine unerlässliche Grundlage ihres Erfolges.6 Ratingagenturen erweisen sich dementsprechend nicht nur als Unternehmung, sie fungieren auch selbst als regulatorische Instanzen. In Anbetracht dieser vielseitigen Verwendung scheinen tagtägliche Finanzmarkttransaktionen oder ganzheitlich betrachtet, eine effiziente Ökonomie, ohne die Arbeit der Agenturen heute nahezu undenkbar.
Neben jener ökonomischen Funktionalität und Relevanz ist das System des Ratings mit einem gleichermaßen großen Risikopotenzial behaftet. Liegt die Entscheidungsgewalt der obigen Szenarien in den Händen einer kleinen Anzahl von Institutionen, so akkumuliert dies eine enorme Macht und Kontrolle. Mit diesem Zuwachs gewinnt deren Handhabe und Regulierung demnach gleichsam an Bedeutung. Letzteres spiegelt die gegenwärtige Marktsituation allerdings nicht wieder. So besitzen die als Big Three titulierten, großen drei amerikanischen Agenturen Standard & Poor’s (S&P), Moody’s und Fitch einen kumulativen Marktanteil von ca. 93% (Stand 2019) des Ratingmarktes.7 Auch innerhalb eines äußerst liberalen Wirtschaftssystems bildet eine solche Marktstruktur ein deutliches Signal für die Obliegenheit verstärkter Staatseingriffe oder gar Restrukturierungsmaßnahmen. Die Laissez-faire Haltung der amerikanischen Regulatoren scheint diese jedoch fast schon systematisch zu verneinen. Dabei ist jenes Marktverhältnis in der nun mehr als 100 Jahre währenden Geschichte des Ratingsystems kein modernes Phänomen. Bereits seit 40 Jahren sind die Schaffung von Konkurrenz und damit die Verteilung von Macht, innerhalb des dominierenden US-Ratingmarkts durch staatliche Implikationen nahezu ausgeschlossen.
Infolgedessen scheint das Ratingsystem durch eine wesentliche Ambivalenz von ökonomischem Nutzen und politischen sowie gesellschaftlichen Gefahren gekennzeichnet zu sein. Spätestens mit dem Anbeginn der Krisenwellen sollte jedem die Tätigkeit der Agenturen bewusst, dem Machtverhältnis des Systems hingegen kritisch zu entgegnen sein. Wie u.a. die anfängliche Zitation nachweist, ist der Politik die problematische Situation durchaus bewusst, allerdings hat die Wahl der Reformansätze nicht zur Lösung der systemischen Problematik geführt. Das Ratingsystem verlangt im Zuge seines Risikopotenzials, eine konstitutive Reform deren Konzeption in vorliegender Arbeit, in dessen Grundzügen geschaffen werden soll.
Den Ausgangspunkt der Forschungsarbeit bildet die terminologische Klärung zentraler Begrifflichkeiten. In vorliegender Untersuchung bilden das Ratingsystem als auch die institutionelle Reform die wesentlichen Forschungsobjekte.
Zunächst bedarf es einer Konkretisierung des Institutionsbegriffes, welcher innerhalb der gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen Literatur keiner einheitlichen Definition unterliegt. Grundlegend wird hierunter ein einschränkendes aber auch berechtigendes in-/formelles Regel- bzw. Handlungssystem verstanden, welches in Form von Gesetzen, Instrumenten oder auch Einrichtungen, das Handeln der Akteure beeinflusst und steuert.8 Im vorliegenden Kontext hingegen findet der Institutionsbegriff in seiner etymologischen Bedeutung, synonym zum Begriff der Einrichtung, Verwendung. Jene Einrichtung sei durch eine ausgebaute organisationale Struktur sowie einer spezifischen Funktion charakterisiert. Dabei schließt der Begriff der Einrichtung einzelne Instanzen wie Unternehmungen als auch ganzheitliche Märkte mit ein. Vor diesem Hintergrund sei die Definition einer institutionellen Reform in vorliegender Arbeit wie folgt gegeben:
Eine institutionelle Reform bezeichnet sowohl die zweckmäßige und zielgerichtete Umgestaltung betreffender ökonomischer Einrichtungen, als auch gesamtheitlicher Marktstrukturen im produktiven oder regulativen Segment.
Unterdessen besitzt der Begriff des Ratingsystems innerhalb der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur eine verstärkt betriebswirtschaftliche Fundierung. Die vorliegende Arbeit verwendet einen eigenen mesoperspektivischen Definitionsansatz, welcher anhand des Bezugsobjektes in einen institutionsorientierten sowie produktorientierten Ansatz untergliedert werden kann.
Der produktorientierte Ansatz fußt auf dem Begriff des Ratings als spezifisches Wirtschaftsgut. Das Rating bezeichnet im Allgemeinen sowohl den Prozess, als auch das Ergebnis einer Beurteilung von Objekten hinsichtlich ihrer Kreditwürdigkeit (Bonität)9. Diese Ratingobjekte werden durch Staaten, Unternehmen, Kommunen oder auch Emissionen von Finanzprodukten und Schuldverschreibungen repräsentiert.10 Innerhalb des Ratingverfahrens erfolgt die Analyse ausgewählter historischer und zukünftig zu erwartender Daten und Informationen der zu bewertenden Einheit. Die Prüfung soll eine Einschätzung über die zukünftige wirtschaftliche Fähigkeit aber auch Bereitschaft der Ratingobjekte zur vertragsmäßigen Rückzahlung ermöglichen11. Im letzten Schritt werden die Ratingergebnisse in Form von Symbolen (sog. Ratingnoten bzw. Codes) in eine Ratingstufe kategorisiert und anschließend auf dem Finanzmarkt veröffentlicht.12 Jene ordinal angeordneten Ratingskalen ermöglichen den Ratingadressaten die Kenntnis über die Ausfallwahrscheinlichkeiten der Zahlungen ihrer potenziellen Transaktionspartner. Der produktorientierte Ansatz behandelt demnach vermehrt agenturinterne, prozessuale Aspekte des Ratings wie bspw. die Bewertungsmethodik oder spezifische Up- und Downgradings von Emissionen.
