Die Arbeit beschäftigt sich mit professionellen Maßnahmen zur Unterstützung der autistischen Kinder. Die Geschwisterkinder werden ebenfalls mit den herausfordernden Verhaltensweisen ihrer autistischen Geschwister konfrontiert und übernehmen in unterschiedlichen Situationen eine Verantwortung, welches zu Überanstrengungen führen kann. Vor diesem Hintergrund sollen im Rahmen einer Interviewstudie näher untersucht werden, wie durch Bewältigungsstrategien und Stärkenorientierungen die betroffenen Familien unterstützt werden können.
Die Arbeit gliedert sich in fünf Bereiche, die sich ebenfalls thematisch unterteilen. Der erste Bereich bildet die theoretischen Grundlagen (II). Im ersten Kapitel zum Thema Autismus-Spektrum Störung (ASS) erfolgt zunächst eine Definition der Bezeichnung ASS und die Darstellung der historischen Grundlagen. Anschließend werden die Klassifikationssysteme DSM-V und ICD-10 vorgestellt. Im nächsten Kapitel werden die Kritikpunkte an den vorgestellten Klassifikationssystemen näher betrachtet. Die darauffolgenden Kapitel befassen sich mit der Diagnosestellung, Professionelle Hilfen, Rechtliche Grundlagen, besondere Eigenschaften von autistischen Menschen und Ursachen autistischer Besonderheiten. Im Bereich der Stärkenorientierung wird der Begriff Stärke definiert, auf allgemeine Ressourcen eingegangen und der Ansatz der Stärkenperspektive vorgestellt. Der Theorieteil schließt mit der Beschreibung der Stärkenorientierung der Eltern und der Geschwisterkinder ab. Abschließend werden die wichtigsten theoretischen Grundlagen zusammengefasst.
Daraufhin beginnt der Bereich Methodische Grundlagen (III) mit der Beschreibung der Fragestellung und Zielsetzung dieser Arbeit. In Kapitel 4 werden die angewandten Transkriptionsregeln und die Qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsmethode detailliert beschrieben. Außerdem wird ein Einblick in die Gütekriterien nach Mayring gegeben.
Im nächsten Bereich werden die Forschungsergebnisse (IV) dargelegt. Darin erfolgt eine Vorstellung der einzelnen Probandinnen und des entwickelten Kategoriensystems. Zudem werden die Interviews ausgewertet und eine Zusammenfassung der Ergebnisse dargestellt. Im abschließenden Bereich (V) werden die dargestellten Ergebnisse anhand von Untersuchungsaspekten diskutiert und analysiert.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
I. Einleitung
II. Theoretische Grundlagen
1. Autismus-Spektrum-Störung
1.1 Begriffsdefinition
1.2 Historische Grundlagen
1.3 Autismus nach DSM-V
1.4 Autismus nach ICD-10
1.4.1 Frühkindlicher Autismus
1.4.2 Atypischer Autismus
1.4.3 Hochfunktionaler Autismus
1.4.4 Asperger-Syndrom
1.5 Kritik an den Klassifikationssystemen
1.6 Diagnosestellung
1.7 Professionelle Hilfen
1.8 Rechtliche Grundlagen
1.9 Besondere Eigenschaften von autistischen Menschen
1.10 Ursachen autistischer Besonderheiten
2. Belastungssituationen
2.1 Definition: Belastung
2.2 Vier-Ebenen-Modell
2.3 Belastungssituationen der Eltern
2.4 Belastungssituationen der Geschwisterkinder
2.5 Belastungssituationen bei autistischen Menschen
2.6 Bewältigungsstrategien
3. Stärkenorientierung
3.1 Definition: Stärke und Ressource
3.2 Ansatz der Stärkenperspektive
3.3 Stärkenorientierung der Eltern
3.4 Stärkenorientierung der Geschwisterkinder
4. Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen
III. Methodische Grundlagen
1. Fragestellung und Zielsetzungen
2. Forschungszugang
3. Datenerhebung
3.1 Erhebungsmethoden
3.2 Erhebungsinstrument
3.3 Datenauswahl
3.4 Information zur Durchführung
4. Datenaufbereitung
4.1 Datenaufbereitung
4.2 Analysemethode
4.2.1 Inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse
4.2.2 Durchführung der qualitativen Inhaltsanalyse
5. Gütekriterien
IV. Ergebnisse
1. Vorstellung der Probandinnen
2. Vorstellung des Kategoriensystems
3. Auswertung des Interviews
4. Zusammenfassung der Ergebnisse
V. Diskussion und Ausblick
1. Diskussion und Interpretation der Ergebnisse
2. Diskussion des Forschungsprozesses
2.1 Diskussion des methodischen Vorgehens
2.2 Diskussion der qualitativen Gütekriterien nach Mayring
3. Ausblick
VI. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang 1: Interviewleitfaden für Expertinnen
Anhang 2: Interviewleitfaden für Mütter
Anhang 3: Interviewleitfaden für Geschwisterkinder
Anhang 4: Prä- und Postskript Expertin 1
Anhang 5: Prä- und Postskript Expertin 2
Anhang 6: Prä- und Postskript Mutter 1
Anhang 7: Prä- und Postskript Mutter 2
Anhang 8: Prä- und Postskript Geschwisterkind 1
Anhang 9: Prä- und Postskript Geschwisterkind 2
Anhang 10: Transkript Expertin 1
Anhang 11: Transkript Expertin 2
Anhang 12: Transkript Mutter 1
Anhang 13: Transkript Mutter 2
Anhang 14: Transkript Geschwisterkind 1
Anhang 15: Transkript Geschwisterkind 2
Anhang 16: Kategorientabelle
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Beurteilungssystem
Abbildung 2: Diagnostische Kriterien Frühkindlicher Autismus
Abbildung 3: sechs Schritte in der Diagnostik
Abbildung 4: Häufigkeiten von Autismus-Spektrum-Störung
Abbildung 5: Überblick der gesetzlichen Regelungen zum Autismus-Spektrum
Abbildung 6: Vier-Ebenen-Modell der elterlichen Belastungen
Abbildung 7: Verhaltensauffälligkeiten bei Geschwistern
Abbildung 8: Allgemeines inhaltsanalytisches Ablaufmodell
Abbildung 9: Sieben Analyseformen nach Mayring
Abbildung10: Ablaufschema einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
I Einleitung
In Bezug auf die Diagnosen der autistischen Menschen wird angenommen, dass ein Anstieg der Prävalenzrate vorhanden und 1% der Gesamtbevölkerung von Autismus betroffen ist (Leitlinien zur Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, 2016). Als Ursachen für diesen Anstieg werden zum einen die empirischen Erkenntnisse und zum anderen die Verbesserungen der diagnostischen Instrumente angesehen. Außerdem wird der Anstieg der erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber von ASS geschuldet (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 26). Aktuell bestehen für die jeweiligen Fachkräfte keine Leitlinien und ausreichende differenzierte Kenntnisse zur Diagnostik und Handlungsmaßnahmen zur Zusammenarbeit mit betroffenen Familien. Damit eine angemessene Versorgung gewährleistet werden kann, sind Leitlinien in Deutschland eine Notwendigkeit (AWMF e.V., 2016, S. 7). Es ist unbestritten, dass das Zusammenleben mit einem autistischen Kind eine Herausforderung darstellt. Die Eltern besitzen nämlich unterschiedliche Anforderungen im Alltag, die sie versuchen zu bewältigen. Dabei ist eine optimistische und geduldige Grundhaltung eine wichtige Eigenschaft im Umgang mit einem autistischen Kind. Außerdem ist die Unterstützung der Personen aus dem sozialen Umfeld eine nachhaltige Ressource für betroffene Familien. Des Weiteren ist der Bezug von professionellen Maßnahmen eine wichtiger Handlungsschritt zur Unterstützung der autistischen Kinder (autismus Deutschland e.V., 2018, S. 12). Die Geschwisterkinder werden ebenfalls mit den herausfordernden Verhaltensweisen ihrer autistischen Geschwister konfrontiert und übernehmen in unterschiedlichen Situationen eine Verantwortung, welches zu Überanstrengungen führen kann (autismus Deutschland e.V., 2018, S. 14).
Vor diesem Hintergrund sollen die oben genannten Aspekte im Rahmen dieser Interviewstudie näher untersucht werden. Diese Aspekte werden mit der Untersuchung der Bewältigungsstrategien und Stärkenorientierungen der betroffenen Familien erweitert. Zur Umsetzung werden sechs Probandinnen zu unterschiedlichen Aspekten im AutismusSpektrum befragt und die Ergebnisse auf der Grundlage von Untersuchungsaspekten analysiert und ausgewertet. Jedoch können die erhobenen Ergebnisse aufgrund der geringen Repräsentativität nicht zur Verallgemeinerung dienen. In dieser Hinsicht könnte diese Arbeit Hinweise und Anregungen für weitere Untersuchungen in der Autismusforschung leisten.
Die vorliegende Bachelorarbeit gliedert sich in fünf Bereiche, die sich ebenfalls thematisch unterteilen. Der Bereich Theoretische Grundlagen (II) gliedert sich in den Kapiteln Autismus-Spektrum-Störung (II, Kap. 1), Belastungserleben (II, Kap. 2) und Stärkenorientierung (II, Kap. 3) auf. Im ersten Kapitel zum Thema ASS erfolgt zunächst eine Definition der Bezeichnung ASS (II, Kap. 1.1) und die Darstellung der historischen Grundlagen (II, Kap. 1.2). Anschließend werden die Klassifikationssysteme DSM-V (II, Kap. 1.3) und ICD-10 (II, Kap. 1.4) vorgestellt. Letzteres umfasst die kategoriale Unterteilung Frühkindlicher Autismus (II, Kap. 1.4.1), Atypischer Autismus (II, Kap. 1.4.2), Hochfunktionaler Autismus (II, Kap. 1.4.3) und Asperger-Syndrom (II, Kap. 1.4.4). Im nächsten Kapitel werden die Kritikpunkte an den vorgestellten Klassifikationssystemen näher betrachtet (II, Kap. 1.5). Die darauffolgenden Kapitel befassen sich mit der Diagnosestellung (II, Kap. 1.6), Professionelle Hilfen (II, Kap. 1.7), Rechtliche Grundlagen (II, Kap. 1.8), besondere Eigenschaften von autistischen Menschen (II, Kap. 1.9) und Ursachen autistischer Besonderheiten (II, Kap. 1.10). Der Bereich Belastungserleben (II, Kap. 2) beinhaltet sechs Kapitel. Darin wird der Begriff Belastung definiert (II, Kap. 2.1), Stresssituationen von autistischen Menschen dargestellt (II, Kap. 2.2) und anschließend auf das Vier-Ebenen-Modell übergeleitet (II, Kap. 2.3). In den darauffolgenden Kapiteln werden sowohl die Belastungssituationen der Eltern (II, Kap. 2.4) als auch der Geschwisterkinder (II, Kap. 2.5) näher beschrieben und auf deren Bewältigungsstrategien (II, Kap. 2.6) eingegangen. Im Bereich der Stärkenorientierung (II) wird der Begriff Stärke definiert (II, Kap. 3.1), auf allgemeine Ressourcen eingegangen (II, Kap. 3.2) und der Ansatz der Stärkenperspektive vorgestellt (II, Kap. 3.3). Der Theorieteil schließt mit der Beschreibung der Stärkenorientierung der Eltern (II, Kap. 3.4) und der Geschwisterkinder (II, Kap. 3.5) ab. Abschließend werden die wichtigsten theoretischen Grundlagen zusammengefasst (II, Kap. 4).
Daraufhin beginnt der Bereich Methodische Grundlagen (III) mit der Beschreibung der Fragestellung und Zielsetzung dieser Arbeit (III, Kap. 1). Im Anschluss werden in den folgenden Kapiteln der ausgewählte Forschungszugang (III, Kap. 2) und die Datenerhebungsmethode (III, Kap. 3) theoretisch aufgezeigt. Letzteres beinhaltet zum einen eine begründetet Darstellung der Erhebungsmethode (III, Kap. 3.1), des ausgewählten Erhebungsinstruments (III, Kap. 3.2), der Datenauswahl (III, Kap. 3.3) und zum anderen die Informationen zur Durchführung dieser Untersuchung (III, Kap. 3.4). In Kapitel 4 werden die angewandten Transkriptionsregeln (III, Kap. 4.1) und die Qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsmethode (III, Kap. 4.2) detailliert beschrieben. Außerdem wird ein Einblick in die Gütekriterien nach Mayring gegeben (III, Kap. 5).
