INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung
2. Westdeutschland und seine Schriftsteller
2.1 Nostalgie als Zuflucht
2.2 Rückzug in die Innerlichkeit
2.3 Hermetismus als Abschottung gegen die Realität
3. Ostdeutschland und seine Schriftsteller
3.1 Rückblick auf die DDR-Gesellschaft
3.2 Die menschliche Reaktion auf den Umbruch
3.3 Schwarzmalerei - tragischer Expressionismus
4. Bilanz des Ost-West-Vergleiches und Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung
5. Anhang - Literaturverzeichnis
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS DER BEARBEITETEN WERKE:
1. Einleitung
Wir schreiben das Jahr 1999. Seit beinahe einem Dezennium besteht die politische Einheit Deutschlands. Mancher Bürger, in der DDR wie in der alten Bundesrepublik Deutschland, hatte die Wiedervereinigung herbeige-sehnt, viele hatten sich dagegen gesträubt, schließlich wurden aber die meisten von dieser Entwicklung überrascht und standen dem Lauf der Geschichte perplex gegenüber.
Angesichts der frappanten Anonymität der sanften Revolution von 1989 muss man sich die Frage nach den Gründen für diesen Umbruch stellen. Wer war eigentlich die treibende Kraft dieses historischen Ereignisses und was trieb ihn dazu?
Im Laufe der achtziger Jahre wurde immer ersichtlicher, dass die DDR schon längst von der wirtschaftlichen Substanz zehrte. Da die Unzufriedenheit wuchs, wurde die systemimmanente Repression auf ein Unerträgliches gesteigert. So gesehen verkehrte sich diese politische Maßnahme ins Gegenteil und verstärkte die subversiven Tendenzen in der DDR-Bevölkerung. Im Herbst 1989 erschien die Einheit Deutschlands letztlich als einzig möglicher Ausweg aus der ökonomischen Misere. Was sich im Westen bewährt hatte, konnte dem Osten die lang erhoffte Satisfaktion nicht entsagen. Vom materiellen wie emotionalen Mangel getrieben gingen Tausende von Menschen in der DDR auf die Straßen um für die deutsche Einheit zu demonstrieren. Sie bedeutete eine Perspektive, die die DDR nicht mehr bieten konnte. Paradox, dass der Untergang des auf dem marxistischen Credo des dialektischen Materialismus konstruierten DDR-Staates durch eben diese Doktrin ersichtlich wird. Nach acht Jahren Einheit ist jedoch die anfängliche Euphorie einer Nüchternheit gewichen, die hüben wie drüben konstatierbar ist. "Im Rausch der weltgeschichtlichen Ereignisse [...] wurden die enormen Probleme der Vereinigung unter schätzt, während die Kräfte [...] der Bundesrepublik Deutschland ü ber schätzt wurden. Das, was in 12 Jahren Nationalsozialismus und 40 Jahren DDR-Sozialismus im Osten Deutschlands zerstört wurde, kann nicht in fünf Jahren Demokratie und sozialer Marktwirtschaft repariert werden" (5, 8), schreibt R. Eppelmann im Jahre 1995. Des Öfteren mögen hierbei die politischen und ökonomischen Aspekte in den Vordergrund gedrängt werden, obwohl es angebracht wäre zu den tieferen Sphären der Ost-West-Problematik vorzustoßen, nämlich der psychologischen Situation der Individuen.
In ihrer Gesamtheit konstituieren diese die allumfassende Stimmung eines Landes, oder wie im Falle Deutschlands die zwei - in einer historisch-didaktischen Spaltung wurzelnden - auseinander divergierenden Klimate. Zwar scheint die Erforschung dieses Gebietes in erster Linie die Aufgabe von Psychologen zu sein, die zeitgenössische Literatur stellt jedoch ebenfalls ein unmittelbares Medium zur Erfassung individuellen wie kollektiven (Un)Bewusstseins dar.
Deswegen möchte sich diese Arbeit die Exploration der Differenziertheit zwischen den West- und Ostautoren zur Aufgabe machen, indem sie die von der jeweiligen Sozialisation in der BRD oder der DDR herrührenden intellektuellen wie emotionalen Eigenarten beleuchtet und den Schriftsteller zu einem Indikator für die Befindlichkeit im jeweiligen Teil des vereinigten Deutschlands reduziert. Um eine Einheitlichkeit der Vergleichsbasis zu gewährleisten werden hierbei ausschließlich die nach 1950 geborenen Autoren untersucht, wobei es sich lediglich um eine engere Auswahl derer handelt, die in ihren nach 1990 erschienen Werken charakteristische Merkmale aufweisen und als exemplarisch angesehen werden können.
2. Westdeutschland und seine Schriftsteller
Nach fünfzig Jahren sozialer Marktwitschaft in der BRD scheint der Versuch die inhumane Aggressivität des Kapitalismus abzudämpfen mehr und mehr vergeblich zu sein. Der Primat der Ökonomie trägt nicht nur die Schuld an den verheerenden Arbeitslosenzahlen im wiedervereinigten Deutschland, er diktiert auch zunehmend den kulturellen Betrieb. Die negativen Auswirkungen auf die Literatur äußern sich in der beinahe schon selbstverständlichen Konfektionierung und Trivialisierung: Der Markt als Demagoge stempelt den freien Schriftsteller, dessen Freiheit nur scheinbar garantiert wird, zum Angestellten eines florierenden Betriebs ab. Die durch die neuen Kommunikationstechniken begünstigte Globalisierung setzt den Autor zum einen einer enormen Konkurrenz aus, zum anderen konfrontiert sie ihn mit einer ungeheuren Informationsfülle, der ein Individuum nicht gewachsen ist. Der nach 1950 geborene, von der kapitalistischen Gesellschaft indoktrinierte westdeutsche Schriftsteller tritt angesichts dieser kognitiven Überforderung und der scheinbaren Ausweglosigkeit aus der ökonomischen Diktion die Flucht in die Enklave seiner Erinnerung und Psyche an.
Frank Schirrmacher artikuliert dieses Dilemma folgendermaßen:
"Die eigene Innerlichkeit kann niemand besserwisserisch in Frage stellen. In einer unübersehbaren Welt von Wirklichkeiten und Simulationen sind die Gefühle gleichsam Garantien, überhaupt noch irgendwo vorhanden zu sein. " (23, 20)
Meistens bewegen sich die dem Genie-Begriff nicht abgeneigten West-Autoren nur innerhalb der Beengtheit der eigenen seelischen Verfassungen, sinnieren über die Omnipotenz der von außen auf sie einströmenden gesellschaftlichen Einflüsse und versuchen hartnäckig das seltenst vorhandene anachronistische Element in ihren schriftstellerischen Bemühungen hervorzuheben. Ihre Devise heißt Realismus und sei es die glorifizierende Abbildung einer verlorenen Jugend oder einer als wünschenswert erachteten inneren Rebellion. Die sie plagenden profunden Selbstzweifel zwingen sie oftmals zur literaturimmanenten Beleuchtung des dichterischen Impetus, dessen Existenz sie mit allen Mitteln von aller Alltäglichkeit zu befreien trachten. Beinahe zu vernachlässigen ist die Anzahl derer, die ihre literarische Kreation der Sprachanalyse gewidmet haben, wobei sie natürlich ohne größere Verbreitung bleiben.
2.1 Nostalgie als Zuflucht
Als typischer Vertreter könnte Ralf Rothmann angesehen werden. Der am 10.5.1953 in Schleswig geborene Schriftsteller verbrachte seine Kindheit in Oberhausen/Ruhrgebiet, wo sein Vater als Kohlenhauer im Bergbau arbeitete. Nach Abschluss der Volksschule absolvierte er zunächst eine Maurerlehre, worauf er sich dann in verschiedenen Berufen versuchte: So lernte er den Alltag als Koch, Krankenpfleger und Drucker kennen. Seine damaligen Erfahrungen versucht er heute, als freier Schriftsteller in Berlin/Kreuzberg lebend, in seinen Büchern zu verarbeiten.
In seinem 1991 erschienen Romandebüt "Stier" thematisiert Rothmann das Lebensgefühl einer verlorenen Generation - der Jugend der siebziger Jahre. In drei Stationen schildert er den Weg eines sensiblen Proleten mit Schriftstellerambitionen, der der Beschränktheit seines Maurerberufes entfliehen wollend Zuflucht in einer Hippie-Gemeinschaft findet. Bald merkt er jedoch, dass dieses subkulturelle Leben ein auswegloser Kampf gegen die Determination der Welt ist. ("An dem Tag, an dem mir auffiel, daß es nichts Zufälliges mehr gibt, war die Jugend vorüber." (Sti 9) ) Daraufhin arbeitet er als Krankenpfleger auf einer Sterbestation, wo er mit der Nichtigkeit des Menschen konfrontiert wird. Ein dramaturgisch-ironischer Zufall ist es, dass sein ideologischer Ziehvater und Freund - der eigentliche "Stier" des Romans - als heruntergekommener Einzelkämpfer dort sein Ende findet. Aus dieser letzten Begegnung speist sich die defätistische Einsicht: "Der stolzeste Stier bleibt wesentlich Rind." (Sti 199)
Zu jung um als echte Achtundsechziger anerkannt zu werden und zu alt für die spätere Punk- und Yuppiekultur, derart stellt sich die Situation der Jugend der siebziger Jahre dar. Um eine Legitimation der eigenen Vergangenheit zu sichern erfindet Rothmanns Zeitgenosse Matthias Politycki gar den Begriff der "78er". Denn angesichts des politischen Teilrückzugs der APO- Bewegung, sieht sich die direkt nachfolgende Altersklasse, jeglicher Utopie und jeglichen politischen Zieles baraubt, dem schier übermächtigen bürgerlich-kapitalistischen Geiste ausgeliefert. Haben sie in ihrer Jugend "ihr Heil in kollektiven Räuschen aus Alkohol und Dope" (14) gesucht, so treten sie als Erwachsene den Rückzug in die Innerlichkeit und Nostalgie an. Ihre im Grunde apolitische Haltung ist die Antwort auf die politisch-soziale Konsolidierung des Konservatismus der bürgerlichen Gesellschaft.
Trotzdem kommt es durchaus vor, dass in der Literatur dieser Generation aktuell-politische, teilweise sozialkritische Äußerungen ihren Platz finden. So sinniert Rothmann über die multikulturelle Gemeinschaft: "Vielmehr begriff ich die Nachbarschaft dieser Leute auch als Chance, als eine Art Belebung meiner eigenen Existenz." (Sti 16) Oder ereifert sich in Anbetracht der ökologischen Zerstörung: "Bergschäden. Risse; immer wieder Risse vom Keller bis zum Dach." (Sti 31) Dies alles erscheint aber aufgesetzt, zu offensichtlich, als eine Huldigung an die allgemeine politische Korrektheit. Den überwiegenden Teil nehmen Selbstzweifel ein, Fragen, "ob man dieses unbeirrbare, wohlgemutete Weitermachen des Lebens nun bejahen oder endlich von der Brücke springen soll[...]". (Sti 30) Die Sehnsucht nach Freiheit in einer von Zwängen erfüllten Welt mündet im allgemeinen Eskapismus, dem Traum vom Popstar-Dasein. Rothmann kann es nicht unterlassen in der Maske seines Alter Ego die eigene literarische Kreation zu legitimieren. Die "gelegentliche Ahnung, daß es Unsinn ist, irgendwo Sinn zu suchen, daß man Sinn geben muß" (Sti 150), treibt ihn in die Schriftstellerei. Von Ungerechtigkeit und Brutalität in einer inhumanen Welt ist nirgends die Rede: "Die Leidenschaften finden, wie die Agonien, im Stillen statt, im Inneren des Alltags, während ringsum alles arbeitet" (Sti 154).
Gefühle spielen bei diesem Autorenjahrgang eine dominierende Rolle. Insbesondere wird die Liebe (oder deren Vergeblichkeit) zu der alleinigen sinngebenden Instanz hochstilisiert. Auf diese Weise soll der Rückzug in die Privatheit einer zwischenmenschlichen Beziehung, in die Libertinage einer exhibierten Sexualität den defizitären Einfluss auf öffentliche Einrichtungen der Gemeinschaft kompensieren: Wenn sich das Individuum von jeglicher Mitsprache in politischen und wirtschaftlichen Belangen ausgegrenzt sieht, beginnt die Suche nach einem Surrogat, das sich halbwegs unter Kontrolle bringen lässt. Dass aber auch die Liebe ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgend den Menschen am Sein zweifeln lässt, ist eine Erfahrung, die den meisten nicht fremd ist. Dennoch stellt sie einen Gegenstand dar, der von jedem Einzelnen unterschiedlich erfasst wird und somit vor kritischer Hinterfragung sicher scheint. Mehr als Ralf Rothmann thematisiert der 1955 in Karlsruhe geborene Matthias Politycki die emotionale wie physische Geschlechtlichkeit, indem er in seinem Bestseller von 1997 "Weiberroman" - bereits der Titel spielt gezielt auf die vorherrschende Machoperspektive an - in drei Entwicklungsstationen die Eigenarten der sich ewig im Kreis drehenden Liebesbeziehungen am Beispiel eines nach mehr durstenden Helden skizziert. "Denn um drei Liebesvergeblichkeiten, zu drei Zeiten und an drei Orten, dreht sich dieser ganze Weiberroman", schreibt Reinhard Baumgart in der ZEIT. "Von straffer Handlungsführung, von Story oder Plot keine Spur. Doch seine Weiber sortiert der Roman mit einer erstaunlichen Systematik. Drei aus je verschiedenem Grund unerreichbare Frauenwesen werden Gregor Schattschneider [der Held des Romans] bis zur Fassungslosigkeit begeistern, narren und bis in sein dreiunddreißigstes Jahr höchst abwechslungsreich am Erwachsenwerden hindern." (1) Das weibliche Triptychon ähnelt dem okzidentalischen Frauenensemble: Jungfer, Hure, Dame. Die unantastbare Kristina aus der westfälischen Provinz wird durch das Wiener Animalweib Tania abgelöst. Als Abschluss folgt Katarina, die traumhafte Schönheit aus Stuttgart. Alle werden Schattschneider - der sprechende Name weist wohl auf die Irrealität seines Lebens hin - durch irgendetwas entrückt. Dieser kämpft dennoch unerbittlich weiter und verharrt in seiner die Wirklichkeit fliehenden Lebensweise, indem er gänzlich auf Liebe setzt und dem Weltgeschehen nichts außer Ignoranz schenkt. Die letzte Nacht im Roman versäuft er bezeichnenderweise, vollgedonnert mit dem deutschen Schlagerliedgut der sechziger Jahre. "Nun bleibt wirklich nichts mehr übrig als: schreiben. Auf der Suche nach der wieder einmal verlorenen Zeit." (1)
Politycki "hat im Alleingang eine eigene Generation erfunden und medientechnisch [...] durchgesetzt: die sogenannte 78er-Generation." (16) In nicht enden wollenden preziösen Tiraden spiegelt er die Zustände in der BRD der 70er Jahre wider, wobei man durchaus einen ironischen Unterton aus dem philiströsen Treiben des Helden heraushören kann. Möglich, dass nur durch derartige Darstellung der Kontrast zu den alles politisierenden 68ern gelingen kann und man über die sprachlich-inhaltliche Struktur des Romans das Lebensgefühl einer verlorenen Generation zu offenbaren in der Lage ist, einer Generation, die drauf und dran ist die allseitige Verantwortung in Deutschland (zumindest im Westen) zu übernehmen. Beim "Weiberroman" handelt es sich um eine Selbsterfahrungsliteratur, die durch ihre offensichtliche Oberflächlichkeit zu den tieferen Ebenen der menschlichen Existenz vordringt: Der Suche des Enttäuschten nach Glück.
