Die vorliegende Seminararbeit widmet sich einer tiefgehenden Analyse von Gotthold Ephraim Lessings dramentheoretischem Ansatz, wie er in seinem berühmten "Briefwechsel über das Trauerspiel" dargelegt wird. Im Zentrum stehen dabei Lessings Auseinandersetzung mit der Situation des deutschen Dramas im 17. Jahrhundert, seine Reflexionen über das Wesen und den Zweck des Trauerspiels sowie die Umsetzung seiner Erkenntnisse in der "Hamburgischen Dramaturgie".
Der Einleitungsteil dieser Arbeit bietet zunächst einen Überblick über die dramatische Landschaft des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Zu dieser Zeit war das deutsche Drama sowohl dichterisch als auch theoretisch in einem Zustand der Unvollständigkeit und Verwirrung. Lessing, ein Vorreiter seiner Zeit, setzte sich intensiv mit diesen Problemen auseinander. Dabei bevorzugte er das englische Trauerspiel gegenüber den französischen Vorbildern und plädierte für eine Rückbesinnung auf die antiken Ästhetikprinzipien.
Lessings Ansatz basierte stark auf seiner Interpretation der aristotelischen Theorie der Tragödie. Er betonte die Bedeutung von "Furcht" und "Mitleid" als zentrale Elemente, um das Publikum in die tragischen Gemütszustände zu versetzen. Seine Auseinandersetzung mit den griechischen Begriffen "Phobos" und "Eleos" führte zu einer tieferen Reflexion über die Wirkung des Mitleids im Theater.
Der "Briefwechsel über das Trauerspiel" zwischen Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai bildete einen wichtigen Rahmen für Lessings Entwicklung seiner Theorie. In diesem Briefwechsel debattierten die drei Freunde intensiv über den Sinn und Zweck des Trauerspiels. Dabei standen Fragen nach der Erregung von Leidenschaften, der Rolle der handelnden Personen und der Bedeutung von "Schrecken", "Mitleid" und "Bewunderung" im Fokus.
Inhalt
1. Lessing und die Situation des deutschen Dramas im 17. Jahrhundert
2. Der Briefwechsel über das Trauerspiel
2.1. Über die Bewunderung und das Mitleiden
2.2. Das Bettlerbeispiel
2.3. Über das Verhältnis von Bewunderung und Nachahmung
2.4. Über die Wirkung von Bewunderung und Mitleid
3. Erkenntnisse aus dem Briefwechsel neu gefaßt in der Hamburgische Dramaturgie
4. Literaturverzeichnis
Lessings dramentheoretischer Ansatz im "Briefwechsel über das Trauerspiel"
Im Rahmen meiner Seminararbeit habe ich mich mit Lessings Entwicklung des Begriffs des "Bürgerlichen Trauerspiels" in Deutschland beschäftigt. Zu Beginn möchte ich Lessings Poetik des Dramas, speziell der Tragödie umreißen, um danach deren Genese anhand des "Briefwechsels über das Trauerspiel" zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai genauer zu beleuchten. Abschließend möchte ich darstellen, wie sich Lessings Aussagen aus dem "Briefwechsel" in dem "32. Stück der Hamburgischen Dramaturgie" wiederfinden lassen.
1. Lessing und die Situation des deutschen Dramas im 17. Jahrhundert
Im 17. Jhd steht das deutsche Drama vor einer Situation, in der es dichterisch völlig unvollendet ist und in der Theorie nichts grundlegend geklärt ist. In der Theorie gibt es keine Allgemeingültigkeit und die Praxis orientiert sich an französischen Mustern. Lessing, der aber das englische Trauerspiel der französischen Rührkomödie vorzieht und die unentwegte Diskussion um falsche theoretische Begrifflichkeit leid ist, kommt es auf eine grundlegende Klärung dieser Verwirrungen an.
Für ihn bleibt der Ansatz der humanistischen Ästhetik der richtige, daß man sich an antiken Mustern, an der antiker Theorie orientieren müsse. Die praktische Ästhetik hatte die Antike für ihn nie verfehlen können, doch bot sich Lessing in der Auseinandersetzung mit antiken Vorbildern die Möglichkeit sich kritisch zu vergewissern, ob hier diese Ästhetik stets genugtuend erreicht war. Kritische Erkenntnis sollte ihm so helfen noch näher als bisher an die Antike heranzukommen.
Dabei ging Lessing ganz entschieden auf die alten Griechen zurück, ließ die römische Dichtung und Theorie ganz beiseite, was ihn in einem weiteren Punkt von der Auffassung französischer Dramatiker absetzte. Für die Tragödie nahm er sich Sophokles, aber vor allem Aristoteles zum Vorbild, wobei er dessen Gesagtes mit dem verglich, was sich in der griechischen Tragödie zeigte und umgekehrt das Gezeigte ihm half die Theorie der Tragödie zu erschließen und die Aussagen Aristoteles zu bewahrheiten.
Lessing erschloß sich, daß nach Aristoteles "die Tragödie die Nachahmung (Mimesis) einer Handlung (Pragma) vermittels einer Fabel (Mythos)" (Aristoteles: 6. Poetik)1 sei, und die Aufgabe eines tragischen Dichters darin bestünde eine poetische Vorstellung in eine solche Fabel umzuwandeln, die die tragische Wirklichkeit ganz im Zuschauer bewege. Der letzte Zweck sei mittels "Eleos " und "Phobos" (vgl. Aristoteles: 6. Poetik) den Zuschauer über das Sehen und Hören hinaus in die tragischen Gemütszustände zu versetzen.