Im nächsten Bereich werden die Forschungsergebnisse (IV) dargelegt. Darin erfolgt eine Vorstellung der einzelnen Probandinnen (IV, Kap. 1) und des entwickelten Kategoriensystems (IV, Kap. 2). Zudem werden die Interviews ausgewertet (IV, Kap. 3) und eine Zusammenfassung der Ergebnisse (IV, Kap. 4) dargestellt.
Im abschließenden Bereich (V) werden die dargestellten Ergebnisse anhand von Untersuchungsaspekten diskutiert und analysiert (V, Kap. 1). Der gesamte Forschungsprozess dieser Studie wird in Kapitel 2 diskutiert. Dabei werden auf die Diskussionen des methodischen Vorgehens (V, Kap. 2.1) und der qualitativen Gütekriterien nach Mayring (V, Kap. 2.2) näher eingegangen. Im Ausblick (V, Kap. 3) befinden sich Anregungen für weitere Forschungen und im Fazit (VI) werden die wichtigsten Aspekte zusammenfassend bewertet.
II Theoretische Grundlagen
1. Autismus-Spektrum-Störung
1.1 Begriffsdefiniton
Der Begriff Autismus-Spektrum-Störung besitzt sowohl im englischen als auch im griechischen Sprachgebrauch eine Bedeutungszuschreibung (Poustka & Poustka, 2017, S. 233). Dabei besteht bei der Bezeichnung autism spectrum disorder eine Ähnlichkeit zu der deutschen Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störung. Sie ist eine Zusammenstellung der griechischen Begriffe autos und imos, die im Deutschen als „selbst" und „Zustand, Orientierung" übersetzt werden (Bölte, 2009, S. 21).
Eine grundlegende Auffälligkeit von Autisten und -innen ist hauptsächlich die beeinträchtigte soziale Kommunikation, die unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Nicht nur Menschen mit einer kognitiven und sprachlichen Beeinträchtigung, sondern auch Menschen mit durchschnittlichen sprachlichen und kognitiven Kompetenzen sind von der Störung betroffen (Poustka & Poustka, 2017, S. 233). Außerdem befinden sich weitere Auffälligkeiten von autistischen Menschen im Sozialverhalten und Einschränkungen im Interessensspektrum. Diese Bereiche werden nach bestimmten Symptomen untersucht, die häufig in einem engen Bezug zueinanderstehen. Die Kombination der Symptomatik aus den jeweiligen Bereichen ist vielfältig ausgeprägt. Zur Diagnose von Autismus-SpektrumStörung werden die einzelnen Symptome in der Summe betrachtet. Dies wird als Summationsdiagnose bezeichnet (Schirmer, 2010, S. 12f.).
Insgesamt weisen die autistischen Störungen eine Heterogenität auf und sind meistens angeboren (Poustka & Poustka, 2017, S. 233). Aktuell wird davon ausgegangen, dass die Ursachen von Autismus in der genetischen Reizempfindlichkeit und -empfänglichkeit liegen (Grabrucker & Schmeißer, 2015; zitiert nach Theunissen & Sagrauske (2019), S. 34). In diesem Zusammenhang spielen die epigenetischen Prozesse eine wichtige Rolle, die sich aus genetischen Faktoren mit Umweltkomponenten zusammensetzen. Dabei beziehen sich beispielsweise die genetischen Faktoren auf Genmutationen und die Umweltkomponenten auf mütterliche Erkrankungen. Jedoch bestehen hinsichtlich der Ursachen und Auswirkungen Unklarheiten in der Wissenschaft. Hauptsächlich werden durch Zwillingsstudien belegt, dass die Umweltfaktoren und Genen nicht differenziert betrachtet werden sollten. An dieser Stelle ist es interessant zu betrachten, dass bei eineiigen männlichen Zwillingen trotz hoher Konkordanzrate in autistischen Merkmalen variable Entwicklungsverläufe beobachtet werden können (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 34). Des Weiteren werden durch neuere Erkenntnisse die hohe Konnektivität von Nervenzellen belegt, die durch die genetische Reizempfindlichkeit und -empfänglichkeit verursacht werden. Außerdem ist im frühen Kindesalter ein ungewöhnliches Hirnwachstum zu beobachten. Diese empirischen Ergebnisse werden häufig mit Besonderheiten in der Wahrnehmung und auffälligem Sozialverhalten in Zusammenhang gebracht (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 34).
In den folgenden Kapiteln wird der Autismus-Begriff im historischen Verlauf näher betrachtet. Im Anschluss werden die Symptome von Autismus nach DSM-V und ICD-10 dargestellt.
1.2 Historische Grundlage
Im Jahr 1911 veröffentlichte Eugen Bleuler (Schweizer Psychiater) seine Forschungsergebnisse über Schizophrenie, worin er den Begriff Autismus einführte (Feinstein, 2010; zitiert nach Theunissen & Sagrauske (2019) S. 14). Diese Bezeichnung ist eine Zusammenstellung der griechischen Begriffe autos und imos, die im deutschen als „selbst" und „Zustand, Orientierung" übersetzt werden (Bölte, 2009, S. 21). Bleuler verwendete diesen Begriff als zentrale Symptomatik für die Beschreibung der Schizophrenie. Während seiner Untersuchungen waren die egozentrischen Eigenschaften und der Rückzug in sich selbst zusätzliche Auffälligkeiten (Leuchte, 2015, S. 36).
Es besteht eine Vermutung, dass Grunja E. Ssucharewa (russische Kinder- und Jugendpsychiaterin) zu den ersten Wissenschaftlerinnen zählt, die eine wissenschaftliche Ausarbeitung über Autismus veröffentlichte. Im Rahmen einer Forschung in den 1920er Jahren beschrieb Ssucharewa auffällige Verhaltensmuster der Probanden und -innen, wie zum Beispiel exzentrisches Verhalten und Eigentümlichkeit. Ssucharewa vertritt die Meinung, dass der Autismus-Begriff nach Bleuler nicht umfangreich alle Symptome erfasst, die sie in ihrer Stichprobe beobachtete. Aus diesem Grund verwendete sie die Bezeichnung „schizoide Psychopathie". Am Rande sei auch erwähnt, dass die Studienergebnisse nicht in den Fokus der Autismusforschung gerückt sind, da ihre Veröffentlichungen von der russischen Sprache nicht in das Deutsche übersetzt wurden (Feinstein, 2010; zitiert nach Theunissen & Sagrauske, (2019), S. 14f.).
Im Vergleich zu Ssucharewa war der österreichische Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1896-1981) der zweite Forscher, der eine wissenschaftliche Veröffentlichung über Autismus veröffentlicht hatte (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 15). Im Jahr 1943 erschien die englischsprachige Publikation „Autistic disturbances of affective contact". Kanner entdeckte in seinen Untersuchungen, dass die Kinder kein Bedürfnis nach einer Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld haben. Vor diesem Hintergrund wurde die Bezeichnung „Autismus" von Kanner als emotionale Störung beschrieben. Nach Kanner ist das Syndrom angeboren, welches durch eine Stoffwechselstörung verursacht wurde. Außerdem bestand seine Annahme darin, dass dieses Syndrom selten in wissenschaftlichen Veröffentlichungen beschrieben wurde, da Autismus vermutlich mit Schizophrenie verwechselt wurde (Bölte, 2009, S. 21f.).
Im Jahr 1944 veröffentlichte Hans Asperger (1906-1980) eine deutschsprachige Publikation über die Störungen im sozialen und kommunikativen Verhalten bei Jungen. Im Vergleich zu Kanner vertritt Asperger ebenfalls die Ansicht, dass Autismus ein angeborenes Syndrom darstellt. Ausgehend seiner Untersuchungen vertrat er die Vermutung einer genetischen Vererbung der väterlichen Anlagen zum Kind. Zudem klassifizierte Asperger Autismus als ein Persönlichkeitszug, welches in der heutigen Zeit als Persönlichkeitsstörung definiert wird. Außerdem ging Asperger davon aus, dass autistische Symptome nicht vor dem dritten Lebensjahr erkennbar sind (Bölte, 2009, S. 21ff.).
Asperger und Kanner vertraten die Ansicht, dass sich die untersuchten Kinder zum einen durch eine Störung im Sozialverhalten und Kommunikation und zum anderen durch eine Einschränkung in ihren Interessen und Aktivitäten zurückgezogen haben. In diesem Aspekt unterscheiden sich Asperger und Kanner zu Bleuler. Nach dem Schweizer Psychiater liegt die Ursache für das in sich gekehrte Verhalten in der schizophrenen Störung der Kinder (Autismus Deutschland e. V., 2008; zitiert nach Leuchte (2015), S. 36). Zusätzlich betonten Kanner und Asperger in ihren wissenschaftlichen Arbeiten die Stärken von autistischen Kindern. Jedoch wurden diese Erkenntnisse durch medizinisch-pathologische Perspektiven ersetzt (Leuchte, 2015, S. 36).
Es ist unbestritten, dass die Annahmen von Kanner und Asperger einen Einfluss auf das Phänomen Autismus genommen haben. Erst durch die englische Übersetzung haben Aspergers Erkenntnisse einen wichtigen internationalen Stellenwert erlangt. Seit den Erscheinungen der empirischen Ergebnisse von Kanner und Asperger wurde darüber diskutiert, ob Autismus ein Phänomen mit vielfältigen Variationen darstellt oder qualitativ unterschiedliche Störungen sind. In diesem Zusammenhang bestehen Studien, die von vielfältigen Variationen von Autismus ausgehen (Frith, 2004; zitiert nach Bölte (2009), S. 25).
Psychogenetische Ursache von Autismus: Im weiteren Verlauf der Jahre entstanden unterschiedliche Meinungen zur Ursache von Autismus. In diesem Zusammenhang entwickelte sich die psychogenetische Verursachungstheorie von Autismus, welche ein emotionales Trauma als Ursache aufführt (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 16). Es sollte an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden, dass Kanner in seinen wissenschaftlichen Ausführungen die Eltern bzw. die Mütter der autistischen Kinder als kühl und distanziert beschrieb. Nach Kanner besteht durch dieses Verhalten ein Einfluss auf die Kinder. Vor diesem Hintergrund wurde Kanner in den 1950er Jahren die Auslösung der psychogenetischen Verursachungstheorie unterstellt. Darauffolgend wurden in amerikanischen Zeitschriften der Begriff „Kühlschrankmutter“ eingesetzt, welches die Mütter persönlich angriff (Donvan & Zucker, 2016; zitiert nach Theunissen & Sagrauske, (2019), S. 16). Diese Theorie vertrat Bruno Bettelheim und war durch seine Behandlungsmethoden erfolgreich (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 16). Jedoch waren seine Methoden in der Forschung umstritten (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 16, vgl. nach Feinstein, 2010). Weitere Vertreter der psychogenetischen Verursachungstheorie, wie zum Beispiel Eric Erikson, versuchten nicht nur die Kinder mit Autismus tiefenpsychologisch zu behandeln, sondern auch ihre Eltern. In den 1950er Jahren vertrat Gerhard Bosch (Kinder- und Jugendpsychiater) eine Gegenposition zu dieser Theorie (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 19). Er führte nämlich die Ursache für Autismus auf Hirnschädigungen zurück (Feinstein, 2010; zitiert nach Theunissen & Sagrauske (2019), S. 19). Aufgrund dieser Tatsachen entschuldigte sich Kanner in den 1970er Jahren für die missverständlichen Aussagen in seiner Publikation über Autismus (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 16).