Das dem Roman innewohnende egalitäre Prinzip verdeutlicht die Flucht des Individuums vor der unantastbar erscheinenden Determiniertheit des politisch-ökonomischen Geschehens und könnte zu einer Erklärung der gegenwärtigen Entwicklungen in diesem Bereich beitragen.
2.2 Rückzug in die Innerlichkeit
Neben derartiger retrospektiver Gegenwartsliteratur bietet der Westen eine andere Form der Schreibkunst, die zunächst als konträr angesehen werden könnte. An die Stelle der Rückwärtsgewandtheit tritt hier die hyperbolische Beschreibung einer inneren Rebellion gegen die gesellschaftlichen Zustände einer despotischen Welt, die jeglichen anachronistischen Ansatz im Keim erstickt.
Matthias Altenburgs letzter Roman "Landschaft mit Wölfen" (1997) fällt unter diese Kategorie. Der 1958 geborene Autor hat in Göttingen Lite-raturwissenschaft und Kunstgeschichte studiert. Heute lebt er in Frankfurt am Main und arbeitet als Schriftsteller und Lektor. Umstritten sind vor allem seine zynischen Beiträge für das ZEIT Magazin. In "Landschaft mit Wölfen" zeichnet er das "Bild einer Generation, voller Zorn und trotziger Schönheit", heißt es im Klappentext. Tatsächlich flaniert der Antiheld Neuhaus (womöglich weist der zu "Altenburg" antithetisch stehende Name eben auf die Nähe zum Autor hin) erfüllt mit Wut sieben Tage lang durch die Finanzmetropole Frankfurt/Main und konstatiert nichts als Pervertierung und Dekadenz. In seinem von übersensibler Perzeption gekennzeichneten inneren Monolog kreiert er die Umkehrung der Schöpfungsgeschichte und betont somit die Bedürftigkeit der göttlichen Erlösung. Der als Motto vorangestellte Auszug aus dem Psalm 130 verdeutlicht diese Absicht: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir." (Lan 5) In sieben heißen Tagen begegnet Neuhaus sieben Menschen, die er hassend wieder in die Anonymität der Großstadt entlässt. Er betrügt betagte Nachbarinnen, denen er die Einkäufe besorgt, und hat reichlich Schulden, weil er nur gelegentlich ein paar Mark als Touristenführer verdient. Mit Frauen hält er es nicht lange aus; sind sie da, wünscht er sie zum Teufel, sind sie wieder fort, betäubt er seine Einsamkeit in Alkohol. Der gebildete Mittdreißiger hat irgendwie die Lebenskurve nicht gekriegt - oder sie nicht kriegen wollen, denn all die gleichaltrigen, smarten Karrieristen, die ihn auf den exzessiven Partys mitleidig belächeln, straft er mit tiefster Verachtung. Die spießige Bürgerlichkeit, die zeitgeistkonformen Smalltalks ("Neunzig Prozent der Menschen sind Abziehbilder, Matschfressen, Hampelmänner, Auswurf auf Beinen." (Lan 15)), der durch Werbestrategen entfachte Konsumrausch repräsentiert für Neuhaus das neue Babylon. Als er am Ende des Romans um ein versprochenes Honorar betrogen wird, verspürt er den Wunsch nach einem blutigen Amoklauf, der jedoch nur in seiner Fantasie zur Ausführung gelangt.
Altenburg scheint mit diesem Stück Prosa ein Großstadtroman der Jahr-tausendwende gelungen zu sein. Ähnlich Döblins Biberkopf ist für Neuhaus kein Platz in dieser von den "Wölfen" des Establissements geprägten Gesellschaft. Er ist "hinauskatapultiert in die Umlaufbahn des teutonischen Privatanarchismus." (9) Ausgestattet mit Intellekt durchschaut er zwar die niederen Beweggründe des massengesteuerten Systems, lässt sich aber trotzdem von der Menge treiben, was ihn zu einem von ihnen macht: "Aus allen Mäulern quillt die gleiche Scheiße, ich kann es nicht mehr hören, aber ich mache mit. Was denn auch sonst. Wer nicht mitmacht, hat schon verloren." (Lan 17) Es ist durchaus möglich, dass Matthias Altenburg in der Persönlichkeitsstruktur seines Misanthropen - bewusst oder unbewusst - eben das allen gemeinsame Element herausgearbeitet hat, so auch sein eigenes schriftstellerisches Dilemma. Neuhaus leidet an seiner Bedeutungslosigkeit innerhalb der Gesellschaft und ergibt sich einer defätistischen Larmoyanz, die sich in der Tarnung eines alles umfassenden Ekels und Hasses äußert. Seine an den Tag gelegte Blasphemie ist der Ruf eines Alleingelassenen, der von seiner Passivität erdrückt wird: "Ich glaube nicht, daß es einen Gott gibt, aber es wäre mir lieber, wenn es einen gäbe. Es macht mich nervös, daß sechs Milliarden Menschen auf der Erde leben, irgend etwas tun oder irgend etwas nicht tun, und alles ist völlig egal." (Lan 12) Lediglich in seiner imaginären Subversion findet er Zuflucht, weshalb auch sein Streben nach dem Entkommen aus dem allgegenwärtigen Ennui zwangsläufig in einem Amoklauf münden müsste. Symptomatisch durchlebt er diesen nur in seiner Vorstellung, weil er irgendwie doch noch am Leben hängt und auf Erlösung wartet. Denn nur "[w]er bereit ist, sein Leben zu lassen, [...] hat immer eine gute Chance, jeden Schutzwall zu durchbrechen, jedes Verbrechen zu begehen. Das ist es. Wer keine Angst vorm Sterben hat, ist unbesiegbar. Ein Selbstmörder ist nicht zu stoppen." (Lan 38) Aber "[s]elbst um sich umzubringen, braucht man wenigstens die Hoffnung, daß der Tod besser ist als das Leben." (Lan 22)
Matthias Altenburgs Kurzroman ist von einer Monotonie des Wutes durchzogen, sei es der tagtäglich exerzierte Ärger der Massen oder Neuhaus´ innere Eruption. Er zeichnet Menschen des Multimedia-Zeitalters, die um eine Empfindung zu verspüren andere Menschen töten müssen oder zumindest vom Bedürfnis danach gelenkt werden. Sie sind triebgesteuerte Kreaturen, "Wölfe", die ihre Energien nicht gegen das sie unterdrückende System richten, sondern gegen ihresgleichen. Der von der kapitalistischen Gesellschaft angebotene, ja nahezu befohlene existentielle Kampf untereinander erweist sich als ein stabilisierendes Element und führt zur aussichtslosen Anpassung zwecks des Überlebens. Angesichts der Ausweglosigkeit aus diesem ökonomischen Perpetuum mobile konstatiert Neuhaus: "Ich denke, daß sich nichts geändert hat. Daß sich wahrscheinlich niemals etwas ändern wird, und schon gar nicht die Menschen." (Lan 111)
Möglicherweise kann man Neuhaus´ Schicksal auf den westdeutschen Schriftsteller übertragen: Ausgeliefert der marktwirtschaftlich orientierten Literatur-Maschinerie glaubt er seine literarische Existenz durch eine mehr oder minder große Kompromissbereitschaft zu sichern. Am besten gelingt dies wohl, indem man die Sensationsgelüste der Masse befriedigt und dem Leser demonstriert, dass sogar ein Schriftsteller keine Lösung parat hat. Auf das motivisch ständig wiederkehrende "Ich weiß nicht" folgt am Ende des Romans eine Antwort: "Es bleibt das Gleiche. Immer. Bei allen. [...] Ich weiß." (Lan 159)
Im Jahre 1996 entfachte der deutsch-jüdische Autor Rafael Seligmann einen Disput mit Matthias Altenburg, indem er seine mangelnde Ausei-nandersetzung mit der deutschen Vergangenheit anprangerte. Altenburg reagierte gereizt und ließ dieser Kritik mehrere programmatische Schriften folgen. Womöglich wären diese nicht vonnöten gewesen, denn bereits 1994 war sein zweites Werk, die Novelle "Die Toten von Laroque" erschienen, deren Thematik durchaus um die Frage der Schuld der deutschen Nachkriegsgenerationen kreist. Der Held, ein deutscher Lehrer namens Schäfer, verlässt das ihm zu eng gewordene Deutschland und begibt sich nach Frankreich, wobei er an einem Ort landet, "in dem sich [sein] Vater vor langer Zeit für eine Weile aufgehalten" (Tot 10) hat. Er ist fasziniert von der Fremdheit, fühlt sich aber zugleich bedroht von ihr, weil er merkt, dass er immer der "Deutsche" bleiben wird. Er gerät in eine erotisch-geheimnisvolle Atmosphäre, die ihre Energie aus der Frage nach seiner Verantwortung für die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs bezieht, und deren Spannung sich schließlich in einem unerhörten Verbrechen entlädt: Auf der Flucht vor einer Vergangenheit, die nicht die seine ist, stürzt Schäfer in die Wiederholung der damaligen Gewalt, indem er die Einheimische Natalie vergewaltigt und (der offene Schluss lässt dies annehmen) anschließend tötet.
Offensichtlich gründet sich Altenburgs Weltanschauung auf einem strikten Fatalismus: Der Mensch erstickt an der Langeweile und vollbringt allerhand seltsame Dinge auf der Suche nach einem Sinn. So kann sich auch der Holocaust wiederholen, denn: "Gar nichts ändert sich. Nur die Leute tun so, als wäre alles anders. Weil sie es nicht aushalten, daß das Leben immer so weitergeht, weil sie sich für einmalig halten, weil sie es nicht ertragen können, in einer Zeit zu leben, die genauso langweilig oder genauso aufregend ist wie alle anderen Zeiten. Und dann fangen sie an, überall herumzumurksen: an den Grenzen, an den Genen, an den Gewißheiten." (Tot 112/113) Das Leben eines jeden ist somit ein Sisyphus-Leben und alles Elend rührt von der rationalen Beschäftigung mit dem Leben her:
"Wenn das Denken nicht imstande gewesen war, die Todeslager zu ver-hindern, dann trug es womöglich Schuld an ihnen." (Tot 104) Deswegen muss es müßig sein sich mit der Schuld zu beschäftigen, sei es auf der Flucht vor ihr oder in einem verpflichtenden Bejahen, das in einem negativen Nationalismus mündet. Für Altenburg scheint die Normalisierung des deutschen Volkes mit einem schweigsamen Sichabfinden mit dem Schicksal einherzugehen. Seine Novelle endet mit vollgendem Gedanken: "Sie warfen mir Gleichgültigkeit vor, weil ich schwieg. Dabei sahen sie aus, als würden sie einer Pflicht genügen. Ich wußte nichts zu sagen. [...] Ob ich hierblieb, ob ich an einen anderen Ort fuhr oder zurück nach Deutschland, es war egal. Ich beschloß zurückzufahren." (Tot 124)
Die Eintönigkeit des individuellen Daseins und die Vorherbestimmung durch die ins Anonyme weisende materielle Obligation führen zu der Schlussfolgerung, dass der Geschichtsverlauf in erster Linie durch seine Unabänderlichkeit gekennzeichnet ist. Aus dieser Überzeugung heraus verliert die Literatur ihre korrigierende, an das Utopische erinnernde Funktion: "Die Literatur hat ihre öffentliche Rolle aufgegeben. Und mit ihr jeden Anspruch auf Repräsentanz" (22, 30). Die Gestaltung des Politischen überlässt sie ausschließlich der Politik, wohlwissend um deren Abhängigkeit vom alles bestimmenden Kapital. Sie zieht sich währenddessen in die Innerlichkeit zurück und schildert den nur gedachten Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit.
2.3 Hermetismus als Abschottung gegen die Realität
Die zeitgenössische westdeutsche Belletristik wird von den im Vorgriff behandelten Richtungen dominiert, weil sich diese an die wirtschaftlichen Prämissen des Literaturmarktes offensichtlich am besten angepasst haben. In erster Linie treffen sie die Bedürfnisse des Massenpublikums und sichern über die dementsprechend hohen Auflagen die Existenz der Autoren.
Daneben fristet dennoch eine weitere Literaturart ein unbeachtetes Dasein und besteht, obwohl sie sich über die Gesetze der Marktwirtschaft hinwegsetzt. Subventioniert über Literaturpreise und Stipendien können es sich einige wenige Autoren leisten ihren Neigungen nachzugehen und kulturell hochwertige, komplexe Werke zu schaffen, die durch ihre Unverständlichkeit, ihre hermetische Abgeschlossenheit charakterisiert werden können. Lesen mutiert hier zur harten Arbeit, was zur Folge hat, dass "die Gemeinschaft von Schreibern und Lesern avancierter Literatur immer enger zusammenrückt." (28, 50) Die Beschäftigung mit derartigem Schriftgut wird mehr und mehr zu einer minotären Angelegenheit, "[d]er Literat dissimuliert und verrätselt, der professionelle Leser tüftelt und entschlüsselt." (28, 43) Auf Grund der Minimalisierung des Rezipientenzirkels geht aber die gesellschaftliche Relevanz der Literatur beinahe gänzlich verloren. Ohnehin scheinen die Autoren eine Veränderung der politisch-sozialen Situation nicht anzuvisieren, konzentrieren sich stattdessen auf die Chiffrierung, während der Leser im Folgenden seine ganze Energie für eine mögliche Decodierung aufwendet. Subversive Tendenzen werden zwar latent ausgesprochen - oftmals richtet sich die Kritik direkt gegen den Kapitalismus -, durch die unauflösbare Verschlüsselung jedoch bereits im Vorgriff negiert. Die bis in hochkomplexe Auflösungsformen getriebene Literatur bildet nicht die utopischen Lebensverhältnisse ab, schafft im Gegenzug aber die Möglichkeit eines systemstabilisierenden, weil folgenlosen Selbstgesprächs. Zwar mag der Verweis auf die Vernetzung der Moderne und die sich daraus ergebenden Folgen für das Individuum durchaus berechtigt sein, im Grunde handelt es sich bei dieser Literatur weithin um einen Eskapismus in einen kognitiven Mikroskopismus. Die vom Käufer sowieso verpönten Gattungen Drama und Lyrik sind von dieser Schreibweise geprägt, wobei man bedenken muss, dass die traditionelle Wirkungsabsicht eine Reversion erfahren hat. Das Theater als moralische Anstalt wird nun zur Stätte der Unverständlichkeit und Konfusion, die Lyrik gibt ihre emotionale Bindung zum Rezipienten auf und macht sich zur rationalen sprachdurchleuchtenden und -negierenden Instanz.
Als Beispiel kann die junge westdeutsche Dramatikerin Kerstin Specht angeführt werden. Die 1956 in Kronach (Oberfranken) geborene Autorin studierte zunächst Literaturwissenschaft, nahm Schauspielunterricht und wechselte später an die Hochschule für Fernsehen und Film in München, wo sie seit 1988 als freie Schriftstellerin lebt. Sie erhielt zahlreiche Preise, zuletzt 1993 den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis für das Stück "Mond auf dem Rücken". In ihrem 1993 am Ulmer Theater uraufgeführten Stück "Der Flieger" spielt die Sprache eine Hauptrolle. Es geht immer ums Sprechen und um die Sprechenden, die sich mit oder trotz oder wegen der Sprache einander nicht mitteilen können. Obwohl sie sich nicht verstehen, antworten sie und bedienen sich dabei gesellschaftlich vorherbestimmter Platitüden, die auf fester Rollenzuweisung gründen.
