Neue Wohnformen
1. Übergang der traditionellen Familienfunktionen zu kollektiven Einrichtungen Durch die Industrialisierung fielen viele traditionelle Bereiche der einstigen Funktionen der Familie aus. Einstige Aufgaben wie Schutz, religiöser Kult und Gerichtbarkeit, die bis nach dem Mittelalter zu den zentralen Aufgaben einer Familie zählten, verloren schnell an Wert. Durch den sprunghaften Übergang von Selbstversorgung über die freie Lohnarbeit bis hin zum jetzigen Berufstatus (zum Großteil Angestellte), mußte die Mehrheit dieser traditionellen Funktionen von städtischen oder zumindest kollektiven Einrichtungen übernommen werden.1
War Schutz von Besitz früher die Aufgabe des sogenannten ,,Hausherrn", übernahmen diese Funktionen schnell Einrichtungen wie Feuerwehr und Polizei.2In Zeiten, in denen sich Familien noch selbst versorgen mußten oder später durch freie Lohnarbeit finanziell abgesichert waren, war der Erhalt der Familie durch den Ausfall einer Arbeitskraft nicht mehr gewährleistet. Erst durch soziale Kämpfe wurden Absicherungen wie ,,Krankenfürsorge", ,,Renten", ,,Arbeitslosengeld", ,,Sozialhilfe" und andere staatliche Zuschüsse errungen. Eine zentrale Aufgabe der Familie stellte auch die Krankenpflege dar. Schon in den ersten größeren Städten entstanden relativ schnell Spitäler, die die Familien von dieser Aufgabe entlasteten. Die Nachkommen, die früher unter anderem auch für die Altersversorgung zuständig waren, wurden durch die Einrichtung von Altenheimen, Altersvorsorge,... entlastet. Auch Kindererziehung stellte einen zentralen Punkt der Familie, hier vor allem der Frau, dar. Durch den Eintritt der Frauen in das Berufsleben entstand die Frage nach Kinderbetreuungsstätten.
2. Trendwenden der Familienstrukturen
,,Hochindustrialisierte Gesellschaften kennzeichnen sich durch schnelle Veränderungen in ihren sozialen Institutionen und ihres Sozialgefüges. Besonders betroffen von diesem Prozeß sind Familien. Sie machen einen heftigen Strukturwandel durch, der sich auf ihre Größe, die Art der Binnenbeziehungen sowie ihre gesellschaftlichen und individuellen Funktionen bezieht."3
Zur Zeit der Industrialisierung war die Drei- Generationenfamilie das typische Erscheinungsbild. Zu Mitte des 20. Jahrhunderts wechselte dieses zur Kleinfamilie (Kernfamilie), die aus Eltern und zwei bis drei Kindern bestand. Mittlerweile beginnt sich allerdings auch diese Form der Familienkonstellation im Gefüge sozialer Netzwerke aufzulösen. Der Großteil der heutigen Familien setzt sich bloß noch aus Eltern und einem Kind zusammen. Immer häufiger kommt es auch zu Trennungen zwischen Ehepartnern, was zu einer größeren familialen Instabilität führt.4
2.1 Das Abweichen von der Kernfamilie
Durch die fortwährende Entwicklung von Sozialeinrichtungen und sozialen Netzwerken rückten die traditionellen Funktionen der Familie immer weiter in den Hintergrund. Die traditionelle Großfamilie verlor immer weiter an Bedeutung, es entstand die sogenannte Kernfamilie. Diese besteht in der Regel aus zwei verheirateten Elternteilen und (unmündigen) Kindern.5
2.1.1 Erwerbstätigkeit der Frau als Bedeutung gesellschaftlicher Anerkennung
Schon während der Industrialisierung begann aus finanziellen Gründen der Eintritt der Frau ins Berufsleben. Doch nach den Frauenbewegungen der letzten 30 Jahre kam die zentrale Forderung der Frauen auf, weg vom traditionellen patriarchalen Rollenverhalten ein eigenständiges Leben zu führen und offensiv ins Berufsleben einzusteigen. Die Berufstätigkeit wird heute nicht mehr nur als eine Übergangsphase bis zur Eheschließung gewertet, sondern als ein Bestandteil der eigenen Lebensplanung. Die Erwerbstätigkeit birgt ein höheres Maß an gesellschaftlicher Anerkennung, als es zur Zeit durch andere Tätigkeiten erworben werden kann. Die reine Familienarbeit sichert in den heutigen Industriegesellschaften diese persönlichen Lebensperspektiven nicht.6 Durch die - zumindest teilweise realisierte - finanzielle Absicherung beider Ehepartner stellt sich auch die wirtschaftliche Bedeutung der Kernfamilie in Frage.