Erste Elternbewegungen: Im Vergleich zu den psychologischen und klinischen Perspektiven zum Autismus entstanden ebenfalls Elternbewegungen. Interessant zu betrachten ist, dass diese Bewegungen gegen die Behauptungen von der psychogenetischen Verursachungstheorien entstanden. In diesem Zusammenhang war Ruth Sullivan eine der einflussreichsten Mütter in den USA. Gegenüber den Vorwürfen der Vertreter der Verursachungstheorie warf sie die Frage auf, in welchem Maße Mütter die Ursache von Autismus sind. Sullivan hat insgesamt sieben Kinder, wobei nur eines davon autistisch ist. Die weiteren sechs Kinder wiesen keine Einschränkungen im sozialen und kommunikativen Verhalten auf. Aufgrund der Öffentlichkeitsarbeit von Sullivan konnte eine Sensibilisierung anderer Mütter von autistischen Kindern und die Entwicklung einer Elternselbsthilfe-Bewegung stattfinden. Darauffolgend wurde im Jahr 1965 durch die Unterstützung vom Psychologen Bernard Rimland die erste Organisation National Society for Autistic Children (NSAC) gegründet. Sie setzte sich für die Rechte und Bedürfnisse von Kindern mit Autismus ein (Donvan & Zucker, 2016; zitiert nach Theunissen & Sagrauske (2019), S. 16). Außerdem versuchte die NSAC durch intensive Öffentlichkeitsarbeit die Politik und Gesellschaft für autistische Menschen zu sensibilisieren. 1974 gelang es dieser Organisation Autismus, als eine Form von Behinderung anerkennen zu lassen und erste Wohngruppen für Menschen mit Autismus durchzusetzen. Des Weiteren entstanden erste Dienstleistungszentren für Autismus, in denen Eltern Beratung und Förderangebote erhielten (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 19).
In den 1970er Jahren gründeten Eltern von Kindern mit Autismus in Westdeutschland den Verein „Hilfe für das autistische Kind". Die Ziele dieses Vereins waren zum einen der Aufbau von Regionalverbänden und Autismus-Therapie-Zentren und zum anderen die politische Durchsetzung der Schulpflicht für Kinder mit einer Beeinträchtigung. Im Jahr 1975 wurde das Ziel der Schulpflicht für beeinträchtigte Kinder erreicht (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 18f.). 2005 wurde der „Hilfe für das autistische Kind" durch die Bezeichnung „autismus Deutschland e.V - Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus" ersetzt. Durch diese Bezeichnung wurden alle Altersgruppen, das heißt auch Erwachsene mit Autismus einbezogen. Währenddessen entwickelte sich in Deutschland ein Paradigmenwechsel, der den Fokus auf die gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft legte. Dabei wurden die Eltern und die Betroffenen durch das Benachteiligungsverbot im Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3 Satz 2) in Schutz genommen (Kaminski, 2015, S. 38f.).
Autismus im Wandel der Klassifikationssysteme: In der weiteren Entwicklung des AutismusBegriffs wurde in den Klassifizierungssystemen DSM-I (1952) und DSM-II (1968) nach APA (American Psychiatric Association) als kindliche Schizophrenie eingestuft. Sowohl Kolvin (1971) und Rutter (1970) als auch Bosch (1962) haben daran gearbeitet, Autismus von psychotischen Störungen abzugrenzen. In diesem Zusammenhang bestanden klare Unterschiede im Beginn, Verlauf und in den Symptomen. Im Jahr 1978 führte ICD-9 den Autismus-Begriff unter der Bezeichnung „Typische Psychosen des Kindesalters" ein. Im Vergleich dazu wurde im Jahr 1980 Autismus im DSM-III zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugeordnet, was in der Wissenschaft Akzeptanz fand. In der Neuauflage von DSM-III (DSM-III-R, 1987) entsprach Autismus einem Spektrum. Darin wurden drei Störungsbereiche in der Interaktion, Kommunikation und Imagination formuliert. Jedoch bestanden weiterhin Mängel in der Anwendung des Klassifizierungssystems, da die Diagnosen häufig falsch gestellt wurden. Im Jahr 1992 erschien das Manual ICD-10 und im Jahr 1994 DSM-IV. Durch diese Neuerscheinungen entstand eine hohe Übereinstimmung sowohl der internationalen Klassifikation mit der nordamerikanischen Klassifikation als auch der Terminologie des Autismus mit den assoziierten Störungen (Bölte, 2009, S. 25f.). In den Klassifikationssystemen DSM-IV-TR und ICD-10 (vgl. Kap. 1.4) entspricht das Asperger-Syndrom nicht dem Original, da es ohne Beeinträchtigungen in der sprachlichen Entwicklung konzipiert wurde. Nach dem originalen Maßstab nach Asperger besteht heute keine Übereinstimmung mit den diagnostizierten Fällen (Miller & Ozonoff, 1997, Hippler & Klicpera, 2015; zitiert nach Bölte (2009), S. 25). Zur Entwicklung dieser neuen Annahmen des Asperger-Syndroms haben die Erkenntnisse von Wing aus dem Jahr 1981 beigetragen. Durch die Modifizierung und Ergänzung der Originalbeschreibung von Asperger wurde das Syndrom als eine klassische Form des Autismus betrachtet (Bölte, 2009, S. 25).
Im DSM-V (II, Kap. 1.3), welches 2013 eingeführt wurde, sind keine Kategorisierungen vorhanden. Stattdessen werden die Störungen Frühkindlicher Autismus und Asperger- Syndrom unter der Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst (KampBecker, 2015, S. 106f.).
In den Kapiteln 1.3 und 1.4 wird Autismus nach DSM-V und ICD-10 näher nach ihren Klassifikationen betrachtet.
1.3 Autismus nach DSM-V
Die Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störung wurde im Jahr 2013 in der fünften Ausgabe im „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen" eingeführt (Mähler & Grube, 2018, S. 624). Das „Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen" (DSM-V) ist ein international anerkanntes Klassifikationssystem, welches von der amerikanischen Psychiatrie-Gesellschaft APA herausgegeben wurde (Mähler & Grube, 2018, S. 624). In diesem Klassifikationssystem wird Autismus zur Hauptkategorie „Störungen der neuro-psychischen Entwicklung" zugeordnet (Döpfner, 2013, S. 39). Darin wird Autismus zum einen durch Beeinträchtigungen in der Interaktion und Kommunikation und zum anderen durch Einschränkungen in repetitiven Verhaltensmustern, Aktivitäten oder Interessen unterschieden. In der ersten Kategorie besteht eine Unterteilung der Defizite. In diesem Zusammenhang muss eine Beeinträchtigung zunächst in der Wechselseitigkeit im sozialen und emotionalen Verhalten nachweisbar sein. Beispielsweise haben Menschen mit Autismus während den Gesprächen unterschiedliche Schwierigkeiten, sich emotional auszudrücken und ihre Interessen auszutauschen. Des Weiteren muss eine Beeinträchtigung im Verständnis von Gestik und Mimik innerhalb von Interaktionen vorhanden sein. Zum Beispiel kann ein inkongruentes Verhalten des Gegenübers zu Verwirrungen führen. Abschließend muss in dieser Kategorie ein Defizit im Sozialverhalten nachweisbar sein, wie zum Beispiel die Knüpfung und Aufrechterhaltung von Freundschaften (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 36).
In der zweiten Kategorie werden insgesamt vier Symptome zur Diagnose von ASS dargestellt. Zunächst ist ein Symptom, dass Wiederholungen oder stereotype Verhaltensmuster im Einsatz von Sprache, Objekten und in motorischen Bewegungen auftreten. Ein weiteres Symptom ist die geringe Flexibilität gegenüber Veränderungen, fest strukturierte Routinen und ritualisierte Verhaltensmuster in der verbalen oder nonverbalen Kommunikation. Anschließend sind Spezialinteressen, wie zum Beispiel Waschmaschinen ein zusätzliches Symptom. Zum Schluss ist die starke Reizempfindlichkeit oder eine Vorliebe auf sensorische Reize ein weiteres Symptom, wodurch eine Diagnose von Autismus festgestellt werden kann. Jedoch müssen in beiden Hauptkategorien zunächst alle Defizite und mindestens zwei von vier Symptomen nachweisbar sein (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 36f.).
Im DSM-V wird festgehalten, dass die bereits erwähnte Symptomatik von autistischen Menschen im frühen Kindesalter vorhanden sein muss. Dabei ist eine vollständige Ausbildung der Symptome nicht notwendig. Durch die steigenden Anforderungen im sozialen Umfeld besteht die Möglichkeit, dass sich die gering ausgebildeten Symptome langfristig manifestieren. Zusammenfassend stellen diese Symptome und Defizite vielfältige Merkmale von autistischen Menschen dar, die unterschiedliche Herausforderungen im Alltag verursachen können. Im DSM-V wird nicht nur ASS berücksichtigt, sondern auch Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel Angststörungen oder Depressionen. Hiermit wird durch diese Berücksichtigung eine Doppeldiagnose von Autismus und Depressionen offiziell zulässig (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 37).
Die Ausprägungsgrade der bereits erwähnten Symptome werden durch ein dreistufiges Beurteilungssystem erfasst (Abb. 1). Dadurch können entstehende Probleme aufgrund von der kategorialen Trennung vermieden werden (Sinzig & Schmidt, 2013, S. 142f).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abbildung 1: Beurteilungssystem (Sinzig & Schmidt, 2013, S. 142f.))
1.4 Autismus nach ICD-10
Im Vergleich zum amerikanischen Klassifikationssystem DSM-V wird Autismus in Deutschland durch das Klassifikationssystem ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschrieben und klassifiziert (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 35). Autismus wird im ICD-10 unter dem Kapitel „psychische Störungen" eingeordnet. Die psychischen Störungen weisen insgesamt neun Hauptgruppen auf, die von F0 bis F9 gekennzeichnet wurden (Döpfner, 2013, S. 34f.). In der näheren Betrachtung ist Autismus in der F8 Kategorie Entwicklungsstörungen verortet. Zu dieser Hauptkategorie bestehen drei Annahmen, die im Folgenden beschrieben werden. Es wird zunächst davon ausgegangen, dass der Störungsbeginn hauptsächlich in der frühen Kindheit liegt. Des Weiteren besteht die Annahme der engen Verknüpfung von Entwicklungsverzögerungen oder - einschränkungen mit der biologischen Heranbildung des Zentralnervensystems. Die dritte Annahme basiert darauf, dass im stetigen Verlauf der Entwicklungsstörungen Remissionen (Rückgang der Symptomatik) und Rezidive (Rückfall) nicht beobachtbar sind (Döpfner, 2013, S. 35). Zurückgreifend auf die Hauptkategorien wird die F8 Kategorie in vier weitere Unterkategorien unterteilt. Dabei wird Autismus zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84) zugeordnet. Diese sind „Frühkindlicher Autismus" (F84.0), „Atypischer Autismus" (F84.1) und „Asperger-Syndrom" (F84.5) (Döpfner, 2013, S. 35f.).
1.4.1 Frühkindlicher Autismus
Menschen mit einer Diagnose im Frühkindlichen Autismus lehnen bereits als Baby die Zuwendung der Bezugspersonen ab. Dabei stellt der soziale Rückzug innerhalb der individuellen Entwicklungsphase ein spezifisches Merkmal der Autismus-Störung dar. Außerdem weisen die frühkindlichen Autisten und -innen Beeinträchtigungen in ihrer sprachlichen Entwicklung auf und besitzen isolierte Kompetenzen. Abschließend sind Aufmerksamkeitsstörungen und ritualisierte Verhaltensmuster feste Bestandteile im Frühkindlichen Autismus (Poustka & Poustka, 2017, S. 233). Dabei wird vermutet, dass die Ursachen vom Frühkindlichen Autismus auf typische neurobiologische Besonderheiten der Betroffenen zurückzuführen sind. Es bestehen unterschiedliche Faktoren, die als Ursache des Frühkindlichen Autismus betrachtet werden. Diese sind beispielsweise Hirnschädigungen und Störungen der Hirnfunktionen oder Erbeinflüsse (Remschmidt, 2012, S. 27f.).
In Bezug auf die Diagnose des Frühkindlichen Autismus bestehen bestimmte Kriterien im ICD-10, die im Folgenden tabellarisch dargestellt werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abbildung 2: Diagnostische Kriterien Frühkindlicher Autismus (Dilling & Freyberger, 2019, S. 294ff.))
Im Vergleich dazu stellt der Atypische Autismus eine weitere Variante des Frühkindlichen Autismus dar. Der Atypische Autismus wird diagnostiziert, wenn ein Mensch nicht alle Symptome im Frühkindlichen Autismus erfüllt und keine weiteren Diagnosen gestellt werden können (Schirmer, 2010, S. 14). Im ICD-10 bestehen insgesamt drei Symptome für den Atypischen Autismus (F84.1). Das erste Kriterium (A) für das Auftreten des Atypischen Autismus ist das Alter des Kindes. Dabei treten Auffälligkeiten bei den Kindern mit drei oder ab drei Jahren auf. Das zweite Kriterium (B) basiert auf den Auffälligkeiten innerhalb der kindlichen Interaktion oder im kommunikativen Verhalten. Außerdem müssen sich wiederholende und stereotype Interessen, Verhaltensmuster und Aktivitäten nachweisbar sein. Das dritte Kriterium (C) wird erfüllt, wenn die Symptome für den Frühkindlichen Autismus (F84.0) nicht nachweisbar sind. Des Weiteren befinden sich untypische Vorkommen im Atypischen Autismus, die mit F84.1 gekennzeichnet sind. Die untypischen Vorkommen werden sowohl durch das Erkrankungsalter (F84.10) als durch die Atypischen Symptomatologie (F84.11) unterteilt. Abschließend wird in der Kategorie F84.12 das Erkrankungsalter und atypischer Symptomatologie zusammengefasst (Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 2016, S. 193f.).
