Inhaltsverzeichnis
1 Vorwort
2 Die Wurzeln des Staates Israel
2.1 Antisemitismus
2.2 Zionismus
2.3 Yishuv-Zeit
3 Die Sicherheitssituation
3.1 Zwischen Nichtanerkennung und Annäherung
3.2 Der Konflikt mit den Palästinensern
4 Konstruktion der Arbeitshypothese der ,,Belagerungsmentalität"
4.1 Holocaust-Trauma
4.2 Zionistische Ideologie
4.3 Massada-Komplex
4.4 Religiöse Elemente
5 Auswirkungen auf politisches System und innenpolitisches Klima
5.1 Rechtsstaat und Demokratie
5.2 Wirtschaft und Verteidigung
5.3 Bildung und IDF Education Corps
5.4 Innere Bruchlinien
5.5 Die israelische Sicherheitsdoktrin
6 Belagerungsmentalität im Wandel
6.1 Intensivierung des Wahrnehmungsfilters
6.2 Erosion der Belagerungsmentalität
6.3 Ausblick auf den Friedensprozess
7 Epilog
8 Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Vorwort
Bei der Auseinandersetzung mit dem politischen System1 Israels ist es für den Westeuropäer immer wieder frappierend zu sehen, wie omnipräsent ehemalige hohe Militärs in der Politik des Landes sind. Angefangen von Jitzhak Rabin und Menachem Begin über Jitzhak Shamir bis hin zu Ehud Barak blicken die meisten Politiker auf eine Karriere bei der Armee oder einer der Vorgängerorganisationen Haganah, Palmach oder Irgun zurück. Diese ,,personelle Verschmelzung von Vertretern [...] der militärischen Elite und des Staatsapparates verstärkte sich seit Ende der sechziger Jahre"2 zunehmend. In Israel spricht man heute häufig von den ,,Offizieren in grauen Anzügen". Allgemein prägen stark bewaffnete Mitglieder von Armee und Polizei das Strassenbild. Für den Aussenstehenden knüpfen sich daran verschiedene Fragen: Woher kommen die Omnipräsenz der Sicherheitsfrage und die allgegenwärtige Demonstration von Wehrfähigkeit? Und wieviel Einfluss hat das Militär auf die Politik? Wie flexibel kann eine Regierung sein, die sich aus Generälen rekrutiert?
Die vorliegende Arbeit hat zur Aufgabe, die Wechselwirkung zwischen Nahostkonflikt und politischem System in Israel zu untersuchen. Bei der Untersuchung wird wie folgt vorgegangen:
Zur Erhellung der Hintergründe wird kurz die Entstehungsgeschichte des Staates Israel dargelegt. Nach einem Versuch der Klärung der Sicherheitssituation setzt Kapitel 4 die Kernthese der Arbeit auseinander, die sogenannte Belagerungsmentalität. Daran schliesst als zweites zentrales Element eine Untersuchung von deren Auswirkungen auf verschiedene Aspekte des politischen Systems an. Den Abschluss bildet eine Diskussion der Dynamik der Belagerungsmentalität unter dem Einfluss äusserer und innerer Umstände.
Über die Verwendung des Begriffes ,,jüdisch" ist vorweg anzumerken, dass es sich im Kontext dieser Arbeit nicht rein um die religiöse Bezeichnung der Zugehörigkeit zum mosaischen Glauben handelt. Vielmehr ist ,,jüdisch" hier als ein gemeinschafts- und identitätsstiftender Begriff mit Betonung des säkularen Aspektes zu verstehen. Über die Religiosität des betreffenden Personenkreises will damit nichts ausgesagt sein.
2 Die Wurzeln des Staates Israel
Die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 bedeutete die Erfüllung des Traumes der zionistischen Bewegung: die Errichtung einer Nationalen Heimstätte für die über die ganze Welt verstreuten Juden. Die Entstehungsgeschichte des Zionismus unter dem Eindruck eines verstärkten und qualitativ neuen Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts war prägend für sein Wesen und seine Zielsetzungen, und somit in letzter Konsequenz auch für das Wesen des Staates Israel.
2.1 Antisemitismus
Der Zionismus kann nicht abgekoppelt vom Antisemitismus betrachtet und besprochen werden. Bis Mitte des 18.Jhd. waren Pogrome gegen Juden meist sozial motiviert und fanden religiöse Ausdrucksformen. Mit dem Zeitalter der Nationalstaaten und des säkularen Staatsbürgers, der sich hauptsächlich durch seine Volkszugehörigkeit definierte, trat der Antisemitismus in eine neue Phase ein. Die Juden sollten sich nun ihrer Umwelt assimilieren - bestenfalls zum Christentum konvertieren - und damit ihre Kollektividentität als ,,Juden" aufgeben. Vor allem die Juden Westeuropas waren zunächst durchaus bereit, sich zu assimilieren und das Judentum selbst nur mehr als Religionsgemeinschaft zu sehen. Die Alternative für die, die es nicht waren, war der Verzicht auf ,,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" in einer modernen Nation. Wie sich noch zeigen wird, hatten die europäischen Juden aber nicht wirklich eine Wahl.
Der ideologische Grundstein zur Verfolgung der europäischen Judenheit aufgrund ,,rassischer" Merkmale war gelegt. In Zeiten von wirtschaftlichen und sozialen Krisen trat dieser latente rassistische Antisemitismus offen zu Tage. Seinen (vorläufigen?3 ) tragischen Höhepunkt fanden die Wellen rassistischer Pogrome in der systematischen Ermordung von über sechs Millionen Juden durch das Nazi-Regime.
2.2 Zionismus
Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, einen eigenen Staat für die verfolgten Juden zu schaffen. Schon vorher waren immer wieder Juden aus religiösen Gründen nach Palästina ausgewandert. Der erste Zionistische Kongress 1897 in Basel unter der Führung von Theodor Herzl goss den Zionismus in eine neue, politische Form. Er hatte sich ,,für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina"4 zum Programm gemacht. Mit der immer heftigeren Verfolgung unter Hitler wurde Herzls Idee zur Notwendigkeit.
Die nationale Bewegung der Juden, der Zionismus, war keine monolithische Einheit, sondern eher eine Sammelbewegung, aber mit einem gemeinsamen Ziel. Schon 1882 schrieb der Siedler Ze'ev Dubnov in einem Brief:
,,Mein endgültiger Vorsatz ist, zu gegebener Zeit von Palästina Besitz zu ergreifen und den Juden die politische Unabhängigkeit wiederzugeben [...]. Man könnte dieses Ziel erreichen, indem man [...] danach trachtet, das gesamte Land und die gesamte Industrie in jüdische Hände zu bringen."5
Das Ziel war also ein unabhängiger jüdischer Staat, eine räumliche Trennung der Juden von den Nichtjuden. Aus dieser Zielsetzung resultierten folgenschwere Probleme, nämlich was einerseits die Definition von ,,jüdisch" und andererseits die Wahl Palästinas als Siedlungsgebiet anbelangt. Unter ,,Judentum" wird gemeinhin die jüdische Religion verstanden. Der Zionismus Herzls allerdings war keineswegs religiös geprägt. Viele der jüdischen Einwanderer in Palästina waren säkular. Sie sprachen verschiedene Sprachen und kamen aus verschiedenen Kulturen und sozialen Schichten. Was sie einte, war das Verfolgtsein. Wie der Schriftsteller Jean Améry über seine Erfahrungen in Auschwitz schrieb, so fühlten wohl viele: ,,Der Jude war das Opfertier. Er hatte den Kelch zu trinken - bis zum allerbittersten Ende. Ich trank. Und dies wurde mein Judesein."6 Bis heute stellt ein Defizit an kollektiver Identität Israel vor grosse Probleme.
2.3 Yishuv-Zeit
Als Palästina in den Fokus der Siedlungsbestrebungen geriet, geschah dies aus einer Verbindung des Eingedenkens an die historischen Wurzeln des Judentums mit praktischen Erwägungen. Wie Israel Zangwill es formulierte, wurde Palästina als ,,ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land"7 betrachtet.
Zur Besiedlung des Landes musste also die einheimische palästinensische Volksgruppe ignoriert werden. Die Instrumentalisierung religiöser und geschichtlicher Elemente diente der ,,ideologische(n) Vorbereitung einer Verdrängung jener nicht ins eigene Konzept passenden Gruppe."8 Die religiös- historische Verbindung der Juden als Volk Israel mit Palästina trat in den Mittelpunkt der zionistischen Propaganda und fand schliesslich auch Niederschlag in der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel. David Ben Gurion formulierte:
,,Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig. Hier schuf es eine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das Ewige Buch der Bücher. [...] Beseelt von der Kraft der Geschichte und Überlieferung, suchten Juden aller Generationen in ihrem alten Lande wieder Fuß zu fassen. Die Katastrophe, die in unserer Zeit über das jüdische Volk hereinbrach [...] bewies unwiderleglich aufs Neue, daß das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit durch die Wiederherstellung des jüdischen Staates im Lande Israel gelöst werden muß."9
Der Konflikt um das Land nahm die Form eines demographischen Konfliktes an. Dementsprechend gestaltete sich die jüdische Siedlungsstrategie: erworbenes Land wurde ausschliesslich von Juden bewohnt und nach dem Prinzip der ,,avodah ivrith" (,,Hebräische Arbeit") bestellt. So wurde jedes von Juden bearbeitete Stück Land zu potentiellem Staatsgebiet für einen jüdischen Staat. Der Widerstand der Palästinenser richtete sich daher gegen jegliche Zuwanderung von Juden, ,,statt mit allen Kräften dagegen zu kämpfen, daß vor ihren Augen ein Staat vorbereitet wurde der sie von entscheidenden Rechten ausschließen würde"10.
In den zwanziger Jahren kam es immer häufiger zu Zusammenstössen zwischen Arabern und jüdischen Siedlern. Das ,,Divide et Impera"-Prinzip der Besatzungs- und später Mandatsmacht Grossbritannien war mit ein Faktor für die sich zunehmend verhärtenden Fronten zwischen den Konfliktparteien. Nachdem Grossbritannien in der Balfour-Erklärung 1917 seinen Willen bekundet hatte, die jüdischen Bestrebungen zur Errichtung einer Nationalen Heimstätte zu unterstützen, fühlten sich die ,,Araber [...] in ihren nationalen Hoffnungen enttäuscht"11, in denen sie von den Briten nur zwei Jahre zuvor bestärkt worden waren. Als die britische Regierung 1939 zur Entschärfung der konfliktgeladenen Situation ein Weissbuch veröffentlichte, das die BalfourErklärung in Teilen aufhob, die Einwanderung drastisch einschränkte und sich dezidiert gegen die Errichtung eines jüdischen Staates aussprach, entbrannte ein jüdischer Befreiungskampf gegen die Mandatsmacht.
Die jüdisch-arabischen Spannungen fanden einen vorläufigen Höhepunkt im Unabhängigkeitskrieg von 1948. Durch die Gründung des Staates Israel wurden sie festgeschrieben.
