Die Realisierung des postvokalen /r/ im Regionalfranzösischen auf La Réunion ist im Spannungsfeld zwischen Französisierungstendenzen und Aufwertungsbestrebungen der Kreolsprachen zu verstehen. Die Untersuchung des Phonems in dieser Arbeit baut dabei auf den neuesten Forschungsergebnissen auf und kombiniert diese mit aktuellen Erkenntnissen aus dem Bereich der Sprachperzeption. Demzufolge wird das postvokale /r/ im Regionalfranzösischen auf La Réunion nicht wie bisher mithilfe der Produktion von SprecherInnen, sondern anhand der Perzeption von HörerInnen erforscht.
Im Rahmen des sogenannten divergierenden Perzeptionseffekts soll festgestellt werden, ob Testpersonen dieselben akustischen Stimuli in verschiedenen "Priming Conditions" unterschiedlich wahrnehmen. Für "Priming Conditions" wurden im Kontext des Regionalfranzösischs auf La Réunion die geographischen Indikatoren La Réunion und Paris festgelegt, während als Grundlage für die akustischen Stimuli das Minimalpaar fou /fu/ und four /fuʀ/ ausgewählt wurde. Die akustischen Stimuli wurden mit dem Praat-Programm synthetisiert und in ein 9-Step-Kontinuum eingebettet, wobei Stimulus 1 [fu] und Stimulus 9 [fuʀ] darstellt.
Im Rahmen einer "Word Identification Response Task" ergeben sich daraus zwei konkrete Forschungshypothesen: Tendieren die ProbandInnen der Gruppe Paris eher dazu [fuʀ] zu hören? Beziehungsweise kategorisieren die ProbandInnen der Gruppe La Réunion die identischen Stimuli vergleichsweise häufiger als [fu]? In Anlehnung an Bordal wurden außerdem Metadaten zum Alter, Geschlecht, höchsten Bildungsabschluss sowie zur Erstsprache der Testpersonen erhoben, da davon ausgegangen wurde, dass diese Faktoren möglicherweise einen Einfluss auf die Perzeption der akustischen Stimuli haben. Anschließend werden die Ergebnisse diskutiert, sodass nicht nur eine differenzierte Antwort auf die Forschungshypothese, sondern ferner eine Aussage zum Status quo des Regionalfranzösischs auf La Réunion ermöglicht wird.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Historische Entwicklung des Regionalfranzösischen auf La Réunion
2.1 Französische Besiedlungsphase
2.2 Koloniale Diglossie
2.3 Départementalisation
2.4 Aktuelle Sprachsituation
3 Relevante sprachwissenschaftliche Forschungen
3.1 Postvokales /r/ im Standardfranzösischen und créole réunionnais
3.2 Veränderte Forschungsperspektive:
Von der Sprachproduktion zur Sprachperzeption
4 Methodik
4.1 Versuchsbeschreibung
4.2 Priming Conditions
4.3 Testpersonen
4.4 Akustische Stimuli
4.5 Statistische Vorgehensweise
5 Ergebnisse
5.1 Auswahl der Daten
5.2 Statistische Analyse
5.3 Modifikation der Tabelle
5.4 Visualisierung und Berechnung der 50%-Wahrnehmungsschwelle
6 Diskussion der Ergebnisse
6.1 Priming Conditions La Réunion und Paris
6.2 Faktor Alter
7 Fazit
8 Literaturverzeichnis
Sekundärliteratur
Internetquellen
Bildquellen
Anhang 1: Erhalt der Aufwandsentschädigung
Anhang 2: R-Skript
1 Einleitung
„Le ‘r’ constitue un véritable ‘caméléon’ dans la jungle des sons linguistiques. Vu sa marginalité dans les systèmes phonémiques, il est quasiment prédestiné à la variation et au changement: fricative sourde ou sonore, vibrante, approximante ou même voyelle - il peut prendre presque toutes les ‘couleurs’ en fonction de son environnement, et aussi disparaître complètement.“ (Pustka 2012: 271)
Die verwendete Metapher der Sprachwissenschaftlerin Elissa Pustka verdeutlicht, dass das /r/ aufgrund seiner hohen Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit zwar unauffällig erscheint, jedoch beim genauen Hinsehen bzw. -hören ein überraschend breites phonologisches und phonetisches Repertoire offenbart. Die vorliegende Bachelorarbeit behandelt unter anderem daher folgende Frage: Welche „Farbe“ nimmt das „Chamäleon-/r/“ im Kontext des Regionalfranzösischen auf La Réunion an? Wird das Phonem in postvokaler Stellung wie im Standardfranzösischen als uvularer Vibrant [r] realisiert oder wird es, rückführend auf den Einfluss des créole réunionnais, elidiert?
Um sich einer Antwort dieser Fragestellung anzunähern, werden zunächst im Rahmen der Sprachgeschichte relevante soziolinguistische Aspekte skizziert. Dabei wird im Besonderen auf die Ereignisse seit der départementalisation eingegangen, da diese die aktuelle (Sprach)Situation der Insel nachhaltig beeinflussen. Die Realisierung des postvokalen /r/ im Regionalfranzösischen auf La Réunion ist somit im Spannungsfeld zwischen Französisierungstendenzen und Aufwertungsbestrebungen der Kreolsprachen zu verstehen. Die Untersuchung des Phonems in der vorliegenden Bachelorarbeit baut dabei auf den neuesten Forschungsergebnissen auf (vgl. Bordal 2006) und kombiniert diese mit aktuellen Erkenntnissen aus dem Bereich der Sprachperzeption (Jannedy/Weirich 2014). Demzufolge wird das postvokale /r/ im Regionalfranzösischen auf La Réunion nicht wie bisher mithilfe der Produktion von Sprecherinnen und Sprechern, sondern anhand der Perzeption von Hörerinnen und Hörern erforscht. Im Rahmen des sogenannten divergierenden Perzeptionseffekts soll festgestellt werden, ob Testpersonen dieselben akustischen Stimuli in verschiedenen priming conditions unterschiedlich wahrnehmen. Für priming conditions wurden im Kontext des Regionalfranzösisch auf La Réunion die geographischen Indikatoren La Réunion und Paris festgelegt, während als Grundlage für die akustischen Stimuli das Minimalpaar fou /fu/ und four /fuR/ ausgewählt wurde. Die akustischen Stimuli wurden mit dem Praat-Programm synthetisiert und in ein 9-Step-Kontinuum eingebettet, wobei Stimulus 1 [fu] und Stimulus 9 [fuR] darstellt. Im Rahmen einer word identification response task ergeben sich daraus zwei konkrete Forschungshypothesen: Tendieren die Probandinnen und Probanden der Gruppe Paris eher dazu [fuR] zu hören? Bzw. kategorisieren die Probandinnen und Probanden der Gruppe La Réunion die identischen Stimuli vergleichsweise häufiger als [fu]? In Anlehnung an Bordal (2006) wurden außerdem Metadaten zum Alter, Geschlecht, höchsten Bildungsabschluss sowie zur Erstsprache der Testpersonen erhoben, da davon ausgegangen wurde, dass diese Faktoren möglicherweise einen Einfluss auf die Perzeption der akustischen Stimuli haben. In Anschluss an die statistische Analyse werden die Ergebnisse schließlich diskutiert, sodass nicht nur eine differenzierte Antwort auf die Forschungshypothese, sondern ferner eine Aussage zum Status quo des Regionalfranzösisch auf La Réunion ermöglicht wird.