Den Ausgangspunkt der institutionsorientierten Definition bilden indes die Entscheidungen und das Handlungsumfeld der Ratingagenturen (Credit Rating Agencies (CRAs)) als Marktakteure. Ratingagenturen sind privatwirtschaftlich organisierte, gewinnorientierte Unternehmungen,13 deren geschäftsmäßige Tätigkeit in der Erstellung von Kreditwürdigkeitsprüfungen liegt. Demnach werden die Agenturen für eine Auskunft über die Bonität eines Objektes i.w.S. bzw. anderer Marktteilnehmer oder auch einzelner Emissionen i.e.S. beauftragt. Im finanzialisierten Wirtschaftssystem stellen die Bonität respektive das Bonitätsrisiko, die wohl ausschlagebensten Entscheidungsfaktoren der Marktakteure, in der Abwicklung kreditbasierter Transaktionen dar. Die Arbeit der Agenturen bestimmt somit unter anderem darüber, ob und inwiefern bspw. Staaten oder Kreditinstitute Kredite gewähren / gewährt werden oder Investitionen tätigen. In diesem Zusammenhang soll jener Ansatz eine übergeordnete Betrachtung bieten, welche die Ratingagenturen in die Verflechtungen des Marktes einbettet.
Jener duale Erklärungsansatz veranschaulicht die Vielschichtigkeit des Ratingsystems, definiert im Zuge dessen jedoch auch seine wichtigsten Bestandteile von Rating und Ratingagentur. Die Anwendung einer subsumierenden, verstärkt institutionsorientierte (mesoperspektivische) Definition, erweist sich hier zweckmäßig und sei nachstehend festgelegt:
Das Ratingsystem umfasst die Gesamtheit der institutionellen Komponenten des Ratingmarktes. Es begreift das Ratingwesen als Komplex von anreizkompatiblen Ratingagenturen, deren strukturelles Marktumfeld und Regulierung, sowie übergreifender Korrelationen.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun, das Ratingsystem hinsichtlich theoretischer und struktureller Aspekte kritisch zu evaluieren um ein konzeptionelles Umdenken zu einer institutionell-ökonomischen Reform des Systems zu begründen. Im Zuge dessen wird eine primär makroökonomische Perspektive eingenommen. Die Ergebnisse werden auf Basis theoretischer aber auch empirischer Anhaltspunkte entwickelt.
Zur Erreichung dieses Forschungsziels wird in drei Schritten vorgegangen. Das erste Kapitel beleuchtet die Entwicklung des Ratingmarktes hin zu dessen gegenwärtiger Verfassung. Zu Beginn werden die zentralen geschichtlichen Ereignisse des Ratingsystems in Form einer Chronik skizziert. Diese gewährleistet ein Verständnis für die historischen und politischen Gegebenheiten, auf welchen die aktuelle Relevanz und Einflussnahme der Ratingagenturen fußt. Darauf aufbauend wird der Verlauf der Finanzkrise 2007/2009 als die Kehrseite des Aufstieges rekonstruiert, um die Verantwortlichkeit der Agenturen kritisch zu hinterfragen. Der letzte Abschnitt des Kapitels widmet sich hingegen den aktuellen Marktdynamiken innerhalb des Ratingwesens, welche eine erste Notwendigkeit der Umstrukturierung zu Grunde legen. Im zweiten Schritt wird sich, in eine vermehrt produktorientierte Betrachtung begeben, um die Kreditwürdigkeitsprüfung als eigenes System zu umreißen. Im Zuge dessen ist die theoretische Grundlage der Ratingintermediation zu erörtern und deren Funktionalität anhand einer ausgewählten Studie empirisch zu untersuchen. Der darauffolgende Abschnitt befasst sich mit den verschiedenen Ausprägungen und Komponenten der Bonitätsbeurteilung. Mit diesem Bezug zur Ratingpraxis ist die Voraussetzung für einen Exkurs in die Thematik der Risikoprämien geschaffen. Diese wird anhand des EU-Anleihenmarktes verdeutlicht und in die Systematik des Ratings eingebettet. Kapitel zwei und drei entwickelt somit die theoretische und empirische Bestandsaufnahme des Erkenntnisobjektes der Forschungsarbeit. Auf Basis dessen gilt es die Politikoptionen kritisch zu hinterfragen und zur Diskussion zu stellen. In diesem Zusammenhang schließt die Arbeit bei den US- und EU-Ratingreformen, in Folge der im Vorfeld dargelegten Finanzkrise an. Außerdem wird ein kollektiver, internationaler Reformansatz beleuchtet. In jenes Kapitel fließen Ergebnisse meiner Seminararbeit „Bankenregulierung: Theorie & Realisation in Form der europäischen Bankenunion“ mit ein, die 2018 an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Wuppertal vorgelegt wurde. Die Analyse empirischer Daten dient dabei folgend als Grundlage, für eine kritische Würdigung des Status quo der Regulierungspolitik des Ratingsystems. Abschließend wird ein theoretisches Konstrukt in Form eines Gedankenexperimentes präsentiert, welches in der institutionell-ökonomischen Reform des Ratingsystems gipfelt.