3. Moderne Familienformen
3.1 Die Ein-Eltern-Familie
Untersuchungen beweisen, daß zu Beginn der 90er Jahre schon etwa ein Drittel der ehemals geschlossenen Ehen bereits wieder geschieden sind. Aus diesem Grund kommt es zu einer wachsenden Anzahl von Familien, in denen nur ein Elternteil über einen längeren Zeitraum mit einem oder mehreren Kindern zusammen wohnt. Nur bei einem Zehntel dieser Kleinstfamilien ist der Tod eines Elternteils ausschlaggebend. 7
3.1.1 Einfluß der Ein-Eltern-Familie auf das Familienleben
Für den Großteil aller Ein-Eltern-Familien gilt, daß sie verstärkt mit strukturellen Belastungen zu kämpfen haben. Diese können sowohl für das Familienklima als auch für die Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie zu Schwierigkeiten führen.
Das größte Problem ist wohl die Doppelbelastung der alleinerziehenden Elternteile. In kleinen Familiengefügen sind Beziehungsgefüge automatisch viel kleiner und einfältiger. Trotzdem bleiben alle Beziehungen einem einzelnen Erziehenden hängen. Dadurch werden diese Beziehungsgefüge automatisch auch viel krisenanfälliger.
Untersuchungen haben bewiesen, daß Kinder in derartigen Kleinstfamilien vor hohe Anforderungen der Selbstorganisation im sozialen, emotionalen aber auch im haushaltstechnischen Bereich stehen. Der Alltag dieser Kinder ist meist von höchst standardisierten Abläufen geprägt. Oft werden entgegen dem kindlichen Lebensrhythmus normierte Zeitstrukturen und soziale Abläufe eingeführt.8
Aufgrund der starken Verbreitung dieses Modells an Familien besteht ein erhöhter Bedarf an besserer ökonomischer Absicherung und außerfamiliärer Unterstützung der Kinderbetreuung von allein erziehenden Eltern. Könnten diese beiden Probleme besser gelöst werden, könnten sich eventuell Spannungen und Belastungen, die sich in den Eltern-Kind-Beziehungen zeigen, besser abgebaut werden.
3.1.2. Einfluß der Ein-Eltern-Familie auf die Kinder
Kinder sind über viele Jahre hindurch auf eine zeitlich und eine emotional intensive, zuverlässige und kontinuierliche Zuwendung durch erwachsene Personen angewiesen. In den meisten Fällen finden Kinder diese Zuwendung durch die Mutter. Trennungen und Scheidungen bedingen eine erhebliche Beeinträchtigung der Eltern-Kindbeziehungen. Durch die neue Lebenssituation verändern sich zwangsläufig die üblichen Tagesrhythmen, oft auch die finanzielle Lage. Dadurch verringert sich auch automatisch die kontinuierliche Zuwendung eines Erwachsenen.
Eine Trennung oder Scheidung ist eine der gravierendsten Formen von Störungen der innerfamiliären Beziehungen. In den meisten Fällen gehen einer Scheidung jahrelange Konflikte und Beziehungskämpfe voraus. Gerade für Kinder und Jugendliche werden diese Prozesse als besonders belastend empfunden, da oft Grund und Ursache der dieser Probleme nicht verstanden werden können.9
Noch während der Streitphase werden meistens schon Verunsicherungen von Bindungen und
Emotionen diagnostiziert, die für die Nachkommen als extrem psychisch belastend empfunden werden. Nach der Trennung stehen Jugendliche oft vor dem Problem, ihr Leben weitgehend neu strukturieren zu müssen. Es folgt eine Phase der Neuorientierung von sozialen Beziehungen, die oft auch soziale, haushaltstechnische und finanzielle Komplikationen mit sich bringen.
Neuere Studien zeigen auf, daß Kinder und Jugendliche, die von Scheidung oder Trennung der Eltern betroffen sind, über einen längeren Zeitraum psychisch irritiert sind und Symptome von Verhaltensstörungen aufzeigen.10
Aus anderen Studien geht hervor, daß viele von ihnen Schuldgefühle gegenüber den Eltern entwickeln. Einerseits, da diese Komplexe von Ehepartnern gegenüber den Kindern bewußt geschürt werden, um sie gegen den Partner aufzuhetzen, andererseits, da vielen Jugendlichen der Zugang zur Ursache des Problems fehlt.11
3.2. Netzwerke
3.2.1.Verknüpfung familialer und außerfamilialer Netzwerke
Im Normalfall sind alle Familienmitglieder in außerfamiliare Netzwerke eingebunden. Sei dies jetzt durch Kollegen, Freunde, Verwandte, Mitschüler, Mitglieder eines Vereins Neben diesen Kontakten sind weiterhin andere Beziehungen zum Nachbarschafts- und Gemeindenetzwerk zu beachten. Einer der wichtigsten Bestandteile dieser Netzwerke können Betreuungs- und Beratungseinrichtungen sein.
,,Je vielfältiger und vernetzter die Sozialkontakte im gesamten Umfeld sind, desto eher kann ein Familienmitglied auch in Krisensituationen Hilfe erwarten oder schon im Vorfeld von sich zuspitzenden Belastungen Unterstützung mobilisieren."12
Fällt das innerfamiliale Netzwerk wegen Trennung oder Scheidung aus, dann muß das außerfamiliale Netzwerk hilfeleistend und unterstützend eingreifen.