Ab hier sieht sich Lessing vor das Problem gestellt die griechischen Begriffe "Phobos" und "Eleos" angemessen übersetzen zu müssen. Wo die Franzosen "Phobos" mit "terreur" übersetzt haben, spricht Lessing, wie viele seiner Zeitgenossen, anfänglich von "Schrecken", geht aber später zwischen 1767 und 1770 in der "Hamburgischen Dramaturgie" dazu über "Phobos" dem deutschen Wort "Furcht" gleichzusetzen. (vgl. Brief an Nicolai 2. April 1767). Schrecken war für ihn stets die Vorstellung einer plötzlichen physischen Reaktion, wie zum Beispiel die Reaktion auf einen Donner. Furcht war für ihn etwas im Gemüt erzeugtes, wenn sich das "Bewußtsein der Wirklichkeit öffnete", wenn in der Tragödie etwas zu Fürchtendes auftrat und wirksam wurde. Mitleiden aber war die Antwort des Gemüts auf das Leiden. So kam Lessing zu den, mit dem Thema und der Wirkung des antiken Dramas übereinstimmenden, Grundbegriffen "Furcht und Mitleid".
Da wo in der Tragödie das zu Fürchtende auftrat und sich als Folge im Zuschauer das Leiden zeigte, sei es aber nicht nur die Aufgabe der Tragödie dies in Ton und Bild zu zeigen, sondern im Gemüt wirksam zu machen, zu Furcht und Mitleid zu erschüttern. Die Frage danach, warum die Tragödie diese Erregung zu leisten habe, erklärt sich für Aristoteles darin, daß es "durch die Erschütterung des Gemüts zu einer Reinigung (Katharsis)" (Aristoteles: 6. Poetik) der Leidenschaften komme, was die Sitten bilden würde.
Die Fähigkeit des Zuschauers das Fühlen von Mitleid zu erweitern ist für Lessing der primäre Zwecks der Tragödie, da das Mitleid "die einzige Leidenschaft [sei], die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege mach[e]" (Brief an Nicolai im November 1756). Nachdem sich Lessing so die griechische Tragödie in ihrem Zweck und poetischen Anspruch erschlossen hatte, brachte ihn diese Erkenntnis in noch stärkere Opposition zu den französischen Dramatikern und machte aus ihm einen der ersten deutschen Dramenkritiker seiner Zeit.
In seinem 17. Literaturbrief (1759) warf er den Franzosen vor sie "hätten der Antike nur die Form entnommen, nicht aber ihren Geist" und wandte sich hin zu den englischen Dramatikern wie Shakespeare, den er pries "[...]den Alten[...]in dem Wesentlichen näher" zu kommen. Durch seine Kritik gewann Lessing aber auch die Richtlinien für sein eigenes Schaffen und machte es sich zur Aufgabe die Tragödie in Deutschland im Geiste der griechischen Alten zu erneuern, wobei es ihm vielmehr auf deren Absicht und Wirkung ankam, als auf die Form, die strickte Einhaltung der "3 Einheiten" (vgl. Aristoteles: 7. Poetik).
Für die Findung seiner eigenen Richtlinien zur Tragödiendichtung waren Lessing auch Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai Unterstützung. Er lernte die beiden Freunde in seiner Berliner Zeit zwischen 1752 und 1755 kennen, wo sie "jeden Mittwoch und Samstag in seiner engen Dachkammer zusammensaßen...[und] kunsttheoretische, literarische, dramaturgische und theologische Debatten" hielten. (Gerhard Stenzel, Hrsg.: "Lessings Werke" S.49) Mit diesen beiden führte er auch 1756/57 den "Briefwechsel über das Trauerspiel", in dem sie in gegenseitiger Kritik ihre theoretischen Begründungen der antiken Begriffe "Furcht", "Mitleid", "Bewunderung" und "Reinigung" miteinander debattierten und ihre jeweiligen Auffassungen über Art und Wirkung der Tragödie erläuterten. Da dieser Briefwechsel entschieden zu Lessings Findung seiner Theorie über das Trauerspiel beigetragen hat, möchte ich ihn im folgenden ausführlicher darstellen.
2. Der Briefwechsel über das Trauerspiel
Anstoß zu seinen Überlegungen über den Zweck des Trauerspiels gibt Lessing der Brief Nicolais vom 31. August 1756. Nicolai versucht hier den Satz des Aristoteles "der Zweck des Trauerspiels [sei es] die Leidenschaften zu reinigen oder die Sitten zu bilden"(Brief an Lessing vom 31.8.1756, S.156)2 zu widerlegen und setzt jenem seine eigene Auffassung über den Sinn des Trauerspiels entgegen. Für ihn besteht der Zweck einzig in der "Erregung der Leidenschaften" ( S.156), nicht in ihrer Reinigung. Mittel hierfür sei dem Dichter eine möglichst tragische Handlung zu kreieren, die im Zuschauer heftige Leidenschaften errege. Der Dichter solle darin die Natur nachahmen, aber nur sofern sie tragisch genug sei heftige Leidenschaft zu erregen. Ist das nicht von jeher der Fall, sei es dem Dichter gestattet auf der Bühne Situationen darzustellen, die der Natur zwar nicht so nahe kommen, aber den Zuschauer in größere Leidenschaft versetzen.
Ein weiteres Mittel sei dem Dichter die Wahl der handelnden Personen. Die tragische Größe der Person sie nicht abhängig von ihrer adligen Abstammung, sondern davon wie es ihr gelingt die Leidenschaft des Zuschauers zu erregen. Hierbei kann sowohl ein "tugendhafter Mann" tragischen Charakters sein, sofern "er durch einen Fehler, den er begeht, unglücklich wird" (S.157) und nicht durch ein ihm auferlegtes Schicksal, als auch ein unglücklicher Bösewicht, der uns "durch ein falsches System von Sittenlehre [...] für sich einnimmt" (S.157/58).
Weiterhin nimmt Nicolai eine Kategorisierung aller Trauerspiel vor, indem er sie nach den jeweiligen Leidenschaften einteilt, die sie erregen.
