Der 8. Mai - Zum Umgang mit einem Gedenktag
1. Einführung
Der 8. Mai. Ein Datum mit doppelter Bedeutung für Deutschland. Zum einen wurde in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Truppen erklärt, die zum Ende des zweiten Weltkriegs führte, zum anderen trat am gleichen Tage des Jahres 1949 das Grundgesetz in Kraft, welches noch heute Gültigkeit hat.
Diese Arbeit konzentriert sich ausschließlich auf den 8. Mai 1945 und seine Folgen für Deutschland bis in die Gegenwart. Anhand von Zeitungsberichten will sie die Bedeutung und die Wichtigkeit dieses Tages herausstellen. Da es sich hierbei aber um keine repräsentative empirische Studie handelt, habe ich mich auf eine Zeitung beschränkt, und mich bei dieser nur auf die Berichterstattung zu den Jahrestagen (1955, '65, '75, '85 und '95) konzentriert[1]. Bei der Zeitung handelt es sich um die Westfälischen Nachrichten[2], einer großen Tageszeitung aus Münster.
Wie wird über die Geschehnisse des 8. Mai 1945 berichtet, in welchem Umfang wird berichtet, welche Resonanz aus dem Ausland wird erkennbar und welcher Ton wird angeschlagen? Verändern sich die Darstellungsweisen im Laufe der Zeit, und wenn ja, in welcher Weise und anhand welcher Beispiele lassen sie sich festmachen? Da es sich bei dieser Arbeit allerdings auch nicht um eine sture Inhaltsangabe von Zeitungsreportagen handeln kann, stellt sich noch eine weitere Frage. Wie wird in diesen Berichten mit Geschichte umgegangen? Wie verändert sich Geschichtsbewußtsein im Laufe eines halben Jahrhunderts?
Diesen Fragen möchte die Arbeit in ihrem Verlauf folgen. Sie unterteilt sich in die schon erwähnten Zehnjahressprünge, die jeweils als Ecksteine der Entwicklung im Umgang mit der bedingungslosen Kapitulation dienen sollen. Des weiteren gibt eine Schlußbetrachtung ein kurzes Resümee der Ergebnisse und der daraus gezogenen Schlüsse.
2. Zehn Jahre danach - Der 8. Mai 1955
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bot sich der deutschen Bevölkerung ein grauenhaftes Bild ihrer Heimat. Die großen Städte waren zerstört, die Infrastruktur lahmgelegt und das angepriesene ,,Tausendjährige Reich" lag in Schutt und Asche. Viele, die sich im Zweiten Weltkrieg aufgerieben hatten, kamen verletzt und gedemütigt heim. Unzählige waren in die Kriegsgefangenschaft der vier Siegermächte gegangen und die Angehörigen mußten viele Jahre auf deren Heimkehr warten. Wesentlich schlimmer wog allerdings die Last, daß der vom deutschen Reich begonnene Krieg auf allen Seiten mehr als 56 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Von diesen waren allein rund 6 Millionen Juden dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen. Die Bilder von der Befreiung des Konzentrationslager Auschwitz gingen um die Welt und gaben dem deutschen Volk endgültig den Ruf, ein Volk von Mördern und Mitläufern zu sein, das nicht das Rückgrat besessen hat, sich gegen die nationalsozialistische Herrschaft aufzulehnen[3]. Es mußte also zwangsläufig von außen von dieser Bürde befreit werden.
Mit diesen Voraussetzungen sah die Zukunft für Deutschland nicht gerade blendend aus, zumal die sowjetische Besatzungszone dem restlichen Deutschland immer mehr entrissen wurde. Sogar die ehemalige Hauptstadt Berlin wurde unter den Alliierten aufgeteilt. Es sah nicht im geringsten danach aus, daß Deutschland jemals wieder ein souveräner Staat sein würde, daß den Menschen ohne Vorurteilen begegnet werden könne. Diesen Eindruck hätte man direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erwarten können. Etwas überraschend läßt sich allerdings feststellen, daß dieser Eindruck auch noch zum zehnten Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation vorherrschte.