Israel stellt sich heute qua Definition als ethnisch-nationaler jüdischer Staat dar, der als solcher die Palästinenser prinzipiell von Bürgerrechten ausschliesst und ausschliessen muss.
3 Die Sicherheitssituation
Die Lebensrealität in Israel ist spätestens seit dem Tag eins von militärischer Auseinandersetzung geprägt, einer Art »permanenter Kriegszustand«. Dieser »Kriegszustand« wird auf mehreren Ebenen ausgetragen. Seit 1948 gab es sechs internationale Kriege oder Krisen, an denen Israel aktiv oder passiv beteiligt war, begonnen mit dem Unabhängigkeitskrieg 1948/49, fortgesetzt mit dem Suez-Sinai-Krieg 1956, dem Sechs-Tage-Krieg 1967, dem Yom- Kippur-Krieg 1973 und dem Libanon-Krieg 1982, bis hin zum Zweiten Golfkrieg 1990/91, in dessen Verlauf Israel von irakischen Scud-Raketen beschossen wurde. Neben dieser internationalen Ebene existiert eine zweite, die konsequenterweise aus der Definition von Staat und Nationaler Sicherheit als ethnisch-jüdisch resultiert. Diese führte zu einem Quasi-Kriegszustand mit einem Teil der Bevölkerung - den arabischen Israelis (das ,,Dritte Israel"12 ) und den Palästinensern aus den besetzten Gebieten -, der während der Intifada einen Höhepunkt erlebte. Zu dieser intrastaatlichen Dimension tritt noch die Bedrohung durch Terrorattentate palästinensischer Freiheitskämpfer vom sicheren Territorium benachbarter Staaten aus und die Angriffe der Hizbollah- Miliz aus dem Südlibanon. Häufig wird Israels Kampf gegen Terrorismus und Intifada als »subconventional warfare«13 bezeichnet.
Peter Tautkus unterscheidet in Anlehnung an Dietrich Jung drei Konfliktebenen: die israelisch-arabische, die israelisch-palästinensische und die jüdisch-muslimische14, wobei letztere sicherlich als Resultat politisch instrumentalisierter religiöser Inhalte verstanden werden kann.
3.1 Zwischen Nichtanerkennung und Annäherung
Ein zentrales Charakteristikum des Palästinakonfliktes war lange Zeit gegenseitige Nichtanerkennung: während die Existenz eines jüdischen Staates von der Mehrheit der arabischen Staaten und insbesondere von den Palästinensern beharrlich ignoriert wurde, verweigerte Israel seinerseits jahrzehntelang die Kenntnisnahme eines palästinensischen Volkes. Die Anerkennungsverweigerung seitens der Palästinenser basierte auf einer grundsätzlichen Ablehnung des Zionismus als ,,kolonialen [und - wie eine UN- Resolution 1975 bestätigte - rassistischen15 Eroberungsfeldzug, der ihnen das Land nahm."16 Für die jüdischen Einwanderer allerdings stellte sich Palästina vor dem Hintergrund des Holocaust als einzig sicherer Zufluchtsort dar. Erst im Verlauf von mehreren Kriegen und Jahrzehnten löste sich der starre Antagonismus der gegenseitigen Ignoranz teilweise auf, wie später gezeigt wird.
Die gegenseitige Nichtanerkennung prägt auch die spezifische Konfliktform der Auseinandersetzungen um Palästina. Die Auseinandersetzung zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern ist kein militärischer Konflikt im konventionellen Sinne, in dem sich zwei oder mehrere Armeen gegenüberstehen, wie auch die Bezeichnung ,,subconventional warfare" auszudrücken versucht. Vielmehr lässt sich eine Einbeziehung von Zivilisten und von verschiedensten zivilgesellschaftlichen Bereichen in den Konflikt feststellen. Peter Tautkus spricht sogar von einer durch Unterschiedslosigkeit zwischen zivilen und militärischen Gegnern geprägten Gewaltform, deren Ziel die Vernichtung des Gegners ist.17 Dies trat vor allem während des Libanonkrieges zu Tage, in dessen Verlauf Tausende palästinensische Zivilisten ermordet wurden, ebenso wie bei der Bekämpfung der Intifada in den besetzten Gebieten. Auf der palästinensischen Seite kann diese Gewaltform bei terroristischen Bombenanschlägen auf israelische Zivilisten konstatiert werden.
Was die Beziehungen zwischen Israel und zwei seiner arabischen Nachbarn
anbelangt, war nach dem Yom-Kippur-Krieg eine tendenzielle Entspannung der Situation zu beobachten. Diese Trendwende begann sich mit den ägyptisch-israelischen Verhandlungen in Camp David 1978 abzuzeichnen, die 1979 mit einem Friedensvertrag besiegelt wurden. Bereits 1977 hatte Ägypten als erster arabischer Staat Israel anerkannt. Mit dem Libanon-Krieg, in dessen Verlauf die Operationsbasis der PLO in Beirut zerstört wurde und Israel eine ,,Sicherheitszone" im Südlibanon erobern konnte, wendete sich ein weiteres Blatt zugunsten Israels. Die SLA (d. i. Südlibanesische Armee), eine christlich- sunnitische Miliz, die Israel innerhalb der Sicherheitszone als Verbündeten
ausgerüstet und finanziert hatte, tat nun das ihre, um Angriffe auf den Norden Israels von libanesischem Gebiet aus zu verhindern. Die Regierung Begin und die grosse Koalition unter Shimon Peres hatten es geschafft, verschiedene Gefahren zu bannen. 1994 versprach der Friedensschluss zwischen Israel und Jordanien eine weitere Entspannung der internationalen Situation im Nahen Osten. Die Friedensverhandlungen mit Syrien und Libanon jedoch geraten immer wieder ins Stocken.
3.2 Der Konflikt mit den Palästinensern
Die vernichtende Niederlage der arabischen Armeen im Sechs-Tage-Krieg und später die Entspannung der israelischen Beziehungen zu Ägypten und Jordanien brachten es mit sich, dass Israel zunehmend weniger von feindlichen Armeen, sondern von palästinensischen Fedajin [d. i. ,,die Opferbereiten"] angegriffen wurde. Es kam zu einem schrittweisem Wechsel der Konfliktebenen von der internationalen zur israelisch-palästinensischen. Die palästinensischen Flüchtlinge, die über die verschiedenen arabischen Staaten verstreut auf die Lösung des Flüchtlingsproblemes durch die arabischen ,,Brüder" hofften, fühlten sich von diesen nicht vertreten und in den desolaten Verhältnissen der Flüchtlingslager im Stich gelassen. Der Vertrauensverlust bereitete den Boden für ein palästinensisches Selbstbewusstsein: die Palästinenser begannen sich zu emanzipieren und - zu formieren. In der Folgezeit profilierte sich die 1964 in Kairo gegründete Dachorganisation Palestinian Liberation Organization PLO zum Sprachrohr und zur vehementesten Verfechterin der palästinensischen Sache. In der Palästinensischen Nationalcharta von 1968 hatte man Verhandlungen eine kategorische Absage erteilt und explizit den bewaffneten Kampf als einzigen Weg zur Befreiung Palästinas abgesteckt.18 Die PLO nahm federführend diesen Befreiungskampf auf, der von den Nachbarstaaten aus in Form von Guerillaaktionen und Terroranschlägen israelisches Gebiet infiltrierte. Um der palästinensischen Sache in der Weltöffentlichkeit stärkeres Gehör zu verleihen, trat PLO-Chef Yassir Arafat 1974 vor die Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York. Dies war der erste Schritt, der den palästinensischen Befreiungskampf auf eine zunehmend politische und diplomatische Schiene lenken sollte - ein Schritt, der innerhalb der PLO heftig umstritten war. Die schwelenden Differenzen über die richtige Taktik und interne Machtkämpfe eskalierten in voller Intensität nach dem für die PLO verheerenden israelischen Libanonfeldzug 1982: es kam zu heftigen Flügelkämpfen zwischen den Anhängern von Arafats diplomatischem Kurs und radikalen Gruppierungen. Obwohl stark angeschlagen, konnte Yassir Arafat dennoch seine Position verteidigen. Je mehr jedoch die PLO sich Israel annäherte, desto weniger repräsentierte sie die politischen und sozialen Hoffnungen der palästinensischen Bevölkerung, und desto mehr verlor sie an Bindekraft. Die Folge war eine merkliche Radikalisierung der Menschen, von der radikale und fundamentalistische Gruppierungen wie die Hamas und die Gruppe Islamischer Djihad profitierten.
Die Intifada stellte die israelischen Sicherheitskräfte vor eine gänzlich neue Situation: die zunehmende Unzufriedenheit in den Flüchtlingslagern - auch mit der PLO-Führung - brach sich nun Bahn in einem Kampf Steine werfender palästinensischer Jugendlicher gegen eine Übermacht schwer bewaffneter israelischer Soldaten. Zunehmend unangenehm wurde der Aufstand auch bald aufgrund seiner wirtschaftlichen Folgen. Einem Bericht der Bank Hapoalim vom Dezember 1989 zufolge hatte die Intifada bereits in den ersten zwei Jahren Kosten in Höhe von fast einer Milliarde Dollar verursacht.19 Schuld daran waren Generalstreiks und Boykott: ,,Der palästinensische Boykott israelischer Waren in Gaza und Westbank führte zu einem Exportrückgang von mehr als 30 Prozent."20
In den Folgejahren kam es - auch auf diplomatische Bemühungen der USA hin - zu einer schrittweisen Annäherung und schliesslich Friedensverhandlungen zwischen Israel und der PLO, die 1993 in Oslo einen historischen Durchbruch erlebten. Die PLO wurde zum Verbündeten Israels. Israel war ,,nun daran interessiert, die PLO zu unterstützen, damit sie auf der politischen Bühne überlebt."21 Die Annäherung zwischen Israel und Arafat hatte allerdings auch die Entfremdung vieler Palästinenser von der PLO zur Folge, die radikaleren Kräften weiteren Auftrieb gab.
Mit dem Gaza-Jericho-Abkommen (Oslo I) war ein Rahmenvertrag geschlossen worden, der eine Autonomie in bestimmten Gebieten vorsah, dessen Umsetzung jedoch bis heute immer wieder auf Widerstände stiess. Zum Teil wurde sie durch Terroranschläge islamischer Fundamentalisten oder durch radikale jüdische Siedler sabotiert, zum Teil durch die PLO oder die israelische Regierung selbst - insbesondere die Regierung Netanjahu - konterkariert. Die Fragen der Siedlungspolitik Israels, der Bekämpfung des Terrorismus und nicht zuletzt die Streitfrage Jerusalem belasten den Friedensprozess enorm. Ob sie ihn aufzuhalten vermögen, bleibt abzuwarten. Die wirtschaftliche und soziale Situation in den besetzten Gebieten indes verschlechtert sich eher, als dass sie besser würde - ein Sprengstoff, der das Pulverfass bereits 1987 zum Explodieren brachte.
