Inhaltsverzeichnis
1. Die politische Opposition und der Allmachtsanspruch der SED
2. Die Ära Honecker und die politische Opposition
2.1. Der Protestantismus und die staatlichen Dogmen
2.2. Künstlerische Vielfalt im Herrschaftsbereich der SED
2.3. Die uneinheitliche Einheitspartei
3. Die Entwicklung der Kirche zur „Oppositionspartei"
3.1. Das politische Potential der Kirche - Die Offene Arbeit
3.2. Friedens- und Menschenrechtsbewegung - Basis der kirchlichen Opposition
3.3. Die konzentrierte Opposition
4. Die 70er Jahre - Grundlage für die friedliche Revolution 1989?
5. Literaturverzeichnis
1. Die politische Opposition und der Allmachtsanspruch der SED
Die Geschichte der DDR war seit ihrer Gründung, die sich als Gegenreaktion des Sowjetstalisnismus gegen die Konstituierung des westdeutschen Republik verstehen lässt, geprägt durch eine ständige Auseinandersetzung zwischen der herrschenden kommunistischen Partei und den nichtgeduldeten politischen Gegenströmungen. Waren es in den 50er Jahren in erster Linie Gegner des sozialistischen Systems, d.h. Personen, die sich durch die Grundsätzlichkeit ihres Widerstandes auszeichneten, veränderte sich dies im Laufe der Jahre und es entstand eine echte außerparlamentarische Opposition. Die Aktivisten dieser politischen und gesellschaftskritischen Gegnerschaft setzten sich mit dem politischen System der SED und des Sozialismus im Allgemeinen reformkritisch auseinander und suchten nach Wegen, die es ermöglichten, die philosophischen Grundlagen der sozialistischen Idee in die Wirklichkeit umzusetzen. Dabei erkannten sie sehr schnell das Dilemma, in welchem sich die DDR befand - Wirklichkeit und Theorie waren weit voneinander entfernt. Dieser enorme Unterschied zwischen dem Widerstand in den 50ern und der Opposition in den 70er/80er Jahren lag vor allen Dingen darin begründet, dass sich die politischen Rahmenbedingungen entscheidend geändert hatten. Insbesondere die internationale Anerkennung, die „ersten Erfolge in der Außenpolitik"1, der Mauerbau und der dadurch bedingte Ausreisestop und die teilweise Beseitigung stalinistischer Methoden waren für die Einstellung dieser neuen Generation der politischen Opposition ausschlaggebend. Letztendlich wuchsen die Jugendlichen Aktivisten der Opposition, bedingt durch den Mauerbau, in der DDR auf und kannten im großen und ganzen die Bundesrepublik bzw. Westeuropa nicht.2 Obwohl Antifaschismus und Marxismus-Leninismus immer als Staasdoktrin propagiert wurden und dementsprechend auch die Realität in den Köpfen der SED-Führer aussah, konnten in den 40 Jahren der realexistierenden DDR diese Ideen nie umgesetzt werden. Und wenn heute von der PDS vehement vertreten wird, dass allein der „Stalinismus" die ursprünglich positiven Züge des Marxismus-Leninismus entartet hat, so zielt dies allein darauf, die tatsächliche Genese dieses inhumanen Lehrgebäudes zu verschleiern.3 Denn sowohl das Denken von Marx als auch von Lenin legten die Grundbausteine der kommunistischen Diktatur und der kommunistischen Form des Totalitarismus. In der zahlreichen historischen Literatur, die Dank der Öffnung der DDR-Archive seit 1990 entstanden ist, wird Eines immer wieder deutlich: Die SED verlor mit den Jahren, besonders in den obersten Führungsschichten, mehr und mehr den Sinn für die Realität und ihre katastrophalen Folgen. Und diejenigen der Parteigänger, die an der Basis ihre Arbeit erledigten und die Problematik der maroden DDR-Gesellschaft durch ihre täglich Arbeit kennen mussten, waren zum Schweigen verdammt bzw. schwiegen aus den verschiedensten Gründen freiwillig. Die katastrophale Wahrheit oder kritische Äußerungen wurden verschwiegen oder durch Disziplinierungs- und Propagandamaßnahme im Keim erstickt. „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht " wurde zum Dogma für einen Großteil der DDR- Bevölkerung. Zudem verhalf Unterordnung und Untertanenmentalität zu einem relativ sorgenfreien Leben, was nicht selten mit Privilegien verbunden war. Allein die SED beanspruchte für sich ein universelles Wahrheits- und Erklärungsmonopol. Sie verstand sich als Avantgarde der Arbeiterklasse, die dem gesellschaftlichen Fortschritt, also dem Sozialismus und später den Kommunismus, zum Durchbruch verhelfen sollte. Dabei spielte der Marxismus-Leninismus die Rolle einer Ersatzreligion (politischer Religion) mit unumstößlichen Dogmen. Die durch diese Heilslehre konstruierte Wirklichkeit gab ihren Anhängern stete Gewißheit, auf der richtigen Seite zu stehen, führte sie aber unweigerlich in Widersprüche und Konflikte mit der eigentlichen gesellschaftlichen Realität. Diese Realität, der realexistierende Sozialismus, war für viele DDR-Bürger von Banalität und Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet. Die SED bemühte sich, den Alltag ihrer zunehmend säkularisierten Gesellschaft mit eigenen Ritualen zu durchsetzen, die von den Menschen gern angenommen wurden, um den Alltag zu entfliehen. Neben Parteiveranstaltungen und -festen waren es vor allem, und dies kann ich aus eigener Erfahrung sagen, das Kleingartenwesen, der Urlaub in den „befreundeten" Ländern und in bestimmten Maße das Vereinsleben.4 Parallel dazu wurde im engeren Bekanntenkreis immer wieder sehr kritisch mit den bestehenden Verhältnissen umgegangen, so dass teilweise Formen des verdeckten und offenen Widerstands entstanden.