2 Historische Entwicklung des Regionalfranzösischen auf La Réunion
Das Aufzeigen der geschichtlichen Ausgangsbedingungen des créole réunionnais bis hin zu seinem heutigen Einfluss auf das Regionalfranzösisch auf La Réunion sind notwendig, um die sprachwissenschaftlichen Hintergründe sowie die gesellschaftspolitische Aktualität der durchgeführten Studie adäquat einordnen zu können. Die nachfolgenden Ausführungen erheben dabei jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit in Bezug auf die komplexe Historie der Insel, sondern haben vielmehr das Ziel, relevante Informationen hinsichtlich der vorliegenden sprachwissenschaftlichen Studie zu skizzieren. Zunächst wird daher auf die französische Besiedlungsphase eingegangen, gefolgt von einer kurzen Darstellung der kolonialen Diglossie im 18. Jh. Der Statuswechsel La Réunions von einer französischen Kolonie zu einem Département et Région d’Outre-Mer (DROM) veränderte in relativ kurzer Zeit die (Sprach)Situation auf der Insel nachhaltig, weswegen auf diesen Aspekt genauer eingegangen wird und seine Auswirkungen auf die aktuelle Sprachsituation separat behandelt werden.
2.1 Französische Besiedlungsphase
Nachdem der portugiesische Seefahrer Pedro Mascarenhas im Jahr 1512 die später nach ihm benannte Inselkette der Maskarenen im Indischen Ozean entdeckt hatte, wurde La Réunion 1638 als „terre vierge“ (Bordal 2006: 11) offiziell von der Grande Nation beansprucht. Die unbewohnte, circa 14 000 km vom französischen Festland entfernte Insel wurde interessanterweise jedoch primär aufgrund einer erfolglosen Inbesitznahme Madagaskars erschlossen und spielte aufgrund des abgelegenen Standorts eine - in Hinblick auf Frankreichs damalige koloniale Ambitionen - verhältnismäßig unwichtige Rolle (vgl. Chaudenson 2003: 1122). Diese Tatsache spiegelt sich auch in der demographischen Entwicklung wider, denn der Nachschub an Hilfsgütern sowie Siedlerinnen und Siedlern aus dem Hexagon erfolgte sporadisch und nur sehr langsam. Es musste dringend auf eingeschiffte, vornehmlich madagassische serviteurs zurückgegriffen werden, um die Nutzbarmachung der Landwirtschaft und somit ein Überleben auf der Insel zu gewährleisten. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist hervorzuheben, dass der französische Bevölkerungsanteil für verhältnismäßig lange Zeit in der Überzahl war. Noch im Jahr 1690 - ungefähr fünfzig nach Beginn der französischen Besiedlung - stellten circa 2/3 der Population Weiße und1 /3 Schwarze dar, wobei letztere zu 60% jünger als 15 Jahre alt waren. Bordal merkt diesbezüglich an:
A défaut d’enseignement formel de la langue, ils [les jeunes serviteurs] apprennent le français [de leurs maîtres] par des stratégies d’apprentissage non scolaires. [...] Ils ne perfectionnent pas réellement leur compétence linguistique, mais apprennent à parler une approximation du français. (Bordal 2006: 15)
Während in anderen französischen Kolonien, wie beispielsweise Québec, Mitglieder der höheren und gebildeten Kreisen zum Zweck der kulturellen Anbindung an Frankreich gezielt angeworben wurden, waren die Zuwanderer auf La Réunion mehrheitlich den sozial niedrigen Schichten zugehörig (vgl. Neumann-Holzschuh 2017: 111). Bei den Siedlerinnen und Siedlern handelte es sich meist um einfache Handwerker, Bauern, Seeleute, Tagelöhner und sogar Sträflinge, die überwiegend aus den Regionen westlich der Linie Bordeaux-Paris stammten und deren Mehrzahl weder lesen noch schreiben konnte. In Hinsicht auf Bordals Aussage muss daher differenziert werden: Die jungen Schwarzen lernten als Sprache nicht etwa die Standardsprache der Île-de-France oder den entsprechenden bon usage, sondern eine stark davon abweichende, regional eingefärbte Varietät des Französischen (vgl. Chaudenson 2003: 1123).
2.2 Koloniale Diglossie
Die ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts, in denen sich die société d’habitation auf La Réunion zu einer société de plantation wandelt, sind vom Aufkommen einer schnell wachsenden Agrarindustrie charakterisiert. Stand zunächst noch die Kultivierung von Kaffee, Gewürzen und Indigo im Vordergrund, wird diese nun von einer Monokultur des Zuckerrohrs abgelöst. Während zuvor die französischen Siedlerinnen und Siedler gemeinsam mit ihren serviteurs in der Landwirtschaft arbeiteten, riss der enge Kontakt und die alltägliche Interaktion ab, denn für die schwere körperliche Arbeit auf den Plantagen war eine enorme Anzahl an Arbeitskräften erforderlich, die zwischen 1715 und 1800 vor allem aus Madagaskar und Ostafrika verschleppt wurden.1 Plantagenverwalter achteten darauf, dass die Sklavinnen und Sklaven möglichst von verschiedener ethnischer und sprachlicher Herkunft waren, um eine Kommunikation untereinander zu erschweren und sich somit vor Aufständen zu schützen (vgl. Stein 2017: 154). Mit der einsetzenden systematischen Trennung der weißen von der restlichen Bevölkerung zeichnet sich der Beginn der französischen Kolonisierung auf La Réunion ab. Der folgende Auszug aus dem Bericht eines Missionars bietet einen Einblick in die Vielzahl der Ethnien auf der kleinen Insel:2
Cafres de Guinée, Yoloffs, Bambaras, Sénégalais, Wildaliens, Cafres de la côte opposée à l‘est, Monotopas, Monoëmurgis, Kérimbins et Mozambicains, tous de langue différente et à peu près semblable au gloussement des coqs d‘Inde, des Indiens de la grand terre ou insulaire, Bingalis, Malais et Maures, tous également de langue différente, des Malgasses ou Madagascariens [...] qui sont nés dans la colonie de tous ces esclaves étrangers. (Maestri 1999: 238)
In dieser Periode setzt der Kreolisierungsprozess ein, denn zur Verständigung wird die von den madagassischen, bereits ansässigen Arbeitern erlernte Varietät des Französischen als Referenz verwendet, die jedoch immer mehr durch die Elemente der afrikanischen Muttersprachen der Sklavinnen und Sklaven beeinflusst wird und sich schließlich zum créole réunionnais als „système linguistique autonome par rapport au français“ (Ledegen 2010: 103) entwickelt.3 Chaudenson spezifiziert bezüglich der neu entstehenden sprachlichen Varietät, dass sich diese unter Bedingungen einer zweiten Lernergeneration von der zuvor vorherrschenden „approximation du français“ (Chaudenson 2003b: 448) zu einer „approximation approximative du français“ (ebd.: 449) entwickelt.4 Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts steigt die Anzahl der Bevölkerung stark an, was aus sprachwissenschaftlicher Perspektive zwei interessante Folgen mit sich bringt.