4 Konstruktion der Arbeitshypothese der ,,Belagerungsmentalität"
Bei der näheren Betrachtung von Konflikten und Kriegen muss immer wieder festgestellt werden, dass ein Konflikt selten spurlos am politischen Handeln und politischen System der beteiligten Staaten vorübergeht. Der russische Präsidentschaftswahlkampf 1999 beispielsweise wurde zu einem wichtigen Teil mit dem Thema Terrorismus von Seiten tschetschenischer Rebellen bestritten. Ausschlaggebend und prägend für die Rückwirkung ist in jedem Fall die Perzeption der eigenen Situation und deren Umsetzung.
Da Krieg und Konflikt, wie wir gesehen haben, die israelische Geschichte in einem extremen Masse geprägt haben, kann das politische System Israels nicht verstanden werden ohne eine Analyse seiner Beeinträchtigung durch den Nah- Ost-Konflikt.
Der Nah-Ost-Konflikt scheint durch einen Filter von kollektiven Wahrnehmungen rezipiert zu werden. Verschiedentlich wird dieses Phänomen als ,,Belagerungsmentalität" bezeichnet. Der israelische Wissenschaftler Yoram Peri spricht in Anlehnung an eine Untersuchung von Karl W. Deutsch von einer ,,Religion der Sicherheit".22
Die israelische Politik ist demzufolge die Reflexion miteinander verflochtener Faktoren, in der sich in besonderer Weise Erfahrungen der jüdischen Geschichte, insbesondere der Sho'ah (d. i. Holocaust), Mythen und Ideologien mit Politik und Sicherheitsfragen vermischen. In diesem System von Perzeptionen fanden verschiedenste Elemente ihren Niederschlag.
4.1 Holocaust-Trauma
Eines der wichtigsten dieser Elemente war und ist mit Sicherheit der Holocaust und das dadurch ausgelöste Trauma. Durch die Brille der Massenvernichtung von Juden ist die Verweigerung von arabischer und palästinensischer Seite, die Existenz der ,,Jüdischen Nationalen Heimstätte" anzuerkennen, völlig neu zu bewerten. Hier tritt zu einer realen Bedrohungssituation ein weiterer Aspekt: die Angst vor der endgültigen Vernichtung und Ausrottung des jüdischen Volkes. Diese Angst ist nicht aus der Luft gegriffen, leistete doch die arabische Rhetorik einen gewichtigen Beitrag zur Verschärfung der
Bedrohungswahrnehmung. Israels Nachbarn erklärten sich nur allzu bereit, ,,die aggressive zionistische Anwesenheit in unserer arabischen Heimat zu zerschmettern"23 oder ,,den Israelis die Verschiffung in ihre Heimatländer [zu] erleichtern."24 Dass die arabischen Armeen tatsächlich die Kampfkraft hatten, dieses Ziel durchzusetzen, ist - schon aufgrund der Heterogenität der Motive der jeweiligen Regierungen - zu bezweifeln. Man darf wohl annehmen, dass den israelischen Militärs dies am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges nach den überaus erfolgreichen Militäraktionen 1948 und 1956 bewusst war. Die israelische Armee war den arabischen Armeen technisch und aufgrund der hohen Motivation ihrer Soldaten überlegen. Der Yom-Kippur-Krieg stellte diese Überlegenheit erstmalig ernsthaft in Frage und intensivierte die Bedrohungswahrnehmung stark. In Israel und insbesondere bei den Überlebenden der Sho`ah riefen die Konflikte schreckliche Erinnerungen wach, die zusätzlich geschürt wurden durch die Betonung und teilweise Instrumentalisierung der Holocaust-Symbolik durch beispielsweise die Regierung Begin.
Die Bedrohungsperzeption wird noch verstärkt durch die reale geographische und eine subjektiv-emotionale Isolation. Zur Beschreibung der Situation Israels wird häufig die ,,David gegen Goliath"-Symbolik ins Feld geführt. So sah man sich einerseits allein inmitten der arabischen Welt, umgeben von einer Übermacht von Staaten, die als feindlich wahrgenommen wurden, und zudem als jüdischer Staat von einer nichtjüdischen, also potentiell antisemitischen Welt in dieser Konfrontation weitgehend allein gelassen. ,,Die Verschmelzung der beiden Belagerungszustände (die ,,Belagerung" im Nahen Osten und die in Europa zur Zeit des Dritten Reiches; Anm. d. Autorin) zu einem [...] ist tatsächlich ein historisch geprägtes geistiges Phänomen."25
4.2 Zionistische Ideologie
Der Zionismus war seinerzeit angetreten, dem Ausgeliefertsein des jüdischen Volkes ein Ende zu bereiten. ,,Autoemancipation", der Titel des Werkes des Zionistenführers Leon Pinsker aus dem Jahre 1882, stand Pate. ,,So weit sind wir gesunken, daß wir fast übermütig werden vor Freude, wenn [...] ein Bruchteil unseres Volkes mit den Nichtjuden gleichgestellt wurde. Wer gestellt werden muß, steht bekanntlich schwach auf den Füßen."26 Nun endlich sollte sich das Judentum wieder auf seine eigenen Füsse stellen und seine Geschicke in einem eigenen souveränen Staat selbst in die Hand nehmen. Die die israelische Politik prägende zionistische Ideologie setzte den zähen, bodenständigen Pionier (Chaluz) und verteidigungsbereiten Wächter (Shomer) als Antithese zum ausgelieferten Diaspora-Juden. ,,Dieses Ethos des kämpfenden zionistischen Juden stand in krassem Widerspruch zu der jahrhundertelangen jüdischen Existenz in der Galut [hebr.: Exil; Anm. d. Autorin] und der traumatischen Realität von Auschwitz."27
4.3 Massada -Komplex
So verdichteten sich das Holocaust-Trauma und zionistische Elemente zum Massada-Komplex 28. Der pathetische Ausspruch ,,Massada darf nie wieder fallen!" steht für die Bereitschaft, den als belagerte Festung begriffenen Staat Israel bis zum äussersten zu verteidigen. Der Massada-Mythos spielt vor allem in der Strömung des Revisionismus eine wichtige Rolle. Zentral ist in dieser Ideologie die ,,Selbstaufopferung im Kampf (und) das Martyrium für die Sache der nationalen Unabhängigkeit"29, die vor allem im Massada-Aufstand und in der Bar-Kokhba-Rebellion verwirklicht gesehen wird. In diese Symbolik des jüdischen Widerstandskampfes gegen jede äussere Bedrohung liess sich auch der Aufstand im Warschauer Ghetto integrieren, der so die Geschichte der Juden im Dritten Reich in ein anderes, heroischeres Licht zu rücken vermochte. Unter diesem Aspekt ist auch die stückweise Aufgabe der ursprünglichen arbeiterzionistischen Politik der Havlagah (hebr.: Zurückhaltung) zugunsten einer Politik der Vergeltung und der offensiven Verteidigung über die Grenzen des Staates hinaus während der ersten Jahre nach der Staatsgründung zu sehen. Vor dem Hintergrund der drohenden Vernichtung des jüdischen Volkes wurde jeder militärische Akt als Akt der Selbstverteidigung begriffen und legitimiert. ,,Der beste Schutz vor einem neuen Holocaust sind [...] die israelische Wachsamkeit und die israelische Kampfkraft."30 So wurde es auch möglich, die Repressionen gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten als Verteidigung des ,,jüdischen David" gegen den ,,arabischen Goliath" und vor allem als Schutz vor einem erneuten Genozid zu rechtfertigen: ,,... zwischen den Nationalsozialisten und den Palästinensern entstanden im kollektiven Bewußtsein der Juden in Israel Parallelen und Kontinuitäten, was die Wahrnehmung der realen politischen Situation bis auf den heutigen Tag verzerrt."31 Menachem Begin sah sich während des Libanon-Feldzuges gar als Kommandeur einer Streitkraft, ,,die vor Berlin steht, wo sich - unter unschuldigen Menschen versteckt - Hitler und seine Bande in tiefen unterirdischen Bunkern versteckt halten."32 Mag die Einschätzung der Kräfteverhältnisse als David-Goliath-Konstellation in manchen Fällen auch zugetroffen haben, so erwies sie sich doch öfter als Fehleinschätzung. In Einzelfällen wird zudem deutlich, dass diese Symbolik von israelischer Regierung und/oder Militär bewusst eingesetzt und strapaziert wurde, um tatsächliche Sachverhalte und Hintergründe zu überdecken.
4.4 Religiöse Elemente
Auch religiöse Elemente fanden Eingang in die israelische ,,Religion der Sicherheit". Vor allem ein israelisch-jüdischer Anspruch auf Palästina als das biblisch überlieferte Erez Yisrael, das Gott den Juden verheissen hat, wird so insbesondere von revisionistischer Seite zu legitimieren versucht. Dieser Argumentation folgend wäre es Israel beispielsweise unmöglich, auf die besetzten Gebiete im Westjordanland zu verzichten, da sie mit ,,Judäa" und
,,Samaria" Kernsiedlungsgebiete des historischen Volkes Israel und wichtige kultische Stätten wie das Patriarchengrab bei Hebron umfassen. Es finden sich auch extreme Positionen, die einen jüdischen Anspruch auf ,,Erez Yisrael ha- Shlemah" (hebr.: das ganze Land Israel), auf Gebiete beiderseits des Jordan, geltend machen wollte. Häufig wird der Palästina-Konflikt sogar als überwiegend religiöser Konflikt dargestellt. Diese Auffassung ist sicherlich die Folge einer zunehmenden Bemäntelung politischer und strategischer Positionen mit religiöser Rhetorik, die sowohl auf jüdischer als auch auf muslimischer Seite beobachtet werden kann. Am Kern der Auseinandersetzung geht sie jedoch m. E. vorbei. Das Beharren Israels auf den Gebieten der Westbank ist vielmehr von zentraler Bedeutung sowohl für die Sicherheit des Staates als auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ohne diese Ländereien wäre das israelische Gebiet an manchen Stellen nur 12 Kilometer breit und damit extrem verwundbar. Zudem versorgen die besetzten Gebiete die israelische Wirtschaft mit Absatzmärkten, Ressourcen (wie z. B. Wasser) und billigen Arbeitskräften. Die Besiedlung der eroberten Westbank unter strategischen Gesichtspunkten wurde daher nach 1967 nicht nur von religiösen und national-konservativen Parteien befürwortet, sondern auch von der säkularen Arbeitspartei und ihren Koalitionsregierungen vorangetrieben.