Auf der Titelseite der Westfälischen Nachrichten des 9. Mai 1955 findet sich ein Bericht über die Feierlichkeiten zum Jubiläum des Kriegsendes in Europa. Truppenparaden und militärische Vorführungen sollen an den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland erinnern, andererseits aber auch an die erfolgreiche ,,Kriegsallianz zwischen dem Osten und dem Westen". Daß sich aber auch dieses vormals gute Verhältnis zugespitzt hatte, läßt sich aus der Äußerung des stellvertretenden sowjetischen Verteidigungsministers Wassilewskji ablesen, der in der ,,Istwestjia" schrieb, daß ,,die Sowjetunion gegen jeden Überraschungsangriff gerüstet sei." Nimmt man noch die Aussage des tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Siroky hinzu, der kurz vor der Warschauer Konferenz von der Schaffung einer Macht spricht, ,,die jedem Angriff widerstehen kann", so fällt auf, daß sich nach dem Ende des Krieges Mißtrauen auch unter den Alliierten breitgemacht hat, welches eine ständige latente Bedrohung impliziert.
Zu frisch sind die Erinnerungen an die Greueltaten der deutschen Truppen, zu groß das Mißtrauen auf allen Seiten, als daß man sich auf friedlicher Basis zu Gesprächen hätte treffen können, auch wenn der amerikanische Außenminister Dulles ,,in einer Botschaft zum Kapitulationstag erklärte, daß er mit Hoffnung in eine friedliche Zukunft sehe." In Belgien gedachte man dem Ende des Krieges mit der Enthüllung eines Denkmals für die Widerstandsbewegung durch König Baudouin. Auf britischer Seite ,,wurde der Kapitulation nur mit Gottesdiensten gedacht."
In diesen Zeilen wird neben den schon beschriebenen Phänomenen aber vor allem eines deutlich. Mit keinem Wort wird ein deutscher Politiker zitiert, alles deutet darauf hin, daß Deutschland ohne Selbstbestimmung und eigene Stimme vor der Weltpolitik stehe; ein besetztes Gebiet, über das verfügt werden müsse. Diese Annahme wird durch die Kritik General Bradleys, dem 1945 der größte Teil der amerikanischen Landstreitkräfte unterstand, bestätigt. Er meinte, daß ,,die Kämpfe in Europa durch den Grundsatz der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands wahrscheinlich verlängert worden" seien. ,,Ohne diesen Grundsatz hätte Deutschland heute als ungeteilter Staat ein Puffer zwischen Ost un West sein können." Auffällig ist weiterhin, daß man mit keinem Wort von einer Wiedervereinigung Deutschlands spricht, obwohl man gerade wegen der Teilung dies hätte vermuten können. Obwohl man keinerlei deutsche Stimme zu diesem Jubiläum vernehmen kann, wird diesem Tag von Seiten der WN doch mit gebührendem Interesse begegnet, da dieser Überblick der Feierlichkeiten in Europa auf der Titelseite dieser Ausgabe erschien.
3. ,,Das Ende des Krieges hat nicht den wahren Frieden gebracht." - 8. Mai 1965
Von Seiten der Geschichtswissenschaft wird bis in die heutige Zeit weitläufig diskutiert, ob man das Ende des Krieges und die bedingungslose Kapitulation eher als Niederlage oder als Befreiung von einem tyrannischen System werten solle. In den Jahren bis zur Gründung der Bundesrepublik hätte man in der deutschen Bevölkerung vielfach zu hören bekommen, daß es sich um eine Niederlage gehandelt habe. Die Folgen waren zu offensichtlich: die Versorgung mit Lebensmitteln war mangelhaft, vielfach setzte sich zum Beispiel das Stehlen von Kohlen durch. Viele Menschen hatten keine Arbeit und lebten weit unter dem Existenzminimum. Von einer Befreiung und Hinwendung zum Besseren kann also damals nicht die Rede gewesen sein; die Nazis dürften (wenn überhaupt) als geringeres Übel angesehen worden sein.
Doch schon zum 20. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation wird eine Orientierung in Richtung Befreiung deutlich.
Die WN zitieren in ihrer Wochenendausgabe zum 8./9. Mai 1965 Auszüge einer Rundfunk- und Fernsehrede des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard. Nebenstehend wird ein Foto gedruckt, welches Bundespräsident Lübke und Erhard bei einer Kranzniederlegung am Denkmal des Zweiten Weltkriegs zeigt.