Unter die erste Kategorie die er "rührende Trauerspiele" nennt, fallen alle, deren Ziel es ist "Schrecken und Mitleid"(vgl.S. 157) zu erregen. In die zweite Kategorie der "heroischen Trauerspiele" lassen sich die einteilen, welche durch "Schrecken und Mitleid Bewunderung"(vgl.S. 157) im Zuschauer auslösen wollen. Die dritte Kategorie der "vermischten Trauerspiele" bilden die, welche sowohl "Schrecken und Mitleid" als auch gleichzeitig "Bewunderung" erregen sollen(vgl.S. 157) und die letzte Kategorie beschließen Trauerspiele, die für Nicolai nur in der Theorie existent sind. Sie sollen "Bewunderung" ohne Hilfe von "Schrecken und Mitleid" erregen, was für Nicolai nicht praktikabel erscheint (vgl. S.157).
Lessings Antwort auf Nicolais Kritik an dem aristotelischen Zweck der Tragödie als der Besserung der Sitten besteht darin, daß er ihm zwar zustimmt die Tragödie müsse "Leidenschaften erregen" ( S.161), sich aber ebenso zu Aristoteles hält und sagt, die Tragödie könne durch Erregung von Leidenschaften bessern. Ihm kommt es hierbei vielmehr darauf an, "was das Trauerspiel für Leidenschaften erregt" (S.162). Lessing ist der Meinung, daß die einzige Leidenschaft die das Trauerspiel im Zuschauer erregen kann das Mitleid ist. Der Dichter könne zwar auch andere Leidenschaften wie z. B. Freude, Liebe, Rachsucht und Zorn durch die spielenden Personen auf die Bühne bringen, welche den Zuschauer aber nicht selbst dazu brächten "diese Leidenschaften selbst zu fühl[en]" (S.161). Nur die Regung des Mitleids sei dem Zuschauer erlebbar zu machen. Lessing definiert also die Bestimmung der Tragödie "unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern" (S. 163) zu sollen.
Die Frage nach der Besserung beantwortet er, indem er sich eines Satzes seines Freundes Menelssohn bedient, der sagt "der mitleidigste Mensch [sei] der beste Mensch" (S. 163). Das Trauerspiel welches uns mitleidig mache, mache uns also "besser und tugendhafter" (S. 163). Für Lessing sind die ebenfalls aus der antiken Dramentheorie herrührenden Begriffe "Bewunderung" und "Schrecken" nicht wie für Nicolai zu den Leidenschaften zu zählen, sondern dienen dem Dichter als "der Anfang und das Ende des Mitleids" (S. 162). Lessing erklärt sich hier so, daß Schrecken die "plötzliche Überraschung des Mitleides" (S. 162) sei, der unvermittelte Beginn dieser Gefühlsregung im Zuschauer, und deshalb als Anfang des Mitleidens zu verstehen sei.
Die Bewunderung sei als "entbehrlich gewordene[s] Mitleiden" (S. 162) zu verstehen, der Teil der Handlung in der der Zuschauer den Helden mehr bewundert oder gar beneidet als bedauert. Der Dichter könne den Zuschauer nicht über die gesamte Dauer des Dramas in Mitleiden halten, da dieses sich sonst abnütze, deshalb bedient er sich der "Bewunderung" als "Ruhepunkt des Mitleids" (S. 162), in der sich der Zuschauer des Mitleidens erholen kann. "Schrecken" und "Bewunderung" dienen laut Lessing also hauptsächlich dem Hauptwerk des Mitleids.
Durch diese ausführlichen Erörterungen über seine Auffassung der Stellenwerte von "Mitleid, Schrecken und Bewunderung" in der Tragödie macht Lessing, ohne es näher erläutern zu müssen, deutlich, nichts von Nicolais Kategorisierung der Trauerspiele zu halten, da sie sich nicht am Hauptwerk des Mitleidens orientiert.
Die Konstruktion der handelnden Personen leitet Lessing ebenfalls davon ab wieviel Mitleid diese erregen können. So muß die Person, die die unglücklichste werden soll gute Eigenschaften haben, damit sie das Mitleid des Zuschauers erregt, aber sie darf auch nicht zu lange der Bewunderung ausgesetzt werden, um das Mitleid nicht zu zerstören. Lessing verlangt, daß die Person, die das Mitleid des Zuschauers erregen und ihn für sich einnehmen will, über die Dauer des Stückes die unglücklichste sein soll, wobei es dem Dichter überlassen ist den Ausgang glücklich oder unglücklich zu wählen.
In seinem Brief vom 13. November 1756 bittet Lessing seinen Freund Moses Mendelssohn seinen an Nicolai geschriebenen Brief zu kommentieren und zu verbessern, um damit seine Gedanken noch zu erweitern.
2.1 Über die Bewunderung und das Mitleiden
Mendelssohn stellt in seiner Antwort Rückfragen zu Lessings Gedanken über die "Bewunderung" und kritisiert er habe ihr einen zu geringen Stellenwert zugedacht und "...von ihrem Werte [zu] nachteilig gedacht" (S. 168), wenn er sie nur als "Ruhepunkt des Mitleidens" dulde. Er gesteht, daß Lessing recht habe, daß die Bewunderung zwar das Mitleiden mildern und sogar für eine Zeit aussetzen könne, so sei dies aber nur eine "zufällige Wirkung" (S. 168). Der für Mendelssohn überwiegende positive Affekt der Bewunderung ist, daß man "an einem Menschen gute Eigenschaften gewahr [wird], die [die] Meinung die [man] von ihm oder von der ganzen menschlichen Natur gehabt [hat] übertrifft" (S.168) und diese "die Begierde zur Nacheiferung" (S. 168) weckt.