Vorweg ist anzumerken, dass die Forschungsarbeit, einen übergreifenden Fokus auf den dominanten US-Ratingmarkt aufweist, sodass weitere Märkte lediglich als Teilaspekte aufgefasst werden. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Ratingmethodik in Form von mathematisch-statistischen Modellen, im Folgenden nicht vorgesehen ist. Diese fallen zum einen häufig unter das Betriebsgeheimnis der Agenturen, zum anderen würde diese Spezifik dem institutionsorientierten Betrachtungsschwerpunkt der Arbeit, im Umfang zuwiderlaufen.
2. Rating als zentrales Instrument des Finanzmarktes
Bevor eine tiefere Auseinandersetzung mit der ökonomischen Funktions- und Arbeitsweise des Ratingsystems erfolgen kann, sind zunächst die historischen Gegebenheiten zu erörtern, welche die Entstehung und Entwicklung des Ratings hin zu seiner heutigen Relevanz ermöglicht und gefördert haben. Den Anfang bildet ein prägnanter chronologischer Rückblick auf die bedeutendsten historisch-ökonomischen Ereignisse in der Entstehungsgeschichte des Ratingsystems, beginnend mit dem nordamerikanischen Eisenbahnbau im frühen 19. Jahrhundert, über die Weltwirtschaftskrise 1929 und der Einführung des NRSRO-Status, bis hin zu den Regulierungsentwicklungen der frühen 2000er Jahre.14 Der anschließende Exkurs in die Weltfinanzkrise 2007-2009 gewährleistet ein tieferes Verständnis vom Einfluss der Ratingagenturen auf das internationale Wirtschaftsgeschehen, sowie deren Bedeutung im Kontext der Finanzmarktstabilität. Darauf aufbauend erfolgt die strukturanalytische Betrachtung des modernen Ratingoligopols als Resultat jener Ereignisse.
2.1 Historische Entwicklung des Ratingsystems
Im Jahre 1841 gründet der Amerikaner Lewis Tappan die Mercantile Agency als sog. Credit Reporting Agency (z. Dt. Kreditauskunftei) in New York City. Ziel dieser Unternehmung ist die Reportage, d.h. Berichtserstattung15, über die wirtschaftliche Situation amerikanischer Unternehmen, zur Schaffung einer Entscheidungsgrundlage für Waren- bzw. Handelskredite. Bis zu diesem Zeitpunkt treffen sich potenzielle Vertragspartner in aufwendig organisierten Regionalverbänden zusammen und tauschen unternehmensrelevante Daten untereinander aus.16 Die durch Kreditauskunfteien erfolgende Akkumulation und geschäftsmäßige Verbreitung betriebswirtschaftlicher Kennzahlen, überwindet diese zeitlichen und lokalen Differenzen und schafft eine effizientere Möglichkeit der adäquaten Informationszuteilung. Es etabliert sich eine frühe deskriptive Form der Rating-Intermeditation. Die Arbeit der Credit Reporting Agencies folgt unterdessen in keinem einheitlichen Modell, sie trägt jedoch bereits in einem erheblichen Umfang zur zielgerichteten Bestimmung und Standardisierung der Bonitätskriterien bei17.
Als die treibenden Faktoren in der Entstehungsgeschichte des Ratingsystems, gelten der Aufbau und die territoriale Expansion des US-amerikanischen Eisenbahnnetzwerkes in Mitte des 18. Jahrhunderts, deren Realisierung durch eine hohe Kapitalbindung gekennzeichnet ist.
Im Zuge einer erforderlichen Kapitalakquisition emittieren die Eisenbahngesellschaften sog. Unternehmensanleihen als festverzinsliche Wertpapiere. Der Prozess von Angebot und Nachfrage nach langfristig bereitgestellten Krediten formt den US-Corporate Bond Market, als den bis heute international dominierenden Anleihenmarkt18. Die steigende Nachfrage nach sog. Eisenbahnanleihen, veranlasst John Moody im Jahre 1909 zur Erstellung des ersten strukturierten Ratings von Eisenbahnanleihen nach heutigen Kriterien. Aus den anfänglichen Kreditauskunfteien entwickeln sich unter Verwendung spezifischer Methoden und einheitlicher Bonitätskriterien, fortan systematisch arbeitende Agenturen19.
Die 1929 eintretende Weltwirtschaftskrise, gekennzeichnet durch massiven Rückgang globaler Finanzströme und diverser Bankenkrisen, ist für die Entwicklung des Ratingsystems von zentraler Bedeutung. Zum einen lässt die große Zahl der krisenbedingten Zahlungsausfälle das Vertrauen der Investoren in das Finanzsystem schwinden. Die steigende Risikoaversion bedingt eine hohe Nachfrage des Ratings als Informationsquelle der Investoren, was die Agenturen an Relevanz gewinnen lässt. Zum anderen resultiert aus ihr der erste Akt der staatlichen Finanzmarktregulierung. Hier dekretiert die US-Bankenaufsicht (Securities and Exchange Commission (SEC)) eine an nationale Banken adressierte Vorschrift, ausschließlich mit anlagewürdiger Bonität ausgestattete Wertpapiere zu handeln.20 Infolgedessen sind Institute zur Durchführung eines Ratings verpflichtet, um eine erfolgreiche Kapitalmarkttransaktion zu realisieren. Das Rating wird demnach per Gesetz, als Notwendigkeit des US-amerikanischen Kapitalmarktes implementiert. Dies ebnet den Einzug des Bonitätsurteils, in die betriebliche Praxis der kapitalmarktorientierten Unternehmen.21 Die Ratingagenturen profitieren demnach, unabhängig der Perspektive, an den Konsequenzen der Wirtschaftskrise.22
Die anbrechende Expansion des Ratingsystems im Jahr 1970 ist durch die Gegebenheit drei zentraler Faktoren begründet. Den ersten Aspekt bildet Moody’s Restrukturierung des Bezahlsystems von einem Investor-Pays, hin zu einem Issuer-Pays-Modell. Bis zu diesem Zeitpunkt zahlen Investoren in ihrem Interesse für die Durchführung eines Ratings, nun aber treten die Emittenten d.h. die Verkäufer der Wertpapiere, wie bspw. Investmentbanken und Börsenunternehmen selbst, an diese Stelle.23 Mit dem Issuer-Pays-Modell entsteht ein problematisches Anreizsystem, welches folgend erläutert werden soll. Innerhalb eines Rating-Vertrages handeln beide Vertragsparteien, Emittent wie auch Ratingagentur nach dem Kalkül der Nutzen- respektive Gewinnmaximierung. Im Zuge dessen erwartet der Emittent die optimale Bewertung des Ratingobjektes, als Kompensation der Auftragszahlung. Ein suboptimales Rating wäre ökonomisch ineffizient und schließt die Gefahr eines überbewerteten Ratings aus Gefälligkeit dementsprechend nicht aus. Das entstehende Risiko systematischer Kulanzratings ruft bis heute, begründete Vertrauensdefizite auf den Finanzmärkten hervor.