1.4.3 Hochfunktionaler Autismus
Der Hochfunktionale Autismus besitzt seinen Ursprung aus der USA mit der Bezeichnung „high functioning autism“. Dieser Begriff wurde im DSM-IV als Subkategorie zu den autistischen Störungen und im ICD-10 zum Frühkindlichen Autismus zugeordnet (Theunissen, 2015, S. 169). Insgesamt beschreibt der high-functioning Autismus eine positive Prognose, die sich zunächst im Erwachsenenalter feststellen lässt (Tebartz van Elst, 2013a, S. 32; zitiert nach Theunissen (2015), S. 169). Die Ursache liegt darin, dass diese Bezeichnung eine leichte Ausprägung der autistischen Symptome darstellt (Theunissen, 2015, S. 169). Vor diesem Hintergrund werden zwar Menschen mit high- functioning Autismus zum Frühkindlichen Autismus zugeordnet (Huang & Wheeler, 2006; Tsai 1992; zitiert nach Theunissen (2015), S. 169), weisen jedoch nicht die Merkmale in dieser Kategorie auf (Theunissen, 2015, S. 169).
1.4.4 Asperger-Syndrom
Die dritte Kategorisierung zum Autismus im ICD-10 ist das Asperger-Syndrom (Sinzig & Schmidt, 2013, S. 140). Die Diagnose des Asperger-Syndroms wird entweder im Kindergarten, in der Schule oder im Erwachsenenalter gestellt (Schirmer, 2010. S.13). Nach ICD-10 müssen für die Diagnose des Asperger-Syndroms bestimmte Kriterien nachweisbar sein. Diese sind zunächst das Fehlen von Verzögerungen innerhalb der sprachlichen oder kognitiven Entwicklung der Betroffenen (Sinzig & Schmidt, 2013, S. 140). In diesem Zusammenhang lernen bereits Kinder mit Asperger-Syndrom relativ früh, sich sprachlich auszudrücken. Außerdem befinden sich ihre kognitiven Kompetenzen im Normbereich. Hier sei besonders hervorgehoben, dass ihre kommunikativen Fähigkeiten im Vergleich zu frühkindlichen Autisten und -innen in einer unterschiedlichen Art und Weise beeinträchtigt sind. Beispielsweise orientieren sie sich während eines Gesprächs an ihren eigenen Bedürfnissen. Dabei passen sie sich nicht an den Gesprächspartner an (Remschmidt, 2012, S. 48f.). Weitere Kriterien zur Diagnose des Asperger-Syndroms ist die beeinträchtigte Interaktion der Betroffenen im sozialen Umfeld. Diese Symptomatik stellt eine Gemeinsamkeit zum Frühkindlichen Autismus dar. Zusätzlich weisen Asperger- Autisten und -innen ungewöhnliche Interessen, stereotypische und sich wiederholende Verhaltensmuster auf. Das stereotype Verhaltensmuster stellt im Vergleich zum Frühkindlichen Autismus ebenfalls eine Gemeinsamkeit dar. Jedoch ist diese Symptomatik im Asperger-Syndrom stärker ausgeprägt (Sinzig & Schmidt, 2013, S. 140).
1.5 Kritik an den Klassifikationssystemen
Wie bereits in den Kapiteln 1.3 und 1.4 erwähnt, wird Autismus nach den aktuellen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-V eingestuft. Während im ICD-10 Autismus in den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen kategorial unterschieden wird, besteht im DSM- V eine dimensionale Klassifizierung. In diesem Zusammenhang stellt die amerikanische Autismusforschung die kategoriale Unterteilung im ICD-10 in Frage (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 36f.). Sowohl der Frühkindlicher Autismus als auch das Asperger- Syndrom haben eine mangelhafte Unterscheidbarkeit (Macintosh & Dissaanayake, 2004; zitiert nach Sinzig & Schmidt (2013), S. 140). Dieser Aspekt hat dazu geführt, dass die Diagnosekriterien und Symptomatiken überprüft und neue Änderungsvorschläge bestimmt wurden. Der erste Änderungsvorschlag zum ICD-11 ist die Zusammenfassung des Frühkindlichen Autismus, Asperger-Syndroms, nicht näher spezifizierten tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und desintegrativen Störungen. Diese werden innerhalb der entwicklungsneurologischen Störungen im Bereich „Psychische und Verhaltensstörungen als Autismus-Spektrum-Störungen (A09)“ zusammengefasst. Darin werden die Diagnosekriterien innerhalb von zwei Symptomgruppen aufgeteilt. Die Aufteilung erfolgt zum einen in „Kontextunabhängige, persistierende Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion“ und zum anderen in „Eingeschränkte, sich wiederholende Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten“. Die Begründung für diesen Änderungsvorschlag liegt darin, dass die Trennung von Kommunikation und Interaktion nicht sinnvoll sind. Außerdem ist eine weitere Begründung, dass das Kriterium Sprachstörungen im ICD-10 die Diagnose nicht begründet. Zusätzlich befindet sich im Kriterium C kein striktes Alter des Auftretens und im Kriterium D wird eine Beeinträchtigung von Alltagsfunktionen vorausgesetzt (Sinzig & Schmidt, 2013, S. 140ff.). Der zweite Änderungsvorschlag ist die Ersetzung der bisher berücksichtigten Diagnosekriterien der drei Autismus-Kategorien. Diese werden durch ein dreistufiges Beurteilungsraster (Abb. 1) in beiden Symptomgruppen ersetzt.
Im Vergleich zum ICD-10 bestehen zum DSM-V ebenfalls unterschiedliche Kritikpunkte (Theunissen, 2016, S. 19). Es wird befürchtet, dass durch die Aufhebung der Kategorien Menschen mit Atypischem Autismus nicht umfangreich erfasst werden. Des Weiteren wurden Auffälligkeiten in der Motorik und Sprache unzureichend berücksichtigt sowie geschlechtsspezifische Besonderheiten vernachlässigt (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 38). Die Ursache liegt darin, dass sich Mädchen bzw. Frauen in Bezug auf das autistische Erscheinungsbild von Jungen bzw. Männern unterscheiden. Beispielsweise stehen bei dem weiblichen Geschlecht ein passives und zurückhaltendes Verhalten im Vordergrund, anstelle von aggressivem und störendem Verhalten (Preißmann, 2013, S. 8). In Bezug auf die aktuellen Diagnosesysteme werden individuelle Herausforderungen und Auffälligkeiten bei autistischen Mädchen nicht berücksichtigt. An dieser Stelle wären geschlechtsspezifische Anpassungen in den Bereichen Kommunikation und Sozialverhalten notwendig. (Preißmann, 2013, S. 11f.). Des Weiteren werden im DSM-V sowohl die Defizitorientierung als auch die negative Perspektive auf Interessen, Aktivitäten und sich wiederholendes Verhalten kritisiert. Im Vergleich dazu sehen sich die Betroffenen weder zu der Kategorie „psychische Krankheiten“ noch zu den „tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ zugehörig. Aus diesem Grund lehnen sie den Fachausdruck „Autismus-Spektrum-Störung“ und die Bezeichnung „Menschen mit Autismus“ ab. Stattdessen bevorzugen sie den Fachausdruck „Autismus-Spektrum“ und die Bezeichnung „autistische Menschen“ (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 38). Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass sich autistische Menschen als eine individuelle Gruppe innerhalb der heterogenen Gesellschaft sehen (Bölte, 2009, S. 28).
1.6 Diagnosestellung
Die Diagnosestellung für das Autismus-Spektrum erfolgt in sechs Schritten (Abb. 3). Bevor eine Diagnose gestellt wird, haben die Bezugspersonen des Kindes einen Verdacht (1) auf eine mögliche Beeinträchtigung in der Entwicklung. Erwähnenswert sind neuere Studien, die belegen, dass Eltern die frühen Symptome ihrer Kinder im Kleinkindalter (12-18 Monate) feststellen. Sie berichten von Entwicklungsverzögerungen in der Kommunikation und im Sozialverhalten. Im Gegensatz dazu belegen weitere Studien, dass die klinische Feststellung von Autismus-Spektrum ab zwei Jahren erst möglich ist. Häufig nimmt der Prozess bis zur Diagnosestellung einen langen Zeitraum ein (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 55f.). Für die meisten Eltern sind Kinderärzte die ersten professionellen Anlaufstellen. Bei den Experten und -innen besitzen sie das Bedürfnis, ihre Sorgen auszusprechen und eine Erklärung für die Auffälligkeiten ihrer Kinder zu erhalten. Jedoch können die Kinderärzte, die nicht ausreichend über Autismus informiert sind, keine autistischen Symptome feststellen. Außerdem wird erwähnt, dass sie geringe Kenntnisse über weiterführende Anlaufstellen zur Diagnostik und Beratung besitzen, sodass eine Frühförderung verspätet in Anspruch genommen wird (Schirmer & Alexander, 2015, S. 24). Im weiteren Verlauf können die Familienärzte die Eltern an qualifizierte Kinderärzte überweisen (2) (Dodd, 2011, S. 152), die das Screening-Instrument CHAT (Checklist for Autism in Toddlers) einsetzen. Dieses Instrument wurde hauptsächlich für den Einsatz in Kinderarztpraxen entwickelt und basiert auf einem Fragebogenverfahren (Noterdaeme, 2015, S. 94). Das Instrument besitzt eine Durchführungsdauer von fünf bis zehn Minuten und ist bereits bei Kleinkindern von 18 Monaten anwendbar. Im Screeningverfahren sind geschlossene Fragen enthalten, die mit Ja oder Nein beantwortet werden können. Im Fragebogen werden Themen, wie zum Beispiel das soziale Spielverhalten, der Einsatz von Symbolspielen und das Interesse an Gleichaltrigen (Dodd, 2011, S. 153) behandelt. Dadurch können die Experten und -innen eine Verdachtsdiagnose aufstellen (Noterdaeme, 2015, S. 94). Mithilfe dieser Screeningmethode können Verzögerungen vermieden und frühzeitig eine individuelle Förderung eingeleitet werden (Keenan, Kerr & Dillenburger, 2015, S. 25).
Im Anschluss (3) verschreibt der Kinderarzt oder die Kinderärztin eine Überweisung zum Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ). Innerhalb dieser Einrichtung werden die Kinder von Experten und -innen untersucht und die Eltern in Bezug auf die Entwicklung ihres Kindes befragt (Arens-Wiebel, 2019, S. 16f). Die Diagnose von Autismus erfolgt von Kinder- und Jugendpsychiatern durch die Untersuchung des kindlichen Verhaltens (Schirmer & Alexander, 2015, S. 21). Im Anschluss an das Screeningverfahren werden umfassende Untersuchungen durch standardisierte Verfahren durchgeführt. Durch die Heterogenität der Leistungsfähigkeit von Autisten und -innen werden diese Verfahren zur Identifikation von individuellen Stärken und Schwächen angewendet. Zunächst werden umfangreiche Entwicklungs- und Intelligenztests eingesetzt. Des Weiteren bestehen Testverfahren zur Untersuchung der Sprachentwicklung, wie zum Beispiel SETK 2 und SETK 3 - 5. Innerhalb der standardisierten Verfahren haben sich ADI-R und ADOS als autismusspezifische Untersuchungsverfahren etabliert. Außerdem untersuchen Experten und -innen die körperlichen Funktionen der autistischen Kinder auf behandelbare Grunderkrankungen. Zum einen können Risikofaktoren in der Genetik ermittelt werden, wie zum Beispiel Dysmorphiezeichen. Zum anderen werden Begleiterscheinungen wie das Fragile-X- Syndrom durch eine Chromosomenanalyse der Blutproben der Kinder ausgeschlossen. Abschließend sind apparative Diagnosen ein Bestandteil der umfangreichen Untersuchungen im SPZ. Dabei sollen Regressionen von vorher angeeigneten Kompetenzen durch ein EEG untersucht werden (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 61ff.).