5 Auswirkungen auf politisches System und innenpolitisches Klima
Die Frage der Nationalen Sicherheit nimmt eine Schlüsselposition im Denken und Handeln der israelischen Gesellschaft ein. Insofern nimmt auch der oben beschriebene Wahrnehmungsfilter zwangsläufig Einfluss auf die Einschätzung der politischen und strategischen Lage Israels. Sicherheitspolitische Aspekte prägen die gesamte Politik, wobei die Grenzen hier ziemlich fliessend sind. Wie der frühere irische Diplomat Conor Cruise O'Brien feststellt: ,,Wenn man sich im Belagerungszustand befindet, ist es schwierig, eine genaue Trennung zwischen der militärischen und der politischen Sphäre vorzunehmen."33 Die Bandbreite des Begriffes ,,Sicherheit" ist in Israel niemals klar definiert worden, weshalb im Prinzip alles Politische im weitesten Sinne mit Nationaler Sicherheit zu tun hat. Der damalige Verteidigungsminister Moshe Dayan brachte diese Einschätzung 1971 mit seinem Ausspruch ,,Israel hat keine Aussenpolitik, nur eine Verteidigungspolitik"34 auf den Punkt. Aber die Verquickung geht noch weiter, bis weit in eigentlich innenpolitische Bereiche hinein. Shimon Peres umriss die Reichweite dieses erweiterten Sicherheitsbegriffes, ,,when he defined Israel's security as including aliyah, absorption, settlement, control of skies and the sea, and scientific and technological development."35
Während in Deutschland und anderen westlichen Staaten eine zunehmende Politikverdrossenheit beklagt wird, kann in Israel davon keine Rede sein. Durch die Allgegenwart der Sicherheitsproblematik rückt die Politik in den Fokus jedes einzelnen und prägt dessen Leben. Auch in der zivilen Öffentlichkeit ist die Sicherheit des Staates omnipräsent.36 Welche Rolle der spezielle Wahrnehmungsfilter, die ,,Religion der Sicherheit" dabei spielt, soll im folgenden exemplarisch an einigen Beispielen untersucht werden.
5.1 Rechtsstaat und Demokratie
In der Unabhängigkeitserklärung von 1948 verpflichtete sich der neue Staat zur Gewährung ,,voller sozialer und politischer Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied der Religion, der Rasse und des Geschlechts."37 Betrachtet man die politische Realität in Israel allerdings, so muss man feststellen, dass praktisch drei verschiedene Rechtsprechungen zur Anwendung kommen: eine für »Normalbedingungen«, gültig für jüdische Israelis; zweitens die Notstandsbestimmungen, die enorme Restriktionen von Grundrechten erlauben und bis 1966 flächendeckend für arabische Israelis galten; und drittens ein Rechtssystem der Militärverwaltung in den besetzten Gebieten, in Kraft seit 1967;
Arabischen Israelis oder israelischen Arabern stand Jahrzehnte lang nur der Status der mehr oder weniger geduldeten Aussenseiter offen. 1948 unterstellte der israelische Staat seine arabischen Bürger einer Militärregierung. Arabisches Land und Häuser wurden nun zu Siedlungszwecken beschlagnahmt. Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Ausgangssperren, Passierscheine und Aufenthaltsbeschränkungen gehörten zur Lebensrealität. Das Recht auf politische Versammlungs- und Organisationsfreiheit war lange Zeit tabu. Politische Kontrolle der arabischen Bürger sollte Israel Sicherheit garantieren. Erst 1966 wurde die Militärverwaltung über arabische Israelis formell aufgehoben, wobei man sich von einigen ihrer wesentlichen Elemente jedoch nicht trennte, sondern sie in abgemilderter Form aufrecht erhielt. Das Verhältnis israelischer Staat - arabische Bürger ist ambivalent und komplex.
Nach dem Gesetz haben Araber in Israel die gleichen Rechte und Pflichten wie jüdische Staatsbürger. Aufgrund der besonderen Konfliktsituation jedoch ist das Verhältnis vieler jüdischer Israelis zur arabischen Minderheit von Misstrauen geprägt. Häufig werden sie als Angehörige des ,,Arabischen Volkes", mit dem man sich schliesslich im Konflikt befindet, als ,,Fünfte Kolonne" empfunden. Von besonderem Gewicht ist in diesem Zusammenhang der fast ausnahmslose Ausschluss arabischer Israelis vom Militärdienst. Er entfremdet die Betroffenen der israelischen Gesellschaft noch mehr, vor allem da die Armee als soziokulturelle Integrationsinstanz gilt. Mit dem Ausschluss vom Militärdienst sind auch im zivilen Leben gemeinhin gravierende Nachteile verbunden, insbesondere beruflich. Schliesslich kann diese Art staatlicher Diskriminierung auch der Entstehung von Rassismus Vorschub leisten. Doch auch in anderen Bereichen offenbart sich immer wieder die Diskriminierung der arabischen Minderheit, beispielsweise bei der Finanzierung der Kommunen, dem Ausbau der Infrastruktur, beim Landbesitz und im Schulwesen. Im Zuge der Intifada hatte sich diese Situation zunehmend verschärft: ,,The conflict has therefore acquired the nature of a interethnic conflict between rival communities."38 1998 musste Israel vor dem Menschenrechtskommitee der Vereinten Nationen bekennen, daß ,,Araber in Israel bei Ausbildung, Wohnungssuche und auf dem Arbeitsmarkt stark benachteiligt werden. »Die arabische Bevölkerung hat unter den Auswirkungen des Konflikts Israels mit den arabischen Staaten leiden müssen«, erklärte eine israelische Delegation."39
Viele arabische Familien waren bereits während des Unabhängigkeitskrieges aus dem späteren israelischen Stammland ins Westjordanland oder den Gazastreifen geflohen. Im Verlauf des Sechs-Tage-Krieges wurden sie erneut aus ihren Wohnungen vertrieben oder flohen weiter in die benachbarten arabischen Staaten. Die ca. 1,5 Millionen Palästinenser, die in den besetzten Gebieten blieben, unterstanden über Jahrzehnte der Rechtsprechung der israelischen Militärverwaltung. Sie sind keine israelischen Staatsbürger und geniessen daher auch keine Grund- oder Bürgerrechte. Unter der Militärverwaltung gestaltete sich das palästinensische Leben im Gazastreifen und dem Westjordanland ähnlich, wie es vor 1966 bei den arabischen Israelis der Fall gewesen war: Enteignungen, Ausweisungen, Ausgangssperren, Passierscheine, Kontrollen bestimmten den Alltag. Dazu kamen Stromsperren, Unterbrechungen der Wasserversorgung, Verweigerung der Arbeitserlaubnis. Mit Beginn der Intifada nahmen die Repressionen der Militärverwaltung den Palästinensern gegenüber weiter zu, und verschiedene Menschenrechtsgruppen begannen sich für ihr Schicksal einzusetzen.
Die Existenz verschiedener Rechtsprechungssysteme für verschiedene Bevölkerungsgruppen ist unvereinbar mit dem westlichen Demokratiebegriff, da sie in ihrer Konsequenz die selektive Anwendung demokratischer Grundrechte entlang ethnischer Trennlinien bedeutet. Yoram Peri schränkt die Bezeichnung Israels als Demokratie deshalb ein:
,,Israel is a small society [...] whose democracy is a formal one (that is, based on free elections) and not a liberal democracy (based on protection of the rights of minorities and the individual)."40
5.2 Wirtschaft und Verteidigung
Wie zentral der Sicherheitsbereich in der israelischen Politik ist, wird sehr deutlich bei der Betrachtung der Rüstungsausgaben und des Militäretats. Während des Yom-Kippur-Krieges erreichte die Verteidigungsbelastung die Rekordhöhe von beinahe einem Drittel des BIP41. Bis Mitte der 1980er Jahre blieb dieser Posten im Staatshaushalt relativ hoch und konnte dann bis 1994 auf 11,4% des BIP abgesenkt werden. Für das Jahr 1993 wurden die israelischen Militärausgaben auf 6,6 Milliarden Dollar geschätzt. Die enormen finanziellen Belastungen werden zum Teil durch umfangreiche Militärhilfen in Form von Darlehen oder Zuschüssen aus den USA abgefangen. Seit 1987 beläuft sich die US-Militärhilfe an Israel auf jährlich $1.8 Milliarden reinen Zuschuss. Inklusive verzinslichem Darlehen summierte sie sich 1993 auf $3.1 Milliarden.42 Zusätzlich gewähren die USA Israel Wirtschaftshilfen. Das israelische Wehrdienst- und Reserve-Konzept beruht auf einer enorm hohen personellen Mobilisierung. Die Israel Defense Forces bestehen aus einem stehenden Heer von knapp 150.000 Soldaten. ,,Innerhalb von 24 Stunden kann durch ein ausgeklügeltes Mobilisierungssystem die Gesamtstärke auf 645.000 Soldaten [...] erhöht werden."43 Bei einer Einwohnerzahl von etwa 5.5 Millionen sind also etwa 12% der Israelis mobilisierbar. Zum Vergleich: auf ungefähr 80 Millionen Bundesrepublikaner kommen aktuell ca. 430.000 Bundeswehrsoldaten. Der Grundwehrdienst von 3 Jahren für männliche und 2 Jahren für weibliche Rekruten und der Reservedienst verursachen hohe Verdienst- und Produktionsausfälle. Die Höhe dieser sogenannten ,,verdeckten Verteidigungskosten" wurden ,,in den achtziger wie in den neunziger Jahren auf mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes"44 veranschlagt. Indessen gingen die hohen Kosten für den Militärbereich auch an den Bürgern nicht spurlos vorüber, sondern brachten zeitweilig eine merkliche Senkung des Lebensstandards mit sich.45 Vor dem Hintergrund finanzieller Bedrängnis wurde gelegentlich über eine Verkleinerung der Streitkräfte nachgedacht. Generalleutnant Dan Shomron beispielsweise äusserte den Wunsch nach einer Armee, die ,,smaller and smarter"46 sein sollte.
Über Jahrzehnte spielte der Staat eine massgebliche Rolle bei der Planung und Entwicklung der Wirtschaft. Die Anforderungen, die der Nah-Ost-Konflikt und die Einwanderung stellten, verlangten die ,,Militarisierung der Wirtschaft"47 und ein rasches Wachstum der wirtschaftlichen Kapazitäten. Das Mittel zum Zweck waren und sind zum Teil bis heute Staatsinterventionen. Yoram Peri spricht daher von ,,war economy, or state socialism"48 und konstatiert einen engen Militär-Industrie-Komplex.