Mit dem Zerfall des Bretton-Woods-Systems24 und dem damit verbundenen Abbau fixer Wechselkurssysteme im Jahr 1973 erhält das Rating Einzug in diverse Wirtschaftssektoren. Rating-induzierte Kapitalströme und die Globalisierung des Finanzsystems etablieren das Rating fortan zu einem Standard auf großer staatlicher, sowie auf kleiner kommunaler Ebene.25
Der dritte und wohl bedeutendste Faktor in der Entwicklung des Ratingsystems hin zu dessen heutigen Persistenz, stellt der sog. NRSRO-Titel dar (siehe Abb.1). Mitte der 1970er Jahre erhebt die Securities and Exchange Commission, die drei ihrer Zeit einflussreichsten Ratingagenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch zu Nationally Recognized Statistical Rating Organizations (NRSRO). Dies hat zur Folge, dass ausschließlich die Beurteilungen jener, als Big Three bezeichneten Agenturen, als Entscheidungsgrundlage regulatorischer Maßnahmen Verwendung finden. Die Einführung des Status, als eine Form der implizierten Priorisierung, schafft zwangsläufig eine Markteintrittsbarriere für potenzielle Konkurrenten und führt erste oligopolistische Strukturen innerhalb des Ratingmarktes ein. Hiß und Nagel bezeichnen diesen Vorgang als Manifestation [des Oligopols] durch Regulierung.26
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Die Geschichte des Ratingsystems - Chronologischer Überblick
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Pleßner und Blaschke (2019), S.5f.
Zu dieser Zeit entsteht in Europa eine zentrale Instanz der internationalen Regulierung, der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht. Dieser setzt sich aus den Bankenaufsichtsbehörden und Zentralbanken der führenden Industrienationen (G10) zusammen und widmet sich der Harmonisierung der Bankenaufsicht zur Verhinderung zukünftiger Bankenkrisen und der Reduktion von Regulierungsarbitragen. Die durch das Gremium erarbeiteten Ansätze bilden anfänglich lediglich Empfehlungen, welche nur durch die Genehmigung des nationalen Rechtes der involvierten Staaten, die Rechtsverbindlichkeit erlangen. Im Jahr 1988 wird der sog. Basler Akkord (Basel I) veröffentlicht, welcher einen Regulierungsansatz auf Basis vereinheitlichter Eigenkapitalanforderungen der Banken bildet.27 Eine Wahl des Eigenkapitals als Parameter der Regulierung, ist mit dessen Informationsgehalt über die Solvabilität des Kreditinstitutes begründet. Im Zuge der Empfehlung sollen die Banken eine Mindesteigenkapitalquote von 8% auf ihre risikogewichteten Aktiva aufweisen. Das sich aus dem Kern- und ergänzenden Kapital zusammensetzende haftende Eigenkapital dient der Bank als Reserve in Verlustsituationen und eignet sich daher als Stabilitätsindikator der Aufsicht. Die Schwäche des ersten Akkordes wird durch die Pauschalität der Bonitätsquantifizierung der Kreditnehmer ersichtlich. So hat das Kreditinstitut die gleiche EK-Quote unabhängig des Adressaten aufzuweisen, d.h. 8% Eigenmittelunterlage bei Kreditvergabe an ein finanziell stark, sowie schwach aufgestelltes Unternehmen28. Der Mindesteigenkapital-Ansatz bleibt über die Folgevereinbarung Basel II29 (Veröffentlichung 2004) weiterhin bestehen. Im Unterscheid zum ersten Akkord werden nun die Eigenkapitalbeträge an das Adressatenrisiko angeglichen.30 Dieses Prinzip der sog. Kapitaladäquanz induziert eine Bonitätsprüfung für die vergebenen Kredite, gehandelten Anleihen oder diversen Wertpapieren der Kreditinstitute, durch ein internes oder externes Rating. Aufgrund des Tatbestandes eines Regulierungszweckes (s.o.), können für zweites ausschließlich die drei großen Agenturen herangezogen werden. Jenes Basel II-Regime erhebt die Big Three Urteile zum Standard ratingbasierter Bankenregulierung.31
Die Regularien werden für Finanz- und Kreditinstitutionen der europäischen Union, mit Beginn des Jahres 2007, rechtlich verpflichtend. Die USA, wenngleich Initiator und Hauptbezugspunkt der Regularien, erwirkt eine zeitlich versetzte Umsetzung mit zusätzlich reduziertem Geltungsbereich auf sog. Kernbanken32. Eine inkonsequente Kapitaladäquanzlinie bei der Vergabe riskanter Subprime-Kredite, wird den Verlauf der Krise hinreichend beeinflussen.