Erstens kommt es aufgrund des Populationszuwachses zu einer sozialen Diversifizierung bzw. teilweise zu einer Proletarisierung der weißen Bevölkerung (vgl. Baggioni 1991: 115). Diejenigen, die sich im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf nicht durchsetzen konnten, sehen sich gezwungen in die Hochebenen der Insel zurückzuziehen, und werden fortan als petits Blancs des Hauts bezeichnet. Anders als die grands Blancs des Bas, die ihr Erbe und ihren Einflussbereich in den städtischen Zentren vor allem durch verwandtschaftliche Solidarität und Kooperation vergrößern, ist das Verhältnis der petits Blancs untereinander vor allem durch Rivalität angesichts des harten Überlebenskampfes im Hochland gekennzeichnet (vgl. Wolff 2010: 82). Die von den petits Blancs verwendete Umgangssprache ist durch seine Nähe zur französischen Sprache charakterisiert, da diese, im Gegensatz zur Varietät in Küstennähe, durch die relative geographische Isolation nur der ersten Kreolisierungsphase unterzogen wurde. Die Varietät der petits Blancs und seiner Nachkommen wird von Sprachwissenschaftlern daher als französisiertes Kreolisch bzw. als kreolischer Akrolekt klassifiziert, was im Punkt 2.3 noch genauer ausgeführt wird. Im Allgemeinen kann festgehalten werden, dass sich aufgrund des bergigen Reliefs der Insel sowie der nur beschränkt zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel, eine beachtliche Anzahl an diatopischen Varietäten des Kreolischen auf La Réunion entwickeln konnte (vgl. Bordal 2006: 17).
Zweitens beginnt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine klassische koloniale Diglossie abzuzeichnen.5 Kreolisch gilt als jargon, mauvais patois, français corrompu oder français bâtard (vgl. Stein 2017: 171). Obwohl zu diesem Zeitpunkt die Anzahl der schwarzen Bevölkerung die der Kolonisten bei Weitem übersteigt - das Verhältnis beträgt 2/3 zu V3 - wird nicht das von der Mehrheit gesprochene créole réunionnais, sondern das von der weißen Elite verwendete français bourbonnais zur dominanten Kultursprache (vgl. Baggioni/Beniamo, 1993 : 157). Das Kreolische gewinnt zwar auch für die französischen Siedlerinnen und Siedler zunehmend an Bedeutung und wird durch den Umgang mit den Untergebenen erlernt, dennoch blieb eine Anerkennung als vollwertige Sprache verwehrt. Man sah in ihr einen Beweis für die intellektuelle Unterlegenheit der Sklavinnen und Sklaven, die nicht imstande waren bzw. denen nicht ermöglicht wurde, die französische Sprache angemessen zu lernen (vgl. Stein 2017: 157). Im Kontext der Diglossie werden die Funktionen der beiden Sprachvarietäten komplementär distribuiert: Während einerseits die französische Sprache als high variety in formalen, offiziellen und distanzsprachlichen Kontexten verwendet wird und daher hohes Prestige besitzt, wird das Kreolische andererseits als low variety in der Alltagssprache, d.h. als Nähesprache verwendet, und genießt eine entsprechende geringe Reputation.
Im Jahr 1723 werden auf La Réunion mit der Implementierung des code noir die sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft weiter gefestigt: Die Interessen der weißen Plantagenbesitzer werden geschützt, wohingegen die Individuen der schwarzen Bevölkerungsschicht zu „bien meubles“ (Wolff 2010: 81) degradiert werden. Butler beschreibt diesen Vorgang als „l’assujettissement [...], le processus par lequel on devient subordonné à un pouvoir et le processus par lequel on devient un sujet.“ (Butler 2002 : 23)6 Im Jahr 1848 wird die Sklaverei zwar offiziell abgeschafft, dennoch bleibt eine auf Ungleichheit basierende soziale Ordnung weiterhin bestehen, die weite Teile der schwarzen Bevölkerung bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der misère noire gefangen hält.7 Die 62 000 freigelassenen und vorwiegend schwarzen Sklavinnen und Sklaven, auch kafres genannt, werden ab 1860 zunächst von Vertragsarbeitern aus Südindien, die als malbars bezeichnet werden, und schließlich aus dem Kanton stammende chinois ersetzt. Letztere beginnen, wie auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die aus dem nordindischen Gudjurat emigrierten zarabes, in den aufkommenden Stoff- und Holzhandel zu investieren. Die Neuankömmlinge nehmen das créole réunionnais als neue Sprache an und verlieren zum Großteil innerhalb von zwei Generationen ihre Muttersprache (vgl. Watin/Wolff 2010: 5).8
2.3 Départementalisation
Im Jahr 1945 sieht sich nicht nur Frankreich, sondern auch La Réunion als dessen Kolonie, mit den zerstörerischen Konsequenzen des 2. Weltkrieges konfrontiert. Auf der Insel stagniert die ohnehin schwache Wirtschaftskraft, außerdem verschärfen sich Armut und Kindersterblichkeit infolge des auferlegten Handelsembargos.9 Obwohl La Réunion - neben Martinique, Guadeloupe und Französisch-Guyana - im darauffolgenden Jahr mit seiner Eingliederung als Département et Région d’Outre-Mer (DROM) offiziell den restlichen Regionen in Kontinentalfrankreich gleichgestellt wird, bleibt die ferngelegene Insel im Kontext der politique de decolonisation angesichts der sich anbahnenden Krise in Algerien für das nationale Interesse vorerst von untergeordneter Priorität (Combeau 2010: 18). Die seit der Sklaverei und Plantagenwirtschaft bestehenden, tiefsitzenden sozialen Disparitäten zwischen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit und der weißen Minorität bleiben somit zunächst aufrechterhalten: Während sich der Großteil der Familien in z.T. extremer Armut befindet, können die grands Blancs und deren „caste d’héritiers“ (Alaoui/Tupin 2010: 126) weiterhin ihre wirtschaftliche, politische und kulturelle Vormachtstellung verteidigen.10 Darunter fällt aus sprachwissenschaftlicher Sicht unter anderem auch, dass das français bourbonnais nach wie vor die lokale Norm stellt, obwohl die Majorität vornehmlich Kreolisch spricht. Analog zu den gesellschaftlichen Strukturen etablieren sich zu dieser Zeit mit der Parti Communiste Réunionnais (PCR) einerseits und der Rassemblement du Peuple Français (RPF) andererseits zwei unterschiedliche politische Ausrichtungen. Die gegensätzlichen Ideologien kollidieren miteinander und führen zu einem, angesichts der ohnehin prekären sozialen und wirtschaftlichen Situation, stark angespannten Klima auf La Réunion.11 Des Weiteren wird die Organisation von stabilen demokratischen Strukturen durch das Nichteinhalten der Gesetze untergraben. Beispielsweise werden Wahlfälschungen vorgenommen, außerdem werden Oppositionelle von der Präfektur überwacht und an der öffentlichen Meinungsäußerung gehindert, sodass es schließlich zu gewalttätigen Aufständen und mehreren politisch motivierten Morden kommt (Vergès 2015: 41). Nachdem La Réunion bis in die 1950er als „département abandonnée“ (Combeau 2010: 18) von einer Gleichstellung mit Frankreich noch weit entfernt scheint, entwickelt sich in den 1960ern, angestoßen von neuen (inter)nationalen Impulsen, eine neue Herangehensweise des Staates „inspiré par l’idéologie d’un retard à rattraper.“ (Watin/Wolff 2010: 6)12 Infolgedessen finden in nur wenigen Jahrzehnten grundlegende, irreversible Veränderungen statt, unter welchen die von der Landwirtschaft geprägte Bevölkerung zu einer modernen Industriegesellschaft „mutiert“ (Nicaise 2010: 179). Während die Investitionen Frankreichs zwar allmählich zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und zum Angleichen des Lebensstandards verhelfen, werden in den aktuellen Forschungen vor allem die negativen Begleiterscheinungen der radikalen Einflussnahme thematisiert.