Die Handlung des Stückes ist unwesentlich, weil belangslos: Der Flieger von Ulm möchte um jeden Preis fliegen lernen und sich somit vom Alltagszwang lösen sowie über alle anderen erheben. In der ihn umgebenden Normalsprach-Normwelt redet er ganz anders als die ihn darniederhaltenden Mitmenschen mit ihrem alltagshörigen, auf purem Egoismus basierenden Gehorsams-gerede. Der Flieger indessen verachtet das kapitalistische Leben, verrät allerdings seine Gesinnung, indem sein Streben nach der Fähigkeit zu fliegen dem Wunsch nach Wohlstand und Anerkennung entspringt. Seiner Tochter teilt er seine Hoffnungen mit:
"Dann kauf ich dir Puppen und Kleider, / und eine Zukunft, / und eine Auswahl unter den Männern, / die du einmal heiraten kannst. / [...] Das Geld wird die Häßlichkeit / aus unserem Leben vertreiben, / die so müde macht." (Fli 151) Außerdem hängt seine Arbeit am Fluggerät von wirtschaftlichen Faktoren ab:
"Und kein Stoff mehr im Haus / muß wieder bestellen, / wieder was verkaufen, / [...] Kann die Flügel nicht / mit den Schweißflecken unterm Arm / bespannen." (Fli 118)
Hinzu kommen andere Hindernisse, so das Verhalten seiner Frau, die sich um ihre Existenz und das gesellschaftliche Ansehen sorgt und ihn mit Sexualität in ihren Bann zu bekommen versucht ("Leg dich hin. / Leg dein Ei / und ruh / und aus." (Fli 112)). Seine Mutter möchte ihn ebenfalls von seinem Ausbruchsversuch abhalten und bedient sich dabei ihrer maternalen Autorität ("Fliegen kannst du, / wenn du tot bist. / Wennst ein Engel bist, / kannst genug rumfliegen." (Fli 115)). Ihrer Schwiegertochter wirft sie mangelnde Aktivität vor: "Wenn du ein rechter Schatz gewesen wärst, / hättst du ihn im Bett gehalten, / und er wär nicht auf die Idee gekommen / herumfliegen zu wollen. [...] Manche Dinge muß man öfter in den Mund / nehmen, / bis sie einem schmecken." (Fli 116)
Dergleichen ist es keine Überraschung, dass ein Scheitern vorprogrammiert ist. Das Stück endet mit einem vielstimmigen Gelächter. Der Flieger wird mit zerbrochenen Flügeln, durchnässt und ohnmächtig herangeschleift.
Kerstin Specht spielt ganz gezielt mit sprachlichen Grenzbereichen. Ständig prallt Realsprache mit Poesiesprache zusammen und lässt die Realmenschen sich plötzlich in der Terminologie der Poesie mitteilen. Natürlich verstehen sie sich nicht, antworten dennoch immerzu. Die lapidaren Szenen und Dialoge bewirken einen Schnitteffekt, der auf das Wesentliche verweist, nämlich den Sprach-Traum-Teppich, einen solipsistisch gefärbten Tonfall, der das Innerste der Menschen nach außen kehrt. Diese Menschen-Vögel stecken alle in dem Käfig der Sprache, allenfalls der Traum entwischt durch die Gitter. Ohne es zu wissen scheinen sie sich teilweise selbst zu durchschauen, des Öfteren sprechen sie ihre eigenen Motive an. Jeder teilt dem anderen auf seine Weise seinen Flugtraum mit und sie alle stürzen gemeinsam wieder ab.
Kerstin Spechts Dramatik mag ein harmloses Beispiel für eine an den Eigenarten der Sprache orientierte Literatur sein, ihr Wille zur absoluten Chiffre hält sich trotz der schwierigen Thematik in Grenzen. Ganz anders verfährt hier der westdeutsche Lyriker Thomas Kling, der in seinen "Sprachinstallationen", wie er seine Gedichte bezeichnet, das Geschriebene mit dem Gesprochenen mischt und sich mit einer enorm akzelerierten Bilderflut über die zerborstene Wahrnehmung des Menschen hinwegsetzen möchte.
Thomas Kling, geboren am 5.6.1957 in Bingen, verlebte seine Jugend in Düsseldorf. Später hielt er sich zeitweilig in Wien auf, wo er mit der experimentellen Lyrik, wie sie die Wiener Gruppe Anfang der sechziger Jahre proklamiert hatte, in Kontakt kam. Er wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.
In seinem 1997 erschienenen Essay "Itinerar" beschäftigt sich Kling mit historischen Sprachvorführungen von Dichtung und deduziert hieraus sein eigenes lyrisches Programm: "Was darf das Gedicht dieser Jahre keinesfalls sein? Ich meine laut: Rezeptions- und Unterhaltungsindustrie." (Iti 51)
Deswegen nimmt er für sich den Hermetismus in Anspruch und wehrt sich sogleich gegen von außen angetragene Kritik, dies seien "dem Totalitarismus das Bett bereitende dichterische Schreibweisen." (Iti 53) Für ihn ist das Gedicht ein "paradoxes Instrument der Distanzüberwindung wie -gewinnung." Es "macht sich nicht vor, daß es heute, am Beginn einer weitgehend postliteralen Gesellschaft, kein Luxus ist. Vor allem aber: es besorgt weder das Geschäft des Schweigens, noch das des Verschweigens, da dies der Sprache bekanntlich unmöglich ist. Was Hermetik anbelangt, so duldet das Gedicht nur keine Unduldsamkeit. Gedichte sind hochkomplexe (´vielzüngige´, polylinguale) Sprachsysteme. Kommunikabel und inkommunikabel zugleich" (Iti 55).
Diese Prinzipien befolgt er in all seinen Werken, insbesondere in dem 1993 auf den Markt gekommenen Gedichtband "nacht.sicht.gerät.", das mit den Regularien und Konventionsformen der Sprache spielt, indem es den Sprachraum durchleuchtet und ihn anschließend für den Landschafts- und Historienraum öffnet. Mit einem exorbitanten Tempo durchläuft Kling Zeit und Raum und nähert die Geschichte der gewalttätigen Gegenwart an. Haben die Avantgarden der Wiener Gruppe zur Textherstellung auf ethnographische Stoffe aus alten Reiseberichten als außerliterarisches Material zurückgegriffen, so bemächtigt sich Kling eigener Reiseerfahrungen um sie in den Dienst seiner sprachzerstörenden und wahrnehmungsintensivierenden Lyrik zu stellen.
Seine Hauptthematik ist dabei das "Desaster unserer zerstückelten Wahr-nehmungen", verkündet der Klappentext, es sind "die ganzn bildverein-zelungen!" (nac 51), wie es im Gedicht "drift" heißt. Die in unseren Gehirnen zu Informationssplittern zerstückelte Sprachwelt versucht Kling noch einmal poetisch-subjektiv zusammenzuhalten und bedient sich dabei vielfältiger Multivisionstechniken, im Sinne einer Kameraführung: "[...] ölig, gelb. bild, / schaltungen. [...] / [...] einzel. bild. schaltung." (nac 29)
Friederike Mayröcker schreibt in der ZEIT: "Thomas Kling: Poesie Gratwanderer, Poesie Lunatiker, mit dem Selbstauslöser Sprachbilderkataloge generierend, er selbst in kunstanarchischer Pose davor, nämlich als Magier einer ins nächste Jahrtausend weisenden Sprachverwirklichung: [...] geläufige Sprachästhetiken zerhackend, beschwört er eine neue Ahnung von Schönheit, die uns zerfetzt" (18).
Mit derartigen sprachlichen Operationen stellt er aggressive Textgebilde her und versucht durch Simulation der Zerstückelung eben dieser standzuhalten. Mit dem Prisma der Sprache schaltet er zwischen Orten und Zeiten hin und her und bemüht sich durch die sperrigen Worte den Fluß der Bewegung zu unterbrechen um Bild für Bild die Wahrheit der Worte zu erfahren. Sprachlich äußert sich dies in häufigen Brüchen, harten Konsonanten und Verkürzungen, die als Gesamtgebilde imaginäre Schmerzen beim Leser erzeugen. Die Gedichte muten an als eine aggressive Antwort auf die alltägliche Reizüberflutung im Muti- Media-Zeitalter.
In seinem Gedicht "drift" thematisiert Thomas Kling wohl - denn sicher kann man es nicht sagen - die Auswirkungen der globalen Vernetzung via Internet:
"schnittwundn abschiede schnitt.
und starr aufs test-, aufs textbilt
gestarrt. bildtest wiederum ausge-
falln. so passiert zungenentfremdung. [...]
in einzelbildschaltung; die ganzn bildvereinzelungen!
kontinente in zungenentfremdung. wir driftn auseinander. so." (nac 47)
Ihm geht es nicht um politisch-gesellschaftliche Zustandsbeschreibung, sondern um die Kognition des Individuums, das sich angesichts der technologischen Überforderung in Einsamkeit zu verlieren droht. Die interkontinentale Verbindung bewirkt eine noch größere Entfremdung, der Mensch wird auf Maschinelles reduziert.
Klings harter, drängender Rhythmus evoziert eine federnde Energie und nimmt vermutlich den kognitiven Kollaps im Informationszeitalter voraus. Seine Gedichte wollen laut gelesen werden, sie sind eigenartige "Sprach-Partituren" (13) - ein Rückgriff auf die Performance der Wiener Gruppe, von der Kling die Dialektik von Schrift und Rede übernimmt, die sich typographisch in der "Beibehaltung einer quasi phonetischen Schreibweise mit ihren Kontraktionen und Eliminierungen" (11) sowie einer obligaten Kleinschreibung äußert. Mit der öffentlichen Darbietung seiner Lyrik unternimmt Kling den hoffnungslosen Versuch gegen die multimediale Reizüberflutung anzukämpfen. Anstatt aber einen literarischen Gegenpol zu vermitteln, bestätigt er mit der exaltierten Simulation der Vielschichtigkeit einer oktroyierten Wirklichkeit die Ausweglosigkeit aus dieser Informationsflut, und somit die Statik des aggressiven Systems.
Kerstin Specht und Thomas Kling weisen als Vertreter der mit Sprache spielenden hermetischen Dichtung auf den allgemein vorherrschenden refugialen Charakter der westdeutschen Literatur hin. In der Tat scheint der fünfzigjährige kapitalistische Einfluss auf die in der BRD aufgewachsenen Autoren nicht ohne Auswirkungen geblieben zu sein. Flüchten die einen in eine irreale, im Nachhinein glorifizierte Erinnerung, so ziehen sich die anderen auf ihr innerstes Ich zurück und manifestieren die Unabänderlichkeit des gegenwärtigen Systems. Einige wenige nehmen zwar Stellung zur sozialen Situation des Individuums in einer von wirtschaftlichen Aspekten bestimmten Gesellschaft, durch die Art der Gestaltung verhindern sie aber gleichzeitig eine außerliterarische Wirkung. Schriftsteller vom Schlage eines Thomas Kling verlieren sich in der Durchleuchtung und Zersetzung der Sprache und vergessen, dass diese lediglich einen geringen Bruchteil des Menschen ausmacht. Die gesamtpsychologische Konstellation, existentielle Ängste und Hoffnungen oder die Unmöglichkeit sich in der Gemeinschaft zu verwirklichen werden auf kognitiv-linguale Beschaffenheiten zurückgeführt, die in der menschlichen Konstitution festgelegt sind. Die ausbeuterische Macht des kapitalistischen Systems wird dabei nur indirekt erwähnt, mögliche Alternativen verschwiegen, im schlimmsten Falle negiert.
Insgesamt muss die westdeutsche Literatur der Gegenwart als monoton und defätistisch charakterisiert werden. Die Schriftsteller orientieren sich an erfolgreichen und anerkannten Vertretern ihrer Sparte und schaffen epigonale Werke, die entweder einem selbstverliebten Realismus frönen oder die Wirklichkeit als hermetische Zerstückelung darstellen. Der Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz geht zunehmend verloren, die Literatur leidet an ihrer Abhängigkeit vom Literaturmarkt und tritt in Anbetracht der marktwirtschaftlichen Zensur den Weg in eine Einheitsliteratur an, die nunmehr der Selbstbeschäftigung und Ersatzsinnfindung dient.
3. Ostdeutschland und seine Schriftsteller
Ganz anders sieht es im östlichen Teil Deutschlands aus. Die ehemals in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung versprochenen "blühenden Landschaften" scheinen sich eher auf dem Sektor der Literatur realisiert zu haben. Viele junge ostdeutsche Autoren drängen auf den heiß umkämpften Markt und bereichern das deutsche Schriftgut mit erstaunlicher Fülle an Stil und Inhalt. Der seit langem konstatierte Stillstand in der deutschen Literatur wird nun als gebrochen angesehen, sie sei endlich losgelöst vom "amerikanischen Pragmatismus" (22, 181): "Es gibt in Ostdeutschland eine neue tragische Literatur, die sich von dem melancholischen Minimalismus des Westens weit entfernt hat. Einen poetischen Vitalismus (und sei es ein Vitalismus zum Tode), der antritt gegen den Beschreibungsfetischismus der früh gealterten jungen Westliteratur." (22, 187)
Mit der urplötzlichen Wende vom real existierenden Sozialismus in der DDR zur kapitalistisch geprägten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, wie sie seit fünfzig Jahren in der BRD vorherrscht, und der damit verbundenen Wiedervereinigung Deutschlands ändert sich die Situation für den ehemaligen DDR-Bürger immens. Stellt dieses geschichtlich bedeutende Ereignis für den in der BRD lebenden Menschen keinen entscheidenden Einschnitt dar (für diesen hat sich, was seine Lebenssituation anbelangt, im Grunde nichts gewandelt), so muss sich der in einer kommunistischen Diktatur Sozialisierte mit einer gänzlich neuen Lage auseinander setzen, sei es die neu erlangte Freiheit in ökonomischer wie gedanklicher Hinsicht oder aber der Zwang sich unter andersartigen Lebensbedingungen um den Erhalt seiner Existenz zu kümmern. Wie alle Menschen werden auch Schriftsteller mit dieser gesellschaftlichen Veränderung konfrontiert und zu einer Reaktion in ihrer literarischen Produktion genötigt. Da sie alle unterschiedliches Verhalten an den Tag legen, entsteht eine überraschende Vielfalt an schriftstellerischer Kreation. Der junge ostdeutsche Autor antwortet in seinen Werken auf die eingekehrte politisch-gesellschaftliche Situation und spiegelt somit die allgemeine Stimmung der Bevölkerung Ostdeutschlands wider.
In einem Interview haben sich die beiden Erfolgsautoren der Nach-Wende-Generation Thomas Brussig und Ingo Schulze einem Gespräch über die DDR und den Osten, über Literatur und die Schwierigkeit den Westen zu verstehen gestellt. Thomas Brussig bringt ihre Ausgangssituation auf den Punkt: "Wir haben beide den unverdienten Vorteil, daß wir den Osten kennen und den Westen kennenlernen wie einer, der im Ausland aufgewachsen ist. Der hat einen anderen Blickwinkel auf Hiesiges oder andere Kriterien, mit denen er umgehen kann. [...] Wir sind aus einer Generation, wir sind aus der DDR und die gibt es nicht mehr." (20)
Als Erbe der DDR-Literatur übernehmen die jungen Literaten die Ver-pflichtung zum literaturimmanenten Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, wobei sie oftmals über eine beschreibende Funktion hinaus-gehen und sich einer kritischen Stimme bemächtigen. Ihre Literatur behält ihre ursprüngliche Rolle als kontrollierende Instanz und versucht zugleich die Anforderungen des für sie neuen Literaturmarktes zu erfüllen. Das Ergebnis sind sehr gut lesbare, doch keinesfalls triviale Werke, die sich vorwiegend der reflektierten Wiedergabe der menschlichen Existenz im Wirrwarr der Wende widmen. Im Großen und Ganzen lassen sich drei verschiedene Arten von Literatur voneinander trennen. Die eine befasst sich mit der zu Grunde gegangenen DDR-Gesellschaft und schildert deren Weg hin zur Wende, während die andere - weitaus mehr verbreitete - sich mit der menschlichen Reaktion auf den plötzlichen Umbruch beschäftigt. Eine dritte zieht expressiv in den Kampf gegen die negativen Seiten des Kapitalismus ohne dabei dem kommunistischen System nachzutrauern, das Leben empfindet sie als einen ekelerregenden Zustand.