5.3 Bildung und IDF Education Corps
Bildung und Erziehung spielen in Israel eine enorm wichtige Rolle. Sie sollen sowohl die schwierigen Aufgaben der Identitätsbildung und der Integration von Immigranten erfüllen, als auch den Anforderungen einer modernen Industrienation genügen.49
Während der Yishuv-Zeit existierten entsprechend der unterschiedlichen zionistischen Strömungen verschiedenste Erziehungseinrichtungen. Die Zentralisation des Erziehungswesens unter Federführung der arbeiterzionistischen Regierung Ben Gurion sollte das Schulsystem unabhängig machen von parteipolitisch-ideologischer Prägung. In dem 1953 erarbeiteten ,,Gesetz über die staatliche Erziehung" wurde das staatliche
Schulsystem auf zwei grundsätzliche Richtungen reduziert, eine staatliche und eine staatlich-religiöse. Das Hauptziel dieser Angleichung der unterschiedlichen Unterrichtsinhalte war eine einheitlich identitätsstiftende Ausbildung. ,,It was an aggressively homogenizing measure in a heterogeneous society seeking to define its ethos."50
Diese ,,Zwangseinheit" liess sich in der Form nicht lange aufrecht erhalten. Unter dem Druck der verschiedenen Gruppierungen fächerte sich das Schulsystem zum Teil wieder auf. Zu den genannten traten ein ,,staatlich- radikal orthodoxer" Schulzweig, ein staatlich anerkannter Schultyp der Partei Agudat Yisrael (hebr.: Vereinigung Israels), und verschiedene unabhängige religiöse Schulen, so zum Beispiel Talmudschulen und Yeshiwot. Auf staatlich unabhängiger religiöser Seite zog dieses Erziehungssystem zeitweise die Tendenz zur Segregation und Radikalisierung nach sich. Für das staatlich vereinheitlichte Schulwesen hingegen bedeutete es eine teilweise Abkoppelung der Lehrpläne vom soziopolitischen Prozess des Staates.51 So scheint das israelische Schulsystem letztlich aufgrund seiner Struktur überfordert, eine normative politische Grunderziehung zu gewährleisten: ,,... a systematic effort to inculcate democratic values and norms has never been integrated into the formal curriculum of the Israeli educational system."52 Einen entscheidenden Teil der politischen Erziehung übernehmen im Sinne des Selbstverständnisses der Armee als ,,Schule der Nation"53 die Education Corps der IDF (d. i. Israel Defense Forces). Inwieweit sich aus diesem Sachverhalt Rückschlüsse auf die Fragestellung dieser Arbeit ziehen lassen, wird nun zu untersuchen sein.
In seiner Funktion als Schmelztiegel der Jugend und wichtigste Integrationsinstanz für Neueinwanderer bringt Zahal (Z'vah Haganah leYisrael, hebr.: Verteidigungsheer Israels) mit Ausnahme arabischer und streng religiöser Jugendlicher beinahe alle jungen Israelis zusammen. Den Rekruten - und vor allem Immigranten - sollen während ihrer militärischen Ausbildung Grundwerte der israelischen Gesellschaft nahegebracht werden. Junge Einwanderer erwerben hier zum Teil auch elementare Kenntnisse der hebräischen Sprache. In erster Linie geht es in den Education Corps um nation building und um die Vermittlung eines wertorientierten Programmes vor dem Hintergrund israelisch-jüdischer Traditionen. Zum Teil decken sich die Inhalte mit oben beschriebenen Elementen der Belagerungsmentalität. Es handelt sich um ein ,,elementares Ausbildungssystem, das Grundbegriffe der Staatsbürgerkunde und der israelischen Geschichte"54 vermitteln will.
Kenntnisse der jüdischen Geschichte und jüdischer Traditionen nehmen dabei einen wichtigen Stellenwert ein. Der Zionismus als staatstragende Ideologie hat mit Motiven wie dem ,,kämpfenden Pionier" ebenfalls grossen Anteil. Dies wird seit dem Unabhängigkeitskrieg insbesondere durch den Nachal (No'ar Chaluzi Lokhem), die ,,Kämpfende Pionierjugend" realisiert. Wie in jeder Armee treten dazu die Erziehung zur Vaterlandsliebe, zu Korpsgeist und Stolz auf die eigene Einheit, sowie die Steigerung der Kampfmotivation.55 Durch die Zweckgebundenheit der Ausbildung innerhalb des Militärs muss eine wie immer geartete politische Bildung zwangsläufig unter das Primat der Erfordernisse der Landesverteidigung gestellt werden. Das Thema ,,Demokratie" nimmt zwar in den Curricula des IDF offenbar einigen Platz ein. Zu den Prinzipien der Education Corps zählt unter anderem die Ermutigung zur freien Meinungsäusserung und kritischem Denken.56 Dennoch ist der einzelne Soldat in erster Linie Soldat, Teil der Exekutive, und als solcher den Anweisungen seiner Vorgesetzten und der Regierung unterworfen. Wie demokratisch politische Erziehung unter solchen Vorzeichen sein kann, bleibt zu überlegen. Im Vordergrund muss für eine Armee unter allen Umständen die Ausbildung professioneller Soldaten stehen. Bedenklich dabei ist, dass im oben besprochenen Schulsystem kein Korrektiv ausserhalb des Zahal zu existieren scheint. Vor allem aber auch für viele Neueinwanderer, die nur durch die Armee eine demokratische Sozialisierung erfahren, ergeben sich daraus alarmierende Konsequenzen. Überspitzt könnte beinahe von einer Impfung mit der Belagerungsmentalität gesprochen werden.
Zum Schluss scheint mir noch wichtig, auf eine Besonderheit des IDF hinzuweisen, nämlich die extrem enge Verquickung zwischen zivilem und militärischem Leben, die sich in Israel unter anderem aus der langen Wehrpflicht und dem ausgedehnten Reservedienst ergibt. Daraus kann sich eine Infiltration der Zivilgesellschaft mit der tendenziösen politischen Sozialisation innerhalb des Zahal ergeben. Einige Anzeichen dafür sind bereits festzustellen. So berichtet beispielsweise Yoram Peri von einer Studie, in der ein Drittel der befragten Personen sagte: ,,the slightest threat to national security justifies a severe limitation of democracy."57 Daraus kann gefolgert werden, dass demokratische Werte wie Grund- und Bürgerrechte vielen Israelis weit weniger in Fleisch und Blut übergegangen sind, als die ,,Religion der Sicherheit". Die Ausbildung innerhalb der IDF Education Corps fungiert also als tradierendes Element für die Belagerungsmentalität.
5.4 Innere Bruchlinien
Die israelische Bevölkerung ist ethnisch, kulturell und sozial überaus heterogen. Die am häufigsten erwähnte Trennlinie zieht sich zwischen arabischen und jüdischen Israelis. Doch innerhalb dieser beiden Pole setzt sich die Differenzierung weiter fort. Von besonderem Interesse für die Arbeitshypothese der Belagerungsmentalität sind die Polarisierungstendenzen auf jüdisch-israelischer Seite.
Verschiedentlich wird vereinfacht von einer Trennung der Staatsbürger in ein ,,Erstes", ein ,,Zweites" und ein ,,Drittes" Israel gesprochen58, was in etwa die gesellschaftliche Stellung der einzelnen Gruppen umreisst. So stehen an der Spitze der sozialen Leiter die westlich orientierten Ashkenasim, die bis heute weitgehend den Ton angeben. Der Zionismus als europäische Bewegung spielte hier von Anfang an eine wichtige Rolle. Dementsprechend war die Bevölkerung des Yishuv vor der Staatsgründung und die israelische Gesellschaft der ersten Jahre relativ homogen und überwiegend von europäischer Kultur und/oder zionistischen Werten geprägt59. Nach der Staatsgründung setzte eine verstärkte Zuwanderung orientalischer und sephardischer Juden ein, die häufig als das ,,Zweite Israel" bezeichnet werden. Diese Einwanderungswellen zusammen mit einer relativ hohen Geburtenrate verschoben das Gewicht zahlenmässig zu Ungunsten der ashkenasischen Juden. 1986 machten die orientalischen Einwanderer und ihre Nachkommen ca. 60% der israelischen Bevölkerung aus. Ihre Integration in den zionistischen Staat bedeutete für sie die Aufgabe ihrer alten, ,,minderwertigen" Kultur und die Eingliederung in ein anderes, europäisches Wertesystem und die neu geschaffene hebräisch-israelische Kultur. Die Vermittlung des Zionismus bedeutete die Europäisierung der orientalischen Juden: ,,Die Europäer mußten die Lehrer sein und die Orientalen die Schüler."60 Viele Orientalen fühlten und fühlen sich zum Teil bis heute diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse.
Ende der 80er Jahre kam mit einer massiven russischen Einwanderung eine weitere Anstrengung auf die israelische Gesellschaft zu. Die Integration von über 850.000 jüdischen Bürgern aus der ehemaligen Sowjetunion erwies sich als extrem schwierig, obwohl oder auch gerade weil viele russische Einwanderer über hohe Qualifikationen verfügen. Einerseits konnten sie viel zu technologischer Entwicklung und Wirtschaftswachstum beitragen. Andererseits liegt die Arbeitslosigkeit bei ihnen viel höher, da Israels Bedarf an hochqualifizierten Ingenieuren und Wissenschaftlern bald gedeckt war. Die niedrigste Stellung im Staat nehmen, wie bereits gezeigt, die knapp 800.000 (Zahl von 1993) nichtjüdischen Israelis, das ,,Dritte Israel" ein. Da in diesem Kapitel aber der Schwerpunkt auf den innerjüdischen Differenzierungen liegt, wird auf diese Gruppierung nicht mehr ausführlich eingegangen.
Die Wahrnehmung Israels als belagerte Festung wirkt sich nun innenpolitisch häufig wie eine disziplinierende Zwangsjacke aus. Innerjüdische Spannungen werden weitgehend überdeckt. ,,Solange die jüdische Gemeinde um ihr Überleben kämpft, ziehen es die nicht tonangebenden Juden vor, Israel nicht zu gefährden", so beurteilte ein Professor der Universität Haifa die Situation.61 Ebenso scheint der Umkehrschluss möglich zu sein. Der Leiter des Rates der Sephardim meinte: ,,Sollten wir jemals im Nahen Osten einen Frieden erreichen, haben wir zu Hause den Bürgerkrieg."62 Und tatsächlich waren Anzeichen für das Aufbrechen vorhandener Konfliktlinien in verschiedenen Situationen zu beobachten, in denen Israel sich in Sicherheit wähnte oder die ideologischen Elemente der Belagerungsmentalität nicht mehr mit der Realität in Deckung zu bringen waren. Als Beispiele sollen hier nur die Protestbewegung der orientalischen Juden 1971 und die Protestbewegung als Reaktion auf den Libanonkrieg angeführt werden. In Kapitel 6 wird dazu mehr zu sagen sein.
5.5 Die israelische Sicherheitsdoktrin
Das Sicherheitskonzept eines Staates basiert in der Regel auf rationalisierten Perzeptionen und Einschätzungen der eigenen Sicherheitssituation. Als solche kann eine Sicherheitsdoktrin als zwangsläufig nie rational und objektiv angesehen werden. Dem israelischen Sicherheitskonzept ist daher eine nähere Betrachtung geschuldet, da in ihm eine konzentrierte Form der ,,Religion der Sicherheit" zum Ausdruck zu kommen scheint.