Im weiteren Schritt (4) erfolgen differentialdiagnostische Untersuchungen. Dabei werden Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ermittelt. Differenzialdiagnosen des Autismus sind: Intelligenzminderung, Zwangsstörung, ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Persönlichkeitsstörung, soziale Phobie, Mutismus und Sprachstörung (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 65f.). In Bezug auf die Untersuchung des Entwicklungsstands werden zunächst die vorhandenen Kompetenzen genau untersucht und das jeweilige Zielverhalten bestimmt. In der näheren Betrachtung findet eine detaillierte Untersuchung der Kompetenzen statt, damit individuelle Fördermaßnahmen ermittelt werden können (Remschmidt & Kamp-Becker, 2006, S. 146f.).
Im weiteren Verlauf des Diagnoseprozesses werden die bisher erfassten Daten durch das multiaxiale Klassifikationsschema (5) zusammengefasst und dokumentiert. Diese Zusammenfassung und Dokumentation der Untersuchungsergebnisse kann für anschließende Behandlungen durch Therapeuten und -innen zu Informationszwecken dienen. Außerdem stellen sie für Kostenträger der Behandlungen eine wichtige Entscheidungsgrundlage dar. Die Dokumentation erfolgt nach den sechs Achsen des multiaxialen Klassifikationsschemas (Abb. 3) (Remschmidt & Kamp-Becker, 2006, S. 147). In Anbetracht der bisher erwähnten Aspekte wird aus den diagnostischen Untersuchungen eine individuell angepasste therapeutische Maßnahme abgeleitet (Remschmidt & KampBecker, 2006, S. 146f.). Die therapeutischen Maßnahmen (6) werden in Kapitel 1.6 „professionelle Hilfen" übersichtlich dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abbildung 3: sechs Schritte in der Diagnostik (Remschmidt & Kamp-Becker, 2006, S. 55))
Insgesamt ist die Zahl der Diagnosen von autistischen Menschen angestiegen. In Deutschland haben circa 800.000 Menschen eine Diagnose im Autismus-Spektrum (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 34). Die Ursache für diesen hohen Anstieg liegt darin, dass Erwachsene im späteren Alter eine Diagnose des Asperger-Sydroms erhielten. Vor diesem Hintergrund wurden nicht nur im frühen Kindesalter die diagnostischen Kriterien verfeinert, sondern auch im Jugend- und Erwachsenenalter (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 34).
In Bezug auf die Autismus-Diagnosen in Deutschland bestehen dennoch keine genauen Statistiken. Die Zahlen in der Abbildung (4) „Häufigkeiten von Autismus-SpektrumStörungen" basieren auf den Untersuchungen, die in USA, Kanada und Europa erhoben wurden (autismus Deutschland e. V., 2019).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abbildung 4: Häufigkeiten von Autismus-Spektrum-Störungen (autismus Deutschland e.V., 2019))
1.7 Professionelle Hilfen
Nachdem eine Diagnose im Autismus-Spektrum ermittelt wurde, erfolgt ein aufwendiger Prozess der Erstellung von wirksamen Behandlungen. Während dieser Phase sollten die Eltern professionell nach Möglichkeiten zur Betreuung, Therapie und Entlastung beraten werden. In diesem Zusammenhang stehen für die Eltern vielfältige professionelle Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung. Jedoch ist es schwierig, unter der Vielzahl eine individuell angepasste Maßnahme für Autisten und -innen zu erstellen. Durch den Einsatz einer Maßnahme stehen zum einen die Kompensation der typischen Symptomatik und störenden Verhaltensweisen von autistischen Menschen und zum anderen die Partizipation der Familie und vom Umfeld im Vordergrund. Des Weiteren ist es wichtig, dass die Autisten und -innen im Aufbau von konstruktiven Verhaltensstrukturen gefördert werden (KampBecker & Bölte, 2014, S. 74f.).
In den Einrichtungen, die für Autismus-Spektrum spezialisiert sind, sollten die Experten und Expertinnen ein umfangreiches Fachwissen über Autismus besitzen und Erfahrungen im Einsatz von standardisierten Verfahren aufweisen. Erwähnenswert ist, dass Frühförderungen eine Notwendigkeit für die Weiterentwicklung der Kinder mit spezifischen Auffälligkeiten darstellen. Sie sind nicht nur für die Weiterentwicklung von Hirnfunktionen und Lernprozessen vorteilhaft, sondern auch in Bezug auf die Vorbeugung von problematischen Verhaltensweisen im späteren Kindesalter (Arens-Wiebel, 2019, S. 31). Insgesamt werden diese Vorgehensweisen im Konzept der positiven Verhaltensunterstützung verortet, das ein besseres Verständnis des herausfordernden Verhaltens von Autisten und -innen ermöglicht. Darauffolgend wird eine Maßnahme entwickelt, welche die Bewältigung von seelischen Belastungen und schwierigen Situationen ermöglichen und ein besseres Zusammenleben herstellen soll (Theunissen, 2016; zitiert nach Preißmann (2017), S. 108f.). Aus diesen Aspekten lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass therapeutische Maßnahmen versuchen, ein eigenständiges Leben, die Integration in der Gesellschaft und eine hohe Lebenszufriedenheit herzustellen (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 74f.).
Im Folgenden werden medikamentöse Behandlungen, relevante Therapieansätze und - angebote näher dargestellt, die in Deutschland angewendet werden. Aufgrund der Vielzahl an professionellen Hilfen sind die Ausführungen in diesem Kapitel nicht vollständig. Therapieansätze: In diesem Abschnitt werden die Ansätze ABA und TEACCH näher dargestellt. Der Therapieansatz Applied Behavioral Analysis (ABA) wurde von Lovaas entwickelt. Wesentliche Merkmale der angewandten Verhaltensanalyse sind zunächst die Partizipation der Eltern, die frühe und verhaltensorientierte Therapie im häuslichen Kontext und die Orientierung an Methoden der Verhaltenstherapie. Dabei sind die Ziele die Verbesserung sprachlicher Vorläuferfähigkeiten, sozialer und kommunikativer Kompetenzen und integrativer Maßnahmen in schulischen Institutionen (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 80). Zudem entwickelt ABA Verfahren, damit individuelle Unterschiede im Verhalten gemessen werden können. Dadurch können die Potenziale von autistischen Kindern bestmöglich ausgeschöpft werden, um therapeutische Maßnahmen am jeweiligen Entwicklungsstand ansetzen zu können (Keenan, Keer, Dillenburger, 2015, S. 52). Während der Behandlungseinheiten durchlaufen die Kinder ein diskretes Lernformat. Dabei erhalten sie eine Abfolge von Lerneinheiten, die klare Strukturen aufweisen und sich voneinander unterscheiden. Die Durchführung von ABA erfolgt durch professionelle Fachkräfte in häuslichen Kontexten. Zusätzlich zu den Kindern werden die Eltern intensiv trainiert. ABA wird als Frühförderprogramm mit einem hohen zeitlichen Aufwand durchgeführt. Es basiert auf durchgeführten Studien, die eine positive Evidenz aufweisen. Jedoch liegt der Nachteil darin, dass der Ansatz zeitaufwändig ist und hohe Kosten beinhaltet (Kamp-Becker, 2014, S. 80).
Im Vergleich zu ABA besteht ebenfalls ein Programm, das auf einer Kombination von Maßnahmen in der Pädagogik und Verhaltenstherapie basiert. Dieses Programm wird als TEACCH-Programm (Treatment and Education of Autistic and related Communication- handicapped Children) bezeichnet. Die Zielgruppe umfasst alle Menschen aus dem Autismus-Spektrum und ihren heterogenen Eigenschaften. Es ist ein strukturierender Ansatz, welches die Bereiche Kommunikation, Wahrnehmung und Interaktion umfasst. Das TEACCH-Programm wird als ein Rahmengerüst eingesetzt, damit Menschen im AutismusSpektrum eine strukturierte Erziehung und Förderung erhalten. Dabei ist das Ziel eine Schaffung von Umgebungen, die an den individuellen Bedürfnissen angepasst sind und geringe störende Faktoren aufweisen. Die Merkmale des Programms sind die Förderung der autistischen Menschen durch spezifische Angebote und die Strukturierung ihres sozialen Umfelds. Dabei wird die materielle Umgebung organisiert, Arbeitssysteme und Pläne aufgestellt, Handlungen überschaubar aufgegliedert, Erwartungen und Formulierungen werden klar und deutlich aufgeschrieben und Abläufe werden visualisiert. Jedoch beruht dieser Ansatz nicht auf empirischen Studien, da es sich um einen individualisierten Vorgang handelt. Dennoch besteht eine Wirksamkeit in den Bereichen „soziale Fähigkeiten“, „Selbstständigkeit“ und „funktionelle Kommunikation“. Außerdem kann eine Verminderung von Verhaltensauffälligkeiten bei den Betroffenen beobachtet werden (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 80f.).
Therapieangebote: Die Eltern können zu den vorhandenen therapeutischen Leistungen durch Frühförderstellen und Autismus-Therapiezentren zusätzlich Logopädie, Psychotherapie und Ergotherapie beantragen. Zum einen können die Kinderärzte eine Empfehlung ausschreiben und zum anderen können sich die Eltern an Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) und Gesundheitsämter wenden (Arens-Wiebel, 2019, S. 32).
Ergotherapie: Die ergotherapeutischen Maßnahmen können die selbstständige Handlungsfähigkeit der autistischen Kinder im Alltag ermöglichen und sie im Sammeln von sozialen, emotionalen und sensomotorischen Erfahrungen unterstützen. Außerdem sollen die motorischen Kompetenzen und Wahrnehmungsfähigkeiten verbessert werden (ArensWiebel, 2019, S. 32). In Bezug auf die Therapieplanung werden die Ergotherapeuten und - innen aufgrund der vielfältigen Erscheinungsformen des Autismus-Spektrums mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert. Dennoch ist es möglich, durch die angewendeten Maßnahmen große Entwicklungsfortschritte bei den Kindern zu beobachten (Preißmann, 2017, S. 114). Erwähnenswert ist, dass die Ergotherapie für die Kinder im Autismus-Spektrum von den Krankenkassen übernommen werden (Arens-Wiebel, 2019, S. 32).
Logopädie/ Sprachtherapie: Explizit werden in der Logopädie und Sprachtherapie die Störungen im Bereich der Sprache, Artikulation, Stimme und Schluckreflexe näher betrachtet. Außerdem können bei Menschen mit körperlicher und mehrfacher Beeinträchtigung Hilfsmittel zur unterstützten Kommunikation, wie zum Beispiel Kommunikationstafeln, eingesetzt werden. Bevor eine logopädische oder sprachtherapeutische Maßnahme eingeführt wird, erhalten die Eltern Trainingseinheiten zur kommunikativen Gestaltung mit ihrem Kind. In der Regel wird Logopädie ab drei Jahren bei autistischen Kindern eingesetzt, damit ihre Kommunikationsfähigkeiten verbessert werden. Jedoch besteht eine Schwierigkeit in der Anwendung von traditionellen Methoden, da die Kinder im Autismus-Spektrum möglicherweise keine Emotionen, Imitationen und Kooperationen zeigen. Nachdem die Kinder ein bestimmtes Entwicklungsalter erreicht und bestimmte Lernstrategien erworben haben, können beispielsweise logopädische und sprachtherapeutische Maßnahmen zur Verbesserung der Syntax und Artikulation verwendet werden (Arens-Wiebel, 2019, S. 33).
Psychotherapie: Die psychotherapeutischen Unterstützungen sorgen dafür, belastende Symptome von Autisten und -innen zu reduzieren, familiäre Belastung zu lindern, Fähigkeiten zu vermitteln, persönliche Lebenszufriedenheit zu steigern, individuelle Besonderheiten anzuerkennen und sie in ihren Alltag zu integrieren (Preißmann, 2017, S. 104). Jedoch bestehen keine ausreichenden therapeutischen Angebote von Psychiatern oder Psychologen, die den Bedürfnissen von autistischen Menschen gerecht werden. Aus diesem Grund sollten vielzählige Therapeuten und -innen für die Arbeit mit autistischen Menschen motiviert und fachlich qualifiziert werden. Aufgrund von Begleiterscheinungen, wie beispielsweise Depressionen oder Ängste können psychotherapeutische Maßnahmen eingesetzt werden (Preißmann, 2017, S. 106).