3.1 Rückblick auf die DDR-Gesellschaft
1995 ist Thomas Brussig mit seinem Roman "Helden wie wir" ein Über-raschungserfolg gelungen; "die Satire über eine verklemmte Jugend in der DDR ist in Ostdeutschland längst zum Kultbuch geworden." (26) Zum Ziel macht sich diese groteske Abrechnung mit der DDR-Repression die Erfassung der psychischen Konstellation des DDR-Bürgers. Als Vorlage hat Brussig das 1990 erschienene Buch "Der Gefühlsstau - Ein Psychogramm der DDR" des ostdeutschen Psychologen Hans-Joachim Maaz benutzt und die dort angeführten Thesen literarisch verarbeitet.
Der 1965 in Ost-Berlin geborene Schriftsteller arbeitete nach dem Abitur unter anderem als Möbelträger, Museumspförtner und Hotelportier. Von 1990 an studierte er Soziologie "aus Neugier", dann Dramaturgie "aus Berufung". 1991 debütierte er unter Pseudonym mit dem Roman "Wasserfarben", 1995 erschien sein erfolgreicher Wende- und Schelmenroman "Helden wie wir", dessen Bühnenfassung mittlerweile an mehreren deutschen Theatern aufgeführt wird.
"Alle, die edler sein wollen, als ihre Konstitution es ihnen gestattet, verfallen der Neurose; sie hätten sich wohler befunden, wenn es ihnen möglich geblieben wäre, schlechter zu sein", schreibt Freud über die sexuell "Perversen" (7, 1588). Klaus Uhltzscht, Held in Thomas Brussigs Roman "Helden wie wir" (1995), hat diese Probleme. Freimütig bekennt sich der Protagonist gegenüber der "New York Times" zu seinen verborgenen Ausschweifungen.
Seine Geschichte ist zugleich die Geschichte der "Wende" in der DDR. Er repräsentiert in der Tat die gesamte DDR-Bevölkerung und deren seelisch-materielle Bedürftigkeit, die schließlich die Mauer zum Einsturz gebracht hat.
Der Mann, dessen Name kaum auszusprechen ist - der sprechende Name steht für sein "Abstrampeln, daß [er] jede, aber auch wirklich jede Anstrengung auf [sich] nahm, um [seine] Mutter nicht zu enttäuschen (Hel 43) -, wächst in einer biederen DDR-Familie auf. Die Mutter ist "Bezirkshygieneinspektorin" (Hel 25), der Vater, wie es sich herausstellt, bei der Stasi involviert. Dergleichen sehen auch die Erziehungsmethoden aus: rigide und prüde. Der pubertierende Klaus muss in die Kluft fallen, die sich zwischen den Ansprüchen jenes Lebensalters und der Realität aufzutun pflegt, er entwickelt einen unheimlichen Drang zur sexuellen Perversion: "Was deinem Schwanz wohltut, darfst du nicht. In diesem Zwiespalt war ich zu Hause - bis ich die Perversion entdeckte." (Hel 247) Als der Inbegriff von Versager strebt Klaus stets nach Erhöhung, sei es im schulischen Wissenschaftswettbewerb oder letztendlich bei der Stasi, von der er sich große Aufgaben erhofft. Doch alles ohne Erfolg. Dafür aber wird er, der inzwischen eine Perversionskartei erfunden hat, zum persönlichen Blutspender Honeckers und stürzt mit seinem nach einem Unfall ins Unermessliche angewachsenen Glied sogar die Berliner Mauer.
"Das ist ein Buch, das ich aus Wut und Enttäuschung über die nicht stattgefundene Vergangenheitsbewältigung geschrieben habe. Ich stellte eine literarische Figur her, die sich mit ihrem Versagen auseinandersetzt. Sie hat die schlimmste Mitläuferbiographie, die ich mir ausdenken konnte, und erzählt das so freimütig, daß jeder ehemalige Mitläufer nichts beschönigen muß, sondern sein viel kleineres Sündenregister erzählen kann und vielleicht dabei ein Stückchen klüger wird" (20), erklärt Thomas Brussig in einem Interview.
Tatsächlich findet in diesem Roman eine originelle Aufarbeitung der Wende statt. Denn hinter all den vordergründigen Kuriositäten und Übertreibungen erscheint stets die Parallele zwischen der sexuellen Verklemmtheit, die wegen Unterdrückung in Perversion mündet, und dem real existierenden sozialistischen Staat DDR. Das implizite Aufatmen über den Wegfall der Entmündigung lässt sich auf jeder Seite erahnen. Nicht umsonst zieht Brussig einen Bogen von der frühkindlichen Erziehung hin zur Stellung des erwachsenen Bürgers in der DDR-Gesellschaft und zeichnet ein Bild der permanenten Repression.
Hans-Joachim Maaz leistet bei diesem Punkt Vorarbeit: "Der familiäre Erziehungsstil in der DDR war in aller Regel autoritär. Die meisten Eltern waren selbst Opfer repressiver Erziehung, und sie waren in einer Gesellschaft zu leben genötigt, die nur Anpassung und Unterwerfung belohnte." (17, 31) Vor allem auf dem Gebiet der Sexualität war öffentliche Askese angesagt und ist von den Eltern teilweise erzwungen worden. Nur so kann man sich Klaus Uhltzschts gestörtes Verhalten erklären, seine Komplexe wurzeln in den ständig wiederholten Verboten: " [...] als mir meine Mutter mit Hilfe des Verbotsschild-Zitats ´Eltern haften für ihre Kinder´ die Fährnisse des Vögelns nahebrachte, war ich so beeindruckt, daß ich für die nächsten vier Jahre praktisch mit Impotenz geschlagen war." (Hel 35) Was Klaus in seiner Jugend erlebt, wird später in seiner beruflichen Laufbahn bei der Stasi fortgesetzt. "Was in der Kindheit erzwungen wurde, haben die gesellschaftlichen Kräfte ausgenutzt und fortgeführt. Was von den Institutionen des Systems gefordert wurde, haben die Eltern den Kindern abverlangt. Kinder, die von ihren Müttern zum [...] ´braven Liebling´ gezähmt worden waren, konnten später als beflissene Helfer im Dienst des ´Sozialismus´ gut verwendet werden." (17, 53)
Thomas Brussig verneint jegliche willentliche Anstrengung des DDR-Volkes, die zur Wiedervereinigung geführt haben könnte. Für ihn sind Klaus´phallische Emanzipationsversuche unbewusst subversive Tendenzen, die exakt ins Herz einer diktatorischen Prüderie treffen, die das Sexuelle verteufelt, ideologische wie existentielle Vergewaltigungen aber zum Prinzip erhebt. Klaus Uhltzscht führt mit seinem vor lauter Mangel monströs angeschwollenen Penis die Wende herbei. Für Wolf Biermann ist "[a]n dieser phallischen Lüge zumindest dies wahr: Die domestizierte Herde der DDR-Untertanen war es jedenfalls nicht." (2)
Mit einseitigem Blick konzentriert sich Brussig auf die Vergangenheit der DDR und die Konsequenzen, die sich aus der Struktur des Staates für das Individuum ergeben haben. Nur unterschwellig wird auf das neue, kapitalistische System Bezug genommen, wobei die Freiheit als größter Gewinn für den Menschen in den Vordergrund gerückt wird. Ein derartiger Ansatz ist durchaus berechtigt, da ja der Weg hin zur Wende betrachtet wird. Die Folgen des Umbruchs werden in "Helden wie wir" weithin ausgeblendet.
Die ostdeutsche Schriftstellerin Kerstin Hensel verfährt hier anders und koppelt in ihrer Erzählung "Tanz am Kanal" (1994) die Vergangenheits-bewältigung mit einer Bestandsaufnahme der Verhältnisse nach der deutschen Wiedervereinigung.
Die 1961 in Karl-Marx-Stadt (nun wieder Chemnitz) geborene Autorin besuchte, nach der Ausbildung zur Krankenschwester, das Institut für Literatur in Leipzig. Dort war sie Aspirantin am Leipziger Theater und arbeitete seit 1978, freiberuflich, mit ständigem Lehrauftrag an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. Seit 1983 veröffentlichte sie Gedichte, diverse Erzählungen und einen Roman.
In "Tanz am Kanal" lässt sie die Lebensgeschichte der Gabriela von Haßlau in Leibnitz erzählen, als Kind, als Schülerin, als Lehrling und als Obdachlose, die auf zusammengesuchtem Papier ihr Leben aufschreibt, ein Leben, das wahrhaft verdient aufgeschrieben zu werden. Nicht nur mit Blick auf das eigene Leben, sondern auch auf das ihres Vaters, eines angesehenen Chirurgen, und der Mutter, die ihrer Biederkeit zum Trotz die privilegierte Ehe verlässt. Ihr Interesse richtet Hensel vor allem auf das Gerechtigkeitsverfahren eines sozialistischen Staates: Gabriela wird vergewaltigt und die erfolgte Anzeige gegen die Übeltäter wird nun als Verleumdung des Staates geahndet. Der Abstieg einer Familie aus anhaltinischem Adel wird schließlich mit Gabrielas Mittellosigkeit vollendet.
Jetzt schreibt sie nicht nur die Gegenwart auf, sie blendet zurück, im Wechsel, zwei Strömungen begegnen sich unaufhaltsam, lösen sich ab, überholen und begründen einander. Am Ende wird klar, dass sich mit der politischen Wende nichts geändert hat, lediglich die Ungerechtigkeit wird unterschiedlich verborgen.
"Es geht nur, weil ich schreibe." (Tan 67) So lautet der zentrale Satz in Kerstin Hensels Erzählung. Schreiben wird als das lebenserhaltende Element, als die einzige Zuflucht in den Vordergrund gerückt. Der Leser wird mit einer bemerkenswerten Intransigenz der Heldin konfrontiert. Denn Gabriela kämpft um ihr Überleben und will sich trotzdem ihre Menschlichkeit bewahren. Dieser verzweifelte Lebensmut verhilft ihr unter anderem zur folgenden Weisheit: "Aber die meisten Menschen wissen nicht, wer sie sind. Saufen und pennen - ein Leben! Die wissen nicht ihre Geschichte zu erzählen. Sind einfach abgefallen. Ganz nach unten. Ich gehöre nicht zu ihnen." (Tan 37)
"Anrührend ist ihr Widerstand gegen alles, was kaputt macht: ´Mich kriegt ihr nicht!´ Das setzte Gabriela gegen die elterliche Erziehung, die einer Abrichtung glich, ebenso gegen die Schule, das Sozialamt, aber auch gegen ihr gegenwärtiges Leben. [...] Kerstin Hensels Heldin will kein Opfer sein, sie lamentiert nicht, lebt am Kanal, zum Tanz kommt es freilich nur im Traum. Die Wende von 1989 bedeutet hier wenig" (3, 36).
Ist Gabrielas schriftstellerische Aktivität im sozialistischen Leben zu staatlichen Zwecken missbraucht worden, indem sie gezwungen worden ist Berichte gegen ihre Mitarbeiterinnen zu verfassen, so wird ihre Lebensgeschichte in der Gegenwart im Zuge der allgemeinen literarischen Konfektionierung im kapitalistischen System benutzt und als Bericht in der Frauenzeitschrift "MAMMILIA" abgedruckt. Was bleibt, ist die Ausbeutung dieser Fähigkeit.
Sogar eine Parallele zur Vergewaltigung in ihrer Jugend
("MeineGutemeineLiebemeineSchöne. Schlaffes Zucken. Komm schon! ruft der andere." (Tan 69)) gibt es: Als Obdachlose wird sie von einem älteren Polizisten bei sich aufgenommen und zur körperlichen Liebe gedrängt: "Ich mache mich klein, unsichtbar. Paffrath [der Polizist] hilft nach, drückt meinen Hintern nach oben und zeigt mir in die Tiefe, was er will. Ich rolle auf die Seite, bleibe liegen. Reglos." (Tan 119)
All diese Ungeheuerlichkeiten erzählt Kerstin Hensel mit einer Genauigkeit, die der Brutalität nichts schuldig bleibt und die dort abbricht, wo es ihrer nicht mehr bedarf. Auf diese Weise bildet sie die Existenz einer Frau ab, "deren Leben aufs Überleben reduziert ist." (3, 36) Die Wende entpuppt sich dabei als minder wichtig, das kapitalistische System bringt vielleicht eine neue Hoffnung, diese erlischt jedoch sogleich.
Kerstin Hensels Erzählung stellt ein typisches Beispiel für eine Literatur dar, die sich ihrer gesellschaftlichen Funktion bewusst ist, und sei es als letztmöglicher Ausweg aus einer unabwendbaren Situation. Literatur wird über die reine Unterhaltung hinweggehoben und nicht zu Zwecken der individuellen Selbstfindung degradiert. Viel mehr finden Kritik an der Vergangenheit wie an der Gegenwart Eingang in die Intention der Autorin. Ob derlei Bemühungen eine wirklichkeitsverändernde Wirkung entfalten können, bleibt fraglich, es zählt aber der Versuch.
3.2 Die menschliche Reaktion auf den Umbruch
Viele junge, in der DDR geborene Autoren wählen einen eher moderaten Weg zur Erfassung der neuen Situation, in der sich das Individuum wiederfindet. Eine kritische Auseinandersetzung mit der sozialistischen Vergangenheit der DDR sowie mögliche literarische Attacken gegen das kapitalistische System der Jetztzeit schwingen wenn, dann nur latent unter der Oberfläche der Geschichten mit. Die Autoren wenden sich der humanen Seite des Menschen zu, versuchen den renitenten Lebensmut angesichts widriger Umstände zu stärken, indem sie ihn, wo nur möglich, erspähen und in ihren Erzählungen verarbeiten. Die Möglichkeit des Scheiterns wird ebenfalls nicht beiseite gelegt, doch selten werden die Helden in ihrer Passivität beschrieben. Erst nach trotzigem Kampf erliegen sie den sie bedrängenden Opponenten und ertragen ihre Niederlage ohne sich zu erniedrigen. Der gesellschaftliche Bezug leitet sich indirekt aus der variationsreichen Schilderung unterschiedlichster Lebenswege und -irrungen als Antwort auf die politisch-soziale Alteration ab.
Neurdings taucht der Episodenroman als willkommenes Mittel zur Darstellung einer allgemein gültigen Existenzsituation immer mehr auf. Mit der Verschachtelung differenter Charaktere und Lebensstrategien erheben die ostdeutschen Autoren Anspruch auf Gesamtheit und verfolgen ihr Anliegen durch vielfältige und komplexe Überschneidungen, die das allen Gemeinsame hervorheben. Von verschiedenen Standpunkten aus werden Menschen beleuchtet, komplementiert, oft für ihr irrationales Handeln entschuldigt, manchmal aber auch kompromittiert. Hierzu gesellt sich die Mischung von verschiedenen Erzählperspektiven und - strukturen. Dabei wird deutlich, dass der Versuch gestartet wird sich über die reine Subjektivität und die sich daraus ergebende Reduktion und Unzulänglichkeit der modernen Literatur hinwegzusetzen, indem das subjektive Erleben vieler Protagonisten beschrieben und somit eine neue Art der Objektivität begründet wird. Mag sein, dass diese Erzählweise aus der Kollision der ehemaligen DDR-Literatur samt ihrem gesellschaftlichen Ansinnen mit der technischen Vielseitigkeit des modernen Romans der westlichen, das heißt amerikanisch beeinflussten Welt, entspringt, die deutsche Literatur befruchtet sie ohne Zweifel.
Ein möglicherweise triviales Beispiel für eine Literatur, die nach diesen Kriterien konzipiert ist, in diesem Falle die Brisanz sozialer Missstände aber völlig aus den Augen verliert, stellt der kurze Roman "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot" (1997) der ostdeutschen Schriftstellerin Sibylle Berg dar.