Das israelische Sicherheits- und Verteidigungskonzept war im Laufe der Jahre und der unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Kriege einigen Modifikationen unterworfen. Nichtsdestoweniger gab es stets einige konstitutive Elemente, die die israelische Verteidigungsstrategie bestimmten. Die Basis dessen ist die Ausgangsthese, dass sich der Staat, wie oben beschrieben, in einem andauernden Kampf um sein Überleben befindet, den er unter allen Umständen ohne Hilfe fremder Streitkräfte bestehen muss. Shimon Peres schrieb dazu: ,,Wir waren gezwungen, all diese Kriege zu führen, um unser Leben zu verteidigen. Hätten wir nur in einem verloren, hätten wir alles verloren."63 Diese Prämisse bedeutet für die politische Praxis, dass Diplomatie stets vor dem Hintergrund sicherheitstechnischer Erwägungen stattfindet. Bereits 1955 brachte David Ben Gurion dies in seiner Charakterisierung des Verhältnisses von Verteidigungs- und Aussenministerium zum Ausdruck: ,,The Minister of Defense is authorized to make defense policy; the role of the Foreign Minister is to explain that policy."64 Bis heute werden politische Schritte - wie zum Beispiel Zugeständnisse an die Palästinenser im aktuellen Bemühen um einen Rückzug israelischen Militärs aus dem Westjordanland und die Schaffung und Ausweitung palästinensischer Autonomie - immer an den möglichen Sicherheitsrisiken, die dies für den israelischen Staat darstellen könnte, gemessen. Ob die Atmosphäre des Misstrauens, die daraus erwächst, geeignet ist, einen fruchtbaren Boden für den Friedensprozess zu bereiten, ist wohl zu bezweifeln.
Eine weitere Konstante bleibt die Wahrnehmung, dass der Konflikt von aussen, also von den Arabern an Israel herangetragen wird. Militärische Aktionen werden so zu einem Akt der Selbstverteidigung. Zum Teil resultiert diese Wahrnehmung aus einem quantitativen Kräfteungleichgewicht: die arabischen Staaten verfügen über ein Vielfaches an Ressourcen, insbesondere an Bevölkerung, und zudem über den strategischen Vorteil eines weitaus grösseren Territoriums. Diesem Ungleichgewicht versucht man in Jerusalem mit einem Konzept von ,,qualitativer Überlegenheit" der israelischen Streitkräfte zu begegnen. Dan Horowitz führt verschiedene Faktoren hierfür an: ein hohes Mass an sozialer Mobilisierung, Mobilisierung finanzieller
Ressourcen, hohe Standards bei Technologie und professionellem Training, organisatorische Effizienz, sowie taktische Flexibilität im Gefecht.65 Aufbau und Ausbildung Zahals reflektieren dieses Programm und machen Israel zu einer ,,Nation unter Waffen". Der technologische Aspekt kann als einer der wichtigsten Eckpunkte im Kalkül der qualitativen Überlegenheit verstanden werden. Die IDF werden mit Recht häufig als eine der bestausgerüsteten
Armeen der Welt bezeichnet, die den meisten arabischen Armeen tatsächlich weit überlegen ist. Mit den Einschnitten bei der finanziellen Unterstützung aus den USA und der Kürzung der extrem hohen Militärausgaben Mitte der 1980er Jahre gewann neben der technologischen Seite vor allem die Ausbildung hochqualifizierter Eliteeinheiten und Offiziere an zunehmender Bedeutung. Bis 1967 prägte ein fundamentales Problem das israelische Sicherheitsdenken: der Mangel an strategischer Tiefe. Diesem Mangel Rechnung tragend, rückte der damalige Stabschef Moshe Dayan Mitte der 1950er Jahre die Option des Präventivschlages ins Zentrum der Verteidigungsphilosophie der IDF. Drohender Krieg sollte dadurch ,,auf feindliches Gebiet getragen werden."66 So sollte beispielsweise Luftangriffen durch die vorsorgliche Zerstörung feindlicher Flugzeuge noch am Boden zuvorgekommen werden. Der Geheimdienst nahm mit der Überwachung feindlicher Truppenbewegungen und -konzentrationen eine zunehmend zentrale Stellung in der Verteidigung ein. Da allerdings das Auslösen eines Krieges durchaus kritisch zu bewerten war, wurde der Präventivschlag zu einer Option für den Fall des Versagens militärischer Abschreckung. Als Indikator für das Eintreten dieses Falles galten verschiedene casus belli, wie zum Beispiel die Unterstützung von Fedajin-Aktionen auf israelisches Gebiet. Einer dieser Präventivschläge löste 1967 den Sechs-Tage-Krieg aus.
Mit der Besetzung des Sinai, des Westjordanlandes und der Golanhöhen schien das Problem der strategische Tiefe weitgehend gelöst. Israel sah sich nun in der Lage, einem feindlichen Angriff lang genug standzuhalten, um einen Gegenschlag zu führen. Die Strategie der offensiven Verteidigung bekam nun ein neues Gesicht: das ,,Konzept der sicheren Grenzen" trat an die Stelle des politisch kritischen Präventivschlages. Von nun an sollte jedwede
Grenzverletzung mit einem begrenzten Gegenschlag geahndet werden. Doch der Yom-Kippur-Krieg 1973 relativierte die Einschätzung der Vorteile der strategischen Tiefe. In den Folgejahren gelangte man zu einer etwas ausgewogeneren Einschätzung und einer Kombination der verschiedenen Elemente: militärische Abschreckung, Strategie des Präventivschlages und sichere Grenzen.67
Bis heute bleibt die Strategie der militärischen Abschreckung zentral. Spätestens seit den Enthüllungen des Atomtechnikers Mordechai Vanunu im Oktober 1986 gilt als Tatsache, dass Israel im Besitz von Atomwaffen ist. 1998 wurden angeblich an die 200 Atombomben in einem Kernreaktor bei Dimona gelagert. Den Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag NPT lehnt Israel bis heute ab, setzt sich aber gleichzeitig engagiert gegen die Verbreitung atomarer Waffen in seinen Nachbarstaaten ein.68 Zu welch hohem Einsatz Israel hier bereit ist, zeigt das Bombardement des irakischen Kernreaktors Osirak 1981. Auch spricht der Fall Osirak die Sprache der ,,offensiven Verteidigung", hier in Form eines Präventivschlages gegen eine befürchtete existentielle Bedrohung des Staates Israel.
Die häufigste Herausforderung für die Konzeption der sicheren Grenzen waren und sind Terroranschläge durch Untergrundkämpfer - in den 1970er und 1980er Jahren noch vorrangig seitens der PLO, nach der Annäherung Israels und der PLO zunehmend durch Hamas und Hizbollah-Miliz.
6 Belagerungsmentalität im Wandel
Die vorangehenden Kapiteln waren dem Beleg der Arbeitshypothese von der Beeinflussung des politischen Systems durch die Sicherheitssituation gewidmet. Im Folgenden soll es darum gehen, die ihr innewohnende Dynamik zu verdeutlichen.
Der beschriebene Wahrnehmungsfilter kann keinesfalls statisch gesehen werden, sondern er ist stets verschiedenen Kräften und Tendenzen ausgesetzt, die ihn intensivieren, abschwächen oder abwandeln. Die Wechselwirkung zwischen äusserer Bedrohung und Belagerungsmentalität wird nachvollziehbar, betrachtet man die Veränderungen und Strömungen in der israelischen Gesellschaft. Ebenso wie nämlich die Belagerungsmentalität sich im Alltagsleben der Israelis offenbart, spiegeln sich auch deren Veränderungen dort wider.
6.1 Intensivierung des Wahrnehmungsfilters
Es gab verschiedene Phasen, in denen sich eine Intensivierung des Wahrnehmungsfilters unter dem Eindruck einer äusseren Bedrohung beobachten lässt. Am deutlichsten wird diese wohl an den folgenden ausgewählten Beispielen:
Der Unabhängigkeitskrieg als eine der schrecklichsten Geburtswehen Israels rief - vor allem aufgrund der zeitlichen Nähe - die intensivsten Erinnerungen an das Grauen der Naziverfolgungen wach. Die erneute Bedrohung erschien den Menschen, die der Sho'ah gerade entkommen waren, wie eine geschichtliche Kontinuität. Dieser Fortsetzung der Geschichte galt es nun, entgegen zu treten und das Kontinuum aufzubrechen. Die Brille des Holocaust- Syndromes prägte eine Legitimation israelischer Gewalt als Selbstverteidigung: ,,Der Kampf um Palästina schien wie ein nachträglich geleisteter Widerstand gegen Hitler, die Palästinenser wurden als verlängerter Arm der Nazis empfunden."69 Israel im Kampf mit den arabischen Streitkräften wurde in den Köpfen zur belagerten Festung, Massada zur Metapher für die eigene Situation. Die Bedrohung von aussen fungierte als Art Zwangsjacke für die innere Einheit des neugeborenen Staates, vergleichbar der disziplinierenden Wirkung der Blockkonfrontation auf die jeweiligen Mitgliedsstaaten. Die inneren Widersprüche zwischen Israelis mit den verschiedensten persönlichen, ideologischen und politischen Hintergründen wurden so überdeckt.70 Die israelische Belagerungsmentalität war geboren. Vor der Eskalation des Sechs-Tage-Krieges, im Mai 1967, fand sich Israel in einer ähnlichen Situation. Die Vernichtung des jüdischen Volkes schien einmal mehr auf der Tagesordnung zu stehen, und wieder griff das Ausland nicht ein. Diese Wahrnehmung von Bedrohung und gleichzeitiger Isolation schweisste die israelische Bevölkerung eng zusammen, was in Form der Regierung der Nationalen Einheit Ausdruck im politischen System fand. Die Bedrohung durch den Yom-Kippur-Krieg liess an die Stelle der Selbstsicherheit, die die Jahre nach dem Sechs-Tage-Krieg geprägt hatte, eine tiefe Krise treten. Wie der Dichter Itamar Yaoz-Kest bemerkte:
,,[I]n den sechs Jahren nach dem Sechs-Tage-Krieg wollten die Sabras
[...] nichts von dem tragischen Schicksal der Juden hören. [...] Nach
1973 kehrte das Gefühl der Belagerung zurück - einer Belagerung, der möglicherweise ein Holocaust folgt."71
Es kamen massive Zweifel an der Verteidigungsfähigkeit des Staates unter der Regierung der Arbeitspartei auf. Die Arbeitspartei war diskreditiert. Zunehmende Fedajin-Übergriffe trugen zu einer weiteren Verschärfung des Belagerungsgefühles und des innenpolitischen Klimas bei. Militarismus und Nationalismus erhielten Aufwind. In der Folge kam es mit der Machtübernahme des Likud 1977 zu einer revisionistischen Wende unter der Regierung Menachem Begin. Begin steuerte insbesondere einen harten und religiös-ideologisch untermauerten Siedlungskurs für die Westbank (in Likud- Rhetorik ,,Judäa und Samaria"): ,,Viele Israelis hatten den Eindruck, daß die Besetzung der Gebiete der Faktor gewesen war, der Israel 1973 vor einer militärischen Niederlage rettete, auf die die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung gefolgt wäre."72 In diesem Klima formierte sich die religiös- extremistische Siedlerbewegung Gush Emunim (hebr.: Block der Getreuen). Das Sicherheitskonzept war geprägt von aggressiver Vergeltungsstrategie und der Ansicht, Israel dürfe sich nur auf sich selbst verlassen:
,,Unser Recht zu existieren wurde uns vom Gott unserer Väter im frühen Dämmerlicht der menschlichen Zivilisation vor nahezu viertausend Jahren gewährt[...] Daher betone ich nochmals, wir erwarten von niemandem, daß er in unserem Namen darum ersucht, unser Recht, im Land unserer Väter zu leben, möge anerkannt werden."73
In der jüngeren Vergangenheit löste der Zweite Golfkrieg erneut VernichtungsAssoziationen in vielen Israelis aus, was entsprechende Effekte hatte. Susann Heenen-Wolff bringt den Mechanismus auf den Punkt: das israelischjüdische Volk habe sich in kriegerischen Auseinandersetzungen ,,wie ein monolithischer Block hinter seine Regierung gestellt. Im Krieg rückte man zusammen, stellt innenpolitische Differenzen zurück."74
6.2 Erosion der Belagerungsmentalität
Analog dazu gab es Phasen, in denen der ideologische Kitt der ,,Religion der Sicherheit" Risse aufwies. Eindrucksvolle Beispiele für die Aufweichung das nationalen Konsens zur Sicherheitsthematik sind die Kontroversen im Gefolge des Libanonkrieges 1982 und während der Intifada. In beiden Fällen kam es zu massiven Konfrontationen zwischen hochqualifizierten und stark bewaffneten israelischen Soldaten und palästinensischen Zivilisten, während die arabischen Staaten passiv blieben. Der Feldzug ,,Frieden für Galiläa" - zum Teil eine Reaktion auf PLO-geführte Unruhen auf der Westbank - hatte die Vernichtung der PLO und eine Neuordnung der politischen Verhältnisse im Libanon zum Ziel. Das Rückgrat der palästinensischen Freiheitsbewegung in Westbank und Gaza sollte gebrochen werden. In Beirut starben Tausende Zivilisten im Bombenhagel israelischer Flugzeuge, verbündete Milizen richteten ein Massaker unter den palästinensischen Flüchtlingen in den Lagern Sabra und Shatila an. Diese ungleiche Konfrontation stellte einen völligen Bruch mit dem David-gegen- Goliath-Schema israelischer Selbstwahrnehmung dar. Die Propaganda Begins hatte offensichtlich keine Entsprechung in der Realität. So äusserte die Tageszeitung Yediot Achronot, die PLO habe ,,nie wirklich eine Gefahr für die Sicherheit Israels [dargestellt]."75 Der nationale Konsens begann zu erodieren. Die Folge war eine tiefgreifende Polarisierung innerhalb der Gesellschaft. Die Differenzen, die bereits seit Beginn der Besatzung zwischen ,,Tauben" und ,,Falken" goren, kamen an die Oberfläche. Hunderttausende Israelis gingen auf den Aufruf von ,,Shalom Achshav" (hebr:. Frieden jetzt!) hin gegen die Politik ihrer Regierung auf die Strasse, woraufhin Regierungsanhänger wütende Gegendemonstrationen gegen diesen ,,Verrat" an der israelischen Schicksalsgemeinschaft initiierten. Der Konflikt war gleichzeitig auch Teil einer sozialen Polarisierung. Die Anti-Kriegs-Bewegung formierte sich vor allem in der ashkenasischen Bevölkerungsgruppe, während Begin seine orientalischen Anhänger überwiegend binden konnte. ,,In allen vorangegangenen Kriegen hatten die Israelis angesichts eines gemeinsamen Feindes die Reihen geschlossen. Der Krieg im Libanon war der erste, in dem die tiefen Gräben, die während Friedenszeiten das israelische Leben kennzeichneten, als Folge der Krieges noch deutlicher hervortraten."76
Die Intifada stellte die israelische Gesellschaft wenige Jahre später vor eine ähnliche Prüfung. Die Polarisierung spitzte sich zu. Vor allem die Rechte radikalisierte sich zusehends. Es entstanden verschiedene extremistische Kleinst- und Splitterparteien wie Kach oder Moledet.
Auch in der Phase des Aufschwungs und des gestärkten israelischen Selbstbewusstseins nach dem Sechs-Tage-Krieg brachen die Konfliktlinien in Israel teilweise auf. Zu dieser Zeit warb die Regierung unter der Arbeitspartei verstärkt um Einwanderer aus USA und Europa. Für die sephardischen Israelis war dies ein Zeichen, dass sie unerwünscht waren. ,,Die Provokation erfolgte in dem Augenblick, in dem der Belagerungszustand anscheinend zu Ende war und sie [die Ashkenasim; Anm. d. Autorin] sich nicht mehr davor hüten mußten, die Existenz Israels zu gefährden."77 Es kam zu Konfrontationen zwischen dem arbeiterzionistischen, ashkenasischen Establishment und den orientalischen ,,underdogs". Es entstand eine Protestbewegung, die sich um die Organisation der ,,Panterim Shehorim", der ,,Schwarzen Panther", konzentrierte - mit diesem Namen sollte eine Parallele zur ,,Black Panther Party", der afroamerikanischen Befreiungsbewegung in den USA gezogen werden.
Trotz aller Spannungen und Konflikte ist es jedoch wichtig zu verstehen, dass der Grundkonsens des israelischen Staates auch von Prostestbewegungen wie z. B. Shalom Achshav oder Yesh Gvul (hebr.: Es gibt eine Grenze!; eine
Bewegung von Soldaten, die den Dienst in den besetzten Gebieten und dem Südlibanon verweigerten) nie wirklich in Frage gestellt wurde. Auch sie stehen fest auf dem Boden des Staates Israel und sind ausdrücklich nicht pazifistisch im westlichen Sinne.
6.3 Ausblick auf den Friedensprozess
Vor diesem Hintergrund ist auch der Friedensprozess, der 1993 eingeläutet worden war, zu verstehen. Der Libanonkrieg und die Intifada machten klar, dass das Palästinenserproblem für Israel nicht militärisch zu lösen war. Dagegen sprachen einerseits die Guerillataktik der Befreiungskämpfer, zum anderen aber, was viel gewichtiger war, die innenpolitischen Spannungen und der aussenpolitische Gesichtsverlust. Der Widerstand der Palästinenser gegen die Besatzung war nicht mit Waffengewalt zu brechen.
Die Arbeitspartei unter Jitzhak Rabin erkannte die Zeichen der Zeit. Als sie 1992 den Likud an der Regierung ablöste, vollzog sie - auch unter dem Drängen der USA - eine Änderung der Strategie und strebte Verhandlungen mit der PLO an. Ein Durchbruch schien 1993 mit dem Abkommen von Oslo endlich gelungen zu sein. Es beinhaltete die Anerkennung der PLO als Vertreterin der Palästinenser durch Israel, die an ausdrückliche Bedingungen geknüpft waren. Die PLO sollte unter anderem ,,öffentlich das Recht Israels auf eine sichere und friedliche Existenz anerkenn[en]; [...] sich vom Terror distanzier[en] und [...] den Terror und die Terroristen bekämpf[en] [...]."78 Die Devise ,,Ein Stück Land für ein Stück Frieden", die bei der Einigung auf den Autonomieplan Pate stand, drückt die Erkenntnis aus, dass nur territoriale Konzessionen langfristig das Fortbestehen des Staates und die nationalen Interessen Israels sichern könnten. Die Entwicklung hatte die klassische militärische Strategie in Frage gestellt:
,,Es gibt keine militärische Antwort auf eine atomare Bedrohung, auf Armut und Fundamentalismus, auf fanatischen Terrorismus und auch nicht auf die ökologische Zerstörung, die der Mensch in seiner Umwelt anrichtet. [...] Diese Gründe zwingen uns zu dem Schluß, daß es im neuen Zeitalter ohne umfangreiche regionale Verteidigungsregeln keine befriedigende regionale Verteidigung geben kann und daß es keine volle nationale Sicherheit gibt, ohne effektive Regelungen für die regionale Sicherheit."79
Mit dem Schulterschluss der gemässigten Kräfte in Israel und der PLO im Rahmen des Friedensprozesses verschärften sich jedoch gleichzeitig die internen Spannungen. Extremistische Kräfte auf beiden Seiten provozieren seither das Scheitern der Verhandlungen. Bei den Knesset-Wahlen 1996 errang die Rechtsopposition unter Benjamin Netanjahu einen knappen Sieg. Die neue Likud-Regierung versuchte nun mit Härte und Unnachgiebigkeit vor allem in der Siedlungsfrage, das Rad zurückzudrehen. Die arabische Welt reagierte darauf mit neuer Geschlossenheit. Die Fronten verhärteten sich erneut. Auch nach der Abwahl des Likud 1999 blieben viele der Probleme brisant, die aus der Politik Netanjahus resultierten. Auf Betreiben der Regierung oder doch mindestens mit deren ausdrücklicher Billigung waren in den besetzten Gebieten mehrere neue jüdische Siedlungen entstanden und bestehende ausgeweitet worden - ein Affront in den Augen der Palästinenser und der ,,Tauben". Für den 1999 neu gewählten Labour-Ministerpräsidenten Ehud Barak stellt sich das Problem der Siedlungen ganz ähnlich wie für die Regierung Rabin nach 1992. Shimon Peres schrieb über die damalige Situation: ,,Der Likud sorgte dafür, daß etwa 120.000 Menschen dorthin [in die Westbank; Anm. d. Autorin] kamen. Es ist undenkbar, sie umzusiedeln, es sei denn, jemand beabsichtigte, sich in einen Bürgerkrieg zu verwickeln."80 Auch Barak sieht sich - wie die jüngste Vergangenheit zu dokumentieren vermag - im Ringen um den Frieden mit vielen Problemen konfrontiert, die zum Teil so alt sind, wie der Staat selbst: die Flüchtlingsfrage, die Frage nach dem Status Jerusalems, die Siedlungs- und die Autonomiefrage, etc. Die auf das massive Betreiben und unter der Schirmherrschaft der USA eingeläutete neue Verhandlungsrunde in Camp David, die atmosphärisch an den Verhandlungserfolg von 1978 anknüpfen soll, macht da keine Ausnahme. Bereits im Vorfeld des Treffens von Bill Clinton mit Arafat und Barak hatten auf israelischer und palästinensischer Seite Demonstrationen stattgefunden. Beide Vertreter waren dazu aufgefordert worden, keinerlei Zugeständnisse zu machen. Der Friedensprozess sieht sich immer wieder von radikalen Kräften auf beiden Seiten konterkariert. Dabei ist auch immer wieder unklar, inwieweit die gemässigten Kräfte, insbesondere Regierungspolitiker und PLO- Funktionäre tatsächlich bereit sind, den Frieden um des Friedens willen umzusetzen. Immer wieder scheinen die Verhandlungen unlösbar festgefahren.