Für Mendelssohn ist diese Begierde zur Nacheiferung nicht ablösbar von guten Eigenschaften, was er Lessing als "vortreffliche Wirkung" (S. 168) auf das Leben des Zuschauers anpreist. Er kritisiert, daß die alten Meister Griechenlands daran gespart haben gute, von ihrer Moral bewundernswerte, Charaktere auf die Bühne zu bringen.
Um Mendelssohn den eigentlichen Sinn seiner Ausführung über die Bewunderung deutlich zu machen, differenziert Lessing zwei für sich verschiedene Begriffe, die Mendelssohn seiner Meinung nach nicht scharf genug trennt. Auf der einen Seite die "Verwunderung", die man empfindet, "wenn [man] an einem [Menschen] gute Eigenschaften gewahr werde, die [die] Meinung von ihm übertreffen,..." (S. 170/71) und die "Bewunderung" auf der anderen Seite "wo [man] so glänzende Eigenschaften entdeckt, daß [man] sie der ganzen menschlichen Natur nicht zugetraut hätte [...]" (S. 172). Für Lessing ist das plötzliche Auftreten von "Verwunderung" des Zuschauers auf einen Fehler des Dichters bei der Konzeption der handelnden Person zurückzuführen, da "in keinem Charakter mehr sein muß, als man sich Anfangs darin zu finden verspricht" (S. 171).
Die "Bewunderung" aber kann seiner Meinung nach nur am Beispiel von Menschen mit besser ausgeprägten Einsichten und Empfindungen verdeutlicht werden, die nicht alle Tugenden und Fähigkeiten nur bewundern, weil sie über den eigenen liegen, sondern abschätzen können welche der menschlichen Natur an sich wirklich nicht zuzutrauen sind. Lessing stellt sich die Frage, ob man aber nicht vielmehr die Dinge, die in der menschlichen Natur liegen, bewundere, so wie es der Drang ihnen nachzueifern zeige.
Aber oft bewundert man auch Eigenschaften eines Helden, denen man nie nacheifern würde. Diese faßt Lessing unter dem Begriff der "heroischen Eigenschaften" zusammen, für die er die Verbannung aus der Gattung des Trauerspiels fordert, "weil jede derselben mit Unempfindlichkeit [...] [gegenüber] dem Gegenstand des Mitleidens" (S. 173) verbunden ist, die das Mitleid des Zuschauers abschwächen. Die Bewunderung der Tugenden, denen man nachzueifern strebt, will Lessing aber keinesfalls schmälern, weil "gar kein Trauerspiel ohne sie besteht, weil man ohne sie kein Mitleid erregen kann" (S. 173).
Lessing macht klar, daß die Bewunderung aber niemals ein tragisches Stück beschließen dürfe, um zu vermeiden, daß sie und nicht das Mitleiden Hauptwerk des Stückes werde. Mit der Bewunderung als "Ruhepunkt des Mitleids" habe er gemeint, daß der Dichter das Maß halten müsse was dem Helden nur so viel Bewunderung des Zuschauers zuteilwerden lassen dürfe, daß er danach wieder in so schmerzliche Empfindungen verfalle, daß der Zuschauer die Bewunderung nicht als Hauptwerk des Stückes empfindet, sondern nur als Ruhepause bevor ihn der Held wieder sein Unglück fühlen lasse.
Lessing erklärt seine These, daß die Bewunderung des Heroismus aus dem Trauerspiel zu verbannen sei, anhand der Genese des Trauerspiels.
Die ersten Trauerspiele seien aus dem Homer in der Gattung des Gedichts entnommen und zum Vortrag gebracht worden. Es sei dann die Erfahrung gemacht worden, daß diejenigen Gedichte, in denen Heldentum besungen wurde, nur einmal mit Vergnügen gehört worden seinen, während die mit tragischem Inhalt dem Zuschauer auch öfter als einmal gefallen hätten und sogar in Dialogform umgesetzt worden seien, woraus die heutige Tragödie resultiere. Die Heldentaten aber seien nie dialogisch umgesetzt worden. Lessing schlußfolgert daraus, man habe "die Bewunderung für eine ungeschicktere Lehrerin des Volkes [gehalten] als das Mitleiden" (S. 175), was für ihn seiner eigenen Auffassung noch mehr Gewicht verleiht.
Die Bewunderung bessere nämlich nur "mittelbar" durch die Nachahmung und nur den, der sich "der Erkenntnis der Vollkommenheit" (S.175) bewußt sei, "das Mitleiden hingegen besse[re] unmittelbar" (S.175) jeden unabhängig seiner Fähigkeiten und Tugenden und ohne eigenes zutun.
2.2 Das "Bettler-Beispiel"
Lessing legt im Besonderen Wert darauf, daß seine Freunde seine Auffassung von der Wichtigkeit und Wirkung des Mitleidens in der Tragödie verstehen. In seinem Brief an Nicolai vom 29. November 1756 erklärt er diesem sein System von Mitleiden anhand des Beispiels eines Bettlers.
Er unterscheidet drei Grade von Mitleid, das Mitleid der "Rührung, Tränen [und] Beklemmung" (S.177). Um zu Tränen zu kommen, muß der Unglückliche, in Lessings Beispiel der Bettler, den Zuhörer gleichzeitig mit seinen guten Eigenschaften und seinen Unglücken vertraut machen. "Unglück und Verdienst [...] [müssen] im Gleichgewicht [sein]" (S.178), um das Mitleiden des Zuhörers zu Tränen zu bringen.