Gegenteilig zur Berichterstattung von vor zehn Jahren fällt hier auf, daß sich deutsche Politiker deutlich zu diesem Jubiläum äußern. Bundeskanzler Erhard macht in seiner Rede klar, daß der 8. Mai als Tag der Befreiung zu sehen ist. ,,Unsere Rückbesinnung gilt nicht einem Tag, sie dient dem Nacherleben der Trauer und des Leids, des Blutopfers von Millionen unschuldiger Menschen."
Dem deutschen Volk sei die Gnade widerfahren, noch einmal von neuem zu beginnen. ,,Wer nicht diese zwanzig mal 365 Tage bewußt miterlebt habe, würde nach dem äußeren Gesicht dieser Welt von heute kaum begreifen, daß Deutschland am 8. Mai 1945 geschlagen und gedemütigt am Boden lag."
Dank sagte der Bundeskanzler allen heutigen Verbündeten (die noch vor einem viertel Jahrhundert als Gegner Deutschland gegenüber gestanden hatten), daß sie ,,den westlichen Teil Deutschlands nach dem Kriege als vollwertiges Mitglied in die Völkerfamilie aufgenommen hätten." Vor allem gilt sein Dank den Vereinigten Staaten, die ,,fast unmittelbar nach dem Krieg fast allen europäischen Völkern -und zwar Freund und Feind - mit großen Opfern hilfreich zur Seite standen, um diesen unseren geschlagenen, ausgebluteten alten Kontinent zu erretten."
Die damaligen Gegner sind zu Verbündeten geworden. ,,Das wird und darf in der Weltgeschichte nicht untergehen."
Ein Tenor der Aussöhnung wird, wenn er in der Praxis auch noch schwer zu entdecken ist, in diesen Zeilen deutlich. Der Dank Erhards geht im besonderen an die ,,Verbündeten und Freunde des deutschen Volkes für ihre Bereitschaft, die gemeinsame Aufgabe von morgen und das schicksalhaft Verbindende über das Trennende von gestern zu stellen." Aus dieser Veranlassung dürfe Deutschland auch nicht ,,in einem politischen Niemandsland und minderen Ranges im Geschichtslosen versinken." Es sei eine der wichtigsten Aufgaben Deutschlands nach dem Krieg und den daraus gezogenen Lehren die Weltpolitik positiv zu beeinflussen.
,,Das deutsche Volk habe wiederholt bekräftigt, daß es zur Erfüllung seine nationalen Anliegen der Gewalt abgeschworen habe. Das wissen die ganze Welt und auch die kommunistischen Machthaber."
Aus Erhards Sicht hat das ,,Ende des Krieges nicht den wahren Frieden gebracht", sondern ,,neues Unrecht und Gewalt." Der Bundeskanzler spricht damit die Teilung Deutschlands und die Spannungen zwischen Ost und West an, die sich in den vorangegangenen Jahren immer deutlicher herausbildeten. Daß dieser Ausspruch seine Berechtigung hat, zeigt sich allein daran, daß die Regierung der DDR vier Jahre zuvor die Mauer hat bauen lassen, primär aus Gründen zum Schutze des eigenen Volkes. Daß bei dieser Maßnahme Familien auseinandergerissen wurden, Freundschaften zerbrachen und ,,die Freiheit von Menschen und Völkern wiederum mit Füßen getreten" wurde, schien beim Mauerbau nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.
,,Wir sind aber nicht bereit, duldsam gegenüber dem Unrecht zu sein und zu bleiben, wo uns brutale Gewalt das natürliche und feierlich proklamierte Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten will."
Deutlich spricht Bundeskanzler Erhard das Verlangen einer Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands an. ,,In uns lebt nicht nur der Schmerz um das geteilte deutsche Land und um das willkürlich und gewaltsam zertrennte deutsche Volk, sondern auch das Bewußtsein der Aufgabe, seine Einheit zurückzugewinnen."
Ebenso auf der Titelseite findet sich ein Artikel eines Redakteurs[4], der sich Gedanken zu diesem Gedenktag macht. Er versucht zu klären, ob ein Nationalbewußtsein der Deutschen wegen der belastenden Vergangenheit überhaupt möglich sei, und daß es nicht falsch verstanden werden dürfe. Vor allem in der heranwachsenden Bevölkerung rege sich Widerstand gegen eine Identifizierung mit den Ereignissen im dritten Reich. Die Jugend lehne dagegen auf, für das gerade zu stehen, was vor ihrer Geburt stattgefunden hat. Der Gedanke eines Nationalgefühls klinge deshalb wegen des zeitlichen Abstands vom dritten Reich an, aber auch weil die ,,Idee vom Vaterland Europa angesichts wachsender nationaler Egoismen unserer Partner ihre Anziehungskraft" verlöre.
