Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, das psychoanalytische Verständnis der Religion Sigmund Freuds und Donald W. Winnicotts vorzustellen. Besonders geht es um die Frage, welche Rolle die Autoren der Illusion zukommen lassen. Die Konzeptionen unterscheiden sich wohl nicht zuletzt wegen ihrer unterschiedlichen Entstehungszeit grundsätzlich voneinander. Freuds zentrale Religionsschrift "Die Zukunft einer Illusion" (GW XIV, 1927) erschien vier Jahre nach dem Ausbruch seiner Krebserkrankung, welche ihn vermutlich für die Themen der Religion wie Endlichkeit und Trost sensibilisierte. Die Ansichten Winnicotts zur Religion sind nicht in einer einzigen Schrift zusammengefasst, deren Entstehungsgeschichte zeigt allerdings zeitliche sowie inhaltliche Nähe zum aufkommenden Humanismus in der Psychologie der 50er und 60er Jahre.
Beide Positionen verbindet die Ansicht, dass die Religion grundsätzlich eine Illusion sei. Der Umgang mit ihr und ihr Stellenwert ist jedoch bei den beiden Autoren zutiefst verschieden. Es ergeben sich zwei gegensätzliche Ansichten: Einerseits die Illusion der Religion als Teil eines wunscherfüllenden falschen Bewusstseins. In dieser Position Freuds schwingt die Frage nach Wahrheit und Falschheit religiöser Inhalte mit. Andererseits die Position Winnicotts, der die Illusion religiöser Erlebnisse auf dieselbe Stufe stellt, die er der Illusion der Kunst und den damit einhergehenden Genussmöglichkeiten zuordnet. Während Freud die Religion zu überwinden und durch die Wissenschaft als Glaubenssystem zu ersetzen versucht, stößt er bei vielen Anti-Säkularisten in den Reihen der Psychoanalytiker auf Protest.
Die Argumentation und Leseart Joel Whitebooks (2014) der Schrift "Die Zukunft einer Illusion" rekonstruiert einen wichtigen Kern des Freud'schen Projekts Psychoanalyse: Dachte man lange, die besagte Schrift hätte kaum einen neuen nennenswerten Gehalt für die psychoanalytische Arbeit, so rekonstruiert Whitebook den Kampf gegen die Magie und die Allmacht der Gedanken nicht nur als einen Gehalt der Freud'schen Religionskritik sondern der Psychoanalyse im Allgemeinen. Dies steht scheinbar unvereinbar der Theorie Winnicotts gegenüber, der den privaten Illusionen gar einen eigenen Raum zur Entlastung des Individuums zugesteht. Dieser Sachverhalt und die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Psychoanalyse am Beispiel der Religion sollen am Ende dieser Arbeit diskutiert werden.
Inhaltsverzeichnis
- Einführung
- Freud: Die Religion als Illusion über das Verhältnis von Religion, Subjekt und Kultur
- Ananke, Hilflosigkeit, Endlichkeit: Was ist hier reif?
- Wissenschaft vs. Religion
- Winnicott: Religion weder subjektiv noch objektiv?
- Übergangsobjekte und Übergangsphänomene
- Lebenslanges Spielen: Ein Übergangsraum
- Ursprünge der Kultur: Religion im Übergangsraum
- Diskussion: Anspruch auf Wahrheit? Über den Umgang mit der (religiösen) Illusion
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der psychoanalytischen Perspektive auf Religion, insbesondere den Ansichten von Sigmund Freud und Donald W. Winnicott. Der Fokus liegt auf der Rolle der Illusion in beiden Konzeptionen und ihrer Bedeutung für das Verständnis des Verhältnisses von Religion, Subjekt und Kultur.
- Die Funktion der Illusion in Freuds und Winnicotts Theorie der Religion.
- Die Rolle von Kultur und Wissenschaft im Verhältnis zur Religion.
- Das Konzept des Übergangsraums in Winnicotts Theorie und seine Relevanz für das religiöse Erleben.
- Die Frage nach der Wahrheit und dem Wahrheitsanspruch der Religion und der Psychoanalyse.
- Der Stellenwert von Religion und Illusion im Leben des Einzelnen.
Zusammenfassung der Kapitel
- Einführung: Dieses Kapitel stellt die beiden Konzeptionen von Religion von Sigmund Freud und Donald W. Winnicott vor. Es beschreibt die unterschiedlichen Entstehungszeiten und die grundsätzliche Ansicht beider Autoren, dass Religion eine Illusion ist, wobei der Umgang mit dieser Illusion und ihr Stellenwert deutlich voneinander abweichen.
- Freud: Die Religion als Illusion: Dieses Kapitel beleuchtet Freuds Sichtweise auf die Religion als kulturellen Besitz, der die Anforderungen der Kultur legitimiert und die tiefsten menschlichen Wünsche befriedigt. Es geht auf die Rolle von Religion in der Überwindung des Antagonismus zwischen Mensch und Kultur und die Bedeutung der Erlösung als Ziel der Psychoanalyse ein.
- Winnicott: Religion weder subjektiv noch objektiv?: Dieses Kapitel erläutert Winnicotts Konzept des Übergangsraums und der Übergangsobjekte, die dem Individuum Entlastung von der Realität ermöglichen und die Wurzeln für die Entstehung von Kultur und Religion bilden.
Schlüsselwörter
Diese Arbeit befasst sich mit den Konzepten von Religion und Illusion in der Psychoanalyse, wobei die Theorien von Sigmund Freud und Donald W. Winnicott im Vordergrund stehen. Zentrale Begriffe sind: Religion, Illusion, Kultur, Subjekt, Übergangsraum, Übergangsobjekte, Wahrheit, Wissenschaft, Psychoanalyse, Endlichkeit, Entlastung.
- Quote paper
- Michael Rauch (Author), 2020, Zwischen Endlichkeit und Übergangsraum. Konzepte der religiösen Illusion in der Psychoanalyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/985267