Zunächst muss diesbezüglich differenziert werden, dass die grands Blancs, trotz der offiziellen Eingliederung von La Réunion in den französischen Staat, ihre ökonomische Vormachtstellung in den ersten Dekaden weiterhin beibehalten und dadurch zum Aufrechterhalten von postkolonialen Strukturen beitragen. Obwohl seit den 1970ern der Zuckerpreis auf dem Weltmarkt fällt und somit zu einem starken Rückgang in der Produktion führt, sind bis heute 70% der landwirtschaftlichen Nutzflächen auf der Insel vom Zuckerrohr besetzt (vgl. Rochoux 2010: 40).13 Durch die Angleichung des Verwaltungsapparats nach hexagonalem Vorbild entstehen zwar zahlreiche Arbeitsplätze im administrativen Bereich, diese werden jedoch primär von bereits ausgebildeten und somit qualifizierten Beamten aus Metropol-Frankreich besetzt, die im Rahmen des Bureau pour le Développement des Migrations dans les Départements d’outre-mers auf La Réunion kommen (Wolff 2010: 83).14 Die Einwanderungswelle der zoreys trägt gemäß Watin zur Auflösung bereits bestehender gesellschaftlicher und sozialer Strukturen bei, die durch den Anpassungsprozess an eine westliche Konsumgesellschaft letztendlich zur Negation der kreolischen Identität beitragen. So ersetzen beispielsweise im Zuge der Urbanisierung die dem modernen Standard angepassten Wohnungen in den städtischen Ballungszentren kartié, kaz und kour und somit die Fundamente des familiären Miteinanders innerhalb der communauté créole (Watin 2010: 56).15 Der einsetzende Vorgang der Akkulturation macht sich des Weiteren auch sehr markant auf sprachlicher Ebene bemerkbar, was im Folgenden genauer erläutert wird.
Da die schulische Bildung vor der départementalisation noch lokal und von privaten, konfessionell ausgerichteten Trägern organisiert wurde und vornehmlich für die soziale Elite vorgesehen war, blieb die Verbreitung der französischen Sprache bzw. des français bourbonnais unter der Bevölkerungsmehrheit relativ gering (Bordal 2006: 18). Mit der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht und dem Aufkommen neuer Medien beginnt das français métropolitain den Einfluss der sprachlichen Varietät der grands Blancs in die familiäre Sphäre zurückzudrängen und kann sich als neue Norm etablieren (vgl. Beniamo/Baggioni 1993: 157).16 Zwar propagiert das neu etablierte, demokratisierte Schulsystem die Chancengleichheit aller Schülerinnen und Schüler, dennoch muss festgehalten werden, dass sich aufgrund der „absence relative de progrès social“ (Alaoui/Tupin 2010: 129) erst in den 1980/90ern eine qualitativ hochwertige Bildung etabliert und sich positiv auf die soziale Mobilität auswirkt.17 Des Weiteren verbreiten die vornehmlich aus Metropol-Frankreich stammenden bzw. dort ausgebildeten Lehrkräfte nicht nur den hexagonalen Sprachgebrauch, sondern auch eine westliche, moderne Lebensauffassung, was vor allem die junge Generation auf La Réunion in einen Identitätskonflikt bringt (Alaoui/Tupin 2010 : 127). Diese Entwicklung wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass die neu aufkommende urbane Mittelschicht statt der kreolischen Muttersprache nun bewusst innerhalb der Familien Französisch übermittelt, welches den schulischen und beruflichen Erfolg und somit auch den sozialen Aufstieg symbolisiert. Dieses Phänomen ist umso bemerkenswerter, wenn man in Betracht zieht, dass die meistern Sprecher Französisch lediglich als L2 erlernen und daher den Kindern eine interlangue fossilisée weitergibt, die sich durch zahlreiche (un)bewusste kreolische Interferenzen charakterisiert (vgl. Bretegnier, 1998: 247).18 Die einsetzenden und in der Sprachwissenschaft nach wie vor kontrovers diskutierten Dekreolisiserungs- bzw. Französisierungstendenzen rufen vor allem bei den monolingualen Sprechern des créole réunionnais, die tendenziell eher dem sozial schwachen Milieu entstammen, eine „culpabilité lingustique“ (Carayol/Chaudenson 1978: 185) hervor.19 Ferner führt die Beschränkung der kreolischen Muttersprache auf den nähesprachlichen Bereich sowie die ständige Konfrontation mit der französischen Sprache im öffentlichen Leben zu einer „insécurité linguistique“ (Ledegen 2010: 112). Probanden bringen im Rahmen von sprachwissenschaftlichen Studien wiederholt das Gefühl von Inferiorität zum Ausdruck, was sich an den beiden folgenden Aussagen exemplarisch zeigen lässt:
- „C’est pas [sic] de mes désirs de voir mes enfants parler le créole. Je voudrais que mes enfants soient plus élevés que moi, en français, en instruction, en éducation et tout. “ (Genouvrier/Gueunier/Khomsi 1978: 157)
- „[T]ou lé jeune ke va antand anou [les créoles] kozé in jour si zot i rentend nou kozé komsa zot va rir.“20 (Carayol/Chaudenson 1978: 185)
Obwohl bereits in den 1960ern ein erhöhtes wissenschaftliches Interesse an der Kreolistik aufkommt und man beginnt, das als zu starr wahrgenommene Prinzip der Diglossie zu erweitern, zeigen die beiden ausgewählten Zitate trotzdem deutlich, dass die dichotomische Sicht nach wie vor den Sprecherinnen und Sprechern vertreten wird.21 Während eine wichtige Neuerung von Fishman (1967) darin besteht, den Begriff in Abgrenzung vom Bilinguismus zu definieren, konzipiert Stewart (1962) basierend auf der diglossischen Grundkonstellation eine Sprachverwendungsgrammatik, welche die Pole low variety und high variety durch die Termini Akrolekt und Basilekt ersetzt.22 Die bereits angesprochene „insécurité linguistique “ (Ledegen 2010:112), einhergehend mit dem Eindruck vieler Sprecher, keine der beiden Sprachen bzw. Sprachvarietäten ausreichend zu beherrschen, erweitert zudem die Perspektive auf den intermediären Bereich. Dieser bezieht sich per definitionem auf sprachliche Äußerungen, die zwischen den beiden Polen liegen und sowohl Merkmale der Standard- als auch der Kreolsprache aufweisen. In dem Versuch das aus linguistischer Sicht bezeichnete „no man’s land“ (Ledegen 2011: 153) näher zu analysieren, entwirft Bickerton (1973) das Konzept des Mesolekts, während Prudent (1981) basierend auf seinen Untersuchungen zum créole martiniquais den Begriff des Interlekts lanciert. Indem sich letzterer für eine radikale „non-existence de frontières“ (Bordal 2006: 30) ausspricht und - statt einer Stratifikation der unterschiedlichen Varietäten im Rahmen eines Sprachkontinuums - ein in sich geschlossenes Mikrosystem fordert, wird die zentrale Problematik des Interlekts deutlich.23 Wie die für die Sprachrealität auf La Réunion angepasste untenstehende Abbildung zeigt, werden die verschiedenen Sprachformen gemäß dem aktuellen Forschungsstand zwar durchaus als Einheit verstanden, jedoch dem Konzept des Interlekts widersprechend, als „arc-en-ciel d’usages [...] s’organisant de façon graduelle“ (ebd.: 153) wahrgenommen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Das Sprachkontinuum im Kontext von La Réunion (vgl. Sobotta 2006: 106, Modifikation CM). Der kreolische Basilekt charakterisiert sich durch seine maximale Abweichung von der französischen Sprache, wohingegen der Akrolekt, als sein entsprechendes Gegenstück, eine relativ starke Nähe zu dieser aufzeigt. Ersterer wird vor allem in den Regionen nahe der Küste gesprochen, indessen Letzterer vornehmlich von den Nachkommen der petits Blancs in den höher gelegenen Bergregionen der Insel verwendet wird (vgl. Ledegen 2010: 104).