Da diese Ausgabe der WN an einem Samstag erschien, hat die Redaktion noch eine Sonderbeilage[5] im Innenteil der Zeitung beigefügt, die an die Geschehnisse und die Auswirkungen des 7./8. Mai 1945 erinnern soll.
Im völligen Gegensatz zur Berichterstattung von 1955 findet sich in dieser Ausgabe der WN keinerlei internationale Reaktion auf den Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation.
4. ,,Tag der Scham, Trauer und der Besinnung". - Der 8. Mai 1975
4.1. Walter Scheel
An den bisher als Beispiel dienenden Berichten ließ sich nicht genau festmachen, ob es sich bei der bedingungslosen Kapitulation nun um eine Niederlage oder um eine Befreiung handelte. Es wirkt fast so, als habe auch diese Frage eine Entwicklung durchgemacht, da nach dem Krieg wie schon erwähnt von Befreiung nicht gesprochen werden kann. Geht dies zwar deutlich aus den Aussagen Erhards hervor, läßt sich doch ein allgemeiner Ton von Unsicherheit festmachen. Allerdings läßt sich im Zuge des Souveränwerdens der BRD und des wirtschaftlichen Aufschwungs, der nach dem Krieg in allen Zweigen der Wirtschaft boomte, und der auch Handelspartner im Ausland schuf, eher der Trend hin zur Befreiung erkennen.
Endgültig wird diese Frage von dem 1975 amtierenden Bundespräsidenten Walter Scheel beantwortet. Die WN zitieren in ihrer Ausgabe vom 8. Mai 1975 Auszüge aus seiner Rede bei einer Gedenkfeier zum 30. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs. ,,Die deutsche Tragödie habe nicht 1945, sondern 1933 begonnen, als alles Große und Edle in der Geschichte verraten worden sei. 1933 hatte Deutschland seine Ehre verloren." Obwohl Scheel eingesteht, daß das deutsche Volk zu schwach gewesen sei, ,,dieses Joch selbst abzuschütteln", seien ,,die Deutschen mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes von einem furchtbaren Joch, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei befreit worden." Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und des herrschenden Wettrüstens der Supermächte USA und UdSSR, ermahnt der Bundespräsident ,,alle, die ihn (den Krieg) miterlebt hätten ... , daß ein neuer Krieg nicht kommen dürfe." Die Politik ,,dürfe zum Ziel nur den Frieden haben."
Wie schon der Redakteur der WN 1965, spricht Scheel das Problem eines Nationalgefühls und einer Identifizierung der Heranwachsenden mit den geschehnissen des Kriegs an. ,,Es sei ... unsinnig, von jungen Deutschen heute zu verlangen, für etwas zu büßen, das vor ihrer Geburt verübt wurde." Viel wichtiger solle es sein, daß ,,alle Deutschen diese dunkelste Phase unserer Geschichte in ihr Bewußtsein aufnehmen und sie nicht verdrängen. Nur, wenn wir nicht vergessen, dürfen wir uns wieder mit Stolz Deutsche nennen."
Gegen Ende des Artikels kommt auch noch der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl zu Wort, der den 8. Mai als ,,Tag der Scham, der Trauer und der Besinnung" wertet. Er erinnere ,,die Demokraten aber auch an ihren politischen Auftrag, den Feinden der Demokratie solidarisch Widerstand zu leisten."
4.2. Bundeskanzler Schmidt
In einem weiteren Bericht im Innenteil der Zeitung gibt die WN eine Ansprache Bundeskanzler Helmut Schmidts wieder, die dieser vor dem Bundeskabinett gehalten hatte. Diese Rede handelt vor allem von aktuellen politischen Anliegen und Problemen, die sich mit den Lehren, die man aus dem Zweiten Weltkrieg und der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten gezogen hat, lösen ließen.