Auf der anderen Seite gab es aber mit der fortschreitenden Entwicklung der DDR- Gesellschaft immer mehr Menschen, die sich von den allgemeinen „Fesseln" der SED- Bevormundung öffentlich befreiten und ein individuelleres Leben führen wollten und führten. Sie ließen sich nicht von der kommunistischen Diktatur und ihren unglaubwürdigen Parolen vereinnahmen sondern suchten nach Öffentlichkeit, um ihre eigenen Gedanken und Ziele nach außen hin vertreten zu können. Dabei musste es zwangsläufig zwischen ihnen und dem SED-Staat, inklusive seiner Sicherheitskräften, zum Konflikt kommen. Diese Menschen, oftmals Jugendliche und Christen aller Konfessionen, schlossen sich letztendlich in Gruppen der sogenannten Subkultur, die sich unter dem Dach der Kirche bildeten, zusammen. Hier entstand die Keimzelle der späteren Friedens-, Bürgerrechts- und Umweltbewegung, die seit den frühen 70er Jahren im ständigen, teilweise gewaltsamen Konflikt mit dem Staat standen. Hinzu kamen viele systemkritische und realitätsnahe Künstler, die sich dem Kunst- und Kulturverständnis der SED nicht unterordnen wollten und jene SED-Mitglieder, die die Missstände der Gesellschaft erkannten und die diese Gesellschaft aus dem Inneren der Partei heraus reformieren wollten. Auf die Entstehung und die Arbeit dieser Opposition, der unangepassten Bürger, und im Speziellen der Kirchengruppen wird im Folgenden näher einzugehen sein. Dabei sollen primär die 70er Jahre betrachtet werden, in denen sich diese Bewegung herausbildete und in denen die Weichen für die emanzipatorische Entwicklung der außerparlamentarischen politischen DDR-Opposition der 80er Jahre gestellt wurden. Schließlich soll der Mut und die Kraft derjenigen gezeigt werden, die sich trotz der hemmungslosen Repression seitens des Staates dafür engagierten das politische System der DDR zu verbessern.5
2. Die Ära Honecker und die politische Opposition
Nachdem Walter Ulbricht aufgrund einer Intrige des Politbüros der SED und mit Zustimmung des sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew von Erich Honecker im Mai 1971 abgelöst wurde begann die endgültige Einbindung der DDR in das sowjetische Imperium, der Abbruch der Wirtschaftsreformen sowie eine sozialpolitische Offensive. Durch „Brot und Spiele" sollte die Bevölkerung stärker an die SED und die DDR gebunden werden. Gleichwohl begann aber auch eine Periode einer begrenzten und kontrollierten kunst- und kulturpolitischen Lockerung, die große Hoffnungen unter den Kunst- und Kulturschaffenden der DDR weckte. Zudem führte die sowjetisch-amerikanische Entspannungspolitik auch im innerdeutschen Verhältnis zu einer „Normalisierung". Zum Einen wurde der Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik unterzeichnet, wodurch die DDR offiziell als Staat von der Bundesrepublik anerkannt wurde und dieser auch die Möglichkeit zur internationalen Anerkennung gab. In diesem Zusammenhang entstand die Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung, die sich wirklich an den Bedürfnissen der Menschen orientierte. Bald mussten aber auch die letzten Optimisten erkennen, dass die neue Politik kein wirklicher Bruch mit dem stalinistischen Opportunismus war, sondern nur, die bis dahin vielleicht „raffinierteste Modifizierung des kriegskommunistischen Politiktyps".6 Insbesondere der verschärfte Antikapitalismus leugnete die natürliche Pluralität der menschlichen Gesellschaft und die fortschreitende Kollektivierung verkürzte die Individuen auf funktionale Eigenschaften (Arbeits- und Klassenwesen). Dieser inneren Abgrenzung, bedingt durch das neue sozialistische Menschenbild, folgten, trotz intensiver Entspannungspolitik neue Abgrenzungsstrategien gegenüber dem westlichen Einfluss, insbesondere dem der Bundesrepublik.7
2.1. Der Protestantismus und die staatlichen Dogmen
Die Macht der SED wurde einerseits durch die massive Kontrolle der gesellschaftlichen Ressourcen, andererseits durch die Durchsetzung ihres universellen Wahrheits- und Erklärungsmonopols aufrechterhalten. Dabei war an eine Modernisierung dieser Ressourcen bzw. ihrer Monopole nicht zu denken, wodurch unter anderem auch die Herausbildung einer weltmarktfähigen ausdifferenzierten industriellen Infrastruktur verhindert wurde. An diese offiziellen Wirtschaftsstrukturen lagerten sich inoffizielle Strukturen an - die Strukturen der Umverteilung und des Tauschhandels.
Die gleiche duale Struktur finden wir auch in der Öffentlichkeit der DDR. Neben der offiziell inszenierten Öffentlichkeit bildeten sich, vor allem seit Beginn der 70er Jahre, ein separater Diskurs, in dem Prozesse kommunikativer Verständigung politische Willensbildung wie auch rudimentäre Formen der Legitimation der Herrschaft bzw. auch die Infragestellung derselben entwickelt werden konnten.8 Da diese selbständigen Kommunikationsformen die Allmacht der Partei infrage stellten und daher ein politisches Risiko darstellten, reagierte die sozialistische Bürokratie mit einem enormen Anstieg konspirativer Ermittlungsverfahren.
Neben dem Einsatz von IM`s, den sogenannten „Hauptwaffen im Kampf gegen den Feind"9, wurde die CDU und ihr Einfluss auf die Christliche Friedenskonferenz ausgenutzt.10 In diesen Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit dem Staat spielte die Kirche, bzw. die in ihr organisierten Gruppierungen, ein herausragende Rolle. In ihr fanden sich innerhalb der 70er und 80er Jahre all diejenigen zusammen, die sich in irgend einer Weise aktiv gegen den Staat und im speziellen gegen die Autorität der SED widersetzten wollten. Diese sogenannte kirchliche Subkultur, die sich in den Räumen der Kirchgemeinden ausbildete, weigerte sich, obwohl sie täglich damit konfrontiert waren, die Dogmen der SED und die offizielle real-existierende sozialistische Gesellschaft als die ihrige anzuerkennen. Das dies viele Probleme und Nachteile für die Aktiven nach sich zog konnte ihr Engagement nicht bremsen, insbesondere auch deshalb, weil die Kirche sowohl materielle wie geistige Unterstützung leisten konnte und dies eine gewisse Unabhängigkeit von den staatlichen Ressourcen bedeutete. Der Grund dafür lag darin, dass die Kirche die einzige Organisation in der DDR war, die auf eine massive Unterstützung aus dem Westen bauen konnte und sich dadurch diese Unabhängigkeit von der staatlichen Doktrin und deren Ressourcen erkämpfen konnte.11 Diese Freiräume zu nutzen und gleichsam auszubauen musste durch die Pfarrer und kirchlichen Mitarbeiter oft auch gegen den erbitterten Widerstand der kirchlichen Orthodoxie geführt werden. Insbesondere im Bereich der offenen Jugendarbeit und im Folgenden bei Aktivitäten der Friedens-, Menschenrechts- und Ökologiebewegung gab es neben den repressiven Maßnahmen des Staates, respektive des Staatssicherheitsdienstes, immer wieder auch Maßnahmen seitens der Kirchenleitungen und der Synoden, die eine effektive und kontinuierliche Arbeit dieser systemimmanenten Opposition erschwerten.12Trotzdem gab es immer wieder neue und oft auch erfolgreiche Versuche gegen den SED-Sozialismus aufzutreten. Einer dieser Vertreter, der lange Zeit äußerst engagiert gegen das herrschende System auftrat, war der Bischof der Bekennenden Kirche Görlitz Hans Joachim Fränkel. Als Wortführer und Anwalt vieler oppositioneller Gruppen stand er aber auf der Ebene der Kirchenleitung weithin allein da. Offen und freimütig, wie nur wenige andere Kirchenführer, trat er gegen die SED auf und prangerte deren Anspruch „auf die Wahrheit im letzten Sinne" an. Zudem sprach er aus, was viele dachten aber nicht zu sagen wagten: Die SED errichtete ein totalitäres Regime, das Ähnlichkeit mit dem NS-Staat besitzt. Damit brach er mit allen Lehrsätzen der SED und was vielleicht schwerer wiegt, er nahm der SED ihre Hauptlegitimation - den Antifaschismus. Die Folgen dieser oppositionellen Haltung waren Maßnahmen wie Rufschädigung in der Kirche und in der Bevölkerung (Reaktionär) sowie offene und verdeckte Isolierungsmaßnahmen der SED und des MfS.13 Obwohl sich Fränkel infolgedessen immer aus der Opposition zurückzog und schließlich sein oppositionelles Profil verlor, kann er als Beispiel dafür dienen, in welcher Weise die kirchliche Oppositionsbewegung in der DDR gegen den Allmachtsanspruch und die Lehren der SED wehrte. Eine echte sozialistische Gesellschaft war in ihren Augen daher nur durch Demokratisierung, echte Rechtssicherheit, geistige und kulturelle Unabhängigkeit und die Wahrnehmung politischer Verantwortung möglich. Das dies natürlich der endgültige Bruch mit den Vorstellungen und Zielen der SED bedeutete machte die Realisierung um so schwerer.