Während sich basierend auf der diglossischen Grundkonstellation Basilekt und Akrolekt an jeweils zwei entgegengesetzten Polen des Kontinuums befinden, lässt sich der Interlekt zwischen ihnen das positionieren. Die schematische Grafik verdeutlicht zwar durch die unterschiedlich gemusterten Kompartiments, dass eine generelle Kategorisierung der Sprachvarietäten möglich ist, visualisiert jedoch nicht ihre für die Sprachrealität auf La Réunion so markanten, „zones flottantes“ (Ledegen/ Léglise 2007: 3).24 Bordal nimmt diese Widersprüchlichkeit ebenfalls in ihre Bewertung des Sprachkontinuums auf und konstatiert: „La notion de continuum est une théorisation dont l’objectif est de décrire de manière rigoureuse cette hétérogénéité linguistique.“ (Bordal 2006: 22) Obwohl das neu etablierte Konzept grundsätzlich den dynamischen Kontakt des Kreolischen und Französischen in einem heterogenen Sprachraum wiederspiegelt und zu einer friedlichen Koexistenz zwischen den beiden Varietäten beiträgt, entwickelt sich in den 1970ern nichtsdestotrotz eine von der communauté créole organisierte, teilweise militante Bewegung, die eine kulturelle Gleichstellung fordert (vgl. Watin/Wolff 2010: 12). Während die Medien zuvor vor allem zur Verbreitung der französischen Standardsprache beitrugen und - indem das Kreolische lediglich zum Zweck der Karikatur aufgegriffen wurde - die allgemein vorherrschende Sprecherhaltung repräsentierten, stellt das am 14. Juli 1981 illegal im Untergrund etablierte RadioFreeDom eine markante Zäsur dar (vgl. Idelson, 2005 : 106). Gemeinsam mit dem fünf Jahre später gegründetem Télé FreeDom fungiert es als „accélérateur sociolinguistique“ (Ledegen 2011: 157) und setzt sich unter anderem für das Recht auf Meinungsfreiheit sowie für eine unabhängige, nicht vom Staat zensierte Medienlandschaft ein, die neben der französischen Sprache auch dem créole réunionnais eine öffentlichkeits- und debattierfähige Rolle zuspricht.25 Auch das maloya, ein originär aus Mozambique und Madagaskar stammender Musik- und Tanzstil, sowie das moringe, welches ähnlich zum Capoeira in Brasilien von den Sklavinnen und Sklaven au rond de kour praktiziert wurde, erfahren, gefördert von der kommunistischen Partei, eine medienwirksame Wiederbelebung und werden als Ausdruck einer „identité créole opprimée“ (Magdelaine-Andrianjafitrimo 2010: 152) ausgelegt.26 In den späten 1970ern setzen sich linksgerichtete Literaten und Intellektuelle außerdem mit der Verschriftlichung des Kreolischen auseinander und können, trotz scharfen Separatismusvorwürfen seitens der rechtskonservativen Partei auf La Réunion sowie den Protesten des Collectif pour la Défense de Française und des Collectif Réunionnais des Parents pour la Défense de l‘Education des Enfants et de l’Instruction Civique, die Publikation von ersten Wörterbüchern kréolrénioné /français (vgl. Armand 1985; Baggioni 1987) durchsetzen. Während sich die anfänglichen Bestrebungen für eine standardisierte Graphie des Kreolischen vor allem durch eine maximale Abweichung „en s’en distinguant de la façon la plus radicale, en coupant le lien de filiation avec la langue-mère“ (Bavoux 2004: 224) charakterisieren, erfolgt in den Folgejahren wiederum eine Annäherung an die französische Schreibweise.27 Letzteres scheint im Kontext des mühsam erkämpften Selbstbewusstseins des créole réunionnais zunächst ungewöhnlich, lässt sich aber unter anderem mit einem Kurswechsel in der nationalen Politik erklären. Im Jahr 1982 wird infolge des loi de décentralisation dem auf La Réunion neu gegründetem Conseil Régional die Verantwortung und Entscheidungsfreiheit in lokalen Angelegenheiten übertragen, was zu einer Annäherung der politischen Akteure führt und die „confrontations passionnées autour du débat autonomiste“ (Nicaise 2010: 175) schließlich beendet. Eine „construction d’une mémoire collective“ (Simonin 2010: 214) beginnt sich zu etablieren, was sich beispielsweise mit der Anerkennung des 20. Dezembers als offizieller Gedenktag an die Abschaffung der Sklaverei manifestiert. Nachdem man sich noch zu Beginn der départementalisation bewusst versuchte an das hexagonale Ideal anzupassen, setzt nun ein legitimiertes Interesse und eine Wertschätzung an dem kulturellen Erbe der eignen Vorfahren ein. Nicaise fasst diesbezüglich zusammen : „[L]a pensée de la plus commune aura migré du modèle assimilationniste à celui de la créolité.“ (Nicaise 2010: 167) Diese „hybridation“ (Ledegen 2010: 105) zeigt sich auch auf sprachwissenschaftlicher Ebene: Nachdem erst das français bourbonnais von dem français métropolitain abgelöst wurde, kommt nun die Frage nach dem regionalen Standard auf. Während die hexagonale Varietät primär von den Medien und den aus Kontinentalfrankreich Zugewanderten genutzt wird, spricht die Mehrheit auf La Réunion „un métissage du français et du créole, un mélange bien assumé dans l’ensemble“ (Najède 2004: 141)
2.4 Aktuelle Sprachsituation
Im Jahr 2000 wird mit dem loi d’orientation pour l ’outre-Mer in §33 nicht nur der Schutz der traditionellen Kulturen der Überseedepartements verankert, sondern in §34 werden darüber hinaus die Kreolsprachen als offizielle Regional sprachen Frankreichs anerkannt. Ledegen konstatiert, dass mit dieser Maßnahme „le créole a radicalement changé le statut.“ (Ledegen 2011: 157) So belegt beispielsweise eine Umfrage aus dem Jahr 2001, dass das créole réunionnais von 70% der Befragten als Sprache wahrgenommen wird, während im Vorjahr nur 20% diesen Standpunkt vertraten (vgl. Ledegen 2010: 157). Begünstigt wird außerdem die Sicht auf die „pratiques mélangeantes“ (Ledegen 2007: 173) der französischen und kreolischen Sprache, die charakteristisch für das Regionalfranzösisch auf La Réunion sind. Dieses Phänomen kann anhand folgender Aussage einer 35-jährigen Sprecherin aus Plaines des Palmistes illustriert werden:
[...]
1 Stein merkt an, dass trotz des massiven „Import[s]“ (Stein 2017: 158) von Sklavinnen und Sklaven die Anzahl der auf La Réunion geborenen relativ hoch bleibt. Ferner überwiegt, anders wie in den anderen damaligen Gebieten der französischen Kolonialmacht, der Anteil der weißen Bevölkerung relativ lange bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, was eine mögliche Begründung dafür sein könnte, dass das créole réunionnais im Vergleich zu anderen Kreolsprachen aus typologischer Sicht viel näher am Französischen ist (vgl. Bordal 2006: 16).