Vor allem sei deutlich zu erkennen, daß die Deutschen sich von allen Formen des Extremismus abgewendet haben. ,,Der Radikalismus von links und rechts hat keine Chance, das haben wir erneut am letzen Wahlsonntag mit Stolz erlebt."
Dies sei die ,,grundlegende Einsicht" des deutschen Volks nach dem Krieg. ,,Diese Einsicht und innere Entschlossenheit zur Konsequenz dürfen nicht verblassen."
Vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung und dem Aufkommen des Terrorismus durch Gruppierungen wie die Rote Armee Fraktion (RAF) betont Schmidt die Abkehr von jeglicher Gewalt zur Durchsetzung von Zielen in der Politik.
,,In der Bundesrepublik sei nach der Kapitulation eine starke, friedensbewahrende Demokratie errichtet worden, auf dem Fundament der freiheitlichsten Verfassung, die es je auf deutschem Boden gab." Diese zwei Punkte machen klar, daß es sich um ein Fehlurteil handele, ,,wenn man hier und da immer noch argwöhne, in der Bundesrepublik verstehe man den Tag der Kapitulation als einen Tag der Trauer über die Niederlage Hitlers." Ebenso wie Scheel stellt auch der Bundeskanzler diesen Punkt unmißverständlich heraus. Allerdings hat das deutsche Volk an diesem Tag auch keinen Grund zum Jubel, obwohl man ,,inzwischen die Jahre der Finsternis nicht verdrängt, sondern ... diese Epoche ... in einem oft schmerzvollen Prozeß im Bewußtsein geklärt" habe.
Zum ersten Mal findet man in der WN auch Äußerungen von Seiten der Kirche. Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Döpfner, betonte, daß das Unrecht anderer nicht die deutsche Schuld hinwegwische. ,,Einem Teil des deutschen Volkes und darüber hinaus auch ganzen Völkern ..." sei ,, ... seit dem Kriegsende das Recht auf Selbstbestimmung nicht zurückgegeben" worden.
Besonderen Dank richtete der Kardinal an die Vertriebenen und Flüchtlinge des Krieges, ,,die ein Beispiel dafür gegeben hätten, daß Unrecht nicht mit Haß, sondern mit der Bereitschaft zur Versöhnung beantwortet werden müsse."
In diesen Berichten läßt sich sehr deutlich erkennen, daß sich die Politik, bzw. das ganze deutsche Volk in den vergangenen 30 Jahren Gedanken über die Zeit zwischen 1933 und 1945 gemacht hat. Die Schlüsse, die aus der Reflexion gewonnen worden sind, haben dann schließlich zu dem Verhalten geführt, das uns in den Zeitungsartikeln begegnet.
4.3. Internationale Reaktionen
Im Gegensatz zur Berichterstattung von 1965 findet man 1975 auch wieder Reaktionen des Auslands auf den 30 Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation. In der Zusammenfassung der Ereignisse in einem Bericht vom 9. Mai 1975 wird das Augenmerk von den WN im besonderen auf den Ostblock gelegt. Sowohl in Moskau, als auch in Prag und Belgrad finden Militärparaden statt, die an den damaligen Triumph und die jetzige Überlegenheit des Sozialismus erinnern sollen.
Dieser Punkt wird von der Zeitung in etwas ungeschickter, propagandistisch angehauchter Weise gehandhabt. ,,Nach einer Militärparade übernahmen bei einer Massenveranstaltung Zehntausende sowjetischer Jugendlicher die Verpflichtung, sich stets für die geliebte Heimat, die KPdSU, die Sache Lenins und die sozialistische Sache einzusetzen." Um einiges beschwichtigender wirkt da schon die Sicht des polnischen Parteichefs Gierek, der bei einer Parlamentssitzung in Warschau die Bereitschaft ankündigte, ,,den realistischen Tendenzen in der Bundesrepublik entgegen zu kommen."
Ist in diesem Bericht nicht so sehr die politische Spannung und Gefährdung zu spüren wie es noch 1965 der Fall war, läßt sich jedoch ein deutlicher Gegensatz zwischen Ost und West festmachen. Es mag auch an dem Punkt liegen, daß die Zeitung repräsentativ für das gesamte westliche Ausland ausschließlich die Reaktion Frankreichs nimmt.
