Naturalismus
Erläutern Sie vor dem Hintergrund des naturalistischen Literaturkonzepts die Probleme, die weite Teile der literarisch interessierten Öffentlichkeit mit der neuen Literatur hatten.
Ein Umbruch in der Literatur bedeutet gleichzeitig auch immer ein großes Loch, welches zwischen den Meinungen und Ansichten der Menschen klafft. Denn etwas Neues stößt ja bekanntlich immer zuerst auf Ablehnung und Missgunst - so auch die naturalistische Literatur, welche die Perspektive auf das kleinbürgerliche Elend verengt und verschärft und somit nichts als die wahre Realität ohne jegliche Veränderungen durch den Schriftsteller darstellt. In ihr wird der deutsche Obrigkeitsstaat und der Kapitalismus kritisiert, die Menschen in ihrer Abhängigkeit von Anlage, Trieb und Umwelt und der daraus resultierenden Handlungsarmut gezeigt. Befreiungsversuche der Helden scheitern und gegen Besitzstreben und falsche Heldenmoral stellt man städtische Elendquartiere und gebrochene Existenzen, wie körperlich und geistige Kranke oder Prostituierte. Doch sind die Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts so weit, eine solche Fülle von Wahrheiten, mit denen sie nun konfrontiert werden, zu verarbeiten und aus ihnen zu lernen? Ist es also notwendig, in der Literatur so direkt zu sein? Oder wäre es vielleicht nicht besser, die Menschen in ihrem ,,heilen" Glauben zu lasen?
Einer von vielen, die sich gegen die naturalistische Literatur aussprachen, war der deutsche Kaiser Wilhelm II. Er kritisierte die neue literarische Strömung unter anderem in seiner Rede anlässlich der Enthüllung eines Denkmals zur preußisch-deutschen Geschichte. Wilhelm II. gab zu verstehen, dass die Darstellung der Realität und somit die Darstellung des Elends der Unterschicht nicht in die Kunst gehört. Den Menschen sollte das Schöne gezeigt werden und nicht, wie jemand, der schon genug Probleme hat, bei dem Versuch sie zu lösen scheitert. Einerseits ist es verständlich, dass man den Menschen ihr Elend nicht noch vorhalten soll. Denn was nützt es einem, ihm seine eigenen Probleme vor Augen zu halten und ihm zu demonstrieren, wie jemand anderes versucht diese zu lösen und daran vielleicht zu Grunde geht. Aus diesem Grund wird dann alles nur noch schlimmer und auswegloser. Außerdem ging sicherlich kein wohlhabender Mann ins Theater, um sich die Probleme des Proletariats anzusehen und zu verherrlichen zu lassen.
Andererseits kann man aus seinen Schwierigkeiten nur lernen, wenn man sieht, dass der Weg, den man eingeschlagen hat, nicht der richtige ist. Den Leuten wurde durch eine so offene und direkte Literatur gezeigt, wie sie ihre Probleme nicht lösen können. Denn üblicherweise lernt man ja nur aus seinen eigenen Fehlern oder den Fehlern anderer. Auch war den Menschen aus den untern Schichten diese Art von Literatur eher verständlich, da sie ihr direktes Umfeld schilderte und somit meistens auch umgangssprachlich war.