2 In der kolonialen Gesellschaft wird mit Ankunft der Missionare die (Zwangs)Konvertierung der Sklavinnen und Sklaven zum Katholizismus durchgesetzt, in der unter anderem eine Legitimation der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerungsschicht sowie - im Kontext des christlichen Heilsversprechen - eine indirekte Aufforderung zum passiven Ertragen der brutalen Ausbeutung gesehen werden kann. Obwohl mit der Taufe der Neuankömmlinge der Übertritt zur römisch-katholischen Konfession offiziell vollzogen wird, praktizieren die Sklavinnen und Sklaven im Verborgenen weiterhin die animistischen Bräuche ihrer ursprünglichen Kulturen und verbinden diese im Verlauf der Zeit mit Elementen ihrer „neuen” Religion (vgl. Wolff/Watin, 2010: 5).
3 Neben dem créole réunionnais entstehen im selben Zeitraum außerdem auch das mauricien, seychellois sowie das rodriguais im Indischen Ozean. In der amerikanisch-karibischen Regione entwickeln sich ferner in Louisiana, auf Haiti und den Antillen (Guadeloupe, Martinique, Dominica, St. Lucia und Französisch-Guyana) weitere Kreolvarietäten. Bavoux macht auf die Tatsache aufmerksam, dass die verschiedenen Kreolvarietäten häufig in der Singularform des Begriffs créole zusammengefasst werden, was „[accréditant] l’idée, infondée historiquement, qu’il existerait un seul créole à base français dans le monde.“ (Bavoux 2002: 67; Hervorhebungen CM) Während die oben genannten Kreolvarietäten zwar alle auf dem Französischen als Referenzsprache basieren, weisen sie dennoch aufgrund ihrer spezifischen sprachhistorischen Entwicklung eine Reihe bedeutender struktureller Unterschiede auf (vgl. Mufwene 2002: 20).
4 Warum entwickelten sich die Kreolsprachen jedoch auf Basis von den europäischen und nicht auf einer der afrikanischen Sprachen? Selbst wenn eine afrikanische Sprache zur Kommunikation innerhalb einer kleinen Gruppe dienen konnte und durch die Ankunft immer neuer Sprecher einige Zeit weiterlebte, so reichten diese doch nicht aus, um sich mit den restlichen Sklavinnen und Sklaven zu verständigen und reichten vor allem nicht aus, um die Aufträge und Befehle ihrer weißen Herren verstehen und ausführen zu können. Aus den Bedingungen des hierarchischen Arbeitsalltags ergab sich daher, dass die französische Sprache zum Ziel der Sklavinnen und Sklaven wurde. Für die auf ökonomischen Profit fokussierten Plantagenbesitzer zählte vor allem die Arbeitskraft, nicht der einzelne Mensch und sein sprachliches Erbe, das er weder verstehen konnte noch wollte (vgl. Stein 2017: 155).
5 Das Modell der Diglossie wurde originär von Ferguson entwickelt und wird folgendermaßen definiert: „[A] relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of the language (which may include a standard or regional standards), there is a very divergent, highly codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and respected body of written language, either of an earlier period or in another speech community, which is learned largely by formal education and is used for most formal spoken purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation.” (Ferguson 1959: 336)
6 Kürzlich publizierte Texte thematisieren in diesem Kontext vor allem die Rolle der Sklavinnen. Während sich die Wirtschaft der société de plantation primär auf die männlichen Arbeitskräfte stützte und diese daher mehrheitlich deportiert wurden, wurden die Sklavinnen für die Reproduktion des kolonialen Systems ausgebeutet (vgl. Magdelaine 2015: 9). Indem sie durch das Gebären eigener Kinder zukünftige Arbeiterinnen und Arbeiter stellten - diese wurden den Müttern oftmals kurz nach Geburt entwendet und gingen offiziell in das Eigentum des Plantagenbesitzers über - und außerdem als Ammen für die weißen Nachkömmlinge dienten, sollten sie die „longévité [...] de la classe hégémonique blanche“ (Paris 2015: 98) sicherstellen.
7 Es können hierbei Analogien zwischen dem vom Historiker Harari beschriebenen Kreislauf von fehlenden finanziellen Mitteln, Chancenungleichheit und Stigmatisierung der Afro-Americans und den kafres auf La Réunion hergestellt werden (vgl. Harari 2013: 168ff). Paris konstatiert: „Il y a [...] des clivages sociaux et raciaux internes à la société réunionnaise, une distribution différentielle, asymétrique de la vulnérabilité, de l’exposition au risque de mort.“ (Paris 2015: 100) Denn viele Schwarze sehen sich weiterhin in ihrem Arbeitsverhältnis abhängig von den weißen Arbeitsgebern: Sie werden zwischen zehn bis zwölf Stunden pro Tag für einen Niedriglohn ausgebeutet, während Frauen nach wie vor für die weißen Familien als nénès arbeiten. Ein Mindestlohn für Hausangestellte wird auf La Réunion erst im Jahr 1979 eingeführt (vgl. ebd.: 100).
8 Bedeutet créole réunionnais als Muttersprache zu beherrschen jedoch auch gleichzeitig créole zu sein bzw. als solche/r von Anderen wahrgenommen zu werden? In Bezug auf den etymologischen Ursprung bezeichnet span. criollo dt. ‘einheimisch, eingeboren’ (vgl. Metzler 2010: 376). Die Bezeichnung bezog sich aus historischer Perspektive dabei zunächst ausschließlich auf die in den Kolonien geborenen weißen Siedlerinnen und Siedler. Aufgrund des einsetzenden Sklavenhandels im 18. Jh., verschiedener Einwanderungswellen im 19. Jh., sowie der Tatsache, dass in den neuen Staatsterritorien europäische Frauen allgemein stark in der Unterzahl waren, weitete man der Begriff aus. Sofern man als Muttersprache das créole réunionnais beherrscht, galt man fortan auch als créole - und zwar „n’importe [...] quelle que soit la nuance ou la couleur de sa peau.“ (Chaudenson 2002: 2) Letzteres wird auch von Bordal vertreten, die in Bezug auf die aktuelle Sprachrealität folgendes konstatiert: „Le créole réunionnais est aujourd’hui la langue vernaculaire de la grande majorité des Réunionnais quelle que soit leur origine éthique“ (Bordal 2006: 17). Dies trifft auch auf Haiti und die Seychellen zu, wohingegen dies auf Mauritius, Martinique, Guadeloupe und in Louisiane nicht der Fall ist. Mufwene merkt diesbezüglich an, dass in den zuletzt genannten Gebieten „les vernaculaires dénommés créoles ne sont pas nécessairement associés aux individus créoles, contrairement à, par exemple l’association étymologique de la langue français à la population française.“ (Mufwene 2002: 20)
9 Die Alliierten sanktionierten während des 2. Weltkrieg die kolonialen Autoritäten, die in Verbindung mit der Vichy-Regierung standen. Gemäß den Nachforschungen des Institut de Recherche pour le Développement lag die Kindersterblichkeitsrate im Jahr 1946 bei 160 %o und stieg in den folgenden Jahren sogar auf 231 %o (vgl. Sandron 2007: 37). Neben der allgemeinen Nahrungsknappheit werden dafür vor allem die fehlenden sanitären Einrichtungen sowie das kaum ausgebaute Gesundheitswesen verantwortlich gemacht (vgl. Vergès 2015: 30).
10 Gemäß Vergès führt die weiße Elite noch bis in die 1960er eine „politique racialisée“ (Vergès 2015: 31), die sie als Weiterführung einer „bio-politique coloniale“ (ebd.: 33) betrachtet. Das Konzept der Biomacht wurde usrpünglich von Michel Foucault etabliert und auch für den Fall von La Réunion als passend erachtet. Paris schlägt diesbezüglich folgende Definition vor: „L’exercice d’un pouvoir qui s’exerce sur un continuum biologique nommé ‘population’, circonscrivant et opposant les populations qui doivent vivre et s’accroître et celles qui doivent être réduite ou mourir. Un même pouvoir veut majorer la vie des une en minorant celle des autres.“ (Paris 2015: 92) Rochoux stellt außerdem Parallelen zur aktuellen sozioökonomischen Situation her, indem er auf die Chancenungleichheit und die daraus resultierenden extremen Einkommensunterschiede aufmerksam macht (Rochoux 2010: 34ff).