Medikamentöse Therapie: In Bezug auf eine medikamentöse Behandlung von autistischen Kindern besteht in Deutschland kein offizielles Medikament. Die Kinder erhalten erst ab sechs Jahren eine medikamentöse Therapie zur individuellen Heilung. Um Nebenwirkungen vorzubeugen, erhalten sie die Medikamente in geringer Dosis und in bestimmten Zeitabständen. Wenn die Kinder nicht nur ein aggressives und impulsives Verhalten aufzeigen, sondern auch eine hohe Reizbarkeit, stereotypisches und selbstverletzendes Verhalten besitzen, werden Neuroleptika eingesetzt (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 92). In Bezug auf starke Aggressionen, Depressionen, sich wiederholende Verhaltensweisen, Ängstlichkeit und Reizbarkeit weist das Medikament Risperidon eine effektive Wirksamkeit auf. Des Weiteren werden zur Verminderung von zusätzlichen Auffälligkeiten, wie zum Beispiel Aufmerksamkeitsstörungen, impulsives Verhalten und Hyperaktivität, stimulierende Medikamente eingesetzt. Ein weiteres Medikament, das sich zur Behandlung von depressiven Symptomen im Autismus-Spektrum etabliert hat, ist Atomoxetin (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 93). Zur Bekämpfung von Depressionen, Aggressionen, sich wiederholende Verhaltensweisen, Angst- und Zwangsstörungen, Selbstverletzungen, Stereotypien oder Einnässen werden Antidepressiva eingesetzt. Außerdem werden gegen Schlafstörungen beispielsweise Nitrazepam, Atosil oder Imipramin verabreicht. Insgesamt konnten Studien eine Verbesserung der Verhaltensauffälligkeiten durch medikamentöse Behandlungen belegen. Durch den Einsatz einer medikamentösen Behandlung können Begleiterscheinungen bei Autisten und -innen vermindert werden (Kamp-Becker & Bölte, 2014, S. 94).
1.8 Rechtliche Grundlagen
Grundlegend sind die Rechte von beeinträchtigten Menschen im Sozialgesetzbuch, im Behindertengleichstellungsgesetz und im allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz verankert (Abb. 5) (Frese, 2009, S. 488). Nach Frese (2009, S. 488) besteht kein einheitliches Gesetzbuch, in dem alle Rechte von Menschen mit einer Beeinträchtigung zusammengefasst sind. In Deutschland erfolgte ein Paradigmenwechsel in der Politik für Menschen mit einer Beeinträchtigung. Es entwickelte sich nämlich ein Wechsel von der „Fürsorge" zur „gleichberechtigten Teilhabe" innerhalb der Gesellschaft. Wie bereits in den vorangehenden Abschnitten (Kap. 1.2) darauf hingewiesen wurde, setzte sich die Organisation „autismus Deutschland e. V. - Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus" für die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht autistischer Kinder ein. Dadurch bestand ihr Ziel in der gleichberechtigten Teilhabe innerhalb der Gesellschaft.
Ab 1970 konnte sich diese Organisation zum einen für die Finanzierung von Interventionen einsetzen, wie zum Beispiel der Gründungen von Therapiezentren. Zum anderen setzten sie sich für die Übernahme der Therapiekosten spezieller Autismustherapien ein. Diese sind Bestandteile der Leistungen der Eingliederungshilfen (Frese, 2009, S. 488f.). Im Allgemeinen umfassen die Eingliederungshilfen die Aufnahme und Finanzierung autistischer Kinder in schulischen Einrichtungen. Kinder mit Asperger-Syndrom können zur seelischen Beeinträchtigung zugeordnet und vom Jugendamt finanziert werden (§ 35a Abs. 3 SGB VIII) (Abb. 5). Im Vergleich dazu besitzt das Sozialamt die Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe von Kindern mit einer körperlichen bzw. geistigen Behinderung. In den meisten Fällen sind Kinder mit der Diagnose Frühkindlicher oder Atypischer Autismus in diese Kategorie einbezogen (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII) (Abb. 5) (Schirmer, 2016, S. 15). Im Vergleich dazu besteht keine umfangreich geklärte Zuordnung von Kindern und Jugendlichen mit Atypischem und Frühkindlichem Autismus, die sowohl seelisch als auch geistig beeinträchtigt sind. Des Weiteren besitzen autistische Menschen das Recht auf eine Berufsausbildung, wobei sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) aufgenommen werden dürfen (§ 41 Abs. 1 SGB IX) (Abb. 5) (Frese, 2009, S. 489).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abbildung 5: Überblick der gesetzlichen Regelungen zum Autismus-Spektrum (selbst erstellt))
1.9 Besondere Eigenschaften von autistischen Menschen
Wahrnehmungsbesonderheiten: Unter der Bezeichnung wird die individuelle Abbildung der Realität definiert. Sie entsteht sowohl durch äußere Reize aus der Umwelt als auch durch innere Reize, die auf die Menschen einwirken (Vero, 2016, S. 113). Dabei nehmen autistische Menschen Reize aus der Umwelt unterschiedlich wahr. Ihre individuelle Wahrnehmungsfähigkeit wird in Hyper- und Hyposensitivität unterteilt. Die Hypersensibilität beschreibt die starke Wahrnehmung von Reizen, die visuell, haptisch und auditiv wahrgenommen werden. Sobald die auditive Wahrnehmung betroffen ist, werden zum Beispiel Toilettenspülungen, Autohupen oder Staubsauger als unerträglich empfunden. Diese Überempfindlichkeit kann bei autistischen Menschen zu Konzentrationsproblemen, Stress oder Angstsituationen führen. Zusätzlich kann die Hypersensibilität durch haptische Wahrnehmungen ausgelöst werden. Beispielsweise entstehen bei Autisten und -innen eine unangenehme oder schmerzhafte Empfindung, wenn sie mit Personen oder Gegenständen in Berührung kommen. Des Weiteren kann eine Hypersensibilität durch das Licht ausgelöst werden. In diesem Zusammenhang stellen speziell angefertigte Brillen eine hilfreiche Maßnahme zur Regulierung der unangenehmen Wahrnehmung dar. Abschließend können sowohl der Geschmackssinn als auch der Geruchssinn von der Hypersensibilität betroffen sein (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 39f.).
Die Hyposensibilität beschreibt die schwächere Wahrnehmung von unterschiedlichen Reizen. Diese sind unter anderem akustische Reize und die Wahrnehmung von Wärme und Kälte. Letzteres verursacht, dass autistische Menschen im Winter mit Sommerbekleidung aus dem Haus gehen können. Außerdem wird kein Schmerz empfunden, wenn zum Beispiel heißes Wasser ihre Haut berührt (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 40f.).
Eine weitere Besonderheit der autistischen Wahrnehmung ist deren Aufmerksamkeitslenkung auf eine Reizquelle. Durch diese Maßnahme können sie sich vor Stresssituationen und Reizüberflutungen schützen. Jedoch besitzen Autisten und -innen keine Multitasking-Fähigkeit, da sie sich nur auf einen Reiz beschränken und die restlichen Stimuli ausblenden. Beispielsweise können sich autistische Menschen während einem Gespräch nicht auf die Gesprächsinhalte und den Geräuschen im Hintergrund gleichzeitig konzentrieren. Die Tiefensensibilität ist ein weiterer Bestandteil der Wahrnehmung, der beeinträchtigt sein kann. Betroffene haben dabei die Schwierigkeit, ihren eigenen Körper wahrzunehmen. Zusätzlich kann die Muskelspannung beeinträchtigt sein, was sich auf die Grob- und Feinmotorik der autistischen Menschen auswirkt. Des Weiteren nehmen Autisten und -innen ihre Umgebung detailliert wahr, sodass sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Situationen und Objekten entdecken. Aufgrund der wahrgenommenen Vielfalt an Reizen vermischen sich die Sinneswahrnehmungen, was als Synästhesie bezeichnet wird (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 41ff.).
Untypisches Lernverhalten und spezielle Denkweisen: Bereits Kanner stellte im Jahr 1943 aufgetretene Lernprozesse bei Kindern im Autismus-Spektrum fest. Im Anschluss seiner Untersuchungen konnte Asperger (1968) belegen, dass autistische Kinder ein selbstbestimmtes oder implizites Lernverhalten besaßen (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 43). Jedoch ist es für autistische Menschen schwierig, durch Ab- und Nachfragen neues Wissen anzueignen und die individuellen Problemlösungswege von anderen Personen zu übernehmen (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 44). In diesem Zusammenhang müssen Bezugspersonen herausfinden, welche Unterstützungsmöglichkeiten sie in bestimmten Situationen benötigen. Diese Anforderung empfinden Bezugspersonen als mühsam oder fast unmöglich (Drenkhan & Heuer, 2016, S. 123). Die Ursache für diese Empfindung liegt darin, dass sie die Stärken, Interessen und Wahrnehmungsbesonderheiten ihrer Kinder wenig beachten oder erfassen. Außerdem ist es schwer zu ermitteln, welche Lern- und Denkstrategien autistische Menschen bevorzugen (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 44). Vor diesem Hintergrund haben die autistischen Autoren Drenkhan und Heuer (2016) mögliche Methoden der autistischen Denkweisen vorgestellt. Diese sind: algorithmische Methode, assoziative Methode, deduktive Methode, induktive Methode, Wort- bzw. Textorientiertes Denken und vektorale Methode (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 44).
Stärken und spezielle Interessen: Kanner und Asperger konnten beobachten, dass Kinder im Autismus-Spektrum spezifische Interessen und Stärken in vielfältigen Bereichen aufwiesen, wie zum Beispiel in den Bereichen Sprache, Kunst, Musik und Mathematik. Dabei stellte Asperger fest, dass die autistischen Kinder stark daran interessiert waren, ihre Spezialinteressen im Gespräch hervorzuheben und über die themenspezifischen Inhalte zu berichten (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 46). Mittlerweile gehen die meisten Forscher und -innen von einer Entwicklung der Spezialinteressen von 90% aller Autisten und -innen aus (Dawson & Mottron, 2011, S. 33; zitiert nach Theunissen & Sagrauske (2019), S. 46). Nach Theunissen und Sagrauske (2019, S. 46) sollten diese besonderen Eigenschaften durch Wertschätzung eine Anerkennung finden. Durch die Orientierung an den Stärken und positiven Erfahrungen können nicht nur häufigere Erfolgserlebnisse resultieren, sondern auch eine Steigerung der Lernmotivation. In diesem Zusammenhang wird von den Autoren ein stärkenorientiertes Handeln der Bezugspersonen besonders hervorgehoben. Außerdem ist es wichtig, gegenüber dem individuellen Verhalten von autistischen Menschen eine empathische Haltung zu besitzen. Diese Faktoren stellt eine wichtige Grundlage für die Stärkung des Selbstwertgefühls dar, was eine bedeutende Rolle in der Entwicklung des Sozialverhaltens spielt (Wepil, 2016, S. 140). Nach dem Ansatz der Stärken-Perspektive (II, Kap. 3.3) steht die Förderung der individuellen Kompetenzen von Menschen mit und ohne eine Beeinträchtigung im Vordergrund. Des Weiteren besitzen die Spezialinteressen eine große Bedeutung in den emotionalen, kognitiven, beruflichen und sozialen Bereichen. Durch die individuelle Art und Weise im Denkvorgang können sie nämlich neue Erfindungen entwickeln, was einen Vorteil in der Wissenschaft, Forschung und Gesellschaftsentwicklung darstellt. Zusätzlich ermöglichen die Spezialinteressen nicht nur eine Steigerung von Gesprächsanlässen und der individuellen Lebensqualität, sondern auch die Erfahrung der Anerkennung von außenstehenden Personen. Durch die Beschäftigung mit ihren spezifischen Interessen können sich autistische Menschen nämlich entspannen, beruhigen und stresshafte Situationen kompensieren. Dabei fühlen sie sich in einem sicheren Umfeld und bekommen das Gefühl von Vertrautheit und Zufriedenheit (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 47).