Es ginge Frankreich am 8. Mai nicht mehr darum, den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland zu feiern, sondern vielmehr auf den europäischen Einigungsprozeß hinzuweisen. ,,Frankreichs Staatspräsident hatte in einem Schreiben an den Europarat in Straßburg vorgeschlagen, statt der Kapitulationsfeier alljährlich überall einen Tag der Einheit Europas zu begehen." Eine Entscheidung, die von der Bundesregierung als eine dem europäischen Einigungswerk angemessene Haltung begrüßt wurde.
Auch hier unterscheidet sich die Sichtweise von der, die noch 1965 vorherrschte. Zweifelte man damals noch an einer europäischen Einigung, scheint sie 1975 schon zum Greifen nahe.
5. ,,Einsatz für den Frieden in der Welt." - 8. Mai 1985
Die Folgen des Krieges und der bedingungslosen Kapitulation bestimmten die Politik und das Leben auch noch fast ein halbes Jahrhundert nach den eigentlichen Ereignissen. Ein Begründung hierfür läßt sich ohne Zweifel darin festmachen, daß der Zweite Weltkrieg eben diese Konstellationen hervorgerufen hatte, die auch und vor allem in den 80er Jahren die deutsche und internationale Politik beeinflußten.
Der Kalte Krieg, das Wettrüsten und der Gegensatz zwischen Ost und West waren in den Zeitungsartikeln zwar auch schon 1965 und 1975 zu spüren, jedoch wird eine regelrechte Angst vor einer Überreaktion vor allem in den Äußerungen zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation greifbar.
Der Parteivorsitzende der SPD Brandt ,,mahnte Verfolgte des NS-Regimes sowie Bürgermeister im Krieg zerstörter Städte, den Frieden durch Weiterentwicklung der Ostpolitik und Beendigung des Wettrüstens fest zu organisieren." Im Gedenken an die Opfer der NaziHerrschaft verstehe die SPD die Friedenssicherung als zentrale Aufgabe. Als sehr bedenklich wertete Brandt die weltpolitische Lage. ,,Die Macht der Sowjetunion und der USA und deren Verhältnis zueinander seien objektiv zu einer Bedrohung des Lebens geworden." Seine Hoffnung liege in einem Treffen zwischen dem US-Präsidenten Reagan und dem sowjetischen Parteichef Gorbatschow. Hierbei müsse ,,die Drohung mit dem alles vernichtenden Weltkonflikt" beendet werden.
Auch NRW-Ministerpräsident Rau glaubte, daß ,,die derzeitigen internationalen Risiken für den Weltfrieden kaum weniger gefährlich seien als der Größenwahn eines Adolf Hitler." Auch die Bundesregierung bekannte sich in einer Erklärung zum 8. Mai zu ,,Frieden und Freiheit". CDU-Generalsekretär Geißler betonte, ,,dieser Tag beinhalte die Doppelverantwortung für die Deutschen, gegen Krieg und Diktatur, für Frieden und Freiheit einzutreten." Kritisiert wurde die Politik der SPD und der Sowjetunion. ,,Die SPD verkennt, daß die Spannungen zwischen Ost und West nicht begründet sind in der Existenz von Waffen auf beiden Seiten, sondern in der Unvereinbarkeit von Freiheit und Diktatur." ,,Zur Fortführung der Entspannungspolitik" rief der frühereösterreichische Bundeskanzler Keisky bei einer Gedenkfeier vor dem einstigen Konzentrationslager Struthof bei Straßburg auf.
Der französische Premierminister sieht in der Einigung Europas ,,die große Hoffnung der europäischen und anderer Länder zur Überwindung der Probleme der Gegenwart." Wie auch schon zehn Jahre zuvor wird die Notwendigkeit einer europäischen Einigung im Hinblick auf die Bedrohung aus dem Osten angesprochen.
Im geteilten Berlin, in welchem man die Spannungen wohl am ehesten nachvollziehen konnte, bezeichnete es der regierende Bürgermeister Diepgen als Aufgabe, ,,aus dem 8. Mai 1945 weiter Befreiung wachsen zu lassen."
Die WN hat in ihrer ,,Jubiläumsberichterstattung" viele verschiedene nationale und internationale Stimmen eingefangen, aber hat dabei entweder unbewußt oder absichtlich eine der wichtigsten bis 1985 ausgelassen. In allen Beiträgen vermißt man doch die Reaktionen und Äußerungen des ,,anderen" Deutschland, der DDR.