11 Obwohl in Frankreich gemäß seiner Konstitution die Trennung von Kirche und Staat verbindlich ist, propagiert beispielswiese das Bistum Saint-Denis-de-La-Réunion bis in die späten 1960er eine rechtskonservative Ausrichtung der Politik, indem Kindern kommunistischer Eltern die Taufe verweigert wurde und in der Messe die Gemeinde ausdrücklich dazu aufgerufen wurde nicht für die komunis zu wählen (vgl. Vergès 2017: 36).
12 Zu wichtigen Impulsen zählen unter anderem der Besuch General de Gaulles auf der La Réunion im Jahr 1959 sowie der Unabhängigkeit der Nachbarinsel Madagaskar im Folgejahr (vgl. Combeau 2010: 20).
13 Während die Rentabilität der Zuckerindustrie sinkt, steigt zu dieser Zeit ironischerweise auch der Konsum von dem aus Zuckerrohr gewonnenem Rum auf La Réunion rapide an. Vergès deutet einen Zusammenhang zwischen Identitätsverlust und Alkoholmissbrauch an, von dem sie primär die kafres betroffen sieht. Da vor allem der männliche Teil dieser Bevölkerungsgruppe in der Kultivierung und Weiterverarbeitung von Zuckerrohrs angestellt war, verlieren diese im Zuge der Verlagerung der Wirtschaft nicht nur ihre Arbeit, sondern auch die ihr innewohnende identitätsstiftende Funktion. Vergès konstatiert: „[L]eurs savoir, leur monde tombaient dans l’oubli.“ (Vergès 2015: 39) Tatsächlich bleibt die Arbeitslosigkeit auch heute noch ein wichtiges gesellschaftspolitisches Thema. Nachdem sich die Arbeitslosigkeit im Jahr 2000 mit 42,1 % auf einem Rekordhoch auf La Réunion befand, konnte sich die Quote in den Folgejahren zwar verkleinern, dennoch muss festgehalten, dass diese mit 24,0% im Jahr 2018 im Vergleich zu Kontinentalfrankreich fast viermal so hoch ist (vgl. INSEE).
14 Vergès sieht diese Maßnahme des französischen Staates kritisch und bewertet diese als Weiterführung der rassistischen biopolitique zu Kolonialzeiten. Sie begründet dies anhand folgendem Widerspruchs: Während die Regierung die zu hohen Geburtenraten auf La Réunion als Hauptgrund für die grassierende Armut und sozialen Missstände verantwortlich macht - weswegen man anders wie in Kontinentalfrankreich die Empfängnisverhütung propagiert und Abtreibung legalisiert - wird gleichzeitig die Immigration von Beamten aus der métropole gezielt gefördert (vgl. Vergès 2015: 34). Gestützt wird dieses Argument ferner von der Union des Femmes de La Réunion (UFR), welche die Frauen aus dem schwarzen Bevölkerungsteil wiederholt als „victimes du régime colonial“ (Vidot 2015: 108) sehen. Es muss hierbei jedoch auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass die UFR durch ihre engen Kontakte mit der kommunistischen Partei eine bestimmte Auslegung von politischen Sachverhalten favorisieren könnte.
15 Das kartié definiert sich über das Wir-Gefühl des kreolischen Kollektivs und wird im städtischen Kontext von dem nach administrativen Kriterien festgelegten quartier ausgetauscht, das sich in manchen Fällen auch zum Ghetto - „[un] espace désignant la conjugaison d’une intégration sociale laborieuse et d’une difficile assimilation culturelle de la modernité“ (Watin 2010: 75) - entwickelt. Ebenso werden kaz und kour, die unter Berücksichtigung spezifischer ethnokultureller Kennzeichen konstruiert werden, ersetzt von Wohnungen, die mit fließendem Wasser, Elektrizität und Telefonanschluss westlichen Ansprüchen entsprechen. (vgl. Balcou- Debussche: 188).
16 Eine im Jahr 1977 durchgeführte Studie zur Aussprache auf La Réunion registrierte neben einer Veränderung innerhalb des Vokalinventars auch vier weitere in Hinblick auf das Konsonantensystem. Da Letzteres in der französischen Sprache seit dem 16. Jh. eine relative Stabilität aufweist, argumentiert Carayol, dass zum Zeitpunkt seiner sprachwissenschaftlichen Untersuchung die ehemals vorherrschende Norm der „haute bourgeoisie réunionnaise“ (Carayol 1977: 48) bereits durch eine variété métropolitaine substituiert wurde. Diese Sprachvarietät definiert sich als „langue que l’on attribue aux Parisiens cultivés dans un registre soigné.“ (Lyche 2010: 145)
17 Ein wichtiger Faktor spielt hierbei die Ablösung der externen Académie d’Aix-Marseille durch die neu gegründete Académie de La Réunion. Wurde bis zum Jahr 1984 das Schulwesen nach dem Vorbild der École Républicaine auf der Insel organisiert, konnte beispielsweise in den späten 1990ern durchgesetzt werden, dass die Fächer Geographie und Geschichte zum ersten Mal dem lokalen Kontext angepasst wurden (vgl. Alaoui/Tupin 2010: 137). Gemäß aktueller Bildungsstudien determiniert zwar nach wie vor der sozioökonomische Status des Elternhauses sowohl in Metropol-Frankreich als auch auf La Réunion, den schulischen Erfolg, nichtsdestotrotz bestätigen Watin und Wolff, dass die fortschrittlichen Änderungen im Bildungswesen der postkolonialen „ségrégation ethnique“ (Watin/Wolff 2010: 7) in der französischen Überseeregion entgegenwirkt und somit einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung leistet.
18 Die Forschungsliteratur erklärt leider nicht, aus wem sich genau die neue Mittelschicht auf La Réunion zusammensetzt. Da innerhalb der weißen Bevölkerungsschicht die grands Blancs in den städtischen Zentren bereits die Schlüsselpositionen besetzten und daher nicht in Frage kommen, wären aus den peripheren Gebieten zugezogene petits Blancs - mit mehr oder weniger starkem kreolischen Hintergrund - denkbar. Bezüglich der zum Großteil schwarzen Bevölkerungsmehrheit kann jedoch festgehalten werden: „[N]ombreux [...] Réunionnais [.] passent ainsi de la pauvreté à l’exclusion, notamment dans les secteurs géographiques les plus fragilisés par les mutations sociales rapides.“ (Balcou-Debussche 2010: 190) In Bezug auf die Tatsache, dass Französisch und nicht mehr das créole réunionnais an die jüngere Generation weitergegeben wird, kann eine interessante Analogie zum passing hergestellt werden. Das nach dem gleichnamigen Roman von Nella Larsen benannte und in der Soziologie diskutierte Konzept, kann gemäß Magdelaine -Andrianjafitrimo auch im Zusammenhang mit La Réunion angewendet werden und beschreibt „un désir d’échapper à la contrainte d’une appartenance à [un groupe] racial. [...] Un désir de conformité et d’ascension sociale, de négation d‘une partie de soi.“ (Magdelaine- Andrianjafitrimo 2010 : 10)
19 Das Konzept der Dekreolisierung, welches bereits Ende des 19. Jahrhunderts von Schuchardt entwickelt wurde und in aktuellen Abhandlungen kritisch hinterfragt wird (vgl. Schwegler 2000; Siegel 2010), beschreibt einen Prozess, bei dem die Kreolsprachen durch anhaltenden Sprachkontakt zunehmend ihre als kreoltypisch erachteten Züge verlieren und sich an die Strukturen der lexifier-Sprache anpassen. Während im Fall La Réunion das créole réunionnais einerseits als das Resultat einer Dekreolisierung des créole bourbonnais betrachtet wird (vgl. Chaudenson 1974), tendieren andere Forschungsmeinungen dazu, seine relativ große Nähe zum Französischen als eine nur teilweise durchgeführte Kreolisierung zu bewerten (vgl. Baker/Corne 1982).