Rührung empfindet der Zuhörer, wenn er entweder von den guten Eigenschaften oder den Unfällen des Unglücklichen nur einen dunklen Schimmer hat, beide aber nicht genau kennt, oder "die schmerzhaften Empfindungen in ihm die Oberhand gewinnen" (S.177). Zu Tränen kommt er aber nicht. Gerät das Gleichgewicht zwischen Unglück und Tugend des Unglücklichen in seiner Darstellung auseinander, kommt es im Zuhörer zu einer Art von "Beklemmung" des Mitleids. Stellt der Unglückliche mehr gute Eigenschaften als Unfälle dar, erstickt nun der Schmerz des Zuhörers seine Tränen, was in beiden Fällen zu dem Gefühl der Beklemmung führt.
Die drei Grade des Mitleids bei Lessing sind also gestaffelt zu verstehen, wobei das "weinende Mitleid" (S. 177) die Mittelposition inne hat.
2.3 Über das Verhältnis von Bewunderung und Nachahmung
Mendelssohn kommt in seinem Brief vom Dezember 1756 an Lessing noch mal auf deren Streit über die Bewunderung zurück. Er kritisiert Lessings Auffassung die Verwunderung über einen positiven Sinneswandel die man einer handelnden Person nicht zugetraut hätte sei ein Fehler des Dichters zu nennen, weil sie sich nicht mit ihrem bekannten Charakter reime. Für Mendelssohn ist jede "Verwunderung" legitim, sofern sie sich später in "Bewunderung" auflöse (vgl. S. 180) und sich die Entwicklung dieser Veränderung aus der Handlung als wahrscheinlich ableiten läßt.
In der Auseinandersetzung mit der Frage, ob alle Eigenschaften die man bewundert notwendigerweise nachahmungswürdig sein müssen, kommt Mendelssohn zu dem Schluß, daß alle menschlichen Erkenntnisse "entweder auf einen deutlichen Vernuftentschluß, oder auf eine undeutliche Erkenntnis, welche man in Sachen, die die Wahrheit angehen, Einsicht, in Sachen aber, die die Schönheit betreffen, Geschmack zu nennen pflegt" (S. 181) gegründet sind. Es ist also möglich, daß wir "heroische [...] Tugenden" (S. 180) bewundern, wenn ihre "Schönheit" auf dem Urteil unseres Geschmacks beruht. Wird die Illusion aber von unserer einfallenden Vernunft durchbrochen, werden wir diese Eigenschaften aber nicht für nachahmungswürdig halten. "Einsicht" und "Geschmack" können also zeitweilig einen größeren Einfluß auf unseren Willen haben als die Vernunft.
Für Mendelssohn ist die Folge aus dieser Erkenntnis, daß man nicht von vornherein sagen kann, sämtliche Heldentaten seien aus dem Trauerspiel zu verbannen, wie Lessing dies in seinem letzten Brief deutlich gemacht hat.
Die Darstellung einer Heldentat kann für ihn die aufkommende Bewunderung und den Willen der Nachahmung im Zuschauer nicht zerstören, wenn der Dichter durch diese die Geschmacksurteile des Zuschauers einnimmt.
Den Unterschied macht nur welchem Zuschauer man diesen "halsstarrigen Heldenmut" (S. 181) zeigen kann. Bei einem Zuschauer dem es nicht an deutlichen Erkenntnissen der Vernunft fehlt, wird sich diese einschalten, die Illusion durchbrechen und eine konkrete Nachahmung verhindern. Menschen denen es an Vernunft fehlt könnten nicht mehr in die Realität zurückfinden und die Nachahmung in Taten umsetzen. Dies zeigt Mendelssohn, daß auch die Bewunderung an sich schon Nacheiferung mit sich ziehen kann und nicht, wie Lessing behauptet, bloß die Betrachtung guter Eigenschaften. Durch die Bewunderung werden also auch Handlungen für nachahmungswürdig gehalten, die der vernünftige Mensch als untugendhaft erkennt. Für Mendelssohn kann gleichsam auch das Mitleiden zu Untugenden führen, so es nicht von der Vernunft regiert wird.
Mendelssohn kommt kurz auf den gemeinsamen Streitpunkt zurück, indem Lessing behauptet die Bewunderung sei nur als "Ruhepunkt des Mitleidens" geltend zu machen. Er gibt zu bedenken, daß auch Szenen der Bewunderung gefallen finden, denen keine Szenen des Mitleidens vorangegangen sind, welches es zu dämpfen gilt. "Also [sei] die Bewunderung [auch] schön, [...] wo sie kein Mitleiden zu stillen hat" (S. 183).
Lessings Punkt "der Dichter müsse seinen Helden das Unglück fühlen lassen, damit der Zuschauer es fühlen könne" (vgl. S. 174) beleuchtet Mendelssohn von einer anderen Seite. Der Held müsse nicht unbedingt das Unglück selber fühlen, wenn es dem Dichter gelingt aufzuzeigen, daß dieser "die Gefahr kennt, über welche ihm seine Unerschrockenheit hinwegsetzt" (S. 184) und das Publikum dennoch in Angst um ihn zu versetzen. Der Zuschauer kann auch mittels der Sorge der Angehörigen des Helden in Angst versetzt werden um das Unglück zu fühlen und so von der Gelassenheit des Helden in Bewunderung versetzt werden, welche "gewiß den heißesten Wunsch der Nacheiferung in ihm zurückließe" (S. 184).
2.4 Über die Wirkung von Bewunderung und Mitleid
In dem letzen von mir für meine Seminararbeit berücksichtigten Brief Lessings vom 18. Dezember 1756 versucht er noch mal alle seine Erkenntnisse über Mitleiden, Bewunderung, Nachahmung und deren Wirkung auf den Zuschauer zu ordnen und Mendelssohn dadurch noch klarer werden zu lassen.