2.2. Künstlerische Vielfalt im Herrschaftsbereich der SED
Wie oben erwähnt brachte die politische Neuorientierung zu Beginn der Honecker-Ära eine noch nie dagewesene Freiheit für die künstlerische Arbeit in der DDR. Auf dem 4. Plenum des ZK der SED im Dezember 1971 kam es zu einer entscheidenden Aussage, die die bisherige Politik unter Ulbricht radikal veränderte, jedenfalls theoretisch. Demnach könne es „ keine Tabus für Künstler auf dem Boden des Sozialismus geben".14Mit dieser Öffnung sollte die sozialistische Kunst und Kultur sowohl auf eine breitere Rezeption des Nationalen Erbes gestellt werden als auch selektiv Bürgerlich-Kritisches aus dem Westen aufnehmen. Hinzu kam, dass viele Künstler zusätzliche materielle und immaterielle Privilegien erhielten (West-Reisen, West-Autos u.a.), viele bis dahin verbotene Filme, Bücher u.a. erlaubt wurden und die Zensur gemäßigtere Züge erfuhr. Dies schaffte eine gewisse Entspannung in der dauerhaften Krise zwischen der SED und den Künstlern, ermunterte damit aber indirekt Schriftsteller und Künstler um so mehr, ihren Anspruch auf Autonomie wahrzunehmen und auszubauen.15Auf diese Weise war das immerwährende Ziel der oppositionellen Kulturschaffenden, einen Raum zu schaffen, der von staatlichen Vorgaben weitgehend befreit war und dadurch eine relative Autonomie für Person und Werk gewährte, jedenfalls im Grundsatz, erfüllt.16Jedoch wurde dieser neue Weg bald abgebrochen und ein neues, sehr strenges Kunst- und Kulturregime aufgebaut wurde, zeigt die Reformunfähigkeit, die die SED-Diktatur bis zu ihrem Ende besaß.
Der Grund für diese schnelle Richtungsänderung in der Kulturpolitik des SED-Staates lag darin begründet, dass die Wenigen, die die neuen Freiheiten genutzt hatten, die meisten übten Parteidisziplin, die Realitäten der DDR-Gesellschaft und die Widersprüche zu den SED- Schablonen ans Licht brachten. In vielen Jugend- und Studentenclubs gab es kritische Lesungen und unkonventionelle Musik kam zur Aufführung. Insbesondere in Jena, wo das Carl-Zeiss-Werk Lehrlinge aus der ganzen DDR rekrutiert hatte, entstand im angeschlossenen Kulturhaus unter Lutz Rathenow eine kulturell und kirchlich bedingte systemkritische Szene. Weiterhin entstanden sich an den Universitäten kritische Zirkel, die sich mit der neuen Kunst und Kultur beschäftigten.17
Es ist also festzustellen, dass diese Kunst und Kultur besonders auf junge Menschen einen großen Einfluss ausgeübt hat. Dies wiederum war ein Dorn im Auge der Staatspartei, die seit der Machtübernahme Honeckers die ideologische Erziehung der Jugend enorm intensiviert hatte. So war es nur konsequent, wenn der Staat solche Aktivitäten sehr kritisch beobachtete und schließlich verbot. Die eigentliche Gefahr dieser „staatlich erwünschten" Kunst und Kultur lag aber in der Interpretation, d.h. in der Rezeption der kritischen Werke durch die Konsumenten, insbesondere der Jugendlichen. Schon die kleinsten Abweichungen des jeweiligen Kunstwerkes vom aufgedrängten DDR-Weltbild spiegelte verbotene Wünsche und Hoffnungen wieder bzw. wurden so gedeutet.18Die Folge, eine strengere Zensur als unter der Ulbricht-Diktatur, zwang viele, sehr kritische Künstler, in den privaten Raum. In Freundes- und Bekanntenkreisen etablierten sich alternative systemkritische Kunst- und Kulturkreise, die bei ihren Zusammenkünften bis dato unbekannte Formen der freien Rede und Gegenrede fanden. Bis in die 80er Jahre hinein entwickelte sich aus diesen Gesprächskreisen (Kulturopposition) eine echte alternative Kunst- und Kulturszene. Neue Bewegungen - Liedermacher, Independent-Gruppen u.a. - kamen hinzu und traten in das Visier der Staatssicherheit.
Dabei muss aber auch kritisch angemerkt werden, dass eine gezielte politische Kritik, die auf
Machtbegrenzung der SED gerichtet war, fehlte - die Privilegien wollten die Kunst- und Kulturschaffenden nicht gefährden. Die meisten der kritischen Künstler blieben apolitisch, was sie sehr stark von der Kirchenopposition unterschied.19Der Grund hierfür ist vor allem in den Entpolitisierungsstrategien des MfS und der SED zu sehen. Zahlreiche parteitreue Künstler und IM´s wurden in diese Szene infiltriert und konnten so durch ihre Arbeit den apolitischen Charakter aufrechterhalten. Erst in den 80er Jahren, als eine Konzentration der systemimmanenten Opposition im Rahmen der Kirche erfolgte, sprachen einige wenige Künstler, die sich den Kirchengruppen angeschlossen hatten, politische Themen an. Zunehmend lösten sich nach der Ausbürgerung Biermanns und der darauf folgenden Resignation die kulturellen Zirkel auf und diejenigen, die wirklich an Veränderungen interessiert waren, gingen in die Kirchengruppen und zählten dort nicht selten zu den aktivsten Mitstreitern.
2.3. Die uneinheitliche Einheitspartei - SED-Reformer
Obgleich sich in der SED-Geschichte keine durchgängige Opposition als Richtung bzw.