Diese wurde 1962 in Weimar geboren. Im Laufe ihres Lebens versuchte sie sich vergeblich in vielen Berufen, bis sie sich als Tierpräparatorin in Zürich niederließ. In ihrer Freizeit schreibt sie für das ZEIT-Magazin und die Frauenzeitschrift Allegra. Von der Autorin sind bis heute zwei Romane erschienen.
Ein paar Leute suchen das Glück und finden ihren Tod - tatsächlich sterben die meisten der rund Dutzend Gestalten, deren Suche nach einem Lebenssinn Sibylle Berg zu ihrem literarischen Gegenstand macht. Nur eine überlebt, die Hauptperson Vera, weil sie des Suchens satt ist, sich stattdessen an Banalitäten erfreut und lediglich darauf achtet irgend etwas Bedeutung abzugewinnen. Denn es ist "[s]chön blöd, einfach so sterben. Worum es geht, ist einfach nur, etwas zu lieben. [...] Es ist egal, was einer liebt." (Ein 180)
Sie hat es versucht, in ihrer Ehe, als Mutter, als Geliebte und Verführerin. Doch in einer zwischenmenschlichen Beziehung findet sie nicht, was den Augenblick überdauern könnte. "So einen Menschen anfassen ist schön, denkt Vera, für einen Moment die Einsamkeit überlisten. Das ist, wie die Zeit anhalten und an nichts denken." (Ein 64) Leider ist ein solcher Moment zu kurz, er verfliegt in Sekunden und kehrt nicht wieder. So gesehen erweist es sich als schier unmöglich das Gefühl des menschlichen Zusammenseins zu verewigen, die Vereinsamung des Einzelnen zu verscheuchen. Hinzu kommen die Mängel der Sprache - diese ist auch nicht in der Lage eine Emotion in Gedanken und Lauten zu konservieren. Die Individuen sind zum Aneinandervorbeireden verdammt: " [...] das Gefühl ist noch so dünn und hat Angst vor dem Tag, und die Worte bilden Lücken. Durch die rutscht das Gefühl, fällt auf den Boden." (Ein 78) Schließlich wird man sich nur noch "[a]n viel Mißverständnis [...] erinnern. Und die Angst zu sagen: Es war ein Mißverständnis." (Ein 108)
Mit zynischer Lakonik beschreibt Berg die Konsequenzen, nämlich das sinnlose Suchen nach dem Wahren, dem ewigen Augenblick. Jede der handelnden Personen weiß um die Unmöglichkeit ihres Strebens und dennoch wird die selbstzerstörerische Besessenheit nicht aufgegeben, es wird weitergejagt, bis der Tod die Aufgabe erzwingt. Eben durch diese gefährliche Suche nach dem Einmaligen, die letztlich in verzweifelten Handlungen kulminiert, kommt der Tod. Ihr Ende finden die Charaktere immer durch die Liebe, zu der sie aus der für sie unzureichenden Gegenständlichkeit der Welt flüchten. Obwohl sie alle wissen, dass sie einer Illusion hinterherrennen, riskieren sie ihr Leben um der Gewöhnlichkeit und Sinnlosigkeit zu entrinnen. Die ewig unglücklich verliebte Bettina ist sich dessen durchaus bewusst: "Ich bin Mittelmaß. Ich bin jemand, der die Welt weder anhält noch schneller laufen lässt. Ich bin ein aufgeblasenes Nichts." (Ein 92) Das Bestehen ohne sich an irgend etwas zu klammern, das zumindest den Anschein etwas Großen birgt, etwas, das unergründlich ist wie Gott oder die Liebe, scheint unmöglich: "Wie alle, die nicht zur intellektuellen Ekstase taugen. Renne ich der Ekstase der Liebe hinterher. Damit etwas passiert, das mich aus der Gewöhnlichkeit meiner Gedanken hebt. Und rechtfertige wie alle: Die Liebe ist es doch, um die es geht. Es geht vermutlich um etwas ganz anderes." (Ein 92)
Die Parallelen zwischen Sibylle Bergs Roman und dem westdeutschen Defätismus eines Matthias Politycki sind zunächst nicht zu übersehen. Beide widmen sich dem Phänomen der Liebe und verschließen sich gegen politisch -soziale Aspekte des menschlichen Miteinanders. Und trotzdem geht Berg einen Schritt weiter, verharrt nicht in dem illusionären Tagtraum, die Liebe und Sexualität seien die einzig bestimmenden Bestandteile des menschlichen Seins. Indem sie die Sturren sterben lässt, appelliert sie an den Leser sich über seine geistigen Grenzen hinwegzusetzen und der kurzen Spanne seiner Existenz bewusst zu werden. Im Gegensatz zu Politycki beschränkt sich Berg nicht auf eine einzige Person und deren Innenleben, sondern erschließt mit der gleichwertigen Behandlung mehrerer Protagonisten ein universales Bild. Die Tatsache, dass sie dabei eine Nekropole kreiert, mag dem dramatischen Vitalismus Ostdeutschlands zugeschrieben werden.
Betrachtet man die reine Formalität, so konstruiert der viel gelobte Schriftsteller Ingo Schulze seine Gesellschaftspanoramen nach einem ähnlichen Muster wie Sibylle Berg. Auch er bedient sich der episodischen Darstellungsweise, sein Hauptaugenmerk legt er allerdings auf die Reaktion des Individuums auf den politisch-gesellschaftlichen Umbruch.
Der 1962 in Dresden geborene Ingo Schulze gilt als einer der wichtigsten deutschen Nachwuchsautoren. Er studierte klassische Philologie in Jena, gründete 1990 das "Altenburger Wochenblatt" und ging 1993 für ein halbes Jahr nach St.Petersburg um dort ein ähnliches Anzeigenblatt aufzubauen. 1996 verbrachte er ein weiteres halbes Jahr in New York. Für seine beiden Werke "33 Augenblicke des Glücks" (1995) und "Simple Storys" (1998) wurde er mit zahlreichen, renommierten Preisen ausgezeichnet.
"Die simple Tatsache, daß ich die DDR weder nachahmens- noch in ihrer real existierenden Gestalt erhaltenswert fand, aber dort nicht unglücklich war, läßt sich manchmal schwer begreiflich machen. Und wenn ich nicht wüßte, daß es so gewesen ist, würde ich es heute vielleicht selbst nicht glauben", referiert Ingo Schulze in einem Gespräch mit dem amerikanischen Schriftsteller Richard Ford. "Zum Leben in der DDR gehörte für mich immer die Vorstellung einer Alternative. Das war Hoffnung und Illusion zugleich. Die Mauer bot sich aber auch als Entschuldigung für ganz persönliches Versagen an [...]. Als Ostdeutscher habe ich den Vorteil, daß ich jetzt zwei Welten kenne und somit vergleichen und relativieren kann." (24) Wie alle DDR-Bürger war Schulze gezwungen sich mit den neuen Umständen nach der Wiedervereinigung auseinander zu setzen. Die Konfrontation bestand auf der einen Seite in der grundlegenden Dominanz der Ökonomie, auf der anderen in der neuartigen Situation für den Schriftsteller Schulze. Nicht ohne Grund konzentrierte sich sein Schreibdrang zuallererst auf den Journalismus, bietet dieser ja eine sichere wirtschaftliche Basis im Gegensatz zur Belletristik.
Der junge Autor, der mit der DDR-Literatur aufgewachsen ist und sich erst im Stadium der literarischen Entfaltung befindet, durchlebt den abrupten Bruch mit der Tradition ganz besonders. Bestand für die nicht-konformen Bücher der DDR-Schriftsteller der stilistische Ansatz aus dem "Rückgriff aufs pathetische Sprechen des betroffenen Subjekts, etwa nach dem Luther-Modell ´Hier stehe ich! Ich kann nicht anders!´" und der "subversive[n] Rede, die von den vielen Möglichkeiten des Doppelsinns, der Mehrfachlektüre, der listigen/grotesken/ironisch-parodistischen Verschiebung und Verfremdung [...] Gebrauch macht" (3, 31), so bedeutet die politische Wende einen Hinfall dieser Muster. Die Literatur verliert ihre Legitimation als politisch-didaktisches sowie korrektives Leitmedium und stellt den jungen Literaten vor die bange Frage nach der Bedeutung und dem Ziel seines Schaffens.
In seinen Büchern findet Schulze einen eigenen Stil, indem er auf tradierte Formen aus der Weltliteratur zurückgreift und ihnen inhaltlich die Zusammenhänge der Gegenwart einverleibt. Der Kapitalismus legt für ihn ebenfalls eine Exploitation an den Tag und kann in der Endwirkung mit dem Sozialismus der DDR verglichen werden: "Die Möglichkeiten sind im Guten wie im Bösen ungleich größer geworden. Die Abhängigkeiten sind jetzt andere. Die Kontrolle durch das Geld prägt oder deformiert ebenso wie politische Unfreiheit. [...] Literatur bedeutet für mich, die Welt im Wassertropfen zu sehen. Das heißt, wenn ich eine Geschichte erzähle, muß ich möglichst genaue Situationen schaffen. Schon allein die Benennung von Ort, Zeit und Personen läßt Politisches in die Geschichte einströmen." (24) Fiktionale Literatur wird somit als ein Mittel zur Erfahrung der sinnlichen und emotionalen Wahrnehmung verstanden, als eine auf Erweiterung des Bewusstseins zielende Kreation, die ihren gesellschaftlichen Anspruch nicht eingebüßt hat.
Dergleichen lässt Schulze seine eigenen Erfahrungen, speziell als Zeitungsmacher und Schriftsteller, in seine Romane einfließen. So ist es nicht verwunderlich, dass sein erstes Buch "33 Augenblicke des Glücks" kurz nach seinem Russland-Aufenthalt entstanden ist und die dortigen Zustände beleuchtet. Als eine Vorstufe zum Wenderoman "Simple Storys" wird der Wandel der Stadt Leningrad zu St.Petersburg ähnlich wie später die Metamorphose des DDRBürgers zum Bundesbürger beschrieben.
Fünf Jahre nach dem Fall des russischen Kommunismus, dem für den Westen evidenten Beweis, dass funktionierender Sozialismus eine Utopie bleiben muss, schildert Ingo Schulze die Auswirkungen des eingekehrten Kapitalismus auf die im sozialistischen Freilandversuch Russland geborenen und aufgewachsenen Menschen. Es wird sozusagen die Wiege dieses gesellschaftlichen Novums betrachtet.
Schulze stellt sich die Frage, wie Individuen, die jahrzehntelang den Kapitalismus als eine abscheuliche, triebhafte Erfindung ansehen mussten und nun, ohne Vorwarnung und Vorübung, eben in diese Löwengrube geworfen wurden, reagieren. Wie wird sich der dem russischen Kommunismus entwachsene Geist mit dem für ihn neuen Kampf ums Überleben vertragen, wie die Hast, die Gier, die Unmenschlichkeit des Marktes mit den mehr oder minder großen menschlichen Verfehlungen gegen das Kollektiv im ehemaligen Sowjetreich? Um diese schwerwiegende Aufgabe zu bewältigen wählt Schulze die Art des Episodenromans. 33 meist inkohärente Geschichten bringen die Antwort oder die jeweiligen Ansätze zu Tage. Im Vorspann, in dem er die verzwickte Erzählweise seines Romans zu erklären versucht, fällt diese Anmerkung: "Je weiter wir uns von meiner Frage entfernten, um so unbekümmerter erzählte er, um so phantastischer und unglaubwürdiger erschienen mir seine Geschichten." (33A 8) Und genauso stellt sich seine Geschichtensammlung dar: kompliziert, unübersichtlich und durcheinander. Aber dennoch mit einem Leitfaden versehen, denn immer dreht sich alles um Menschen, die mit dem neuen Russland in Kontakt kommen, seien es Deutsche als Außenstehende oder Russen. Diese erleben groteske, exotische Abenteuer im "Wilden Osten", aber auch Alltäglichkeiten, die trotzdem eine latente Brutalität widerspiegeln. Durch die Entrückung des Stoffes ins Unbegreifliche und den oft plötzlich einbrechenden Übergang von der Realität ins Fantastische wird das Eigentliche umso deutlicher - die Penetration des Menschen an Hand einiger ausgewählter Subjekte. Schulze gewährt hierbei nur so viel Orientierung, wie es den Protagonisten gegönnt ist, mal spielt er mit der Verknappung und Auslassung, dann erzählt er wieder prosaisch wie die alten russischen Dichter Puschkin, Gogol oder Bilgakow und zeichnet ein breit gefächertes Bild von den postkommunistischen Verhältnissen in Russland.
Unterschiedlichste Lebenswege werden exemplifiziert, von einer offen ausgesprochenen Sowjet-Nostalgie hin zur gewissenlosen Ausbeutung im Namen des freien Marktes ist alles vorhanden. So trauert eine alte Anhängerin des Kommunismus und lässt dabei ein gehöriges Maß an Plausibilität nicht missen: "Ich leugne nicht, daß wir Fehler gemacht haben, daß es unnötige Härten gab, daß Menschenleben sinnlos geopfert wurden. Aber man ließ uns auch keine Zeit, immer die ganze Wahrheit herauszufinden, die Welt stand gegen uns." (33A 196) Der Verlust eines Ideals, eines entfernten Zieles, auf den man hinarbeitet, nagt am Selbstverständnis der Menschen. Mögen die einen die vergangene Zeit euphemistisch zurückwünschen, so adaptieren die Jüngeren zwangsläufig die Gepflogenheiten der freien Marktwirtschaft: "Eine bessere Zeit ist angebrochen, Mama. Nicht für alle, aber für alle, die Ideen haben und gut arbeiten. [...] Das ist nichts anderes als ein Kreuz schlagen aus Angst vor dem Montag, glaub mir, und auf die Knie gehen, das gibt´s überall. Aber alles zu sagen ist nicht gut, weil dann alles kaputt geht, weil alles Egoismus ist oder Instinkt oder rein gar nichts mehr, weil es nichts Selbstloses gibt, nichts wo man alles für den anderen und nichts für sich selbst erhofft." (33A 93)
Hinsichtlich der Umstellung auf die kapitalistische Dogmatik scheinen die Russen weitaus extremer zu sein als die Deutschen. Zumindest lässt sich dies aus dem Vergleich der beiden Romane von Ingo Schulze deduzieren. Finden in "33 Augenblicke des Glücks" auch wilde, von brutaler Vitalität durchzogene Szenen ihren Platz, muten die Lebensgeschichten der ehemaligen DDR-Bürger in "Simple Storys" (1998) eher bieder und gehemmt an.
In 29 scheinbar "einfachen Geschichten" erschließt Ingo Schulze mittels vieler kleiner Alltagsbegebenheiten den Zusammensturz einer ganzen Welt, die Folgen jenes dramatischen Bruches, der sich durch so viele ostdeutsche Biographien zieht. Auf eine unpathetische und selbstverständliche Weise zeichnet er in filmischen Ausschnitten die Lebensläufe von 29 von der Weltgeschichte überrumpelten Protagonisten, die sich in der für sie veränderten Wirklichkeit - stets scheiternd - zurechtzufinden versuchen.