Zusammenfassend bleibt m. E. für die momentane Situation folgendes festzuhalten: Die israelische Bedrohungs- und Belagerungsperzeption ist seit dem Golfkrieg 1990 relativ abgeschwächt, da sich auch die tatsächliche Bedrohung von aussen reduziert hat. Die Entspannungsphase also, die die Basis dieses Friedensprozesses ist, scheint gleichzeitig dazu zu führen, dass sowohl innerisraelische als auch innerpalästinensische Widersprüche aufbrechen und der jeweilige ,,nationale" Konsens aufweicht. Die Annäherung der gemässigten Kräfte birgt also gleichzeitig eine neue gefährliche Problematik: die innere Zersplitterung der Lager und das Erstarken von extremistischen Kräften auf beiden Seiten, wohl auch infolge enttäuschter sozialer und/oder nationaler Hoffnungen. Eine mögliche Folge ist eine Internalisierung des ursprünglichen Konfliktes. Anknüpfend an die Aussage des Leiters des Sephardischen Rates stellt sich hier die Frage, ob Frieden zwischen dem Staat Israel und der palästinensischen Volksvertretung nur auf Kosten eines - bzw. zweier - Bürgerkrieges möglich ist.81 Eine andere Möglichkeit wäre eine andauernde Stagnation des Friedensprozesses und damit verbunden eine Entfremdung der ,,Regierungen" (worunter ich auch Yassir Arafat zählen will). Was die Zukunft wirklich bringen wird, liegt im ungewissen.
Die These der Belagerungsmentalität als konstitutives Element des israelischen nationalen Konsenses scheint durch die aktuelle Entwicklung insofern gestützt, als diese zeigt, dass äussere Ruhe innere Konflikte unter einem erodierenden ideologischen Kitt zum Ausbruch bringen kann.
7 Epilog
Der Versuch dieser Arbeit, eine wie immer geartete jüdisch-israelische Belagerungsmentalität im Hintergrund des Nahostkonfliktes zu benennen und zu untersuchen, stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es muss betont werden, dass die pauschalisierende Anwendung der Arbeitshypothese der Situation in Israel keinesfalls gerecht werden kann. Diese lebt im Gegenteil gerade davon, dass die geschilderten Elemente des Wahrnehmungsfilters in ständiger Wechselwirkung mit der politischen Situation gesehen werden. Infolge dieser engen Wechselwirkung kann die Belagerungsmentalität auf Konfliktsituationen wie ein Katalysator wirken, beschleunigend und verschärfend. Andererseits kann, wie wir gesehen haben, das Gefühl aussenpolitischer Sicherheit die Wirkung des Filters reduzieren. Die ideo- und psychologische ,,Religion der Sicherheit" ist also keinesfalls abgekoppelt vom politischen Geschehen zu betrachten.
Das beschriebene System von Perzeptionen darf nicht unbedacht als eine Art Neurose missverstanden und als Ursache oder Hintergrund des Nah-Ost- Konfliktes bezeichnet werden. Dennoch beeinflusst es offensichtlich dessen Verlauf und spezifische Ausprägung. Der Hamburger Politologe und Leiter des Arbeitskreises für Kriegsursachenforschung (AKUF) Dr. Jens Siegelberg bezeichnet dies als gesellschaftliche ,,Formbestimmtheit von Krieg".82 Vielleicht kann daher gesagt werden: die Belagerungsmentalität entsteht aus der Situation und gebiert die Situation wiederum aus sich.
8 Quellen- und Literaturverzeichnis
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- Glasneck, Johannes / Timm, Angelika: Israel. Die Geschichte des Staates seit seiner Gründung. Bonn, 1992.
- Gorny, Yosef: The State of Israel in Jewish Public Thought. Houndmills, Basingstoke, Hampshire and London, 1994.
- Gross, Ehud: Military, Democracy, and Education. In: Ashkenazy, Daniella: The Military in the Service of Society and Democracy - The Challenge of the Dual-Role Military. Westport, Connecticut, 1994. S. 55-65. _ Heenen-Wolff, Susann: Erez Palästina - Juden und Palästinenser im Konflikt um ein Land. Frankfurt/Main, 1990.
- O'Brien, Conor Cruise: Belagerungszustand: die Geschichte des Zionismus und des Staates Israel. München, 1991.
- Peri, Yoram: The Arab-Israeli Conflict and Israeli Democracy. In: Sprinzak, Ehud / Diamond, Larry: Israeli Democracy under Stress. Boulder, London, Jerusalem, 1993. S. 343-357.
- Peres, Schimon: Die Versöhnung - Der neue Nahe Osten. München, 1996. _ Playfair, Emma (Ed.): International Law and the Administration of the Occupied Territories - Two Decades of Israeli Occupation of the West Bank and Gaza Strip. Oxford, 1992.
- Smooha, Sammy: Class, Ethnic, and National Cleavages and Democracy in Israel. In: Sprinzak, Ehud / Diamond, Larry: Israeli Democracy under Stress.
Boulder, London, Jerusalem, 1993. S. 309-342.
- Solomon, Nissim / Shalev, Avner: Erziehung in den Streitkräften. In: Walter Ackerman (Hrsg.): Erziehung in Israel. Bd. 2. Stuttgart 1982.
- Timm, Angelika (Bearb.): 20 Jahre israelische Okkupationspolitik in Westbank und Gaza. Protokoll eines wissenschaftlichen Symposiums. Berichte #9, 8. Jg., Berlin, 1988.
- Wolffsohn, Michael / Bokovoy, Douglas: Israel. Grundwissen- Länderkunde, Geschichte - Politik - Gesellschaft - Wirtschaft. 4. Aufl. Opladen, 1995.
- Yaniv, Avner (Ed.): National Security and Democracy in Israel. Boulder and London, 1993. weitere Quelle:
TAZ-Archiv auf CD-Rom 1986-1998. contrapress media GmbH, 1998.
[...]
1 Der Begriff ,,Politisches System" bezeichnet hier eine ,,inhaltlich-prozeßbezogene Sichtweise von Politik" (siehe Korte, K.: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. In: Mols/Lauth/Wagner (Hrsg.): Politikwissenschaft: Eine Einführung. 2. Aufl. Paderborn, 1994; S. 72.)
2 Siehe Timm, S. 13.
3 Mit Blick auf aktuelle Ereignisse erscheint es mir leider zweifelhaft, ob Menschen aus der Geschichte lernen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass was einmal geschah wieder geschehen kann.
4 Theodor Herzl, zit. nach Heenen-Wolff, S. 20.
5 Zit. nach O'Brien, S. 37.
6 Zit. nach Metz, J. B.: Ökumene nach Auschwitz. Zum Verhältnis von Juden und Christen in Deutschland, in: Kogon, Eugen: Gott nach Auschwitz. Dimension des Massenmords am jüdischen Volk. Freiburg u. a., 1981, S. 141.
7 Zit. nach Heenen-Wolff, S. 33.
8 Siehe ebd.
9 Zit. nach Informationen zur Politischen Bildung #247, S. 8.
10 Siehe Heenen-Wolff, S. 72.
11 Siehe Informationen zur Politischen Bildung #247, S. 7.
12 Vgl. ebd., S. 41.
13 Vgl. Peri, S. 344.
14 Vgl. Tautkus, S. 28.
15 Vgl. Heenen-Wolff, S. 182.
16 Siehe Tautkus, S. 20.
17 Vgl. Tautkus, S. 21.
18 Vgl. Nationalabkommen der PLO in Heenen-Wolff, S. 148.
19 Vgl. Heenen-Wolff, S. 231.
20 Siehe TAZ # 2759, 15.03.1989, S. 7.
21 Siehe Peres, S. 34.
22 Vgl. Peri, S. 346.
23 Der Aussenminister Syriens im Mai 1967, zit. nach Heenen-Wolff, S. 120.
24 Ahmed Shukeiri, Anführer der palästinensischen Befreiungsarmee, zit. ebd.
25 Siehe O'Brien, S. 434.
26 Leon Pinsker, zit. nach Heenen-Wolff, S. 19.
27 Siehe Tautkus, S. 22.
28 Die Festung Massada am Toten Meer wurde zum Symbol für Wehrhaftigkeit. Dem Mythos entsprechend hielt während des ersten jüdischen Krieges gegen Rom (66-74 nZ) dor eine Gruppe von Zeloten einer einjährigen Belagerung stand. Kurz vor der Eroberung der Festung begingen die Belagerten kollektiven Selbstmord, um - der Sage nach - der Schmach der Kapitulation zu entgehen. Eine ähnliche mythische Bedeutung kommt dem sogen. Bar Kokhba-Aufstand (132-135 nZ) zu.
29 Siehe Tautkus, S. 26.
30 Siehe O'Brien, S. 218.
31 Siehe Heenen-Wolff, S. 84.
32 Zit. nach Heenen-Wolff, S. 206.
33 Siehe O'Brien, S. 280.
34 Zit. nach O'Brien, S. 335.
35 Vgl. Peri, S. 347.
36 Vgl. ebd., S. 352.
37 Zit. nach Heenen-Wolff, S. 79.
38 Siehe Peri, S. 354.
39 Siehe TAZ # 5583, 16.07.1998, S. 8.
40 Siehe Peri, S. 352.
41 Zahlen vgl. Informationen zur Politischen Bildung # 247, S. 63.
42 Vgl. TAZ # 4114, 17.09.1993, S. 8.
43 Siehe Informationen zur Politischen Bildung # 247, S. 39.
44 Ebd., S. 64.
45 Vgl. Timm, S. 13.
46 Siehe MERIA Vol. 1, #4.
47 Siehe Timm, S. 13.
48 Siehe Peri, S. 351.
49 Zur Bezeichnung vgl. Gross a.a.O., S. 55-65.
50 Siehe Carmon, S. 298.
51 Vgl. ebd.: ,,It also meant isolating the schools from the sociopolitical process."
52 Siehe ebd., S. 293.
53 Siehe Solomon / Shalev, S. 252.
54 Ebd., S. 261.
55 Vgl. Gross, S. 58f.
56 Ebd., S. 62.
57 Peres, Yochanan, zit. nach Peri, S. 350.
58 Vgl. Informationen zur Politischen Bildung #247, S. 40.
59 Ebd., S. 40.
60 Siehe O'Brien, S. 230.
61 Sammy Smooha, zit. nach O'Brien, S. 235.
62 Zit. nach O'Brien, S. 235.
63 Siehe Peres, S. 28.
64 Zit. nach Yaniv, S. 12.
65 Ebd. S. 15.
66 David Ben Gurion, vgl. Yaniv, S. 20.
67 Vgl. Tautkus, S. 56.
68 Vgl. TAZ # 2392, 21.12.1987, S. 6 bzw. TAZ #4579, 25.03.1995, S. 2.
69 Siehe Heenen-Wolff, S. 83.
70 Vgl. Glasneck/Timm S. 86.
71 Siehe O'Brien, S. 219.
72 Ebd., S. 307.
73 Menachem Begin, zit. nach O'Brien, S. 369.
74 Siehe Heenen-Wolff, S. 206.
75 Zit. nach Heenen-Wolff, S. 207.
76 Siehe O'Brien, S. 414.
77 Ebd., S. 236.
78 Siehe Peres, S. 48f.
79 Ebd., S. 120ff.
80 Ebd., S. 35.
81 Vgl. Anm. 63.
82 Vgl. Tautkus. S. 4.
- Arbeit zitieren
- Kristina Stork-Burger (Autor:in), 1999, Belagerungsmentalität - Der Nah-Ost-Konflikt und seine Auswirkungen auf das politische System in Israel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98109
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