Wie Abbildung 1 aufzeigt, ist die Entwicklung der Ratingagenturen um die Jahrtausendwende, durch Verflechtungen und Vorwürfe der Mitverantwortlichkeit in Bezug auf wirtschaftliche Krisen, sowie zunehmenden Regulierungsbemühungen gekennzeichnet.
Im Jahre 1997 führt ein rapides Downgrading der Ratingurteile und prozyklisches Verhalten zu einer Intensivierung der Asienkrise. Der wenige Jahre später folgende Enron-Skandal, als größte Insolvenz der US-Geschichte, rückt den Einfluss der Ratingagenturen ein weiteres Mal ins Zentrum der Kritik. Hier bewerteten S&P, Moody’s und Fitch den Energiekonzern Enron, noch kurz vor der offiziellen Insolvenz mit einer anlagewürdigen Bonität. Folglich werden entgegen des sicheren Konkurses, weitere Investitionen in das Unternehmen getätigt, um am vermeidlich sicheren Erfolg zu partizipieren. Trotz der sich ergebenden wirtschaftlichen Kosten ist es den Ratingagenturen möglich, sich weitestgehend von Haftungsansprüchen freizusprechen. Diese vereinfachte Exkulpation resultiert nicht unwesentlich aus der weit verbreiteten Auffassung, dass Ratingurteile lediglich eine Form der Meinungsäußerung darstellen. So ordnet die amerikanische Justiz das Rating in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit ein und konzediert den Agenturen ein weitreichendes Haftungsprivileg33. Dieses festigt nicht nur ihre Position im US-Wirtschafts- und Staatsapparat, sondern stellt zudem die juristische Anfechtbarkeit ihrer Arbeit grundlegend in Frage.
Die im Zuge der fortschreitenden Globalisierung des Finanzmarktes gegründete IOSCO (International Organization of Securities Commissions)34 veröffentlicht im Jahr 2004 einen Handlungsrahmen für Ratingagenturen in Form allgemeiner Grundsätze. Der aus diesen Prinzipien konstruierte IOSCO-Verhaltenskodex (Code of Conduct Fundamentals) soll unter anderem durch die Sicherstellung der Qualität von Ratinganalysen und der Wahrung der institutionellen Unabhängigkeit, als präventive Maßnahme gegen o.g. Fehlratings dienen. Es ist ein Konzept auf Grundlage der freiwilligen Selbstbindung, durch dessen fehlende rechtliche Verpflichtung ein faktischer Regulierungsakt jedoch ausbleibt.35
Die Entwicklungsgeschichte des Ratingsystems zeigt, dass das Rating mit der fortschreitenden Finanzialisierung der Wirtschaft, zu einem zentralen Instrument des Finanzmarktes forciert. Die Zunahme an Einfluss und Verantwortlichkeit der Ratingagenturen innerhalb globaler Wirtschaftsprozesse und die begleitenden Forderungen nach verstärkter Regulierung, werden im Zuge der Weltfinanzkrise 2007-2009 ihren bisherigen Höhepunkt erreichen.
2.2 Komplikationen, Krisen, Konsequenzen – Exemplarische Darstellung der globalen Finanzkrise 2007-2009 als Ratingkrise
Die Entstehung der globalen Finanzkrise ist nicht auf einzelne Faktoren, sondern vielmehr auf einen ganzen Ursachenkomplex zurückzuführen, welcher sich aus kurz-, mittel- und langfristigen Krisenkomponenten zusammensetzt. Folgend stehen die kurzfristigen ökonomischen Ursachen, als unmittelbare Krisenimpulse, im Zentrum der Betrachtung.
Den Ausgangspunkt der Weltfinanzkrise bilden zunehmend auftretende Komplikationen auf dem US-amerikanischen Subprime-Markt. Auf diesem erwerben Kreditnehmer mit geringer Bonität (sog. Subprime-Kreditnehmer) verbriefte, zweitklassige Hypothekendarlehen, meist zum Zwecke des Immobilienkaufs. Diese mit hoher Ausfallwahrscheinlichkeit behafteten Finanztitel, werden von einer Vielzahl von US-amerikanischen Kreditinstituten, sog. Originatoren (Verkäufern) bereitgestellt. Jenem qualitativ defizitären Marktsegment kommt im US-amerikanischen Raum eine enorme sozialpolitische Bedeutung zu. Es ermöglicht finanziell und strukturell schwächer positionierten Familien den Immobilienerwerb und leistet damit einen zentralen Beitrag zur sozialen Absicherung und Verwirklichung des American Dreams36.