Lessing stützt sich hierbei auf die Aussage Aristoteles aus seinem 14. Hauptstück, indem es heißt "das Trauerspiel soll[e] [...] nicht jede Art des Vergnügens ohne Unterschied gewähren, sondern nur allein das Vergnügen, welches ihm eigentümlich zu[komme]" (S. 185). Für Lessing ist das Hauptvergnügen was dem Trauerspiel zukommt das Mitleiden und deshalb sollen alle anderen Vergnügen diesem untergeordnet sein und nur in ihrem Verhältnis zu diesem Mitleiden beurteilt werden.
Er kritisiert deshalb die Kategorisierung der Trauerspiele bei Nicolai, der in seiner zweiten Gattung "der heroischen Trauerspiele" (vgl. S. 157) den Hauptzweck darin sieht Bewunderung für den Helden durch Schrecken und Mitleid zu erregen. Für Lessing hat Nicolai hier also die Bewunderung als Hauptwerk gesehen, was für ihn nur dem Heldengedicht angemessen sei. Er wirft ihm hier also eine Gattungsvermischung von Trauerspiel und Heldengedicht vor.
Im Trauerspiel aber sei das Mitleiden der Hauptzweck und Bewunderung und Schrecken dienten nur dazu "das Mitleiden erregen zu helfen" (S. 186). "Die Bewunderung finde [...] also in dem Trauerspiel nicht als ein besonderer Affekt statt, sondern bloß als die Hälfte des Mitleids" (S. 186).
Lessing klärt das Mißverständnis um seinen Begriff der "Bewunderung als Ruhepunkt des Mitleidens" auf, was nicht gemeint habe die Bewunderung "soll[e] das Mitleiden stillen helfen" (S. 186). Er habe lediglich sagen wollen, der Zuschauer "könn[e] nicht lange in einem starken Affekt bleiben; also könne [...] [er] auch ein starkes Mitleiden nicht lange aushalten" (S. 186), ohne daß sich dieses abschwäche. Um sich als Dichter aber das Mitleiden nicht bis zum letzen Aufzug aufsparen zu müssen, müsse es einen Kunstgriff geben der hilft das Mitleiden über den gesamten Verlauf der Handlung zu verteilen. Dieser Kunstgriff also seien Stellen "in [denen] [...] die Bewunderung als Bewunderung" (S. 187) Platz habe, um dem Zuschauer nach Szenen starken Mitleidens einen "Ruhepunkt" zu verschaffen und auf künftiges Mitleiden vorzubereiten. "Gestillt soll[e] das vorige Mitleiden dadurch nicht werden" (S. 187), jedoch dürften diese Szenen "keine solche Vollkommenheit betreffen, die das [künftige] Mitleiden vernichten" (S. 187).
Desweiteren äußert sich Lessing über die Unterschiede in der Wirkung von Bewunderung und Mitleid. Wenn die Bewunderung wie Mendelssohn sagt, durch deutliche Erkenntnis den Vorsatz der Nacheiferung in die Tat umsetzt, ist laut Lessing "die[se] Wirkung nicht der Bewunderung sondern der deutlichen Erkenntnis zuzuschreiben" (S. 188).
Ist es aber so, daß die Bewunderung einer Handlung so stark andauert, daß sie egal ob tugendhaft oder nicht, in die Tat umgesetzt werde bevor sich die Vernunft zu Hinderung einschalten könne, "so [müsse] es denn eine von den ersten Pflichten des Dichters sein, daß er nur für wirklich tugendhafte Handlungen Bewunderung er[wecke]" (S. 189). Für Lessing kann der Schluß deshalb aber nicht der Nicolais sein, daß der Zweck des Trauerspiels, weil es so oft auch untugendhafte Handlungen nacheifernswert erscheinen läßt, nicht der Zweck der Besserung der Sitten sein könne.
Lessing meint eine Tat, die jemand aus reiner Nacheiferung tut, sei keineswegs tugendhaft und die Bewunderung einer Handlung könne nur zur Nacheiferung der selben unter den selben Umständen kommen. Er kommt deshalb zu dem Schluß Bewunderung und Nacheiferung "besser[n] nur durch besondere Fälle, und als auch nur in besonderen Fällen" (S. 189).
Deshalb macht Lessing hierzu den Gegensatz der für ihn besseren und unmittelbaren Wirkung des Mitleidens auf. Zweck des Trauerspiel sei es den Zuschauer im Mitleiden zu üben und nicht ihn für alle Fälle der Realität zum Mitleiden zu bestimmen. Selbst wenn der Dichter den Zuschauer also "gegen einen unwürdigen Gegenstand mitleidig macht, nämlich mittels falscher Vollkommenheit" (S. 189), hat er trotzdem dem Zweck des Trauerspiels, das Mitleiden des Zuschauers zu üben, seinen Dienst erwiesen. Der Zuschauer erlernt auch hier die Fertigkeit des Mitleidens. Die Bewunderung kann den Zuschauer zwar nicht in den Fertigkeiten des Mitleides üben oder seine Seele tugendhafter machen, so kann sie ihm aber durch die Nachahmung körperliche Fähigkeiten, "die wir nicht in unserer willkürlichen Gewalt haben, ob sie gleich wirklich dem Körper vorhanden sind" (S. 190), körperlich tapferer und gewandter machen. In der Abgrenzung gegen den aristotelischen Begriff des "Mittelcharakters" (S. 192) macht Lessing noch einige abschließende Bemerkungen zu seiner Vorstellung der Verbindung der Tugend einer Person und dem Mitleiden, welches ihr Unglück im Zuschauer erregt. Für Aristoteles darf der Held nicht allzu lasterhaft sein, da er sonst "sein Unglück durch seine Verbrechen [verdiene]" (S. 192) und nicht zu tugendhaft sein, da sonst sein Unglück "das Mitleiden in Entsetzen und Abscheu [verwandle]" (S. 192). Lessing wendet sich hier gegen eine für ihn falsche Erklärung des Mitleidens bei Aristoteles. In seiner Vorstellung wird durch das Unglück eines tugendhaften Helden das Mitleid nicht in "Entsetzen" und "Abscheu" gewandelt, sondern steigert sich in dem selben Verhältnis, in welchem Vollkommenheit und Unglück wachsen" (S. 192).