"Poetische Vorbilder zu finden, hat Ingo Schulze zum Prinzip seines Schreibens gemacht." (8) Waren es bei seinem ersten Buch "33 Augenblicke des Glücks" insbesondere die Russen, greift er für seine "Simplen Storys" die Sprache der amerikanischen short stories auf und transfundiert sie auf die Befindlichkeiten in der ostdeutschen Provinz der 90er Jahre, auf die Schicksale der Menschen der Stadt Altenburg. Ganz den amerikanischen Vorbildern wie Raymond Carver oder Richard Ford nacheifernd ist seine Prosa durch Sparsamkeit, viele Andeutungen und Auslassungen sowie einen scheinbar engen Blickwinkel gekennzeichnet. Der fast unsichtbare Erzähler gebärdet sich eher als Moderator, er übergibt das Wort an eine Art Erzählerkollektiv, das sich aus den einzelnen Personen zusammensetzt. "Das Wunder dieses Romans [...] besteht darin, daß er sich seiner Allerweltsrealität keineswegs mit einem Allerweltsrealismus nähert." (10) 29 Personen treten auf, unternehmen den meist vergeblichen Versuch ihre Lage zu artikulieren (wobei die Frauenfiguren ihr Unbehagen am ehesten in Worte fassen können) und zeigen ein Ensemble der menschlichen Verhältnisse "in einem sehr gekonnten Rhythmus wechselnder Perspektiven, neuer Gruppierungen, so daß wir denselben Menschen unter einem anderen Blickwinkel und in einer anderen Situation mehrfach begegnen." (10) Die Lebenspfade verbinden und trennen sich wieder. Die Flucht in die Liebe erweist sich als ein Trugschluss. Deswegen wechseln die Liaisons überraschend oft und bilden die seltsamsten Konstellationen um sich am Ende als ein trauriges Treiben zu entpuppen.
Der erfolgreiche, doch enorm gestresste Journalist Christian Beyer will mit seiner neuen Freundin Hanni im Zuge eines Urlaubs in New York dem drohenden Beziehungstrott entkommen. Doch auch die räumliche Entfernung kann die Sorgen und Probleme nicht wegzaubern, Hanni ist unzufrieden: "´Ich will mal wieder glücklich sein. Sag nichts, du bist keine Maschine. Ich wollts nur mal sagen. Sagen darf ichs doch.´" (Sim 172) Die menschliche Sehnsucht nach Geborgenheit in einer unerbittlichen Welt geht sonderbare Wege und verliert sich schließlich in dem Gefühl der Ohnmacht und des Unverständnisses. Christian weiß die Partnerschaft nicht zu retten und flüchtet vor der Peinlichkeit der Stille ins Bad: "Ihr Hut liegt auf dem Klodeckel. Ich weiß nicht, wohin mit ihm, und setze ihn auf. Ich drücke die Spülung, damit Hanni nicht hört, wie es plätschert. Dann drehe ich mit beiden Händen an der Duscharmatur und halte den Kopf schräg zur Seite, damit der Hut nicht naß wird. Das Wasser kommt hier immer noch warm und kalt aus der Brause, ganz wie man will." (Sim 179) Kleine Fatalitäten, die für die Betroffenen jedoch die Welt bedeuten, werden hier aufgezeigt. Schulze versteckt die Katastrophen in Nebensätzen, legt dabei keinen Wert auf Offensichtlichkeit. Die Auslassung soll für sich sprechen und den Leser darauf stoßen, was er ohnehin schon weiß oder zumindest erahnt.
Dergleichen verfährt er mit der eigentlichen Thematik des Ost-West-Konfliktes, der Arbeitslosigkeit und der Sorge um den Lebensunterhalt. Das Schicksal von Martin Meurer, dem arbeitslosen Kunsthistoriker, zieht sich als ungefähres Handlungsgerüst durch das Buch. Seine Frau kommt bei einem Unfall um, wobei sie, auf dem Fahrrad unterwegs, von einem Auto gerammt wird. Ihr Fahrzeug musste verkauft werden, da Martin seinen Job als Vertreter für Reinigungschemikalien verloren hat. Zum Finale ist Martin in einer Fußgängerzone im Taucheranzug unterwegs und wirbt für eine Kette von Fischrestaurants. Als er verprügelt wird, tröstet ihn seine Kollegin Jenny: "´Ein Promi macht so was vielleicht noch, mit versteckter Kamera oder wegen der verlorenen Saalwette [...]. Aber sonst niemand, niemand in deinem Alter. Der Typ hat sich verscheißert gefühlt. Das ist alles.´" (Sim 301)
Die übergestülpte Gesellschaftsordnung erweist sich als brüchige zivilli-satorische Schicht, unter der Urängste lauern. "Das Wunder ist doch, daß nicht ständig einer über den andern herfällt" (Sim 70), sagt Tierpräparatorin Lydia nach einer nächtlichen Verfolgungsjagd im Auto. Tatsächlich entpuppt sich die Konfrontation mit der Aggressivität des kapitalistischen Systems für die ehemaligen DDR-Bürger als eine tiefgreifende Veränderung, die ein gehöriges Maß an Flexibilität und Anpassungsvermögen erfordert. Kein Wunder, dass manche - besonders die Benachteiligten - in Nostalgie verfallen. Renate Meurer, deren erster Mann in den Westen geflüchtet ist, verteidigt ihren zweiten Gatten gegen Vorwürfe, er sei ein Systemunterstützer gewesen: "Geld ist manchmal schlimmer als Partei. An solchen wie Ernst hat es bestimmt nicht gelegen. Und wenn du was ändern willst, hat er gesagt, dann kannst du dich nicht raushalten, dann mußt du in die Partei. Hätte ja auch richtig sein können ... Darf ich das nicht sagen?" (Sim 220)
Schulze ist ein Meister der Polyperspektivität, die ihm erlaubt ein solches Panorama der Begierden und Ängste vieler Menschen außerordentlich differenziert darzubieten. In keinster Weise reduziert er das Schreiben zum Selbstzweck, zum Instrument der Selbstfindung und Autoreflexion, sondern erhebt den Anspruch die Wirklichkeit zwar nicht unbedingt zu verändern, doch wenigstens deren Darstellung in den Bereich der Objektivität zu rücken.
Keineswegs entzieht er sich den die gesellschaftliche Realität konstituierenden Kräften, unter deren Wirkung er selbst als vom Literaturmarkt abhängiger Autor steht. Viel mehr macht er diese zu einem seiner Hauptaspekte ohne dabei in müßige, überdrehte Kritik zu verfallen, die Fällung eines Urteils überlässt er dem Leser.
Eine derartige Literatur bezieht ihre Qualität und Attraktion aus der geschickten Mischung unterschiedlicher Traditionen und der inhaltlichen Konzentration auf die Belange des gegenwärtigen Menschen. Sie widersteht epigonaler Übernahme populärer Stoffe und sucht ihren Weg aus der Massenliteratur durch Vielseitigkeit und neuartige Komplexität der Form.
Sogar die Lyrik als die elitärste der literarischen Gattungen hat mit dem Ostdeutschen Durs Grünbein, dem 1995 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen wurde, einen Aufschub erfahren.
Dieser stammt aus Dresden. Dort ist er 1962 geboren und dort verbrachte er seine Kindheit. 1985 kam er nach Berlin, wo er an der Humboldt-Universität für kurze Zeit Theaterwissenschaft studierte, dann aber das Studium abbrach. Heiner Müller empfahl ihn seinem Verleger Siegfried Unseld, wonach "Grauzone morgens", der erste Gedichtband, 1988 im Suhrkamp Verlag erschien. Drei Jahre später folgte die "Schädelbasislektion", in der am ehesten Erfahrungen mit der DDR vor, während und nach der Wende wiederzuerkennen sind. In "Falten und Fallen" (1994) geht Grünbein zu seinem eigentlichen Thema zurück, der Analyse des Zusammenhangs zwischen Sprache und Physis, wobei gesellschaftliche Belange des Menschen einen nicht unerheblichen Teil einnehmen.
"Die äußere Konstellation dieses Erfolges ist leicht zu beschreiben. Grünbein ist der erste Dichter, der die Spaltung der deutschen Literatur überwindet. Jetzt, wo er da ist, erkennt man sofort, daß dies nur einem jungen Autor aus dem Osten gelingen konnte. Das ist keine Frage nationaler Gefühle oder politischer Einstellungen [...], es ist ein Frage der Erfahrungen mit der daran geknüpften Sprache. Nur ein Schriftsteller aus dem Osten ist gezwungen, mit beiden Erfahrungen zu Rande zu kommen: der östlichen Herkunft, der westlichen Zukunft" (25), lobt die FAZ. Wird die Wiedervereinigung von den älteren Autoren bestenfalls historisch und politisch verarbeitet, so reagiert Grünbein "auf die neue Situation des Landes ästhetisch und anthropologisch." (25) Politik und Geschichte sind nicht die Kernpunkte seiner poetischen Tätigkeit, unvoreingenommen wendet er sich dem Westen mit Neugier zu und konzentriert sich auf das in den westdeutschen Metropolen gründende Lebensgefühl des zersplitterten Menschen. "Der neue Künstler hat kein Programm mehr, sondern nur noch Nerven. Stil ist allenfalls noch ironisch spielerische Tarnung oder Mimikry [...]. Die äußere Bedingung von Grünbeins singulärer Stellung ist der Erfahrungssynkretismus der zusammengeschlossenen Landesteile." (25) In seiner Lyrik meidet er zwei Gefahren, indem er die westliche Reizüberflutung zu verarbeiten versucht und die östliche Unglückserfahrung relativiert. Als Vorbilder dienen ihm hierbei vielmehr antike Poeten. In einem Spiegel-Interview ist er um eine Erklärung nicht verlegen: "Das ist vielleicht tragisch, aber ich kann es nicht ändern. Gerade für viele Autoren des 20. Jahrhunderts gilt, daß sie einer abgeschlossenen Tradition angehören. Ältere Autoren können durchaus anregendere Weggefährten sein. Wenn ich Juvenal lese, dann habe ich so eine Art frühen Hochkapitalismus vor Augen, genau das, was ich jetzt täglich neu und staunend erlebe." (11) Hinzu kommen angelsächsische Dichter wie John Donne, T.S. Eliot und Ezra Pound.
Grünbein weiß sehr wohl um die Irrealität der Sprache als Kognitions-instrument, doch für ihn gibt sie einfach keine poetologischen Botschaften mehr her. Er negiert die Sprachkrise nicht, auf keinen Fall erhöht er aber die Sprache zum alleinigen Objekt seines lyrischen Forschens, wie es viele der westlichen Lyriker tun. In einem poetologischen Einschub in "Falten und Fallen" heißt es:
"... sitzend im Panzer der Sprache, fahren bis an die vordersten Linien des Draußen, dorthin, wo das Gemetzel beginnt. Der Panzer beschützt mich, er ist rundum vernietet, aus stählernen Platten gebaut, stabile Grammatik. [...] Mich selbst kaum, nehme ich entweder nur die Umgebung wahr oder den Panzer oder beide zugleich, aber niemals den Raum, diesen ungeheuren Raum um mich her. Die Landschaft in der wir uns bewegen, hat ihren Namen verloren." (Fal 83)
Weil die Sprache als ein Kampfmittel und zugleich ein Schutzschild ver-standen werden muss, als eine Tarnung vor der Welt und sich selber, erhebt Grünbein das lyrische "Du" zu seinem Wahrnehmungswerkzeug. Er trifft eine Unterscheidung zwischen dem "Ich" der Sprache und dem "Du" des eigenen Ich und führt letzteres im Endeffekt auf die Obsessionen des Gehirnes zurück, die "Falten und Fallen":
"Dieses Ich, unter uns gesagt, eine tote Person, großspurig zum Leben erweckt durch Verkehr, ist ein lausiger Trick. [...] Eine Zeitlang bin ich hellwach, bereit mich mit Du anzurufen, gerüstet zum Flüstern über das Wie und Was. Doch dann überkommt es mich, und ich fange zu sprechen an, dann überholt es dich, und du fängst mit Versprechen an ..." (Fal 86) Deswegen befindet sich das lyrische Ich bei Grünbein in einem permanenten Selbstgespräch, dem es gleichzeitig misstraut und mit naturwissenschaftlichen Methoden näherzukommen gedenkt wie im Gedicht "Hälfte des Ohres":
"Kleine psychische Illusion, sei ganz Ohr:
Ich eröffne ein Selbstgespräch.
Schwebend im siebten Neuronen-Himmel
Wo die Stimmen Erinnerung feuern,
Engramme stammelnd, ein neues Sternbild,
Punkte die auf der Hirnrinde glimmen
Wie Bordgerät nachts, leuchtende Skalen
Bin ich nach außenhin ruhige See,
Im monsunen Hormonstrom geborgen. [...]" (Fal 121)
Durs Grünbein folgt den Mysterien der Sprache um an Hand ihrer Veränderung im Laufe des deutschen Zusammenwachsens das den Menschen Anbelangende zu erschließen ("So klein mein Bewegungsradius ist, gut aufgehoben in meinem Panzer, studiere ich seine Spur." (Fal 91)). Der Mensch wird hierbei als ein unglückliches Tier dargestellt, die Zivilisation als Wucherung der Erde. Grünbein bewegt sich durch den athropologischen Alltag wie durch einen zoologischen, vegetativen Raum und konstatiert die in den westlichen Großstädten gewachsene Existenzform als eine zweite Tierhaftigkeit und höhere Unbewusstheit, die den Verlust der ursprünglichen triebhaft-tierischen Sicherheit in einer fordernden Welt kompensieren muss. In der Gedichtreihe "Variationen auf kein Thema", die sich aus 39 gleichgebauten, titellosen Gedichten zusammensetzt, wird das Hauptthema in den Vordergrund gerückt, nämlich die verwehrte Freundlichkeit, die in einer kapitalistischen Welt kein Thema ist. Der Tendenz zur Formsetzung und Strophik steht die andere Tendenz zur Substantivierung, zu Partizipial- und Adverbialkonstruktionen, zur Kommatahäufung entgegen. Im Grunde handelt es sich dabei um eine zerhackte Prosa, die die Gleichförmigkeit des entfremdeten Menschen demonstriert:
"Fortfahren ... wohin? Seit auch dies
Nur der fällige Ausdruck
Für Flucht war, für Weitermachen
Gedankenvoll oder -los.
Was aufs selbe hinausläuft, wie?
Zug um Zug einer neuen
Erregung entgegen, einem Gesicht
Zwischen den Zifferblättern
Im Schaufenster, Brillen für Liebe,
Für schärferes Fernsehen, Särge
Und Möbel zum schnelleren Wohnen,
Wo Engel an Kassen saßen, taub
Gegen ihr süßes, nekrophiles Hallo." (Fal 11)
In den todesnahen Bildern verdeutlicht Grünbein die latente Sehnsucht nach Kontemplation, Erinnerung und Zwiegespräch. "Das Abräumen der Mauer hat eine leere Gegenwart eröffnet. Agoraphobie ist die letzte Maske des Flaneurs." (15) "Wie Platzangst befällt this german disease / Noch das freundlichste Tier." (Fal 61)
Durs Grünbein bagatellisiert die Lyrik in keinem seiner Gedichte, stets behandeln diese komplexe Themen, haben nichts mit malerischer Einfachheit gemein. Obwohl er sich ebenfalls mit Sprache beschäftigt, erteilt er dem Hermetismus eine Absage, spielt dagegen mit den Grenzen von Belanglosigkeit und Symbolik, von höchster Individualität und anvisierter Objektivität. Lyrik wird hiermit wieder lesbar.
Auch im Bereich des Dramas eröffnet ein junger Autor neue Perspektiven für die deutsche Theaterlandschaft. Der 1961 in Cottbus geborene Oliver Bukowski schöpft aus der Theorie seines Studiums der Philosophie und der Sozialwissenschaften und karikiert seine ostdeutschen Zeitgenossen in seinen Dramen mit einer bemerkenswerten psychologischen Tiefe sowie dem Sinn für die Tragik eines materiell bedrängten Menschen. Gleichzeitig trumpft er mit dem Primat der Unterhaltung und seinem skurrilen Humor auf, was viele Bühnen dazu bewegt sich seinen Stücken zu widmen und das deutsche Repertoire nur bereichern kann.