Bislang ließen sich alle Fragen nach der Rezeption des 8. Mai nur aus bundesdeutscher Sicht beantworten. Wie der Tag und seine Folgen in der DDR aufgenommen wurden und wie im Verlauf von 40 Jahren mit ihnen verfahren wird, ist zwar denkbar, wird aber mit keinem Wort von den WN dokumentiert.
Zum ersten Mal kann man hier Eindrücke einer Gedenkfeier in Ost-Berlin einfangen. Zum 40. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation wird von der DDR-Führung im Ostberliner Palast der Republik ,,als Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes" begangen. Trotz des Gegensatzes der Systeme unterstreicht auch der DDR- Volkskammerpräsident Sindermann ,,die Verpflichtung beider deutscher Staaten zur Friedenssicherung."
Dies impliziere ebenso die ,,von der Geschichte auferlegte politische und moralische Aufgabe ... (zur) Gestaltung gutnachbarlicher Beziehungen."
War noch vor allem 1965 die Frage nach der deutschen Wiedervereinigung noch laut zu hören, ist von diesem Ruf zwanzig Jahre später nichts mehr zu vernehmen. Es scheint vier Jahre vor dem Mauerfall ein irreales Unterfangen, an die deutsche Einheit zu glauben. Beide Staaten hatten schon zuvor ihre Souveränität anerkannt und hatten diplomatische Beziehungen zueinander aufgenommen. Von einer Wiedervereinigung war 1985 vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in der Berichterstattung der WN nichts zu spüren.
6. ,,Im Zeichen der Aussöhnung." - 8. Mai 1995
Am 9. November 1989 sollte schließlich das passieren, was 44 Jahre lang unmöglich schien. Durch eine ,,stille Revolution" gelang es den Bürgern der DDR das Regime dazu zu zwingen, die deutsch-deutsche Grenze zuöffnen. Eine große Ausreisewelle, die sich vor allem über die deutschen Botschaften in Ungarn und der Tschechoslowakei erstreckte, ging dieser Maßnahme voraus. Diese neue Sutuation wurde auch durch die Politik des sowjetischen Generalsekretärs Gorbatschow begünstigt, der durch seine Schlagworte ,,Perestrojika" und ,,Glasnost" maßgeblich zur Entspannung zwischen Ost und West beigetragen hatte. Eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stand damit kurz bevor. Allerdings regten sich in ganz Europa mehr oder weniger große Ängste vor dem neuen Deutschland, das nun zum bevölkerungsreichsten Land der EG avancierte.
Doch alle Befürchtungen wurden nicht bestätigt. Im Jahre 1993öffneten viele Länder der EG ihre Grenzen, und ermöglichten damit eine reibungslose Grenzpassage ohne Paßkontrollen. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen in Europa verfestigten sich immer mehr. Unter diesen Voraussetzungen beging die europäische Bevölkerung den 50. Jahrestag des Kriegsendes. Die WN berichtet dazu auf der Titelseite der Ausgabe zum 8. Mai ausgeglichen von deutschen und internationalen Feierstunden.
Viele Redner auf regionalen Veranstaltungen in Deutschland riefen dazu auf, ,,die Erinnerung und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs wach(zu)halten und daraus Verpflichtungen für die Gegenwart und Zukunft (zu) übernehmen."
Bundesweit wurde der Kapitulation mit ,,Feierstunden, Gedenkmärschen, Konzerten, Kranzniederlegungen und Gottesdiensten" gedacht. Bei einer ,,Demonstration zum Gedenken an die Zerschlagung des Faschismus" kam es zu Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Demonstranten und der Polizei.
Bedeutend scheinen die britischen Gedenkveranstaltungen gewesen zu sein, da an den Feiern neben Bundeskanzler Kohl und Bundespräsident Herzog auch ,,Könige und Königinnen, Präsidenten und Regierungschefs aus 56 Ländern" teilnahmen.
Diese Veranstaltungen werden von der Zeitung als ,,Feiern der Dankbarkeit über die zerschlagung der Tyrannei" beschrieben.