Für Lessing ist es ebenso zwingend, daß der Held einen gewissen Fehler haben müsse, da sonst "sein Charakter und sein Unglück kein ganzes ausmachen würden, weil das eine nicht in dem anderen gemündet wäre" (S. 192). Das Unglück muß in dem Fehler des Helden gegründet sein, da sein Unglück ohne seinen Fehler "Entsetzen und Abscheu ohne Mitleid" (S. 193) erregen würde. Nur als Einheit können Vollkommenheit und Unglück die "gemeinschaftliche Wirkung [...] [des] Mitleid[s]" (S. 193) erzielen, die ja der Zweck des Trauerspiels sein muß.
Auch wenn Nicolai, Mendelssohn und Lessing am Ende ihres "Briefwechsel[s] über das Trauerspiel" nicht in allen Punkten zu einem gemeinsamen Konsens gekommen sind, haben sie sich aber in ihrer Auseinandersetzung mit den anderen ihre wesentlichen Punkte verdeutlicht und ihre Reformgedanken für das deutsche Trauerspiel aneinander schärfen können.
3. Erkenntnisse aus dem "Briefwechsel" neu gefaßt in der "Hamburgischen Dramaturgie"
Abschließen möchte ich meine Seminararbeit, indem ich versuchen werde darzustellen, wie Lessing seine im Briefwechsel gewonnenen Erkenntnisse rund zehn Jahre später, zwischen 1767 und 1769, in den Stücken der "Hamburgischen Dramaturgie", neu überdacht, veröffentlicht.
Hierzu betrachte ich exemplarisch das 32. Stück der Dramaturgie, in welchem sich der Gegenstand Lessings Kritik konkret an dem Drama "Kleopatra" von Corneilles zeigt, welchem er vorwirft, die künstlerische Zweckmäßigkeit des Dramas zu verfehlen. Der Autor hält sich seiner Meinung nach zu sklavisch an die Einhaltung der historischen Wirklichkeit, welche nicht in der antiken Dramaturgie zu begründen sei, was deshalb die tragische Handlung durch seine Kürze unglaubwürdig mache.
Aus dieser Kritik folgt Lessings Definition des wahren Poeten, "der vor allen Dingen [darauf] bedacht [sei],eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders als geschehen müssen" (Hamburgische Dramaturgie, 32. Stück. In: Textbücher Deutsch: Dramentheorie, hg.v. Udo Müller. Freiburg 1978, S. 23, Z. 12ff).3
Es kommt Lessing darauf an, daß Handlungszusammenhänge nicht unbedingt zwanghaft naturgemäß dargestellt werden müssen, sondern nach aristotelischem "Mimesis-Prinziep", die Wirklichkeit poetisch auf ihren Kern hin durchdringen, was dem Zweck der sinnlichen Anschauung beim Zuschauer dient.
Die Nachahmung (Mimesis) soll dem Zuschauer mit den Mitteln der Kunst die in der Natur "unbegriffene[n] Zusammenhänge durchsichtig und begreiflich mach[en]" (Wilfried Barner u.a.: Arbeitsbuch Lessing. München 1975, S.164).
Deshalb sei die "Reihe von Ursachen und Wirkungen" (Z.13) kausal zu verketten.
"Unzufriedenheit, ihre Möglichkeit bloß auf die historische Glaubwürdigkeit zu gründen, wird er [der Poet] suchen die Charaktere seiner Personen [eben]so anzulegen" (Z. 15ff), womit Lessing meint, daß auch die Charaktere der Personen nicht die Erfahrungen und Erkenntnisse der Wirklichkeit durchbrechen dürfen um nicht unglaubwürdig zu wirken.
Aus diesem antiken Modell des "gemischten Charakters" ergibt sich für Lessing die Ablehnung übermenschlicher Heroen sowie unmenschlicher Schurken als Bühnencharaktere, da diese für ihn das Gelingen der Identifikation des Zuschauers mit den handelnden Personen verhindern. Sie erreichen auf der Bühne distanzierende Effekte, übersteigerte Bewunderung bzw. Abscheu. Die Identifikation aber, sei notwendig zur Erregung von Furcht und Mitleiden im Zuschauer, dürfe deshalb keinesfalls durchbrochen werden. In der Mischung aus Tugend und Laster der handelnden Personen kann der Zuschauer sich selber wiedererkennen, da diese das Wesen der menschlichen Natur ausmachen.
Der Poet "wird [...]suchen die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem anderen entspringen zu lassen" (Z. 17ff) meint für Lessing, daß die Taten, Affekte und Entscheidungen der handelnden Personen ebenso mit ihrem Charakter verknüpft und aus ihm erklärbar sein müssen um wahrscheinlich zu wirken.
Der Charakter ist genauso ein Maßstab für die Glaubwürdigkeit der handelnden Personen, wie die Wahrscheinlichkeit der Reihe von Ursachen und Wirkungen auf die Handlung.
Der Poet "wird suchen die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen [und] wird suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen, daß [man] überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahr[nimmt]" (Z. 20ff). Lessing meint, daß so die Gefühlsregungen des Zuschauers in allmählichen Stufen erfolgen und nicht durch ein zu plötzliches Auftreten im Schock ihre Wirkung zerstört wird. Auch die Handlung müsse so beständig voranschreiten, sich eins aus dem anderen entwickeln, wobei Lessing die strikte Einhaltung des antiken Prinzips der Einheit von Zeit und Ort nicht so wichtig ist.