Strömung oder eine organisierte Bewegung für tiefgreifende reformerische Veränderungen von Partei und Gesellschaft nachweisen lassen, wirkten von 1946 bis 1989 mehr kritische Potentiale als bisher angenommen. Renitent, kritische Haltungen, Widerspruch, disidieren, opponierende Verhaltensweisen, spontane bis organisierte Opposition einzelner Personen bzw. Gruppen, passiver und aktiver Widerstand sowie Flucht widerspiegelten vielfältiges Protestverhalten gegen die Stalinisierung der SED und gegen parteibürokratische, diktatorische Macht, für innerparteiliche Demokratie und für eine demokratische Gestaltung der Staatsordnung in der DDR.20Einschränkend ist allerdings zu beachten, dass sich fast alle SED-Mitglieder, die sich auf dieses Kampffeld begaben, nicht als Opponenten fühlten und das solche Aktivitäten auch nicht überschätzt werden dürfen.21Besonders wenn man deren Ziele betrachtet relativiert sich das Bild einer opponierenden Gruppe in der SED. So wollten sie keine Demokratisierung der Gesellschaft und der SED, sondern nur eine partielle Öffnung. Weiterhin strebten sie den Machterhalt der SED an, was einem Hegemonialanspruch gleich kam und vor allem in Zusammenhang mit den anderen Oppositionsgruppen zu großen Differenzen führte. Letztendlich wollten sie selbst die Macht übernehmen , wobei ihr wichtigstes Ziel ein effizienteres DDR-System war. Und trotzdem waren weder in der SED noch außerhalb ihrer Reihen solche Bewegungen zugelassen. Was sich nur annähernd in diese Richtungen bewegte, wurde insbesondere als „Sozialdemokratismus", „Trotzkismus",
„Diversion" und „konterrevolutionäre" Tätigkeit stigmatisiert bzw. kriminalisiert.22
Diesbezüglich besaßen in den 70er Jahren die Universitäten und Hochschulen, besonders die in Halle und Berlin, eine besondere Bedeutung. Hier versammelten sich Studenten, Mitglieder der SED, die sich in mehr oder weniger stark organisierten Gruppen mit trotzkistischen und reformesozialistisch-jugoslawischen Ansätzen auseinandersetzten. Zudem spielte der Prager Frühling eine besondere Rolle, auch wenn dieser keine so große Auswirkungen hatte, wie etwa in Polen. Insbesondere Robert Havemann und Rudolf Bahro wurden durch die Ereignisse in der Tschechoslowakei motiviert, den eigenen Weg für eine bessere DDR weiter zu beschreiten.23
Statt aber aktiv die Parteigremien zu beeinflussen setzte man, vor allem in den gemäßigten
„oppositionellen" Gruppierungen, auf einen Pakt mit den Mächtigen. Man suchte den Kontakt mit den führenden Funktionären aus dem Partei- und Staatsapparat statt den Aufbau einer eigenen Basis voranzutreiben. Und so war scheint es nicht zu verwundern, dass sie nur quasikonspirativ waren und sich spätestens Ende er 70er Jahren wieder auflösten. D.h. sie gingen in den Kirchengruppen auf, gründeten Folgegruppen oder verließen die oppositionellen Bewegungen ganz.24Andererseits zeigt dies auch, besonders für die jungen SED-Reformer, die abnehmende Anziehungskraft der marxistischen und linken Utopien und Konzepte einerseits und den Einflussgewinn der Kirchen andererseits.
Auf der anderen Seite standen diejenigen Reformer, die auf eine Reproduktion bzw.
Veränderung der politischen Verhältnisse von innen ausgerichtet waren. Sie suchten nicht mehr nach Wegen zu einer den Idealen besser entsprechenden Realität, sondern nach einem theoretischen Neuansatz des Sozialismus. Der Kurswechsel, so ihr Ziel, sollte aus der Staatspartei selbst heraus erfolgen. Sie strebten den Erhalt und die Stabilisierung der gegebenen gesellschaftlichen und sozialen Strukturen durch ihre Veränderung an. Dabei spielte die Vision von einem „neuen", „besseren" Sozialismus eine wichtige Rolle. Ausschlaggebend für diesen Neuansatz war das Trauma der Biermann-Ausbürgerung, welches 1976 nicht nur die SED-Reformer und Linksintellektuellen, sondern auch viele Aktivisten in den Kirchengruppen und der Kulturopposition, schwer getroffen hatte. Diese Zäsur gab den Anstoß dafür, nach den strukturellen Ursachen der Probleme, konkret nach den grundsätzlich im Konzept selbst liegenden Ursachen der Deformation und Grenzen der realsozialistischen Entwicklungen, zu forschen. Dabei stießen sie aber auf ihre Grenzen, die darin lagen, dass sie zwar die wesentlichen Bedingungen einer Reform erkannt hatten, eine politische Umsetzung jedoch der eigenen sozialen Lage widersprach. Wären sie konsequent reformatorisch vorgegangen hätten sie ihr eigenes politisches Selbstverständnis verloren und hätten die mitgegebene Identität der eigenen sozialen Gruppe aufgeben müssen - die eigenen Macht zur Gestaltung der politischen Verhältnisse und die Voraussetzung für die Realisierung der Reformen.25
Im Resümee war das Konzept des „Dritten Weges" auf die Zusammenarbeit mit Altkommunisten und der Aufbaugeneration und nicht auf die Verständigung mit der Kirchenopposition. Letztendlich waren diese Reformer bis 1989 außerstande zu begreifen, dass die Zulassung der Opposition zur Kontrolle und zur Partizipation an der Machtausübung die Voraussetzung dafür gewesen wäre, Reformfähigkeit überhaupt herzustellen. Zugleich erkannte man aber auch nicht, das der Staatssozialismus nicht reformierbar war, was sich 1889/90 insbesondere am Scheitern der Reformen Gorbatschows und damit dem Scheitern der Reform des Staatssozialismus an sich zeigte.
3. Die Entwicklung der Kirche zur „Oppositionspartei"
„Der Mißbrauch der Kirchen in der DDR wird charakterisiert durch Versuche feindlicher Stellen und kirchlicher Einrichtungen im Operationsgebiet im Zusammenwirken mit feindlich-negativen Kräften innerhalb und außerhalb der Kirchen, den rechtliche gesicherten Handlungsspielraum der Kirchen in der DDR auszuweiten bzw. zu überschreiten und die legalen kirchlichen Handlungsmöglichkeiten für antisozialistische Ziele zu missbrauchen. Der Feind und feindlich negative Kräfte versuchen dabei insbesondere die Position der Kirchen, ihre engen Verbindungen zu den Kirchen in der BRD, Westberlin und anderen kapitalistischen Staaten, ihre relative materielle Selbständigkeit, die vorhandenen kirchlichen Strukturen, Organisationsformen und materiell-technischen Möglichkeiten, den gut ausgebildeten und in der ideologischen Beeinflussung geübten Personalbestand der Kirchen auf große Bevölkerungskreise für die Realisierung und Tarnung ihrer antisozialistischen Aktivitäten auszunutzen."26
Diese Definition, die im „Wörterbuch der Staatssicherheit" unter dem Stichwort „Missbrauch der Kirche" zu finden ist, umschreibt in ihrer besonderen Art hervorragend die Organisation und Arbeitsweise der oppositionellen Gruppen im Raum der Kirche. Jedoch verkennt sie aus ideologischen Prinzipien völlig das Ziel der entstehenden politischen Oppositionsgruppen innerhalb der Kirche. Allein stimmt es, dass sie in den die Kirchgemeinden die Möglichkeit hatten, relativ ungestört und mit materieller und immaterieller Unterstützung ihre reformorientierten politischen Theorien zu entwickeln, zu diskutieren und schließlich einem breiten Publikum zu vermitteln. So wurden in der Kirche fast alle nenenswerten Oppositionsgruppen der DDR „geboren" und hier fanden diese, die so wichtige Öffentlichkeit in Form der Gemeindemitglieder. Sie waren oftmals die Ersten, die mit den neuen Ideen konfrontiert wurden und erste Diskussionen darüber führten, wie die reelle Umsetzung erfolgen könnte. Diese Kirchgänger waren es auch, die der oppositionellen Bewegung in den 70er Jahren ihre Kirchenräume zur Verfügung stellten. Daneben, und dies scheint besonders wichtig gewesen zu sein, arbeiteten viele Gemeindepfarrer, Gemeindediakone und Jugendwarte mit den meist jugendlichen Oppositionellen zusammen und halfen ihnen ihre Oppositionsarbeit auch strukturell aufzubauen. Diese Aufbauleistung, die stets im Zusammenhang mit einer intensiven Überwachungstätigkeit durch das MfS, speziell die Abteilung XX „Staatsapparat, Kunst, Kultur, Untergrund", gesehen werden muss, legte letztendlich den Grundstein für das personelle Wachstum und das steigende Selbstbewußtsein der Oppositionsgruppen in den 70er Jahren. Diese Entfaltung und Entwicklung der oppositionellen Gruppen innerhalb der Kirche soll im Mittelpunkt der folgenden Kapiteln stehen.