Motorische Besonderheiten: Zu den motorischen Besonderheiten zählen grobmotorische Einschränkungen, Unsicherheiten im Gang, Unbeweglichkeiten und eine schwache mimische und gestische Ausprägung (Asperger, 1944, S. 89; zitiert nach Theunissen & Sagrauske (2019), S. 48). Diese Erstbeschreibungen nach Asperger sind heute ebenfalls in der Praxis zu beobachten. Beispielsweise können autistische Kinder in der Schule teilweise ihre Schuhe nicht selbstständig zu binden oder haben Schwierigkeiten Bälle einzufangen. Weitere motorische Besonderheiten sind die repetitiven Bewegungsmuster, wie zum Beispiel das Drehen im Kreis, der Gang auf den Zehenspitzen, das Schaukeln mit dem Oberkörper oder das Flattern mit den Händen. Dabei können motorische Besonderheiten vielfältige Anwendungsmöglichkeiten haben. Beispielsweise stellt das Flattern mit den Händen einen Ausdruck von Freude dar. Diese Ausdrucksweisen sind bei autistischen Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Des Weiteren treten unterschiedliche Einschränkungen der Handlungskompetenzen auf. Es besteht die Möglichkeit, dass sie bestimmte Handlungsschritte in einer Situation vergessen und eine Handlungsblockade erleben (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 48f.). „Dies hängt mit der mangelnden Verknüpfung und Synchronisation von Körper, Motorik, Gedanken und Wille zusammen" (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 49).
Bedürfnis nach Beständigkeit, Rituale und Ordnung: Autisten und -innen benötigen Rituale, um sich in der Gesellschaft orientieren zu können. Sowohl durch Routinen als auch durch Rituale können autistische Menschen nicht nur Stress, sondern auch Ängste und Kontrollverluste vorbeugen. Nach Kanner (1943) liegt die Ursache für diese Bedürfnisse in der Detailwahrnehmung. Im Gegensatz dazu stellen unerwartete und plötzlich auftretende Situationen und Abläufe ein Problem für Autisten und -innen dar. Dadurch werden ihre Routinen und Abläufe gestört, was zu Wutausbrüchen, Abkapselungen oder Handlungsunfähigkeiten führen können. Damit keine Überreaktionen und Überforderungen entstehen, besteht die Möglichkeit, dass sie frühzeitig auf eine Veränderung oder Abweichung vorbereitet werden. Vorhandene Strukturen und Ordnungen stellen für Menschen im Autismus-Spektrum eine Wichtigkeit dar. Beispielsweise können sie sich dadurch entspannen, konzentrieren und Wissen aneignen. Des Weiteren sind die strikte Regeleinhaltung und der Ordnungssinn weitere autistische Besonderheiten. Dabei orientieren sie sich stark an Regeln, die sie als logisch empfinden. Jedoch sind die strikte Einhaltung der Routinen und Rituale kein Hindernis zur individuellen Weiterentwicklung und Veränderungen in ihrem Leben (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 50ff.).
Sprachliche Besonderheiten: Die autismustypischen Besonderheiten in der sprachlichen Entwicklung sind Schwierigkeiten der Kinder, sich verbal auszudrücken und ein Verständnis über die Sprache aufzubauen (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 53). Sie können eine Verzögerung oder ein Verlust der Sprachentwicklung aufweisen, was als autistische Regression determiniert wird. Bei stärker betroffenen Autisten und -innen bestehen des Öfteren mangelnde Zusammenhänge innerhalb der sprachlichen Entwicklung. Dabei liegen nicht nur die Beherrschung der Schriftsprache mit der Lautsprache weit auseinander, sondern auch das Sprachverständnis mit dem Sprechen. Beispielsweise kann neben dem semantischen Sprachverständnis zusätzlich Mutismus vorliegen (Riedel, 2015, S. 350f.). Außerdem können Menschen im Autismus-Spektrum Echolalie aufweisen. Dabei wiederholen sie entweder einzelne Wörter oder bestimmte Satzbausteine. Eine weitere sprachliche Besonderheit liegt darin, dass Autisten und -innen Aussagen wortwörtlich nehmen. Aus diesem Grund können sie keine rhetorischen Fragen, sarkastische Ausdrücke und ironische Äußerungen verstehen (Heuer, 2016, S. 172). Erwähnenswert ist, dass es ihnen schwerfällt, gestische und mimische Äußerungen zu verwenden. In diesem Zusammenhang berichten Außenstehende über die fehlende Kongruenz während eines Gesprächs mit einem Autisten oder einer Autistin (Heuer, 2016, S. 171). Darüber hinaus wird die Sprache nicht zur Kommunikation verwendet, sondern als Mittel zur Übertragung ihrer Spezialinteressen. Sobald im Gespräch ein uninteressantes Thema angesprochen wird, können sie plötzlich die Situation verlassen. Die Schwierigkeit der Erfassung einer komplexen Gesprächssituation wird in der Autismusforschung auf die Überreaktion der Amygdala zurückgeführt (II, Kap. 1.10). In Anbetracht der bisher erwähnten Aspekte, besteht eine Vielfalt an sprachlichen Besonderheiten, die individuell auftreten. Nennenswert ist darüber hinaus, dass die Spannbreite der sprachlichen Besonderheiten in Bezug auf die Kommunikation und Interaktion keine Grenzen aufweist. Aus diesem Grund erscheint der Zusammenschluss dieser Aspekte im DSM-5 als sinnvoll (Theunissen & Sagrauske, 2019, 55f.).
Besonderheiten in der sozialen Interkation: Ein autismustypischer Kernmerkmal ist aus klinischer Sicht die schwierige Interaktion mit Außenstehenden. Bereits Asperger (1944) und Kanner (1943) konnten bei autistischen Kindern ein geringes Interesse an ihren Mitmenschen, Einsamkeit und Selbstisolation beobachten. Eine mögliche Erklärung für dieses Verhalten liegt in der Wahrnehmungsbesonderheit von Autisten und Autistinnen. Während einer Interaktion können sie eine Reizüberflutung erleben, die von ihrem Gegenüber ausgelöst werden kann. In Bezug auf gleichaltrige Kinder wird ebenfalls der Kontakt aufgrund von unterschiedlichen Regelvorstellungen und Gleichgerechtigkeitssinnen vermieden. Es besteht hauptsächlich die Annahme, dass Menschen im Autismus-Spektrum die mentalen Vorgänge, die Gedanken, das Wissen oder die Absichten von den Menschen in ihrem Umfeld nicht verstehen (Theory of Mind) (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 57f.). Die Theory of Mind wird im deutschsprachigen Raum ebenfalls als Mentalisierung bezeichnet. Sie ermöglicht eine Übernahme der Ansichten von anderen Menschen sowie die Unterscheidung von Realität und Fiktion (Schuster, 2015, S, 336f.). Es sollte an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden, dass Menschen im Autismus-Spektrum durch ihr Gerechtigkeitsempfinden alle Menschen unabhängig ihrer individuellen Eigenschaften und sozialen Stellungen gleichbehandeln. Diese Besonderheit stellt für Außenstehenden eine wichtige, vorbildhafte Stärke von Autisten und Autistinnen (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 59f.).
Emotionale Besonderheiten: Emotionen weisen vielfältige Bestandteile auf, wie zum Beispiel körperliche Veränderungen, emotionaler Ausdruck, wahrgenommene Gefühle, emotionale Gedanken und impulsives Verhalten (Schmidt-Atzert, 1996; zitiert nach Sommerauer (2015), S. 112). Im Vergleich zu den emotionalen Bestandteilen werden die emotionalen Kompetenzen abgegrenzt. Diese beziehen sich auf die Wahrnehmung, das Verständnis, die Kommunikation und den Umgang mit eigenen Emotionen. Zur angemessenen Reaktion auf den emotionalen Zustand anderer Menschen ist ein Emotionsverständnis eine wichtige Voraussetzung und eine Grundlage für soziale Interaktion. Vor diesem Hintergrund werden Menschen im Autismus-Spektrum wegen ihrer mangelnden emotionalen Ausdrucksform als emotionslos angesehen. Es ist unbestritten, dass Autisten und Autistinnen Emotionen besitzen. Dabei liegt die Schwierigkeit hauptsächlich in der Einschätzung und Offenbarung ihrer eigenen Gefühle. Nach den Ergebnissen aus der Autismusforschung (II, Kap. 1.10) liegt die Ursache in der besonderen Funktionsweise der Amygdala von Autisten und -innen. Bei einem emotionalen Overload (emotionale Reizüberflutung) versuchen Menschen im Autismus-Spektrum durch einen sozialen Rückzug aus Situationen und Interaktionen oder durch die Vermeidung von Blickkontakt, diesen Zustand zu kompensieren (Theunissen & Sagrauske, 2019, S. 61ff.).
1.10 Ursachen autistischer Besonderheiten
Eine mögliche Erklärung zu den autistischen Besonderheiten liefert Markram und sein Team mit der Theorie der intensiv erlebten Welt. Demnach besitzen autistische Personen eine Amygdala (Mandelkern) mit einer hohen Sensibilität und Hyperreaktivität. Die Amygdala ist ein Bestandteil des limbischen Systems und ist für die Verarbeitung der Emotionen zuständig. Autistischen Menschen können unterschiedliche Emotionen schwer kontrollieren, sodass häufig überwältigende und starke Gefühle, wie zum Beispiel Ängste, Stress und Schmerz erlebt werden. Vor diesem Hintergrund versuchen sie diese Empfindlichkeit und unkontrollierte Emotionalität dadurch zu bewältigen, dass soziale Situationen und Blickkontakte vermieden werden. Die Bewältigung von Stresssituationen findet in diesem Zusammenhang durch vertraute Situationen und bekannten Abläufen statt (Theunissen, 2018, S. 62). Es bestehen anerkannte Annahmen in Bezug auf die Verarbeitung im Gehirn von autistischen Menschen. Diese sind zum einen die Vermutung eines autonomen Nervensystems mit Überreaktionen. Zum anderen werden neuronale Aktivitäten mangelhaft zwischen den unterschiedlichen Hirnregionen synchronisiert (Theunissen, 2018, S. 63). Bei Menschen, die keine autistische Diagnose haben, benötigt das Gehirn während der Verarbeitungsleistung ein durchschnittliches Erregungsniveau. Im Vergleich dazu besteht bei autistischen Menschen ein Ungleichgewicht. Durch erhöhte Erregung bzw. schwache Hemmung können in neuronalen Schaltkreisen autistische Merkmale ausgelöst werden, wie zum Beispiel auffälliges Sozialverhalten und akustische Hypersensitivität. Während einer erhöhten Erregung des Gehirns wird Glutamat freigesetzt und während einer schwachen Hemmung wird GABA (y-Aminobuttersäure) in geringer Menge produziert (Theunissen, 2018, S. 63).
Des Weiteren beruht eine zusätzliche Annahme auf der geringen Vernetzung zwischen den verschiedenen Hirnregionen. In diesem Zusammenhang ist zum einen die temporale und frontale Hirnregion gering vernetzt und zum anderen die linke Gehirnhälfte mit der rechten Gehirnhälfte. Außerdem ist eine geringe Vernetzung zwischen der niedrigeren Hirnarealen und höheren Hirnarealen vorhanden (Theunissen, 2018, S. 63). Interessant zu betrachten ist, dass autistische Menschen in den lokalen Hirnarealen dicht vernetzt sind und circa ab dem Jugendalter in den entfernten Hirnarealen eine geringere neuronale Konnektivität aufweisen (Theunissen, 2018, S. 63f.). Dadurch wird innerhalb der lokalen Hirnareale eine Autonomie verursacht. Nach den Forschern wäre dies eine Erklärung für die Sonderbegabungen autistischer Menschen (Tebartz van Elst, 2016, S. 125f.). Die Autonomie innerhalb der lokalen Hirnareale wird darauf zurückgeführt, dass das präfrontale Gehirn gering kontrolliert wird. Es besteht ein geringer Einfluss der lokalen Hirnareale nicht nur durch höhere Hirnareale, sondern auch durch dessen Top-down-Prozessen. (Theunissen, 2017, S. 64). Diese Tatsache stellt eine Erklärung für unterschiedliche Wahrnehmungen von autistischen Menschen dar, wodurch Details häufiger erfasst werden. Außerdem erklärt dies zusätzlich die Spezialinteressen und -fähigkeiten von autistischen Menschen. Jedoch besteht ein Nachteil im Fehlen der neuronalen Konnektivität innerhalb der höheren Hirnareale. Dadurch können autistische Menschen kein Erfahrungswissen in Bezug auf die Orientierung im sozialen Umfeld, räumlichen und zeitlichen Strukturen erwerben. Vor diesem Hintergrund stellt dieses Erfahrungswissen eine Voraussetzung zur Erfassung von Kontexten und zur Orientierung in der Umwelt dar. Zusätzlich müssen die Informationen aus dem Kontext auf der Basis des angesammelten Erfahrungswissens selektiert werden. Diese sind für die Handlungsorientierung und das Verstehen der Umwelt notwendig (Theunissen, 2017, S. 64f.). In diesem Zusammenhang erarbeitete Peter Vermeulen (2016) den Ansatz zur „Kontextblindheit“ heraus. Seine Annahme beruht darauf, dass Menschen mit Autismus-Spektrum Kontexte schwer erfassen können. Beispielsweise besteht die Möglichkeit, in einem Schnellrestaurant die Orientierung zu verlieren, weil eine Bestellung bereits vorher abgegeben werden soll. Die Ursache liegt in der Störung der festen Vorstellung über den Bestellungsablauf im Restaurant. Infolgedessen können aufgrund der Orientierungslosigkeit Wut und Beendigung der Aktivität eintreten (Theunissen, 2017, S. 66f.). Die Ursache für diese „Kontextblindheit“ liegt in der schwachen Ausprägung der Top-down-Steuerung und in der geringen Verarbeitung der Informationen. Dieser Ansatz bietet eine zusätzliche Erklärung für die mangelhafte Kontextsensitivität, wie zum Beispiel die geringe Flexibilität im Planen, Denken und Handeln (Theunissen, 2017, S. 65).