Bis jetzt hat sich herausgestellt, daß außerfamiliare Netzwerke familiale Beziehungsstörungen zu einem Großteil ausgleichen können. Kinder und Jugendliche aus Krisenfamilien, die außerfamiliale Netzwerke mehr nutzen als andere Gleichaltrige, können Effekte von ökonomischen und psychischen Belastungen, familiale Disharmonie oder Trennung besser überspielen. Das genutzte soziale Netzwerk wirkt wie eine Abschirmung anderen Belastungen gegenüber.13Daß bestimmte Temperamentsmerkmale mit bestimmten Merkmalen des sozialen Netzwerkes übereinstimmen, spielt allerdings eine große Rolle.
3.2.2 Betreuungs- und Beratungsnetzwerke
Verlieren traditionelle soziale Institutionen wie die Familie ihre Funktion, müssen andere, gesellschaftlich organisierte (,,künstliche") soziale Einrichtungen an ihre Stelle treten. Für Kinder bedeutet das hier, es müssen Kindertagesstätten, Horte und Schulen mit Nachmittagsbetreuung errichtet werden. Diese sollen einen Teil der Familienfunktionen übernehmen, der durch die Veränderung der Familienstrukturen nicht mehr gewährleistet ist.
Bei Trennungen und Scheidungen, organisatorischen oder finanziellen Problemen, benötigen Familie Hilfe von außen. Diese Hilfen müssen so aufgebaut sein, daß sie die betroffenen Personen nicht entmündigen, sondern ihnen weitere Möglichkeiten schaffen, mit ihrer Hilfe, ihre Probleme selbst unter Kontrolle zu bringen. Die Hauptaufgabe dieser Institutionen liegt darin, möglichst nützlich auf Krisenfamilien einzuwirken und diese somit von innen heraus zu stützen und zu stärken.
Ein Schwerpunkt liegt hier auch in der Netzwerkberatung. Diese soll Familien darauf hinweisen, welche Netzwerke in ihrer Umgebung zur Verfügung stehen und ihnen behilflich sein könnten. Das Hauptaugenmerk liegt darin, der Familie neue Unterstützungs- und Hilfsqualitäten nahe zu bringen und gleichzeitig außerfamiliale Unterstützungs- und Hilfsangebote mit den - meist sehr geringfügig - vorhandenen Familiennetzwerken flexibel zu verbinden.14
3.2.3 Netzwerkeinbindung im höheren Alter
Die Veränderungen im Prozeß der Ehe- und Familienbildung und die gestiegenen Lebenserwartungen führten zu einer Generationszusammensetzung der Familie, in der ein Zusammenleben mit älteren Personen keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt. Dadurch, daß Familien immer weiter zusammenschrumpfen, wird auch die Anzahl der näheren Verwandten immer geringer. Es besteht schnell die Gefahr, daß alte Personen isoliert werden.15
Auch die Betreuung, Pflege und Unterstützung älterer Menschen innerhalb der Familie wird zunehmend schwieriger.16Es besteht auch hier die Notwendigkeit, die außerfamilialen Netzwerke auszubauen.
Außerfamiliale Netzwerke, die sich hauptsächlich auf ältere Menschen spezialisieren, haben die Aufgabe, auch auf die Entwicklungsprozesse älter Personen achtzugeben. Dadurch können Potentiale für die Gestaltung der immer länger werdenden Altersphasen erkannt und aufgeschlossen werden. Zusätzlich muß auch einen generell negativen Bild gegenüber alten Menschen entgegengewirkt werden, indem auf die tatsächlichen Leistungsfähigkeiten von alten Menschen hingewiesen wird.
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1 Mitterauer/Sieder; Vom Patriarchat zur Partnerschaft, Zum Strukturwandel der Familie, München 1991, S.100-107
2 Mitterauer/Sieder; Vom Patriarchat zur Partnerschaft, Zum Strukturwandel der Familie, München 1991, S.100-107 Meyers großes Taschenlexikon, Band 6,Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich,1995 S. 309
3 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995,S.233
4 Schneewind; Eltern und Kinder, Umwelteinflüsse auf das familiäre Verhalten, Stuttgart, 1983
6 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995, S.237
7 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995, S.235
8 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995, S.236
9 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995, S.234
10 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995, S.234
11 Zu Beginn der Alleinerziehung, Amt für Jugend und Familie, Wien 1996, S.12
12 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995, S.241
13 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995, S.242
14 Garbarino, Schellenbach, Sebes, Troubled Youth, Troubled families, New York, 1986
15 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995, S.246
16 Hurrelmann; Einführung in die Sozialisationstheorie, Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit; Weinheim, Basel, 1995, S.246
- Quote paper
- Sonia Fertinger (Author), 1998, Neue Wohnformen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98855
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