3.1. Das politische Potential der Kirche - Die Offene Arbeit
Mit dem Machtantritt Honeckers verstärkte sich der bis dahin bereits immense weltanschauliche-ideologische Druck auf die Kinder und Jugendlichen in der DDR.
Währenddessen sich die große Mehrheit der DDR-Jugend gezwungenermaßen loyal gegenüber dem Honecker-Regime verhielt und dadurch gewollt oder ungewollt zu einem Stabilitätsfaktor des SED-Staates wurde, gab es auch immer mehr Kinder und Jugendliche, die sich gegen diese totalitäre Herrschaftspraxis wehrten - die rebellische Jugend.27 Überwiegend kirchlich gebundene Jugendliche und sogenannte „asoziale Elemente" wurden diskriminiert, indem ihre berufliche und schulische Entwicklung massiv behindert wurde. Letztendlich waren es aber gerade die Jugendlichen, die später als Bausoldaten, Ausreiser und Aktivisten für Frieden, Menschenrechte und Umwelt in der Opposition der DDR aufgingen.28 Ihre ersten Erfahrungen sammelten sie diesbezüglich zu Beginn der 70er Jahre. Im Rahmen der sozialdiakonischen Arbeit der Kirche entwickelte sich eine Bewegung, die im Grundsatz und von dem Personenkreis her, der sich darin engagierte, die Basis und die Wurzel der Oppositionsbewegungen der 80er Jahre darstellen sollte. Diese sogenannte „Offene Arbeit" war im Grunde die erste faßbare politische Opposition der DDR, d.h. in ihr wurden alternative Vorstellungen über das Leben in der DDR innerhalb eines organisierten Rahmens diskutiert. Sie war Auffangbecken und Anlaufpunkt für alle die Jugendlichen, die in dieser Zeit in irgend einer Weise gegen die staatlich propagierten Dogmen und den real-existierenden Sozialismus aufbegehrten. Im Raum der Kirche fanden sie Zuflucht und sollten ursprünglich über einen strikt sozialen Kontext zusammen arbeiten und ihre Person, welche in den meisten Fällen offiziell als „Kundenszene" angesehen wurde, wieder in geordnete Verhältnisse einbinden. Das Ziel bestand grundsätzlich darin, den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, eigenständige und selbstverantwortete Beiträge zu ihrer Sozialisation zu leisten. Es sollte keine fürsorgliche und bevormundende Betreuung erfolgen, wie dies der so verhasste SED- Staat tat, sondern über die Erfahrung der Gemeinschaft eine eigene soziale Mündigkeit erworben werden. Der Raum der Kirche gab ihnen dafür die Möglichkeit zur Diskussion über Probleme und aktuelle Themen, die in der Öffentlichkeit und insbesondere in den ideologisch geprägten Lehreinrichtungen, keinen Platz hatten und deren Diskussionsort originär in Parlamenten, Bürgerversammlungen und Parteien war.29Somit nahm die „Offene Arbeit" und später alle anderen Oppositionsgruppen Funktionen des politischen Systems, wie Interessenartikulation, Mißstände anmahnen und einen ergebnisoffenen politischen Diskurs führen, war.30Die offizielle Grundlagen für die „Offene Arbeit" bildeten neben den theologischen Ansätzen die zugänglichen Materialien der DDR-Jugendarbeit, womit man sich zu Beginn in einer günstigen Lage befand, weil man sich nicht in den engen ideologischen Rahmen einfügen musste.31Die änderte sich jedoch sehr schnelle und die „offene Arbeit" distanzierte sich zunehmend von der Diakonie. Der Anspruch das „Ich-Sein" ausleben zu wollen und die Gesellschaft als veränderungsbedürftig anzusehen, brachte zuerst die Kirche mit dem Staat und schließlich die Kirche mit der „Offenen Arbeit" in einen unüberwindlichen Konflikt. Als Reaktion auf die zunehmenden Selbständigkeitsbemühungen der Jugendlichen und ihrer Leiter beteiligten sich die Kirchenleitungen an der Abschiebung, Versetzung und Entlassung kritischer kirchlicher Mitarbeiter, um so die „Bewegung" zu schwächen bzw. zu entpolitisieren.32Da sich die „Offene Arbeit" bzw. ihre Mitglieder in der Zwischenzeit verselbständigt hatte und Helfer und Geholfenen ineinander verschwammen führten diese Maßnahmen meistens ins Leere.
Durch die „Offene Arbeit" wurden zum ersten Mal in der Geschichte der DDR jugendliche Christen und Nichtchristen zusammengeführt, die zusammen einen Weg beschritten, der sich sehr schnell politisierte und schließlich zu einem Observationszentrum der Staatssicherheit wurde. Zwangsläufig kam es zum Konflikt mit der SED, da eine solche sozial-politische Arbeit nicht mit den staatlichen Erziehungszielen vereinbar war. Zudem bezog sich die „Offene Arbeit" nicht nur auf die Ablehnung der staatliche Autorität in vielen Bereichen, sondern auch auf die Haltung der institutionellen Kirche. Letztere verfolgte in den 70er Jahren, entgegen der Tendenz der 50er, 60er und 80er Jahre, einen vergleichsweise ruhigen Weg der Koexistenz mit dem SED-Staat und eine begrenzte Annäherung der Ihrigen und der staatlichen Ideologie.33
Insbesondere die oben erwähnte Durchmischung von jugendlichen Subkulturen, marxistischen Sektierern, kritischen Intellektuellen, Künstlern und jugendlichen Christen aus allen Schichten der Gesellschaft, war ein Dorn im Auge des Staates und der offiziellen Kirche. Deshalb fanden selbst die infamen Kriminalisierungsversuche der Staatssicherheit, die oftmals in Form von offiziellen Vertretern des Staates bei den Kirchenleitungen vorsprachen, fruchtbaren Boden innerhalb der Orthodoxie. Diese, sehr rasch fortschreitende, Kriminalisierung der Aktiven bewirkte allerdings das Gegenteil von dem, was eigentlich geplant war - die Politisierung und die Qualität der „Offenen Arbeit" verstärkte sich. In den zahlreichen, oftmals willkürlichen Treffen, entstand im Laufe der Jahre nicht etwa eine scharfe, zivilisationskritische und emanzipative Sozialismusvorstellung sondern eine soziale Revolte, die mit ihrem kirchlich-legalen Hintergrund politische Opposition war.34 Öffentlichkeit fand sie während dieser Zeit vor allem auf kirchlichen Großveranstaltungen, wie z.B. den verschiedenen Kirchentagen. Dort konnten sie, wenn auch durch die offizielle Kirche und die Staatssicherheit nicht gern gesehen, ein großes Publikum erreichen und somit für die Verbreitung ihrer Ideen entsprechend interessiertes Publikum finden. Neben dem Dresdener Pfarrer Christoph Wonneberger war ein Hauptakteur in der „Offenen Arbeit" der 70er Jahre der Thüringer Diakon Walter Schilling. Trotz intensiver staatlicher Repressionen konnte er bis in die 80er Jahre nicht dazu gezwungen werden auszureisen bzw. seine „staatsfeindliche" Arbeit zu beenden. Er half vor allem Jugendlichen, die durch die Sicherheitsorgane der DDR in jeder erdenklichen Form - Spitzelerpressung, Studien- und Abiturverweigerung, Ausweisentzug35u.a. - schikaniert wurden. Dabei musste er sich vor allem gegen seinen Landesbischof Braechlein zur Wehr setzen, der im Auftrag der Bezirks- und Kreisparteileitungen offensiv gegen Schilling vorging. Selbst seine Absetzung als Leiter des Diakonischen Heimes in Jena und die Repressionsmaßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit konnten ihn in seiner Arbeit nicht aufhalten. Einmalig für seine Zeit und als einer der ganz wenigen wehrte er sich gegen die Repressionsmaßnahmen des MfS, indem er diese über die verschiedensten Medien veröffentlichte. Auch wenn er nunmehr das Diakonische Heim als Arbeitsstätte verloren hatte, engagierte er sich für eine Dezentralisierung und Verbreitung der Offenen Arbeit in ganz Thüringen und später in der ganzen DDR.36Dadurch konnte sich, trotz der erwähnten rücksichtslosen staatlichen Unterdrückung, nicht zuletzt durch die unermüdliche Arbeit vieler Kirchenmitarbeiter, in der gesamten DDR, besonders in Leipzig, Dresden und Berlin neue Zentren der „Offenen Arbeit" herausbilden. Hier kam es dann auch zu einer Ausdifferenzierung der Aktivitäten, die neben der sozialdiakonischen Arbeit auch den Kampf gegen den Wehrkundeunterricht, für die Rechte von Wehrdienstverweigerer, Behinderten und Hausbesetzern umfasste. Darüber hinaus bildeten sich sogenannte „Werkstätten" und Arbeitsgruppen, welche letztendlich die Basis für die entstehenden Menschenrechts- und Friedensgruppen waren.