Mit dem Beginn der 2000er Jahre betreibt die US-Zentralbank Fed (Federal Reserve System) eine längerfristige Niedrigzinspolitik zur Verhinderung einer konjunkturellen Rezession. Ein niedriges Zinsniveau belebt die nationale Wirtschaft und bildet einen spezifischen Anreiz für Immobilieninvestitionen, insbesondere als sog. Sparanlage. Die lukrative Erwerbslage steigert die Immobiliennachfrage und mit ihr die Nachfrage nach kostengünstigen Subprime-Hypothekenkrediten. Das Preisniveau der Immobilien steigt und mit ihr deren Rentabilität, es entwickelt sich eine anhaltende Hochkonjunktur auf dem US-Immobilienmarkt.37 Die Subprime-Kredite werden unterdessen uneingeschränkt gewährt, was grundlegend auf zwei Faktoren zurückzuführen ist. Zum einen bewirkt die oben genannte gesellschaftliche Funktion der sozialen Absicherung eine staatliche induzierte Lockerung der Kreditvergaberichtlinien. Auf der anderen Seite besteht die Annahme der Kreditinstitute, dass die Wertsteigerung bzw. Valorisierung der Immobilien als Sicherheit, selbst bei Zahlungsausfall der Schuldner, die Forderungskosten übersteigen und somit einen Gewinn generieren wird38. Entgegen aller optimistischen Erwartungen, bleibt das stochastisch hohe Adressatenrisiko ein Wagnis innerhalb der betrieblichen Prozesse, was eine strategische Risikoauslagerung bei den Originatoren einleitet. Eine kreditbasierte Immobilienblase entsteht.
Eine solche Auslagerung wird durch spezifischen Kreditrisikotransferinstrumente39 ermöglicht. Im vorliegenden Szenario handelt es sich dabei um die sog. Verbriefungstransaktion (I) (siehe Abb. 4, fortl.), auch Securitization genannt, welche mit einem Pooling beginnt. Pooling bezeichnet die Bündelung singulärer Vermögenswerte (in diesem Fall: Forderungen der Originatoren), zu einem komplexen strukturierten Finanzprodukt ((SFP), siehe Abb. 2).40
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Komprimierte Übersicht von strukturierten Finanzprodukten
Abbildung 2 : Komprimierte Übersicht von strukturierten Finanzprodukten
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Steinkamp (2015), S.355
Eine besondere Bedeutung kommt hierbei den sog. Collateralized Debt Obligations (CDOs) zu. Zweck einer CDO-Strukturierung ist die Transformation von nicht handelbaren Assets, in fungible Finanzprodukte41. Wie Abbildung 3 aufzeigt, erfolgt hierbei die Kombinierung von Kreditforderungen mit hohem sowie niedrigem Kreditscoring42 (Mit steigender Anzahl an Buchstaben und fortlaufenden Alphabet: sinkende Bonität)43 was die Intransparenz faktischer Einzelkreditrisiken ermöglicht und ein gesteigertes Bewertungs- sowie Handelspotenzial der neu geschaffenen Finanztitel gewährleistet. Die strukturierten Finanzprodukte dienen den Emittenten folgend als Refinanzierungsinstrument, dem Käufer hingegen als Anlageoption44.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Exemplarische Darstellung einer CDO-Strukturierung
Quelle: Eigene Darstellung
Nach Vollendung des Poolings werden die risikobehafteten SFPs an spezifische, meist temporäre Zweckgesellschaften (Special Purpose Vehicles (SPV)) verkauft. Mit der Weitergabe entfällt auch das haftende Kreditrisiko aus den Bilanzen der Originatoren45. Hier hätte bei adäquater Anwendung der Basel II Regularien, der einfache Risikotransfer unterbrochen werden können. Die notwenige Eigenkapitalhinterlegung hätte eine restriktivere Kreditpolitik der Originatoren bewirkt. Die strukturierten Finanzprodukte werden von den SPV‘s tranchiert, d.h. in unterschiedliche Risikoklassen eingeteilt und anschließend zum Zwecke einer Kapitalmarkttransmission von Ratingagenturen, mit einem individuellen Emissionsrating versehen. Die Ratingurteile ermöglichen den Originatoren somit eine Diversifikation auf potenzielle Risikoträger, wie international agierende Banken und Unternehmen sowie einzelnen strategischen Investoren (II).46
Folgend treten die Ratingagenturen ins Geschehen der sich anbahnenden Krise. Diese bewerten die strukturierten Finanzprodukte (meist CDOs) mit erstklassigen Urteilen, was im Sinne eines Gütesiegeleffektes, die SFP-Nachfrage signifikant erhöht. Die Beurteilungen sollen sich jedoch als erhebliche Fehlratings herausstellen, zur Verdeutlichung: alleine 83% der von Moody’s mit herausragender Bonität bewerteten MBS, erhalten ein späteres Downgrading47. Jene Fehlratings sind neben der anteilsmäßig hohen Bonität der Einzelkredite, insbesondere der Komplexität sowie dem Neuheitsgrad (Nichtvorliegen historischer Analysedaten) der Finanzprodukte geschuldet.48 Zum Zeitpunkt der Erkenntnis handeln die Originatoren die SFPs bereits mittels der geschaffenen SPVs, mit diversen Akteuren des Finanzmarktes und verteilen das Risiko über das gesamte System.49 Die Immobilienblase dehnt sich zunehmend aus.
Die in den Vorkrisenjahren durch die Fed erhöhten Leit- und damit auch Hypothekenzinsen, führen auf dem boomenden US-Immobilienmarkt zu einem sog. Minsky-Moment. Dieser bezeichnet einen Moment der Reversion von langjähriger Finanzmarktstabilität zur Instabilität, aufgrund zunehmender Risikoaffinität der Wirtschaftssubjekte im Kontext ihres Bestrebens der Gewinnmaximierung (III). Die erhöhten Zinsen implizieren steigende Kreditraten, was die Zahlungsunfähigkeit vieler Kreditnehmer, primär derer des Subprime-Segments, und den anschließenden Verkauf der Immobilien zum Zwecke der Kredittilgung zur Folge hat. Die sich dadurch ausweitende Rezession auf dem Immobilienmarkt bedingt fallende Immobilienpreise und den zunehmenden Wertverlust der verbrieften Finanzprodukte.