Des Weiteren forderte Wilhelm II. von den Schriftstellern, dass die Kunst ihr Ziel zu belehren und zu erziehen nur erreicht, wenn sie die klassischen Ideale pflegt. Er bestand also auf einer Erziehung des Volkes durch die Kunst, indem sie die Ideale von Treue, Sieg und Untertanengeist verherrlicht. Den Adligen und höhergestellten Leuten hätte eine solche Literatur gefallen, da sie ja eigentlich nichts anderes gewohnt waren. In den höheren Kreisen war man durch die jahrhundertlange deutsche Untertanengesinnung geprägt. Und nun sollte man sich einer Literatur unterziehen, in der ihnen die Probleme der Unterschicht vorgezeigt wurden. Natürlich kannte man diese, aber in der Literatur hatte bisher immer noch eine schöne, heile Welt vorgeherrscht, die ihnen nun entzogen werden sollte. Was gehen einen denn die Probleme anderer an, mit denen man nichts zu schaffen hat? Auf der anderen Seite war diese Art von Literatur vielleicht die einzige Möglichkeit die Obrigkeit aufzurütteln, ihr die Probleme des überwiegenden Teils der Bevölkerung klar zu machen, um ihnen so die Augen zu öffnen, dass etwas getan werden musste, dass es so nicht weitergehen konnte. Durch die Texte und Stücke wurde ihnen aufgezeigt, die Bevölkerung ist einfach noch nicht so weit, sich von selbst vollständig von ihren Problemen zu befreien. Aus diesem Grund wäre die Verelendung des Proletariats ohne Hilfe von außen immer weiter fortgeschritten bis es irgendwann einfach zu spät gewesen wäre, um der Bevölkerung aus ihrem Leben an der Existenzgrenze zu helfen.
Ein weitere Vertreter derjenigen, die die naturalistische Literatur kritisierten, war Wilhelm Liebknecht. Er beanstandete in seiner Rede zu einer Parteitagsdebatte der SPD, dass das ,,Jüngste Deutschland" - eine Gruppe naturalistischer Schriftsteller in Anlehnung an das ,,Junge Deutschland" aus der Zeit des Vormärz - eine besondere Vorliebe hatte, alle sexuellen Dinge auszumalen. Wilhelm Liebknecht brachte seine Befürchtungen zum Ausdruck, dieses könnte den ohnehin schon geschundenen Kindern der Unterschicht noch schlimmer zusetzen. Er befürchtete, dass eine Veröffentlichung dieser Schriften in einem öffentlichen Blatt, den Geist dieser Kinder zum Nachteil verändern könnte. Auf jeden Fall ist es richtig, den Kindern nach besten Kräften zu versuchen ihre Kindheit zu bewaren und nicht durch so etwas zerstören zu lassen, denn sie haben ja schon genug an den ärmlichen Lebensverhältnissen zu leiden. Auch heute geraten immer noch zu viele Kinder und Jugendliche durch falsche Medien, wie zum Beispiel Hetzschriften oder andere propagandaartige Schriften, und den vielleicht noch dazukommenden schlechten familiären Verhältnissen auf die schiefe Bahn. Im Gegensatz dazu kann man aber gar nicht hundertprozentig verhindern, dass Kinder mit so etwas in Kontakt kommen. So kann jedoch den Kindern gelernt werden sich darauf nicht einzulassen. Der Wille der Kinder wird somit gestärkt und ihnen so vielleicht ein neuer Weg geöffnet, den die Eltern oder andere nicht gehabt haben. Ihm könnten so völlig neue Perspektiven im Leben ermöglicht werden.
Abschließend muss jedoch gesagt werden, dass es neben den vielen Kritikern aber auch Befürworter der naturalistischen Literatur gab. Ein Beispiel hierfür war Arno Holz, welcher eine Formel aufgestellt hat, wie Kunst sein sollte. Seine Formel Kunst = Natur - x (wobei das x nach Möglichkeit gleich Null sein sollte) kommt der Forderung der naturalistischen Literatur nach einer natürlichen Darstellung der Realität gleich.
Auch wenn die neue direkte Art der Literatur die meisten Menschen doch eher geschockt haben muss, sähe die Kunst ohne sie heute bestimmt anders aus. Vielleicht wären wir dann heute literarisch auch noch nicht viel weiter. Doch meiner Meinung nach war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand versucht durch seine Literatur die Menschen aufzurütteln, um dem Elend der sozial benachteiligten Personen Einhalt zu gebieten. Aber es wird noch lange dauern (wenn überhaupt), bis die Menschen reif genug sind, die Literatur ihrer Zeit völlig zu verstehen und dauerhaft aus ihr zu lernen.
- Arbeit zitieren
- Kathleen Wünsch (Autor:in), 2000, Naturalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98464