Die einzige Stimme, die die Zeitung zu diesem Jahrestag wiedergibt, ist die der englischen Königin Elizabeth II., die auf einem Festbankett ,,die tiefe und dauerhafte Versöhnung zwischen Großbritannien und Deutschland gewürdigt" hatte. Im Gedenken an die hohe Zahl der Opfer sagte sie, daß ,,niemals die Millionen Opfer der sechs langen Jahre unter Soldaten und Zivilisten auf allen Seiten, nicht die Opfer und die Leiden Unschuldiger - darunter vor allem die Juden - vergessen" werden dürften.
Vor allem der entspannte Umgang miteinander trotz eines so brisanten Themas fällt in diesen kurzen Zeilen ins Auge. Das läßt sich vor allem durch das Ende des Kalten Krieges, des Wettrüstens, das eine ständige Bedrohung vor allem durch atomare Waffen implizierte, die seit langem guten Beziehungen der europäischen Länder untereinander und durch die wirtschaftlichen Beziehungen erklären.
Außerdem zeichnete sich schon 1995 schon ab, daß die europäische Einigung nicht nur an den offenen Grenzen haltmachen würde. Schon zu diesem Zeitpunkt diskutierten die Politiker über eine Währungseinheit.
7. Schlußbetrachtung
Durch die Betrachtung der Zeitungsberichte lassen sich also Veränderungen im Umgang mit der Vergangenheit feststellen, die in offensichtlicher Weise auch die tagespolitischen Fragen mitgestaltet haben. Deutlich zu erkennen ist die Wandlung im Umgang mit dem 8. Mai von der deutschen Seite aus. Hier wird sukzessive immer selbstbewußter mit der Vergangenheit umgegangen, die aus ihr gezogenen Lehren werden sowohl auf den innenpolitischen wie auf den außenpolitischen Alltag übertragen.
Aus diesem Verhalten läßt sich rückschließend auch eine Veränderung der Reaktionen des Auslands festmachen, die sich von vorsichtiger Distanz zu Deutschland über positive politische wie wirtschaftliche Annäherung (vor allem im Hinblick auf ein geeintes Europa hin zu Aussöhnung) darstellt.
Auffällig ist besonders, daß sich nur 1965 die Frage nach der deutschen Wiedervereinigung finden läßt. Es scheint auch so, als ob die Teilung im Laufe der Zeit immer mehr akzeptiert worden sei, daß man ,,gutnachbarliche Beziehungen" als wichtiger angesehen hätte. Daß dem nicht so war, muß nicht extra betont werden.
Wie schon in der Einleitung angemerkt, ist es nicht ausreichend für eine repräsentative Studie zum Umgang mit dem 8. Mai nur eine Zeitung zu verwenden. Das Risiko, Dinge falsch oder aus einem zu engen Gesichtsfeld darzustellen, ist zu offensichtlich, und wahrscheinlich auch in dieser Arbeit deutlich zu bemerken.
Ziel der Arbeit war es, im kleinen Umfang anhand einer Zeitung den Umgang mit Geschichte und Geschichtsbewußtsein zu dokumentieren. Wenn eine einseitige Darstellung der Geschehnisse einer Zeitspanne von fünfzig Jahren erkennbar wird, so hat die Arbeit wenigstens in kleinem Rahmen zur Bildung von kritischem Geschichtsbewußtsein vor allem durch die Verwendung von Zeitungsartikeln als Primärquelle beigetragen. Es obliegt schlußendlich dem jeweiligen Redakteur, in wie fern er diesen oder jenen Punkt trotz größtmöglicher Objektivität (die ich hier grundsätzlich unterstellt habe) für erwähnenswert erachtet oder nicht.
1 An dieser Stelle möchte ich mich für die freundliche Unterstützung der Mitarbeiter des Stadtarchivs Münster bedanken, die mir bei der Suche der Materialien mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben.
2 Im Folgenden unter dem allgemeinen Kürzel ,,WN" angegeben.
3 Vergleiche hierzu auch die aktuelle Debatte, die durch das Buch ,,Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" (Berlin 1998) von Daniel J. Goldhagen entfacht wurde.
4 Baumert, Wolfgang: Des Deutschen Vaterland.
5 Wochenendbeilage zum 8./9. Mai 1965: Der totale Zusammenbruch. Vor zwanzig Jahren versank das ,,tausendjährige Reich" in Trümmer.
- Arbeit zitieren
- Stefan Knode (Autor:in), 1999, Der 8. Mai - Zum Umgang mit einem Gedenktag, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98473
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