Dieser sich 2007 intensivierende Zustand veranlasst die Ratingagenturen zu einer rapiden Downgrading-Welle (Siehe oben 22) ihrer vormals zu hoch eingestuften SFP-Ratings. Jener Vorgang trägt neben der Akzeleration, auch aufgrund des unter II dargestellten Prozesses, zur verstärkten Expansion der Krisensituation bei. Ein kumulativer Ausfall von Rückzahlungen (Klumpenrisiko) und anschließende Massen-Notverkäufe folgen (IV). Die global diversifizierten Finanzprodukte erleiden einen nahezu vollständigen Wertverfall und transformieren sich zu sog. toxischen Wertpapieren, was die Fungibilität (Handelbarkeit) dieser nahezu minimiert. In einem solchen Szenario vollzieht sich die Tilgung der toxischen Kredite zu Lasten der unternehmens-/ bankeneigenen Ertragslage, was bei den sich daraus ergebenden finanziellen Kosten das Risiko zum Verlust der Solvabilität (Eigenmittelausstattung) erhöht. Die verschlechterte Geschäftslage der Banken bringt einen sich ausbreitenden Zustand der Illiquidität (Liquiditätskrise) hervor, was ein sinkendes Vertrauen auf dem Interbankenmarkt (Vertrauenskrise) bewirkt, erkenntlich durch die Zinserhöhungen der Interbankenkredite. Folgend erhalten insolvenzgefährdete Banken keine korrelative Unterstützung mehr, sodass diese sich zunehmend in einen circulus vitiosus befinden. Jener Teufelskreis endet in der Zahlungsunfähigkeit der Unternehmen, Banken und privater Akteure welche sich im Besitz der notleidenden Kredite befinden. Die spekulative Immobilienblase platzt.
Liquiditäts- sowie Vertrauenskrise charakterisieren hier eine systemische Bankenkrise, welche im Konkurs der Lehman Brother Investmentbank im September 2008 kulminiert. Der Ausfall dieser weitreichend agierenden Bank initiiert einen zusätzlichen Contagion-Effekt (Ansteckungseffekt) innerhalb des Bankensystems. Hierbei geht aus dem Verlust von Funktionalität und Stabilität eines Kreditinstitutes, über enge institutionelle Korrelationen und Interdependenzeffekte (exemplarisch im vertraglichen Kredithandel des Interbankenmarktes50 ) eine Ansteckung weiterer Kreditinstitute mit identischer Symptomatik hervor.51
Mit der Lehman Brothers Insolvenz als Trigger-Event, entwickelt sich aus der US-Subprime-Krise eine transatlantische Bankenkrise52, deren Ausweitung sich fortan bis nach Europa erstreckt (V). Die Krise des Bankensystems, gekennzeichnet durch zusammenbrechende Aktienmärkte und hohe Risikoaufschläge auf den Kreditmärkten, führt aufgrund sektoraler Interdependenzen zu identischen krisenhaften Zuständen auf weiteren Teilmärkten des Finanzmarktes53. In Folge jener Marktdynamiken befindet sich das globale Finanzsystem zunehmend in einer ganzheitlichen Krise (VI).
Neben den gesellschaftlichen Schäden einer Massenobdach- und Arbeitslosigkeit, zieht die Krise hohe realwirtschaftliche Kosten nach sich, was eine massive Staatsverschuldung der Regierungen zur Rettung ihrer Banken und eine anhaltende Rezession hervorbringt.54
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Zusammenhänge innerhalb der globalen Finanzkrise
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Pleßner und Blaschke (2019), S.11f.
In Anbetracht des geschilderten Krisenverlaufes wird deutlich, dass Ratingagenturen nicht die Auslöser, jedoch aber entscheidende Faktoren in der Entwicklungsdynamik der Krise darstellen.55 Optimistische Initial-Ratings intransparenter Finanzprodukte, auf Basis unzureichender Analysedaten, treiben die globale Nachfrage in die Höhe und diversifizieren das Ausfallrisiko. Der eingeleiteten Expansion der Krise folgt ein kumulativer Zahlungsausfall und notwendige Downgrading-Wellen die zusätzlich starke Kursvolatilitäten nach sich ziehen. Die Masse von Zahlungsausfällen und entstehenden Fluktuationen destabilisieren den Finanzmarkt und beschleunigen die wirtschaftliche Rezession.56
2.3 Moderner Ratingmarkt und das Oligopol der Big Three
Das Ratingsystem ist, insbesondere seit der Jahrtausendwende, Gegenstand kontroverser Debatten und Kritiken bezüglich der Verantwortlichkeit in der Entstehung und Entwicklung ökonomischer Krisen. Dementsprechend ist dieses das Ziel verschiedener Reformansätze geworden. Die folgende Betrachtung wird jedoch aufzeigen, dass sich der Ratingmarkt in seiner grundlegenden Struktur seit nun mehr als einem halben Jahrhundert nicht verändert hat, jedoch im Zuge der jüngsten Vergangenheit, kritisch zu beobachtende Entwicklungen aufweist.