Auch die Wirkung im Zuschauer muß dementsprechend Schritt für Schritt erweitert werden. Das Fortschreiten der Wirkung auf den Zuschauer führt dazu, "daß [er] bei jedem Schritte, die er [der Dichter] seine Person tun läßt, bekennen [muß], [er] würde[...] ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft, bei der nämlichen Lage der Sachen selbst getan haben" (Z.25-28). Die Person des Zuschauers wird von einer beobachtenden in eine bekennende Position vertieft und durch die Wirkung des Mitleidens in das Stück miteinbezogen.
Durch das Bekenntnis des Zuschauers vor sich selbst, in ähnlicher Lage der Sachen, es der handelnden Person gleichgetan zu haben, wird das drohende Unheil laut Lessing auch dem Zuschauer zuteil. Er identifiziert sich mit der Lage des Helden, was in ihm die von Lessing intendierte Wirkung der Tragödie, Furcht (Phobos) und Mitleid (Eleos) zu empfinden, beginnt. Diese Wirkung setzt ein, wie Lessing sagt, weil den Zuschauer "nichts dabei [mehr] befremdet, als die unmerkliche Annäherung eines Zieles, von dem [dessen] Vorstellungen zurückbeben" (Z. 28ff).
Der Zuschauer wird so "voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreißt" (Z. 31f) was für Lessing ja in der Zielvorstellung tragischer Wirkung gipfelt: Ein Mitleiden zu empfinden, als sei es das eigene Leiden.
Wie auch im "Briefwechsel über das Trauerspiel schon deutlich herausgearbeitet ist dem Mitleiden bei Lessing in äußerster Gemütserregung im weinenden Mitleid, also in Tränen, Ausdruck zu verleihen. Der Ort der Mitleidserregung befindet sich im Gemüt des Zuschauers, nicht in seinem Verstand (Ratio).
Der Zuschauer ist gleichsam "voll Schrecken über das Bewußtsein [...], auch [ihn] könne ein ähnlicher Strom dahinreißen, Dinge zu begehen, die [er] bei kaltem Geblüte noch so weit von [sich] entfernt zu sein glaub[t]" (Z. 32ff). Hier ist das Wort "Schrecken" von Lessing, wie auch von anderen zeitgenössischen Aristoteles- Interpretationen mit "Schrecken" übersetzt worden.
Schrecken, als die plötzliche Reaktion eines Menschen auf eine aktuelle Gefährdung ohne Erfahrungswerte.
Im späteren Verlauf der "Hamburgischen Dramaturgie" ändert er "Schrecken" in "Furcht", begriffen als die Antwort des Gemüts auf eine sich vorstellende Bedrohung mit vorherigen Erfahrungswerten. Für Lessing stehen Furcht und Mitleiden in einer wechselseitigen Definitionsbeziehung.
"Es beruht alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat [...] und alles das finde[t] [man] mitleidswürdig, was [man] fürchten würde, wenn es [einem] selbst bevorstünde" (75. Stück der "Hamburgischen Dramaturgie"). Sind die dargestellten Personen wirklich dem Zuschauer in ihren Leidenschaften ähnlich, erregen deren Unglücksfälle in ihm Furcht. Diese Furcht nennt Lessing dann "das auf uns selbst bezogene Mitleid" (75. Stück der "Hamburgischen Dramaturgie").
Was sich nun hier am Beispiel des "32. Stücks der Hamburgischen Dramaturgie" erkennen läßt ist, daß Lessing auch nach Abschluß des "Briefwechsels über das Trauerspiel" mit seinen Gedanken zur Veränderung der Dramentheorie noch nicht zuende war. Seine Auffassungen, wie die über "Schrecken" und "Furcht", blieben in konstruktivem Wandel, was seine Reformgedanken so komplex und vielschichtig macht.
Mir hat die Beschäftigung mit dem Thema meiner Seminararbeit wirklich Freude gemacht, obwohl ich aufgrund der genannten Komplexität des Themas immer noch den Eindruck habe nur bruchstückhaftes Teilwissen erworben zu haben und erst an der Oberfläche zu sein.
Literaturverzeichnis
1) "Briefwechsel über das Trauerspiel" In: "Lessings Werke, Band 4, Dramaturgische Schriften", hg. v. H.G.Göpfert. Darmstadt 1973, S. 153-227.
2) "Aristoteles: 6. und 7. Poetik" In: "Textbücher Deutsch-Dramentheorie", hg. v. Udo Müller. Freiburg 1978, S. 7-15.
3) "Lessings Werke in einem Band", hg. v. Gerhard Stenzel. Salzburg
4) "Lessing-Ein Lehrbuch", hg. v. Wilfried Barner u. a.. München 1975.
5) "32. Stück der Hamburgischen Dramaturgie" In: "Textbücher Deutsch-Dramentheorie", hg. v. Udo Müller. Freiburg 1978, S. 23-24.
[...]
1 "Aristoteles: 6. und 7. Poetik" In: "Textbücher Deutsch-Dramentheorie", hg. v. Udo Müller. Freiburg 1978, S. 7-15
2 "Briefwechsel über das Trauerspiel" In: "Lessings Werke, Band 4, Dramaturgische Schriften", hg. v. H.G.Göpfert. Darmstadt 1973, Seite 153-227 - Alle weiteren Zitate dieses Werkes werden im Folgenden nur noch mit Seitenzahlen angegeben.
3 "32 Stück der Hamburgischen Dramaturgie" In: "Textbücher Deutsch-Dramentheorie", hg. v. Udo Müller. Freiburg 1978, S. 23 - Alle weiteren Zitate dieses Stückes werden im Folgenden nur noch mit Zeilenangaben angegeben.
- Quote paper
- Mirjam Wittig (Author), 2000, Lessings dramentheoretischer Ansatz im "Briefwechsel über das Trauerspiel", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98542
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