Bukowskis dramatisches Anliegen könnte mit dem Begriff "Revolution" im ursprünglichen Sinne, nämlich der Rückkehr zum Ausgangspunkt charakterisiert werden. Weit entfernt ist er von den avantgardistisch geprägten Bemühungen seiner gleichaltrigen westdeutschen Berufsgenossen (siehe Kerstin Specht), die die Unmittelbarkeit eines emotional-rational ausgerichteten Theaters als moralische Anstalt zu negieren scheinen und das Drama zum lingualen Versuchsterrain degradieren. Bei Bukowski schimmert noch etwas von der aristotelischen Katharsis durch, denn all seine Helden stellen im Grunde bemitleidenswerte Kreaturen dar, die von ihrer auf Leistung und Kampf pochenden Umgebung zum Scheitern verurteilt werden. Alle diese Figuren entstammen einem provinziellen sozialistischen Milieu - "[i]hre Sprache ist der warme Lausitzer Dialekt, dem Bukowski erstmals Bühnenrang verschaffte. Wie ihr aussichtsloser Kampf gegen die Tücken der Marktwirtschaft verrät er ihre Herkunft aus der ehemaligen DDR" (21) -, das sich als Sozialisationsstätte für die Anforderungen des Kapitalismus als untauglich erweist. Stets alkoholisiert verfallen sie ihrer Fantasie, die sie zu den aberwitzigsten Versuchen verführt sich aus ihrer Lebensmisere zu berfreien, aus der letztendlich kein Entkommen möglich ist.
"Während Thomas Brussig mit seinem Antihelden Klaus Uhltzscht den Blick zurück in die DDR auf die Höhe der Zeit gebracht hat [...], nimmt sich Bukowski der Gegenwart an. Mit bissigem Witz legt er den Finger auf die wunden Stellen der neuen Bundesbürger, um am Aufschrei zeigen zu können, wie sehr die Verletzung schmerzt. Nach den Elegien der Larmoyanz und der Selbstzerfleischung der DDR, hat sich mit Bukowski die nächste Generation der aktuellen Schizophrenien seiner Landsleute angenommen." (27, 40) In seinem 1995 am Theater Altenburg und Gera uraufgeführten Stück "Bis Denver" mutiert der freundlich-debile Bademeister Horst Paschke ("Horschti") zum mörderischen Erpresser und träumt von den Millionen, die er aus seiner Delinquenz ziehen möchte. Mit seinem sozial mitleidenden Kumpanen Lothar Ackermann ("Lothi") als Komplizen zielt er auf das Geld des Millionärs Terre ab, dessen Sohn er versehentlich getötet hat. Erfolg haben die beiden Unterprivilegierten keinen, "[t]rotz intensiven Studiums der Gesetze der Leistungsgesellschaft scheitern sie an ihrem großen Herzen und ihren weichgepolsterten Ellenbogen." (21) Wie die meisten Dramen Oliver Bukowskis endet "Bis Denver" tödlich, Paschke wird - das Deutschlandlied singend - von der Polizei erschossen:
"Hier spricht Herr Paschke, Horscht. Das haben Sie noch nicht erlebt, nicht wahr? Das tut nich in Ihre Vorschriftn stehn: sie zieln auf Ein´, der auf sich selber anlegen tut. Komm´Se sich nichn bissel danebn vor? - Und wissen Se was, jetzt müssn Se mir obendruoff noch beschützn. Des tut heute mein Tach sein! Den Horschte Paschke als Geisel müssn Se vor dem Horschte Paschke als Geiselnehmer beschützn tun. So ist des in unsere Demokratie: An dem Umgang mit die Geisels zeigt sich genau, wieviel der Mensch der Allgemeinheit wert seintut." (Bis 49)
Die Angliederung der DDR an die Bundesrepublik Deutschland hat den Underdogs vom Schlage eines Paschke nichts gebracht, außer man möchte vergebliche Hoffnung als etwas Wertvolles bezeichnen. Bukowski nennt dies "die eigentliche Gefahr": Schlimm wird es, "wenn so jemand, der sich in seiner relativ aussichtslosen Situation eingerichtet hat, wieder anfängt zu hoffen." (4) Die Illusion, dass jeder mit Fleiß gesegnete Bürger in einem kapitalistischen System zum menschenwürdigen Lebensstandard gelangen kann, wird in Bukowskis Drama vollkommen widerlegt. Lothi und Horschte werden kein Erfolgsmodell Marke Porsche, wie es sich herausstellt, ihr Leben ist ihnen "gerade ´n gebrauchtn Kadett wert, ne Unfallkarrosse, son Rostteil, wo de unten mitloofn mußt." (Bis 44) Primär streben sie aber keinesfalls nach Reichtum und Macht, sondern lediglich nach menschlicher, insbesondere weiblicher Zuneigung. Beide sind in ihrem Leben von der Liebe mächtig enttäuscht worden, weil in Zeiten des Existenzkampfes die einfache Liebe nicht überlebensfähig ist, und schon gar nicht bei einfachen Leuten. In einem Gespräch wird ihre Sehnsucht - als zentrales Motiv des Stücks - mittels der Rückerinnerung indirekt artikuliert:
"Horst Paschke: [...] Was hat denn Deine Schennifa immer gesagt? Muß doch was dran gewesn sein, an ihrm Lothar.
Lothar Ackermann: Und Deine ... Deine Edith?
H.P.: Ich hätt so ein besonderes Lächeln, tat die Edith sagen. Sowas Warmes tut aus mir rausscheinen; was Bräunliches mit Sterne drin, tat se sagn. Wie ne Kuh mit Funkn.
L.A.: Mm. - Na mach ma.
[...]
H.P.: Rudimentation. Wennste irgendwas nich dauernd benützn tust, tut sichs wegentwickeln: wie Deine Schwimmhäute oder das Gehirn oder der Schwanz.
[...]
Aber wo soll ichs Rumlächeln schon anwendn. Nüscht gegen Dich, Lothi, aber du eignest dir eher für die Verdauung." (Bis 48)
Die Koexistenz des Wohlstands - womöglich westdeutsch zu interpretieren - verschweigt Bukowski nicht und zeichnet mit dem Elternpaar des getöteten jungen Mannes ein Stigma des entfremdenden Kapitals. Mächtiger Ennui paart sich mit der aus der emotionalen Verödung herrührenden Daseinsangst und mündet in sinnlose, oft sexuelle Gewalt. Das prätentiöse Gehabe und die bildungsbürgerliche Scheinidylle des Paares können über die Problematik nicht hinwegtäuschen. So löst Terre einen Ehestreit, wobei ihn seine Frau als "Du Akademiker" (Bis 44) beschimpft, indem er sich in ihrem Mund befriedigt:
"Er: (leise) Wir lieben uns doch. Nicht wahr?
Sie nickt.
Warum schluckst Du´s dann nicht runter? Du schluckst es doch
immer runter. Nach Walnuß, sagst Du, [...] schmeckt mein Sperma.
Hat Dir doch sonst immer geschmeckt." (Bis 44)
Die Anmaßung des Menschen, durch seinen Verstand sei er das höchste Wesen, stellt Bukowski emphatisch in Frage. Die kapitalistische Ordnung, aber ebenso das zwischengeschlechtliche Verhalten lässt auf anderes schließen. "Weil der Mensch nicht ständig ficken und fressen kann, tutter sich die Philosophie gemacht ham." (Bis 41)
Mit seinen Werken liefert Oliver Bukowski in erster Linie postsozialistische Bestandsaufnahmen. Dennoch beschränkt er sich nicht nur auf den Osten, sondern kratzt an der Fassade der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft. "Als der Westen für mich noch neu war, fand ich´s zunächst nur herrlich bekloppt, eine Sache von Exzentrikern. Jetzt vermute ich, daß sich hinter der Irrenhaus-Fassade unserer ´Erlebnis-Gesellschaft´ elende Angst und einsame Langeweile paaren" (27, 39), klagt er in einem Interview an. Möglicherweise wird aber auch er Opfer des marktwirtschaftlichen Treibens und geht dem deutschen Theater als Talent endgültig verloren. Denn mehr und mehr wird er vom Fernsehen in Beschlag genommen, die Dreharbeiten zu dem Film "Hinterm Horizont" - nach seinem Drehbuch - haben bereits begonnen. Auch eine Art sich als Literat an die neuen Begebenheiten anzupassen.
3.3 Schwarzmalerei - tragischer Expressionismus
Die Thematik rund um die Nichtigkeit des Menschen, die bei Durs Grünbein und Oliver Bukowski bereits anklingt, entfaltet sich bei einem anderen Romancier zu einem literarischen Inferno. "Reinhard Jirgl heißt der Meister des ostdeutschen Satzes, sein neuer, gerade erschienener gut fünfhundert Seiten starker Roman heißt "Hundsnächte" und ist ein penetrantes, ein völlig aus dem Ruder des literarischen Anstands gelaufenes, kreischendes, psalmodierendes, blutiges, unerträgliches, aggressives, faszinierendes, wütendes, obsessives und intelligentes Buch." (22, 186) Ein neuer deutscher Trümmer-Expressionismus scheint sich im Osten zu entfalten, ein an Gottfried Benns Vernichtung der idealistischen Chimären durch den Drang nach düsterer Nekrophilie anknüpfender literarischer Ansatz, der das Leben woanders sucht, nämlich "im Unbewussten, in den Verliesen und Totenkammern der Existenz." (22, 186) Reinhard Jirgl ist der radikalste, der wildeste Apologet dieses Anderen. Daneben schreiben sich weitere Autoren wie Wolfgang Hilbig, Ulrich Ziegler und Ingo Schramm ihre Wut über die merkwürdige Fähigkeit des Menschen der Sinnlosigkeit des Seins mit noch mehr Nonsens entgegenzutreten von der Seele. "Sie alle sind in einem beinahe vergessenen Sinn ´gesellschaftskritisch´. [...] Ihre Endzeitgesänge sind Einspruch ohne Trost, Abrechnung ohne Rezept." (22, 188) Durch sein Scheitern konsolidierte der DDR- Sozialismus den Glauben an die Undurchführbarkeit von Sozialutopien, gleichzeitig öffnete er dem ausbeuterischen Expansionsdrang des Kapitalismus alle Pforten. Wurden die durch die deutsche Wende von 1989 geweckten Hoffnungen bei den meisten bitter enttäuscht, so musste das Warten auf eine heile Zukunft als Irrweg abgetan werden. Was blieb, ist das defizitäre Gefühl der Alternativlosigkeit. Angst und Ohnmacht verknäulen sich nun zu einer düsteren Aggressivität, die Reinhard Jirgl zu einem Werk, dessen Markenzeichen der Alptraum ist, angetrieben hat.
Jirgl wurde 1953 in Ost-Berlin geboren, wonach er zehn Jahre bei seinen Großeltern in einer Kleinstadt in der Altmark verbrachte. Zu seinen Eltern kehrte er 1964 nach Berlin zurück, wo er in Abendkursen das Abitur nachholte um anschließend Elektrotechnik zu studieren. Von 1978 bis 1995 arbeitete er als Techniker an der Volksbühne Berlin. Zu DDR-Zeiten blieb von ihm alles unveröffentlicht, 1989 lagen sechs abgeschlossene Romane in seinen Schubladen. Das Schreiben betrieb Jirgl als Flucht vor dem monotonen Szenarium, das ihm der DDR- Sozialismus bot und entwickelte dabei eine autonome, manische Sprache. "Die Lust, mit der er gegen die Aufbau- und Fortschrittsrhetorik die Logik der Wiederkehr des Gleichen mobilisierte, muß in den Zeiten, als er für die Schublade schrieb, seine Rache an der eigenen Zukunftslosigkeit gewesen sein." (19)
Die voluminösen "Hundsnächte" (1997) knüpfen in vielem an Jirgls vorangehendes Buch "Abschied von den Feinden" (1995) an. Dort ist eine der Hauptfiguren, nachdem sie im deutsch-deutschen Grenzgebiet aus einem stehengebliebenen Zug ausgestiegen war, in diesem von Häuserruinen geprägten Niemandsland sich selbst überlassen worden. Eben diese Gestalt, von der am Beginn der "Hundsnächte" die Rede ist, hat sich in dem ihr als Behausung dienenden Trümmerberg eine zweite, scheinbar unzugängliche geistige Ruine errichtet: Der mysteriöse Mann schreibt, während er stirbt und wird somit zu einem Sinnbild für das Schreiben selbst. "Er, der Fremde auf seinem Totenlager, [ist] anscheinend steckengeblieben im Niemandsland zwischen Leben u: Tod, zwischen Dasein u: Verlöschen." (Hun 16) Die Dorfbewohner und der Bautrupp, der in dieser Einöde einen die beiden deutschen Teile verbindenden Fahrradwanderweg bauen soll, verleihen diesem Phantom mit ihrem Ineinandersprechen Konturen. Zu dieser "Fremdenlegion" gehört ein "an den Verhältnissen gescheiterter, ans untere Ende der arbeitsweltlichen Hackordnungen abgerutschter Ingenieur" (6), ein Außenseiter, dessen nächtlicher Kontakt mit der tödlichen Atmosphäre des unerreichbaren Schreibenden zum Ausgangspunkt für ein exzessives Erinnern wird. Zwei Stränge verflechten sich unauflösbar, von der Lebensgeschichte des Fremden, der vor ihm in diese Ruine eingezogen ist, springen die Assoziationen des Arbeiters zu seinen Erinnerungsfetzen, die vor allem um die wirtschaftlich bedingte Trennung von seiner Frau kreisen. Zeit, Raum und Personen werden in dieser Nacht auf vielen Kanälen miteinander verschaltet. Jirgl wühlt in allem, was keiner sehen will, in der Ostvergangenheit der Charaktere wie der vereinigten Sinnlosigkeit eines Lebens, das ideologische Zwänge durch ökonomische ersetzt hat. "Denn hinter allen Verkleidungen immer nur das I: Trübnis & Trostlosigkeit, so altbekannt, so vertraut, daß sie schon nicht mehr wahrgenommen werden. [...] Wir sind unsere eigenen Analfabeten, [...] von den Diktatoren der asozialen=Arbeitswelt Verkrüppelte, die, mal sozialistisch mal kapitalistisch maskiert, nur immer weiter Verkrüppelte hervorbringen." (Hun 106-107)
Die Grenzen zwischen den erzählenden Individuen werden verwischt, so dass die Retrospektiven zu Momentaufnahmen aus einem kollektiven Erleben verschmelzen.
Wahrnehmungen erfahren eine surrealistische Überhöhung, die Perzeption der Protagonisten wird vom banalen Schrecken der Gegenwart zur klaustrophobischen Fantasie überhöht. Reinhard Jirgl schildert den Lebenskampf in der Wirklichkeit einer neuen Zeit als eine Schlacht um die Erinnerung, gegen Stummheit, Hass, Kälte und Lieblosigkeit. Die Mneme des Einzelnen und der Literatur wehrt sich gegen das kollektive Vergessen im Land der totalen Vergänglichkeit. "Jeder wirkliche Tod ist individuell, ist Erinnern (wußtest du) - der Tod=hier I mechanisches Fließband wie in Schlachtfabriken; da wird selbst das Erinnern zur Farce. Memorizid." (Hun 31) Sogar die Liebe wird in diesen Bereich transformiert: "[W] enn die Erinnerung das letzte ist, was I Mann von einer Frau behalten kann, dann ist diese Zweite Intimität der Wörter wie ein ganz anderes, ein neues u ein nochmaliges Eindringen in den Wörter-Leib des anderen Wesen." (Hun 20)
Schließlich gipfelt die literarische Treibjagd in einer gewaltigen Explosion: "DIE !FÄSSER: !DIE IM EHEMALIGEN TODESSTREIFEN VON DER-ARMEE VERGRABENEN !FÄSSER mit all=möglichem explosiven Zeug im Innern: !DIE WAREN !HOCHGEGANGEN" (Hun 509) In einer pathetischen Wendung schreibt die aus dem Ingenieur und dem geheimnisvollen Ruinenbewohner entstandene Metaperson mit ihrem Blut weiter. Weil das Leben keinen Sinn hat, wird es in Schrift übergeführt: "Ich schreibe also bin ich. [...] [U]nd alles hier Geschriebene, um meine Stunden Isamkeit zu strecken von einer Ruinennacht zur andern" (Hun 512-513). Das Romanende schließt an das von Gottfried Benn stammende Motto (" von allem die Hände lassen ") an und entzieht sich zum ersten Mal aller Wut und allem Hass, indem an die Erlösung im Tod - im Blauen - angespielt wird: "Nur ein Tag im Leben. Ich habe Gelegenheiten gehabt, mehr als ich je verlangen konnte - und ich habe willentlich keine Izige genutzt. Den Rücken im Gras, spürend warmen feinen Sand, löse ich den Blick - entfesselt befreit losgelassen und hinaufgeschleudert dorthin zu jenem Gewölbe wo lichtdurchflutet das niemals zuvor gesehene das unendliche Blau geschieht - - " (Hun 520).