2. Belastungssituationen
2.1 Definition: Belastung
Belastung wird im englischen Sprachgebrauch mit der Bezeichnung „Stress“ synonym verwendet (Hermann, 2017, S. 1636), welche in diesem Kapitel ebenfalls als Synonym eingesetzt wird. Stress ist ein Zustand des Körpers in unterschiedlichen Belastungssituationen. Dabei treten natürliche Reaktionen des Körpers auf, wie zum Beispiel ein angestiegener Blutdruck und Puls, geschärfte Sinne, schneller Atem und angespannte Muskeln. Außerdem findet eine Ausschüttung von Stresshormonen statt, welches in einer kurzen Dauer zusätzliche Energie bereitstellt. Letzteres ermöglicht Menschen eine schnellere Reaktion in unterschiedlichen Situationen. Früher reagierten Menschen auf herausfordernde Situation entweder mit einem Kampf oder einer Flucht. Heute besteht das Problem, dass unser Körper nicht in allen Stresssituationen dieselbe Reaktion auslöst. Dadurch erhalten die Menschen keine Möglichkeit den aufgestauten inneren Druck abzubauen, sodass sich der Körper dauerhaft in einem Alarmzustand befindet (Preißmann, 2015, S. 360). Eine dauerhafte Stresssituation wirkt sich sowohl auf die körperliche als auch auf die psychische Befindlichkeit aus. Beispielsweise kann ein Anstieg von Adrenalin, Cortisol und Noradrenalin im Blut nachgewiesen werden. Außerdem besteht eine höhere Anfälligkeit gegenüber infektiösen Krankheiten (von Uexküll, 2010; zitiert nach Preißmann (2015), S. 360). Im Leben der Menschen sind hauptsächlich schwerwiegende Ereignisse Auslöser von Stress, wie zum Beispiel die Trennung mit dem Ehepartner oder der Tod eines Angehörigen. Weitere Faktoren sind unteranderem Zeitmangel, finanzielle Notlagen, Mobbing und soziale Isolation. Durch bevorzugte Tätigkeiten oder Aktivitäten kann Stress abgebaut werden, wie zum Beispiel gemeinsame Unternehmungen mit anderen Menschen (Preißmann, 2015, S. 360f.).
2.2 Vier-Ebenen-Modell der Belastung
Das Vier-Ebenen-Modell im Kontext von Belastungssituationen der Eltern bietet einen Überblick über die Entstehung von Belastungen. Innerhalb von vier Ebenen werden verschiedene Prozesse beschrieben, die zu belastenden Erlebnissen führen können (Abb.2). Der Ausgangspunkt von Belastungssituationen der Eltern sind die autistischen Symptomatiken (Ebene 1). Die autistischen Kernsymptome sind die Beeinträchtigungen in der Kommunikation, sozialen Interaktion und Sprache. Außerdem besitzen sie stereotypische Verhaltensmuster und spezifische Interessen. Aufgrund dieser Symptome, die im Alltag auftreten, entstehen unterschiedliche Beeinträchtigungen des Kindes (Ebene 2). Beispielsweise muss es sich von festen Routinen im Alltag lösen. Dadurch werden die Eltern mit unterschiedlichen Anforderungen (Ebene 3) hinsichtlich der Erziehung und Betreuung ihres Kindes konfrontiert. Zum Beispiel stellt sich die Gestaltung von familiären Aktivitäten eine hohe Anforderung für die Eltern dar. Falls die elterlichen Ressourcen während der Umsetzung dieser Anforderungen ausgeschöpft werden, entsteht eine Belastungssituation (Ebene 4) für die Eltern (Tröster & Lange, 2019, S. 71f.). Dieses Modell bietet ebenfalls die Möglichkeit, Belastungssituationen der Geschwisterkinder und Experten zu erfassen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abbildung 6: Vier-Ebenen-Modell der elterlichen Belastung (selbst erstellt, in Anlehnung an Tröster & Lange, 2019))
2.3 Belastungssituationen der Eltern
Nach dem Parenting Stress Modell (1995) von Abidin bestehen elternbezogene, kindbezogene und kontextbezogene Belastungsquellen, die sich in zwei übergeordnete Bereiche zuordnen lassen. Diese sind der Kind- und Elternbereich. Die kindbezogenen Belastungsquellen basieren auf den Eigenschaften des Kindes und deren Verhaltensweisen. Die elternbezogenen Belastungsquellen beziehen sich auf die eingeschränkten Kompetenzen der Eltern. Hoffmann, Sweeney, Hodge, Lopez-Wagner und Looney (2009) konnten durch das Modell von Abidin belegen, dass Eltern mit einem autistischen Kind stärkere Belastungserlebnisse aufwiesen als Eltern von Kindern ohne Beeinträchtigungen. Dabei wurden unterschiedliche Belastungserlebnisse der Eltern in allen Bereichen der Belastungsquellen ermittelt. Nicht nur die Eigenschaften und das Verhalten des autistischen Kindes waren eine bedeutsame Belastungsquelle, sondern auch die steigenden Anforderungen an die Eltern in Bezug auf die Versorgung, Betreuung und Erziehung ihrer Kinder (Tröster & Lange, 2019, S. 16). Weitere Studien belegen ebenfalls den Einfluss von autistischen Symptomatiken auf das Belastungserleben der Eltern. Diese sind zum Beispiel das eingeschränkte Kommunikationsverhalten der autistischen Kinder in ihrem Umfeld und das stereotypische und sich wiederholende Verhalten (Hayes & Watson, 2013; zitiert nach Tröstern & Lange (2019), S. 16). Zu den elterlichen Belastungsquellen zählen unteranderem die Zweifel an ihrer Person und an ihren Fähigkeiten als Eltern sowie das schlechte Gewissen gegenüber ihrem autistischen Kind. Weitere Ursachen der Belastungserlebnisse sind unzureichende Vernetzungen im sozialen Umfeld, Schwierigkeiten in der Beziehung, eingeschränkte Leistungsfähigkeit und Lebensführung. Die Forscher Hayes und Watson (2013) konnten schlussfolgern, dass die Belastungserlebnisse der Eltern hauptsächlich auf die autistischen Handlungsweisen zurückzuführen sind (Tröster & Lange, 2019, S.17). Als Folgen von Belastungserfahrungen werden zum einen die steigende Reizbarkeit der Personen und zum anderen ihr schnelles Altern hervorgehoben (Solomon, 2013, S. 59; zitiert nach Schirmer & Alexander (2015), S. 33).
Im Vergleich zu den Eltern von Kindern, die keine Beeinträchtigung aufweisen, zeigen die Eltern von Kindern mit einer Beeinträchtigung eine geringere Zufriedenheit innerhalb ihrer Ehe. Dabei haben verschiedene Alltagsbelastungen einen negativen Einfluss auf die Zufriedenheit der Eltern (Hackenberg, 2008, S. 57). Diese belastenden Erfahrungen zwischen den Eltern werden darauf zurückgeführt, dass sie kaum Zeit für ihre Beziehung haben. Des Weiteren besteht häufig der Fall, dass die Mütter nach der Diagnosestellung ihre beruflichen Tätigkeiten aufgeben müssen. Sie nehmen dadurch alltägliche Anforderungen stärker wahr und finden keine Zeit für einen Austausch mit den Personen aus ihrem Umfeld. Im Gegensatz zu den Müttern können die meisten Väter ihren Beruf ausüben und sind von den alltäglichen Anforderungen nicht stark belastet. Aus diesem Grund besteht die Möglichkeit, dass die Beziehungen zwischen den Eltern durch die geringe Beteiligung der Väter scheitern. Jedoch sind vielfältige Konstellationen von Elternbeziehungen vorhanden, die ebenso einen positiven Verlauf aufweisen können (Schirmer & Alexander, 2015, S. 36).
Belastung durch das Umfeld: Aus vielzähligen Interviews mit den Eltern konnte herausgefunden werden, dass sie versuchen, professionelle Unterstützung (z.B. Therapiestunden) aus ihrem Umfeld zu erhalten. Jedoch stellen für sie die Versuche zum einen eine zeitliche und emotionale Belastung dar und zum anderen können die kostenintensiven therapeutischen Maßnahmen eine zusätzliche finanzielle Belastung darstellen. Außerdem gaben die Eltern in ihren Interviews an, dass das Verhalten von anderen Personen einen negativen Einfluss auf sie genommen hat (Schirmer & Alexander, 2015, S. 33). Beispielsweise empfinden sie die Blicke von Außenstehenden als unangenehm und belastend, wenn ihr Kind ein auffälliges Verhalten äußert (Arens-Wiebel, 2019, S. 24). Die unterschiedlichen Meinungen nach der Diagnosestellung können die Eltern ebenfalls belasten. Dabei wird entweder die Diagnose in Zweifel gestellt oder das elterliche Erziehungsverhalten hinterfragt. Außerdem ist es für die Eltern schwierig, den Außenstehenden das Phänomen Autismus zu erklären (Arens-Wiebel, 2019, S. 23f.). Besonders belastend wurden die Äußerungen von Familienmitgliedern aufgenommen, wie zum Beispiel die Benennung ihres autistischen Kindes als unerzogen und böse. Des Weiteren wird darüber berichtet, dass sich nach der Diagnosestellung viele Freunde von ihnen abgewendet und den Kontakt abgebrochen haben. Demnach kann also die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das autistische Kind vom Umfeld kaum anerkannt und akzeptiert wird (Schirmer & Alexander, 2015, S. 33).
Im Vergleich dazu hebt Maus (2017, S. 51) hervor, wie Großeltern ihre Enkelkinder mit einer Beeinträchtigung oder mit Autismus des Öfteren aus Familienkreisen ausschließen (Schirmer & Alexander, 2015, S. 51). Sie zweifeln nicht nur die gestellte Diagnose an, sondern bringen auch kein Verständnis für ihre persönlichen Erziehungsmethoden mit (Arens-Wiebel, 2019, S. 21). In solchen Fällen befinden sie sich die Eltern in herausfordernden Situationen, da sie versuchen die Großeltern davon zu überzeugen, allen Enkelkindern dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei stellt die Ablehnung der Großeltern eine unbefriedigende Situation für die Eltern dar. In manchen Fällen besteht die Möglichkeit, dass die Geschwisterkinder die Schuld für die Verschlechterung der familiären Beziehungen am autistischen Kind finden (Schirmer & Alexander, 2015, S. 51). Für Außenstehende ist es schwierig, die Familien mit einem autistischen Kind zu verstehen, da sie sich nicht in ihre Situationen hineinversetzen können (Krebs, 1997, S. 389; zitiert nach Arens-Wiebel (2019), S. 21).
In Anbetracht der Situationen innerhalb von Familien mit einem autistischen Kind werden im Folgenden die Belastungssituationen der Geschwisterkinder näher betrachtet.
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- Quote paper
- Sevval Türkan (Author), Türkan Sahin (Author), 2020, Die Autismus Spektrum Störung. Belastungssituationen und Stärkenorientierung betroffener Familien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/985565
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