3.2. Friedens- und Menschenrechtsbewegung - Basis der kirchlichen Opposition
Seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1962 sah sich die SED jährlich mit mehr als 1.000 Wehrdienstverweigerern konfrontiert. Damit stand die Partei vor einem Dilemma. Einerseits schloss die Rechtslage in der DDR eine Wehrdienstverweigerung aus, andererseits war eine Inhaftierung der überwiegend christlich motivierten Verweigerer nicht mit der von Walter Ulbricht propagierten sozialistischen Menschengemeinschaft und der damit verbundenen Konfliktminimierung zwischen Kirche und Staat vereinbar. Somit wurde, nach langen Überlegungen und Abwägungen der Vor- und Nachteile, laut Anordnung des nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 7. September 1964 über die Aufstellung von Baueinheiten ein Soldat ohne Waffe und ohne Fahneneid „geboren".37Zugleich kam es aber zu einer mehr oder weniger offenen Diskriminierung dieser Wehrdienstverweigerer. Das betraf besonders die Verweigerung oder Eingrenzung von Studienmöglichkeiten, aber auch Berufsverbote und Berufseinschränkungen, vor allem von nicht kirchlich gebundenen Bausoldaten.
Aus dieser Praxis heraus und vor allem bedingt durch die nunmehr legale Konzentration systemkritischer und pazifistischer Christen und Nichtchristen innerhalb der Bausoldateneinheiten, entwickelte sich in der DDR eine politisch tätige Bausoldatenbewegung, der auch die Totalverweigerer angehörten. In kleinen regionalen Gruppen, besonders aber auf den jährlichen stattfindenden Bausoldatentreffen in Leipzig, fand eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema „echter sozialer Friedensdienst", der bis zum Ende der DDR ein zentrales Thema der Friedensbewegung blieb, statt. Zudem lagen die inhaltlichen Schwerpunkte in den siebziger Jahre in der kritischen Hinterfragung der Friedensproblematik, die insbesondere Menschenrechtsfragen einband und in praktischen Verhaltensorientierungen unter den realen Bedingungen der DDR.38Im Zentrum dieser Verhaltensorientierungen stand die Vermittlung des Prinzips Gewaltlosigkeit. Hervorzuheben sind auch der überregional wirkende „Kirchliche Arbeitskreis Frieden" des Jungmännerwerkes in Ostberlin und das seit 1973 zweimal jährlich stattfindende Friedensseminar in Königswalde. Daneben ging von den Bausoldaten eine Initiative aus, die Jugendkommission der Christlichen Friedenskonferenz (CFK) im Sinne systemkritischer Friedensvorstellungen zu instrumentalisieren. Durch scheinbar unverrückbare Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Mitglieder der Jugendkommission und der CFK und, was sicherlich nicht zu unterschätzen ist, der enormen Belastung der Kommission mit IM`s, was einer Gleichschaltung mit der staatlichen „Friedenspolitik„ gleich kam, scheiterte jedoch dieses Anliegen.39
Die Bausoldaten konzentrierten sich deshalb auf ihre eigenen Möglichkeiten und wurden zu einem großen Teil in den Kirchgemeinden und den genannten Arbeitsgruppen aktiv. Eine enge Zusammenarbeit mit ehemaligen Bausoldaten entwickelte sich zudem in allen Bereichen und Institutionen der kirchlichen Jugendarbeit. Somit entstand zwischen 1972 und 1978 eine Friedensbewegung als Basisbewegung, die deutlich gegen die friedenspolitischen Vorgaben des SED-Staates aussprach und damit gleichzeitig die Friedenspolitik der BEK kritisierte, die sich eng an die staatlichen Vorgaben anlehnte.40Des weiteren waren es die Studentengemeinden, die sich in den 70er Jahren mit den Themen Wehrdienst, Gewalt, Rüstung und nach 1978 mit dem Fach Wehrkunde an den Polytechnischen Oberschulen beschäftigten. Beide Gruppierungen, die meistens auch personell eng miteinander verflochten waren, begannen in dieser Zeit mehr oder weniger intensiv zusammenzuarbeiten. Und trotzdem kann in dieser Zeit noch nicht von einer koordinierten und kooperativen Freidensbewegung gesprochen werden. Dies beginnt erst nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979 als das Thema Friedenspolitik eine erhöhte Brisanz erhielt. In Verbindung mit den Hochrüstungsplanungen und -entscheidungen entwickelten sich daraus Anfang der 80er Jahre eine echte Friedensbewegung, die einen ihrer Höhepunkte ohne Zweifel mit den Aktionen „Schwerter zu Pflugscharen" und den Friedensdekaden hatte.41In dieser Zeit beginnt auch eine verschärfte Verfolgungstätigkeit der Friedensarbeit durch die Staatssicherheit, die dadurch zerschlagen werden sollten.
In der gleichen Zeit, im besonderen aber nach der Unterzeichnung der KSZE-Akte in Helsinki und des darin enthaltenen „Korb 3" mit der Verpflichtung zur Gewährung von Menschenrechten, begannen einzelne Gruppierungen innerhalb der Kirche, die oftmals auch in der Friedensarbeit integriert waren, sich intensiver mit der Problematik der Menschen- und Bürgerrechte in der DDR auseinanderzusetzen. Die grundsätzliche Gestaltung der Menschenrechtsdiskussion blieb fast ausschließlich den zahlreichen Arbeitsgruppen auf Gemeindeebene überlassen.. Übergeordnetes Ziel dieser Arbeitsgruppen war ein ökumenisches Gespräch über die Menschenrechte und ihre Verwirklichung und Verletzung in der DDR durchzuführen. Zugleich wurden Stellungnahmen zu offiziellen kirchlichen Verlautbarungen zur Menschenrechtsfrage ausgearbeitet und deren Friedensarbeit kritisch reflektiert. In Analogie zur tschechischen „Charta 77" erarbeiteten so z.B. Naumburger Theologiestudenten das „Querfurter Papier für Frieden und Gerechtigkeit heute".42Diese innerkirchliche Debatte wurde zum einzigen Forum über Menschenrechte in der DDR. Hier gab es die wenigen Texte und Informationen zur Menschenrechtsfrage, die einen aktuellen Bezug auf die DDR hatten. Zudem schaffte Helsinki und die UN-Charta eine hervorragende Legitimation für die Kritik der politischen Gegner der SED in Ost und West. Durch diese rechtliche Fundierung der oppositionellen Politik begann eine kontinuierliche Erschließung und Erweiterung der legalen Handlungsspielräume sowie der Verbesserung argumentativen Grundlagen.