20 Französische Übersetzung : „Tous les jeunes qui vont nous entendre parler un jour si ils nous réécoutent parler comme ça ils vont rire.“ (vgl. Ledegen 2010: 155)
21 Einen äußerst interessanten Standpunkt in Hinblick auf die Diskussion der Diglossie vertritt dabei Bernabé. Während im Allgemeinen die Überwindung der Diglossie als positiv und fortschrittlich aufgefasst wird, weist Bernabé auf die daraus resultierenden existentiellen Probleme der Kreolsprachen hin. Er argumentiert, dass eine Auflösung der diglossischen Regeln zu einer Abwertung des Kreolischen führen. Bernabé konstatiert: „[L]es langues peuvent-elles avoir les mêmes fonctionnalités dans un même espace ? La réponse fournie par l’histoire [...] est négative: plusieurs langues ne peuvent pas occuper le même créneau fonctionnel dans un écosystème donné (principe d’exclusivité fonctionnelle). Tôt ou tard, l’une d’entre elles doit disparaître. Être ou ne plus être, voilà assurément une question fondamentale pour les langues.“ (Bernabé 1989: 30f.)
22 Fishman kommt in seiner Analyse zum Schluss, dass in einer diglossischen Sprachgemeinschaft der weitaus größere Teil keinen individuellen Bilinguismus aufweist, d.h. meist tatsächlich nur Kreolisch sprechen und verstehen kann, während in Bezug auf das Französische lediglich eine passive Sprachkompetenz abrufbar ist (Fishman 1967: 30). Anhand der Sprachverwendungsgrammatik analysiert Stewart unterschiedliche Situationen in welchen die jeweilige Sprache bzw. Sprachvarietät für den Einzelnen als angemessen gilt. Er hält außerdem fest, dass ein Nichteinhalten der Regeln dieser Grammatik gleichzeitig einen Verstoß gegen die soziale Norm darstellt (Stewart 1962: 39).
23 Eine Klassifizierung der Lekte ist gemäß quantitativ ausgerichteter Kriterien, wie beispielsweise anhand phonetischer Varianten, morphologischer Formen oder syntaktischen Konstruktionen nur beschränkt möglich: „[O]n manque d’arguments purment ‘linguistique’ (réduisant ce terme au sens de ‘systémistes’) pour tracer la frontière entre français et créole.“ (Robillard 2002: 47) Cellier demonstriert in seinen Analysen die überraschende Schwierigkeit sprachliche Äußerungen im Rahmen des Sprachkontinuums zwischen dem kreolischen Akro- oder Basilekt einzuordnen. So können beispielsweise die beiden Sätze moin té i manz (kreolischer Basilekt) und mi manz-é (kreolischer Akrolekt) auf syntaktischer Ebene lediglich durch die Vor- bzw. Nachstellung der Passivkonstituenten unterschieden werden, während andere grammatische Kategorien, wie Numerus und Genus, stark variieren können (vgl. Cellier 1981: 89ff., Hervorhebungen CM). Bei der Untersuchung mehrerer aus den 1970ern stammenden Korpora kommt Ledegen außerdem zu dem Schluss, dass insgesamt 16% der Äußerungen aufgrund fehlender stichhaltiger Klassifizierungskategorien den „zones flottantes“ (Ledegen/Léglise 2007: 3) zugeordnet werden müssen.
24 Diese fließenden Übergänge wurden in den 1970ern noch mit einer „confusion de langues“ (Ledegen 2010: 153) und infolgedessen mit einer „attribution de l’erreur“ (ebd.: 153) in Verbindung gebracht, wohingegen diese „métissage“ (Wolff 2010: 84) in den letzten Jahrzehnten aufgrund einer starken Aufwertung der kreolischen Sprache sowie durch die verbesserte soziale Mobilität nicht nur bewusst praktiziert, sondern explizit gefordert wird.
25 Watin konstatiert, dass erst durch die Öffnung des medialen Raums zwischen 1976 und 1986 „une large fraction de la population, jusque là écartée du débat public, apparaît sur la scène publique selon un mode de communication et dans une lange - le créole - qui lui sont propres.“ (Watin 2011: 57) War ein öffentlicher Diskurs zuvor ausschließlich auf Französisch denkbar, so wurde im Rahmen der interaktiven Sendungen von Radio FreedDom und Télé FreeDom die Auswahl der Sprache bewusst den Sprechern überlassen. Daraus resultierend stellt Fioux bereits 1996 das Auftreten von alternances codiques fest, „[qui] ne se produisaient pas à La Réunion il y a une dizaine d’années.“ (Fioux 1996: 158) Nicht nur die Verbreitung dieses Phänomens, sondern darüber hinaus auch seine Legitimität und zunehmend positive Bewertung in den letzten Jahren wurde von Ledegen anhand von Audiobeiträgen und deren Transkription akribisch analysiert (vgl. Ledegen 2011: 159).
26 Das maloya wird wegen seines afrikanischen Ursprungs sowie des Entstehungskontexts in der kolonialen Plantagenwirtschaft tendenziell eher als musique kafre wahrgenommen, thematisiert aber durchaus auch die Lebensrealität anderer Ethnien auf La Réunion. Zu den bekanntesten Vertretern können zweifelsohne Danyèl Waro oder die Gruppe Ziskakan gezählt werden, die bereits Mitte der 1970er alte kreolische Gedichte in das für das maloya typische Muster von call and response einbetteten und heute nach wie vor auf der Insel sehr populär sind (vgl. Magdelaine-Andrianjafitrimo 2010: 152).
27 Stein macht zunächst auf den Umstand aufmerksam, dass sich mehrheitlich diejenigen entscheiden - bzw. überhaupt dafür interessieren - das créole réunionnais zu verschriftlichen, die auch in der Lage sind zu lesen und schreiben und deswegen automatisch mit der französischen Sprache sehr vertraut sind. Französisch hält daher bereits eine Art Vorbildfunktion inne, nach der man „seine kreolischen Texte auszurichten [...] leicht versucht ist.“ (Stein 2017: 183) Des Weiteren wird auf die Tatsache verwiesen, dass die Mehrheit der kreolischen Sprecherinnen und Sprecher nach wie vor die diglossische Perspektive vertreten und demzufolge lediglich der französischen Sprache eine Verschriftlichungskompetenz zutrauen (vgl. ebd. : 168). Ledegen merkt daran anknüpfend außerdem an, dass das créole réunionnais in seiner Zuordnung als patois eher mit einer mündlich fokussierten Sprechkultur in Verbindung gebracht wird, die mit einer Verschriftlichung möglicherweise an Authentizität verlieren könnte (vgl. Ledegen 2010: 106).
- Quote paper
- Anonymous,, 2020, Postvokales /r/ im Regionalfranzösisch auf La Réunion. Divergierender Perzeptionseffekt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/985905
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