Oberflächlich betrachtet erinnert Jirgls Epos an die Geschichtsentfernung sowie Kindheits- und Mythenfixation der sogenannten inneren Emigration. Bei genauer Lektüre erkennt man jedoch den impliziten historischen Bezug, der sich im Hintergrund abspielt und mit den Biographien verbindet. Dergleichen kehrt das Motiv des "Großen Dunklen Zuges", den der Vater einer der beiden Figuren in seinem Leben stets gesucht, doch niemals gefunden hat, ständig wieder ("Am Ende dieses Weges, hatte mein Vater gesagt, soll er warten: auf den Schienen stillstehend noch immer, der Große Dunkle Zug " (Hun 148)). Nirgends wird dieses Bild genauer erklärt, die Verbindung zu Ausschwitz ist aber in Anbetracht der Charakterisierung des Deutschen naheliegend: "Es existiert von jeher ein Flöz der Perfidie [...], Tumbheit Größenwahn & Weinerlichkeit, unterhalb von den-Deutsch-Deutschen, & die saugen seit jeher Blutgift&galle draus: Der größte gemeinsame Nenner :!kein Wunder, daß nach dem Grenzfall [...] gerade !Dies ans Tageslicht kam wie die Gebeine von Toten im Kellerschacht beim Abriß eines Hauses" (Hun 31). Stellt sich das zentrale Motiv des Schreibens am Ende als eine Metapher für das Gewissen der Nation heraus? Auf diese Weise könnte der Schreiber, dem die Last der Erinnerung das Sterben nicht erlaubt, der dem vereinigten Land das Vergessen verweigert, interpretiert werden.
Vom imaginären Wutausbruch eines Matthias Altenburg unterscheidet sich diese Literatur eben durch die direkte gesellschaftliche Kritik und vor allem durch die Konsequenz, die aus derartiger Betrachtung gezogen wird. Während Altenburgs Antiheld am Leben hängt, sich nur den Tod der anderen wünscht, schwebt Jirgls Zwei-Personen-Figur in purer Todessehnsucht und entscheidet sich letztendlich für das eigene Ende. Solches Denken verbildlicht keine Passivität, sondern einen aktiven Rückzug aus der Sinnlosigkeit. "Denn diejenigen, die überschnappten [...], sie waren noch in gewisser Weise Mensch geblieben, hatten noch vitale Impulse in=sich gegen das Gleichmaß der Erniedrigung, gegen das sinnlos Unaufhörliche" (Hun 94). Ein derart handelnder Mensch leidet nicht nur an der Gesellschaft, er leidet auch am Leben selbst. Es ist "nichts unerträglicher als der Gedanke, nach dem Tod könne noch irgendetwas sein, irgendetwas bleiben von dir außer Tod, außer nichts. Die Vollkommenheit des Auslöschens, DAS VERSCHWINDEN - die Izig mögliche Form eines Auswegs" (Hun 54).
Die erstaunliche Vielfalt der ostdeutschen Literatur ist kaum zu überschauen. Trotzdem sollte die in dieser Arbeit vorgenommene Auswahl einen Überblick über die literarischen Zustände in den neuen Bundesländern gewähren. Obwohl sich die Schriftsteller oftmals zur Kritik am kapitalistischen System hinreißen lassen, muss festgestellt werden, dass die Art und Weise der Auseinandersetzung diese Literatur zum begehrten Kaufobjekt macht und das Überleben derartigen Schriftguts sichert. Das Phänomen der Etablierung am Literaturmarkt und in der Gunst des deutschen Lesers kann als Beispiel dafür gesehen werden, wie eine politisch- gesellschaftliche Veränderung sich in der kulturellen Produktion niederschlägt und möglicherweise die Verhältnisse in einem Land beeinflusst.
4. Bilanz des Ost-West-Vergleiches und Rückschlüsse auf ie Gesamtbevölkerung
Angesichts der Ergebnisse, die diese Arbeit aus den Untersuchungen west- und ostdeutscher Literatur zieht, muss entschieden bestätigt werden, dass weiterhin zwei deutsche Literaturarten existieren. Die Wiedervereinigung Deutschlands hat somit zu keiner Gleichschaltung des ehemals gesellschaftlich unterschiedlich gerichteten dichterischen Impetus geführt, ganz im Gegenteil.
Die jungen Literaten, die im Westen des Landes geboren wurden, passten sich dem kapitalistischen System in ihrer schriftstellerischen Kreation dahingehend an, dass sie angesichts der für sie evidenten politischen Freiheit ihre Literatur fast vollkommen apolitisch gestalten. Die fehlende Erfahrung einer ideologischen Repression, die der Totalitarismus mit sich bringt, und das ökonomische Diktat des Literaturmarktes verhindern eine gesellschafts- kritische Ausprägung entweder gänzlich oder entrücken diese in eine die Sensationsgier des Lesers befriedigende, irreale Form. Bedenken gegenüber einer möglichen wirtschaftlichen Unterdrückung bleiben im Großen und Ganzen auf der Strecke, der Schriftsteller zieht sich in die Privatheit zurück und schafft eine introvertierte, defätistische, nostalgische, manchmal hermetische und stets monotone Literatur, die ihren gesellschaftlichen Anspruch verloren hat. Eine divergente Situation stellt man in Ostdeutschland fest. Sensibilisiert durch die politische Unfreiheit, die sie von ihrer frühesten Jugend an geprägt hat, nutzen die jungen Autoren den politisch-gesellschaftlichen Umbruch und die dadurch gewonnene Freiheit, indem sie mit der Vergangenheit der DDR abrechnen, aber auch die Schwierigkeiten bei der Umstellung nicht übersehen. Aus einem anderen Blickwinkel als ihre westlichen Kollegen betrachten sie die Tücken der kapitalistischen Ordnung und entwickeln hieraus ihren kritischen Stoff, der an die nonkonforme Literatur der DDR anknüpft, sich dennoch neuen literarischen Techniken nicht verschließt. Sehr unterschiedlich reagieren die aufstrebenden Schriftsteller auf die neue Lebensweise in der Bundes-republik Deutschland, weshalb es in der jungen ostdeutschen Literatur an Vielfalt nicht mangelt. Trotz der Abhängigkeit vom Literaturmarkt entsagen sie nicht einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart, gehen aber ebenfalls einen Kompromiss ein, so dass sie das unterhaltende Element der Belletristik nicht beiseite lassen. Tatsächlich scheint Friedrich Nietzsche Recht gehabt zu haben, als er von der Auferstehung des Geistes schrieb: "Auf dem politischen Krankenbette verjüngt ein Volk gewöhnlich sich selbst und findet seinen Geist wieder, den es im Suchen und Behaupten der Macht allmählich verlor. Die Kultur verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten." ("Menschliches, Allzumenschliches") Weil der DDR-Sozialismus frühzeitig sein Ende fand, konzentriert sich das literarische Forschen der jungen Ostautoren auf die Gegebenheiten im Kapitalismus - die überraschend gewonnene gedankliche Freiheit wird produktiv umgesetzt.
Das jeweilige politisch-gesellschaftliche System prägt die Psyche des hineingeborenen Menschen, auch des literarisch begabten. Die entstehenden Werke können als Ausdruck der psychischen Verfassung des Autors gesehen werden, als Zeugnis seines inneren Apparates, der ein Ventil zur Kompensation benötigt. Folglich birgt die zu dem Kunstobjekt Buch führende Sublimierung die Beschreibung der bedrängenden Kräfte der entsprechenden Gesellschaftsordnung. Diese können bei der Lektüre an die Oberfläche gelangen und Aufschluss über die Befindlichkeit der Bevölkerung des Landesteiles geben. Mittels der in dieser Arbeit erreichten Erkenntnisse über die Literatur in Ost und West wäre es angebracht eine Untersuchung des seelischen Zustands des Ost- beziehungsweise Westdeutschen in Angriff zu nehmen. Möglicherweise kann die Diskrepanz in der Literatur auf die menschliche übertragen werden und das Wissen um die Hintergründe zu einer Annäherung führen.
5. Anhang - Literaturverzeichnis
1) Baumgart, Reinhard: Aus tiefster Provinz - Wie Matthias Politycki in seinem "Weiberroman" Ton und Thema findet. DIE ZEIT 37/98
2) Biermann, Wolf. Wenig Wahrheiten und viel Witz. Der Spiegel, Nr. 24/1995
3) von Bormann, Alexander. Gebremstes Leben, Groteske und Elegie - Zur Literatur in den neuen Bundesländern nach der Wende. Aus Politik und Zeitgeschichte. B13/98, S.31-39
4) Bukowski, Oliver. Drei Fragen an Oliver Bukowski. In: Theater heute 10/97, S.38
5) Eppelmann, Rainer: Zur inneren Einheit Deutschlands im fünften Jahr nach der Vereinigung. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/95, S.8
6) Falcke, Eberhard. Auferstanden aus Ruinen: Ruinen - Die "Hundsnächte" des Verfinsterungskünstlers Reinhard Jirgl. Süddeutsche Zeitung, 30./31. August 1997
7) Freud, Sigmund. In: Lexikon der Psychologie / Band 2, Bechtermünz Verlag 1996
8) Geissler, Cornelia. Der Dreck im Nabel der Welt - Bobrowski-Medaillen zum Berliner Literaturpreis gehen an Reinhard Jirgl und Ingo Schulze. Berliner Zeitung, 22. Juni 1998
9) Greiner, Ulrich: Lenz geht durch die Stadt / Matthias Altenburgs schwarze Schöpfungsgeschichte "Landschaft mit Wölfen". DIE ZEIT 38/97
10) Greiner, Ulrich. Menschen wie Tauben im Gras - Ostdeutsch: Ingo Schulze schildert die Generation, die den Sozialismus überstanden hat. DIE ZEIT (Messebeilage), 26. März 1998
11) Grünbein, Durs. Tausendfacher Tod im Hirn. Interview in: Der Spiegel Nr.41/1995
12) Hage, Volker: Zeitalter der Bruchstücke. In: Maulhelden und Königskinder. Reclam 1997
13) Hartung, Harald. Es ringelt sich ein Gedicht - Thomas Kling schreibt klein. FAZ 256/1996
14) Henning, Peter: Die Erinnerung, das Glück. Stuttgarter Zeitung, 248/91
15) Lindner, Burkhard. Kryptische Sehnsucht, von Heimweh zerfressen - Durs Grünbeins
Gedichtband "Falten und Fallen". Frankfurter Rundschau, Nr.63/1994
16) Lottmann, Joachim: Die eigene Jugend! Mein Gott! / Matthias Politycki, der Erfinder der 78er-Generation - Begegnung mit einem Literaturphänomen. DIE ZEIT 40/97 ("Das sollen die Jahrgänge 52 bis 62 sein. Leute, die ihre Jugend in den siebziger und achtziger Jahren hatten [...]. Ihre Generation fiel zwischen den geschichtsmächtigen 68ern und 89ern irgendwie durchs Raster - bis Politycki kam.")
17) Maaz, Hans-Joachim. Der Gefühlsstau - Ein Psychogramm der DDR. Argon Verlag, Berlin 1990
18) Mayröcker, Friederike. Wie der Dichter Thomas Kling hypnotisiert - Löschblattlosigkeit. DIE ZEIT 46/93
19) M³ller, Lothar. Zur³ckgekrochen in Ruinen - Es ist nicht jeder frei, der seiner Ketten spottet: Reinhard Jirgls Roman "Hundsnõchte". FAZ, 4. November 1997
20) Neubauer, Michael. "Gefeit vor Utopien". Interview in: "die tageszeitung", 5. Oktober 1998
21) Niedermeier, Cornelia. Scheitern mit Gefühl - Die schrägen Farcen des Oliver Bukowski. DIE ZEIT, Nr.15/1998
22) Radisch, Iris. Der Herbst des Quatschocento - Immer noch, jetzt erst recht, gibt es zwei deutsche Literaturen: selbstverliebter Realismus im Westen, tragischer Expressionismus im Osten. In: Maulhelden und Königskinder. Reclam 1997
23) Schirrmacher, Frank: Idyllen in der Wüste oder Das Versagen vor der Metropole. In: Maulhelden und Königskinder - Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Reclam Leipzig 1998, S. 20
24) Schulze, Ingo. Interview mit Richard Ford. In: ZEIT-Magazin, Nr.41/1997
25) Seibt, Gustav. Mit besseren Nerven als jedes Tier. FAZ, 15. März 1994
26) Weber, Antje. Herbst-Spaziergang durch den Park. SZ, Nr. 249/29.10.1998
27) Wille, Franz. ´Klar bin ich Ostler´ - Ein Portrait des Dramatikers Oliver Bukowski. In: Theater heute 9/96
28) Winkels, Hubert. Was ist los mit der deutschen Literatur? - Im Schatten des Lebens. Eine Antwort an die Verächter und die Verteidiger der Gegenwartsliteratur. In: Maulhelden und Königskinder. Reclam 1997
Westdeutsche Literatur:
"Lan" = "Landschaft mit Wölfen". Altenburg, Matthias; zitiert nach Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997
"Tot" = "Die Toten von Laroque". Altenburg, Matthias; zitiert nach Eichborn, Frankfurt/Main 1994
"Iti" = "Itinerar". Kling, Thomas; zitiert nach edition suhrkamp Nr. 2006, Frankfurt/Main 1997
"nac" = "nacht.sicht.gerät.". Kling, Thomas; zitiert nach Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1993
"Wei" = "Weiberroman". Politycki, Matthias; zitiert nach Luchterhand Literaturverlag, München 1997
"Sti" = "Stier". Rothmann, Ralf; zitiert nach suhrkamp taschenbuch Nr. 2255, Frankfurt/Main 1993
"Fli" = "Der Flieger". Specht, Kerstin; zitiert nach Verlag der Autoren, Frankfurt/Main 1996
Ostdeutsche Literatur:
"Ein" = "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot". Berg, Sibylle; zitiert nach Reclam Verlag Leipzig 1997
"Hel" = "Helden wie wir". Brussig, Thomas; zitiert nach Fischer Tschenbuch Nr. 13331, Frankfurt/Main 1998
"Bis" = "Bis Denver". Bukowski, Oliver; zitiert nach Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb, Berlin - Stückabdruck in Theater heute 9/96
"Fal" = "Falten und Fallen". Grünbein, Durs; zitiert nach Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1994
"Tan" = "Tanz am Kanal". Hensel, Kerstin; zitiert nach suhrkamp taschenbuch Nr. 2649, Frankfurt/Main 1997
"Hun" = "Hundsnächte". Jirgl, Reinhard; zitiert nach Carl Hanser Verlag, München 1997
"33A" = "33 Augenblicke des Glücks". Schulze, Ingo; zitiert nach dtv Nr.12354, München
"Sim" = "Simple Storys". Schulze, Ingo; zitiert nach Berlin Verlag 1998
Ich erkläre hiermit, dass ich die Facharbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benützt habe.
- Quote paper
- Rafael Kuczera (Author), 1999, Deutsche Literatur nach 1990 im Ost-West-Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98718
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