Die KSZE-Texte standen nach deren Unterzeichnung offiziell auch in der DDR zur Verfügung und deren Einhaltung wurde versucht einzuklagen. Dabei ging es den Aktivisten vor allem um die Religionsfreiheit, die mit der ideologischen Abgrenzungsoffensive Honeckers, besonders gegenüber religiös gebundenen Kindern und Jugendlichen, immer mehr beschränkt wurde. Weiterhin standen Themen, wie Reisefreiheit, Probleme der Bausoldaten und die restriktive Handhabung der Veranstaltungsordnung im Mittelpunkt der Menschenrechtsdiskussion.43Vor allem aber die sogenannten Ausreiser beriefen sich auf diese Texte und konnten so offiziell nicht mehr kriminalisiert werden. Aber auch Robert Havemann unterstützte nach 1976 die Menschenrechtsgruppen, indem er die Legalisierung von Oppositionsgruppen forderte und besonders die Menschenrechtsfrage zugunsten der Gegner der SED beantwortete.44
Die SED musste in dieser Auseinandersetzung aber aus der Defensive heraus interpretieren, erklären und ihre Praxis rechtfertigen. Insbesondere durch die Betonung der sozialen Menschenrechte, die in der DDR auf einen mehr oder weniger hohen Niveau erfüllt waren, sollten die aufkommenden Forderungen nach individuellen Menschenrechten zurückgedrängt werden. Zudem deklarierte die SED die Verwirklichung der Menschenrechte als innere Angelegenheit, in die von außen nicht eingegriffen werden sollte. Einen starken verbündeten hatten die Kommunisten überdies in den „traditionellen Orientierungen", wie Gehorsam, Pflicht und Disziplin des Untertanen gegenüber dem Staat. Und überhaupt wurde im Selbstverständnis der SED und vieler ihrer Parteigenossen das Glück des Kollektivs höher bewertet als die Bürgerrechte. Dieser Versuch der ideologischen Neutralisierung der Menschenrechtsdebatte schlug jedoch, zumindest auf der Ebene der Kirchenbasis, fehl - die Einbindung der DDR in den KSZE-Prozess wurde so für die SED zu einem ernsthaften politischen Problem.45Und so musste wiederum das Ministerium für Staatssicherheit seine Unterdrückungstätigkeit verstärken, die in den 70er und 80er Jahren eine ganz neue „Qualität" aufwies. Diese „weichen Formen" der Verfolgung und Unterdrückung46- Rufschädigung, Organisation beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung der Selbstvertrauens u.a. - sind auf den ersten Blick nicht als Menschenrechtsverletzungen erkennbar, und verstießen trotzdem gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die UNO und waren kaum weniger wirksam, als die „groben" Methoden der Unterdrückung.47Im Interesse und zur Stärkung des internationalen Ansehens der DDR musste aber dieser neue Weg der lautlosen Repression gegangen werden, da aus den gesellschaftlich ungewollten Gegebenheiten auf solcherlei Disziplinierungsmaßnahmen nicht verzichtet werden konnte. Des weiteren wurde das DDR-Strafrecht derart modifiziert, dass jeder Versuch eines DDR-Bürgers, festgelegtes Recht und Rechtsmittel der internationalen Organisationen wahrzunehmen, bestraft wurde.
Die offizielle Kirche schränkte daraufhin, insbesondere im Interesse eines besseren Miteinanders von Staat und Kirche, ihre Aktivitäten auf diesem Gebiet ein. 1981 kam es schließlich zu einem vollständigen Debakel der kirchlichen Menschenrechtsdebatte, als die Kirchenleitungen die Freiheitsrechte bzw. Individualrechte offiziell den sozialen Rechten unterordneten. Es kam somit zur Gleichschaltung der Menschenrechtsauffassung der offiziellen Kirche mit jenen der SED und die Menschenrechtsbewegung musste ihr Scheitern eingestehen und ging in der sich kräftig entwickelnden Friedensbewegung auf.48 Mit der Machtübernahme Honeckers, der zunehmenden Integration der DDR im internationalen Staatensystem und der deutsch-deutschen Entspannungspolitik, die letztendlich für eine kurzzeitige Annäherung der beiden Blöcke sorgte, begann sich in der DDR die Herausbildung einer systemimmanenten Widerstandsbewegung. Die zentralen Themen Frieden und Menschenrechte bildeten dafür die thematische Grundlage und mobilisierten innerhalb der 70er Jahre eine große Zahl an systemkritischen DDR-Bürgern. Neben den genannten Wehrdienstverweigerern/Bausoldaten, den Jugendlichen der Offenen Arbeit, vielen Kirchenmitarbeitern und anderen Christen fanden sich auch kritische Marxisten (Havemann, Bahro, Biermann) in den Reihen dieser Oppositionsgruppen. Und obwohl deren Arbeit ständig staatlichen Repressionen und teilweise einer Behinderung seitens der Kirchenleitungen standhalten und auch so manchen Rückschlag hinnehmen musste, entwickelte sich in der DDR, wenigstens seit 1977 eine institutionalisierte Opposition.49Diese Opposition, die in der Art nur auf der Ebene der relativ unabhängigen Kirche stattfinden konnte, bildete schließlich in den 80er Jahren die Basis und zu einem großen Teil auch die Führungsschicht der immens wachsenden oppositionellen Kreise gegen Ende der 80er Jahre.
3.3. Die konzentrierte Opposition
Mehrere wichtige Ereignisse führten nach 1976 zu einer verstärkten Konzentration und Institutionalisierung der DDR-Opposition unter dem Dach der Kirche.