Um die Struktur des modernen Ratingmarktes zu verstehen, muss ein Rückblick auf den NRSRO-Begriff vorgenommen werden. Wie in Kapitel 2.1 erörtert, bestimmt die Secruity and Exchange Comission durch die Verleihung eines NRSRO (Nationally Recognized Statistical Rating Organization)-Status grundsätzlich darüber, ob Urteile einer Ratingagentur als Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen der US-Finanzmarktregulierung Verwendung finden. Jene Maßnahmen dienen der Schaffung eines prudenziellen Systems, welches die Stabilität des Finanzmarktes durch einen beschränkten Markteintritt gewährleisten soll. Den NRSRO-Agenturen kommt hierbei die Aufgabe zu, die bewerbenden Finanzunternehmen in einer Ex-ante-Analyse zu prüfen und diese für das Handeln am Kapitalmarkt zu qualifizieren.57
In diesem Sinne erhebt der Status die Entscheidungen einer Ratingagentur zu einer regulatorischen Instanz. Dieser Prozess stellt de facto jedoch selbst einen Regulierungsakt dar, indem es die Anzahl, der aus Sicht des Staates für diesen Prozess verwendbaren Agenturen, systematisch limitiert. Diese Form einer regulatorischen Selektion, steigert den Einfluss lizensierter Agenturen und festigt diesen unmittelbar durch den Aufbau einer exogenen Markteintrittsbarriere. Vice versa wird der Einfluss- und Tätigkeitsbereich der Non-NRSROs gleichsam reduziert. Die Wirkung des Status reicht unterdessen über die Grenzen des ursprünglichen Anwendungsbereiches hinaus. Staatlich anerkannte Agenturen genießen auch abseits der Regulierung eine institutionelle Präferenz58, sodass dem Titel ein Qualitätssignal auf (kapitalmarktorientierte) Unternehmungen folgt. Mit der in den Kapitels 2.1 aufgezeigten schrittweisen, sektoralen Etablierung des Ratings, wächst die Zahl der rating-induzierten unternehmerischen Entscheidungen und damit die gesamtwirtschaftliche Relevanz der lizensierten Agenturen.
[...]
1 Köhler (2013), S.14.
2 Vgl. Financial Crisis Inquiry Commision (FCIC) (2011), S.17f.
3 Vgl. Windolf (2005).
4 Vgl. Rügemer (2012), S.24f.
5 Vgl. Winkel (2018), S.36ff.
6 Vgl. Winkel (2018), S.36ff.
7 Vgl. ESMA (2019).
8 Vgl. Edling, Jann et al. (1999), S.9.
9 Im Zuge dessen sind Bezeichnungen wie (Bonitäts-) Bewertung, Einschätzung, Prüfung etc. in vorliegender Arbeit synonym zum Begriff des Ratings zu betrachten.
10 Vgl. Andrieu (2010), S. 21.
11 Vgl. Hiß und Nagel (2019), S.30.
12 Vgl. Rügemer (2012), S. 74.
13 Vgl. Richter (2008), S.60, zitiert nach Hundt (2015), S.22.
14 Die chronologische Darstellung basiert im Wesentlichen auf den Ausführungen von Hiß und Nagel (2019) sowie Sylla (2002).
15 Im Bedeutungsunterschied zum Bewertungs-Begriff, vgl. Sylla (2002), S.23.
16 Vgl. Pleßner und Blaschke (2019), S.4.
17 Vgl. ebd.
18 Vgl . Hiß und Nagel (2019), S.76.
19 Vgl. Sylla (2002), S.24.
20 Vgl. Pleßner und Blaschke (2019), S.4.
21 Vgl. Rügemer (2012), S.16.
22 Vgl. Partnoy (2002) S.71f.
23 Vgl. Pleßner und Blaschke (2019), S.5.
24 Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges geschaffene internationale Währungsordnung.
25 Vgl. Hiß und Nagel (2019), S.78f.
26 Man beachte hier zusätzlich die als Monopol kategorisierte Marktstruktur, Hiß und Nagel (2019), S.78f.
27 Vgl. Paul (2015), S.4.
28 Vgl. Michaelis und Schmeisser (2016), S.29.
29 Eine weiterführende Betrachtung des Folgeakkords Basel III findet sich in Kapitel 4.
30 Vgl. Michaelis und Schmeisser (2016), S.30f.
31 Vgl. Rügemer (2012), S.32f.
32 Vgl. Volk und Schäfer (2007), S.159ff.
33 Vgl. Hiß und Nagel (2019), S.79f.
34 Aus der nationalen SEC, als internationales Pendant entsprungenen Wertpapieraufsichtsbehörde.
35 Vgl. Bundesbank (2008), S.16-20.
36 Vgl. Rudolph (2009), S.6.
37 Vgl. ebd. S.8f.
38 Vgl. Hellwig (2010), S.8.
39 Kreditrisikotransferinstrumente dienen Originatoren zur Auslagerung des mit der Bereitstellung und Vergabe von Kreditpositionen verbundenen Ausfallrisikos auf andere Wirtschaftssubjekte und -institutionen.
40 Vgl. Steinkamp (2015), S.351f.
41 Vgl. Cengiz (2014), S.20.
42 Ein Kreditscoring gibt die Bonität einer einzelnen natürlichen Person wieder.
43 Unter Verwendung einer rein alphabetischen Skalierung.
44 Vgl. Cengiz (2014), S.20.
45 Vgl. Rudolph (2009), S.6.
46 Vgl. Steinkamp (2015), S.351f.
47 Vgl. Financial Crisis Inquiry Commision (FCIC) (2011), S.25.
48 Vgl. Cengiz (2014), S.22.
49 Vgl. Badek (2010), S.56.
50 Exemplarischer Transmissionskanal.
51 Für eine schematische Darstellung dieses Sachverhaltes, siehe Anhang (1).
52 Welfens (2009), S.1f.
53 Böhm (2010), S.5.
54 Vgl. Welfens und Kadiric (2018), S.4.
55 Vgl. Financial Crisis Inquiry Commision (FCIC) (2011), S.17f.
56 Vgl. Pleßner und Blascke (2019), S.16.
57 Vgl. White (2002), S.51.f.
58 Vgl. Sylla (2002), S.36.
- Quote paper
- N. Bogner (Author), 2020, Institutionell-ökonomische Reform des Ratingmarktes. Eine kritische Analyse der Theorie und Struktur des Ratingsystems, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/990557
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