Zum Einen führte die Ausbürgerung Wolf Biermanns am 13. November 1976 zu einer bis dahin unbekannten Protestwelle. Biermann, als Vertreter einer Gruppe Oppositioneller, die die Vision eines ganz anderen nationalsozialistischen Deutschlands auf der Grundlage eines demokratischen Sozialismus verkörperten, wurde damit zum Initiator einer ganz neuen Qualität innerhalb der Geschichte der Oppositionsbewegung in der DDR.50Die Diskussionskreise in den protestantischen Gemeinden erfuhren einen deutlichen Teilnehmerzuwachs, aus denen sich der spätere Kern einer informellen und politischen Opposition rekrutierte. Weiterhin kam es auch innerhalb staatlicher Institutionen und Organisationen zu zahlreichen Fällen kritischer Äußerungen, was zu einer Vielzahl an Parteiausschlussverfahren führte.51Somit kamen die Sympathisanten und Mitstreiter auf Kirchenebene nicht mehr nur aus kirchlichen Kreisen, sondern entstammten nunmehr auch künstlerischen, linksintellektuellen und anderen systemkritischen Gruppierungen. Insbesondere aber die kritische Künstlerszene hatte sich nach der Ausweisung Biermanns resignierend zurückgezogen und nur wenige arbeiteten in dieser neuen Bewegung aktiv mit bzw. schlossen sich zu einer alternativen Kulturszene zusammen.52
Des weiteren, und wohl eines der wichtigsten Ereignisse in der ostdeutschen Widerstandsgeschichte, war die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976 um 10.20 Uhr vor der Michaeliskirche in Zeitz. Diese Widerstandsaktion des Pfarrers im Ringen um individuelle Selbstbehauptung und gegen die totalen ideologischen Ansprüche der SED war eine bewusste Handlung, die auf eine öffentlich-politische und kirchenpolitische Wirkung abzielte. Währenddessen die Kirchenoberen nicht in der Lage waren, die Ereignisse um Brüsewitz als Politikum zu verstehen, begannen viele, bis dahin resignierte oppositionelle Theologen und Laien, nach politischen Alternativen zu suchen. Dieser Mobilisierungseffekt, der bereits die Beerdigung von Brüsewitz zu einer Demonstration gegen die SED und ihre Herrschaftspraxis werden ließ, gab schließlich der gesamten Oppositionsbewegung in der DDR neue Impulse, indem man sich intensiver mit den Ideen und Zielen von Brüsewitz auseinandersetzte - vor allem Unterdrückung von religiös gebundenen Kindern und Jugendlichen. Ungewollter Nebeneffekt war aber auch eine regelrechte Suizidwelle, insbesondere unter Jugendlichen der Offenen Arbeit, aufgrund der jahrelangen Ausgrenzungen und Repression und als besonders bedrückende Form des politischen Protests.53
Letztendlich war auf internationaler Ebene der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979, die Polenkrise 1980-1982 und der NATO-Doppelbeschluss 1979 entscheidende Ereignisse, die in der DDR das Wachsen und die zunehmende qualitative Steigerung der systemimmanenten Opposition bewirkten. Letzteres zog die Nachrüstung der UdSSR nach sich und so wuchs in der Bevölkerung das Gefühl der Bedrohung durch einen möglichen Nuklearkrieg. Vor allem aber die Ereignisse in Polen, die im sozialistischen Lager einen Sturm der Entrüstung bewirkten, und nicht zuletzt auf Initiative der SED mit militärischen Gegenmaßnahmen bekämpft werden sollte54, waren für die DDR-Oppositionellen ein wichtiges Moment, sich mit den dortigen Gesinnungsgenossen in Verbindung zu setzen. Im Kontakt mit Systemkritikern aus Polen, aus der CSSR und aus der Sowjetunion erhielt man Materialien, die für den Auf- und Ausbau der eigenen Arbeit von größter Wichtigkeit waren. Zudem wurde innerhalb der oppositionellen Kreise eine Solidaritätsaktion ins Leben gerufen, mit der die betroffenen polnischen Aktivisten unterstützt wurden und die DDR-Bevölkerung mit ideologisch unbelasteten Informationen über die dortigen Ereignisse versorgt wurden.
Hierzu gehört im Besonderen auch, wie oben bereits dargelegt, die Einführung des Wehrunterrichts an den Polytechnischen Oberschulen.
Alle diese Ereignisse hatten in der DDR eine gemeinsame Folge - die kontinuierliche Verbesserung und Intensivierung, sowie die Konzentration der Politischen Opposition unter dem Dach der Kirche. Die sich dabei herausbildende starke Friedensbewegung wurde ergänzt durch eine zivilisationskritische Umweltbewegung - die Menschenrechtsdebatte trat dabei in den Hintergrund. Beide, sich in ihren Funktionen ergänzenden Bewegungen, begannen nunmehr die tabuisierte westliche Öffentlichkeit zu nutzen und ihre Aktionen DDR-weit zu koordinieren und zu realisieren. Damit verbunden war natürlich auch eine größere Öffentlichkeit, die man durch gezielte Informationen, teils über Veranstaltungen, teils über die verbotenen Schriften mit der gesellschaftlichen Realität des SED-Regimes konfrontierte. Schließlich bildeten sich daraus Netzwerke, die den legalen Handlungsraum der Kirche nutzten und erweiterten. Seit 1980 waren hierfür besonders die regelmäßigen Friedensdekaden und die daraus entstandene Bewegung „Schwerter zu Flugscharen" besonders wichtig.
Grundsätzlich ging es den Friedensaktivisten nicht um eine Ablehnung des Sozialismus, sondern um ein neues innenpolitisches Klima, welches Toleranz, Vertrauen, die Bereitschaft zum Umdenken und die Einsicht in die bisherige Fehlentwicklung schaffen würde. Für besonders wichtig hielt die Bewegung die Bereitschaft zur Verständigung und zum Kompromiss, den Verzicht auf psychische und physische Gewalt, die Versöhnungsbereitschaft sowie den Abbau von Feindbildern. Inhaltlich wurden diese Ziele zur Positionsbestimmung der gesamten DDR-Friedensbewegung 1980 bzw.
1981/82 in dem „Rahmenkonzept Erziehung zum Frieden", dem Pazifismuspapier und dem Aufruf zum „Sozialen Friedensdienst" verarbeitet. Auf dieser Grundlage erweiterte sich im Laufe der 80er Jahre eine thematisch umfangreichere politische Opposition innerhalb der Kirche (Ökologie, Frauen, Frieden, Homosexuelle, Dritte Welt u.a.), die durch verschiedene „unabhängige" Gruppen, welche aber mehr oder weniger auf die kirchliche Unterstützung und deren Raum zurückgreifen mussten, ergänzt wurde.55
4. Die 70er Jahre - Grundlage für die friedliche Revolution 1989?
Unabhängig davon, ob man diese systemkritische Bewegung in der DDR der 70er Jahre als Opposition, Dissidenz oder als Widerstand bezeichnen will, steht fest, dass die meisten dieser engagierten Bürger einen wesentlichen Beitrag zur friedlichen Revolution im Jahr 1989/90 geleistet haben. Dabei wurzeln die politisch bedeutsamsten oder mitgliederstärksten neuen Gruppierungen der DDR im Jahr 1989 - das „Neue Forum", die „Sozialdemokratische Partei„, die Partei „Demokratischer Aufbruch", die „Grüne Partei", die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt" sowie die Sammlungsbewegung „Vereinigte Linke" - in jenen Oppositionskreisen, die sich im Laufe der 70er und insbesondere in den 80er Jahren unter dem Dach der Kirche herausgebildet hatten.56Im Besonderen wurden in den Revolutionstagen des Herbstes 1989 viele Ideen aufgegriffen, die in den 70er Jahren geboren wurden und damals eine konkretere inhaltliche Ausgestaltung erfuhren - Frieden, Freiheit, Menschenrechte, Demokratie, Entmilitarisierung der Gesellschaft u.a.. Zugleich waren die programmatischen Zielvorstellungen dieser Initiatoren der Revolution uneinheitlich, und wie sich sehr schnell herausstellte zum Teil illusionär, weil durch sie der sogenannte „Dritte Weg" als tiefgreifende Reform der DDR thematisiert wurde.
Indentitätsstiftend wirkte dabei die dominante Rolle der evangelischen Kirchen und deren starker Einfluss auf Bewusstsein und Gestalt der Opposition; christliche Überzeugungen, religiöse Handlungsmuster, wobei nicht zuletzt die materiellen und personellen Ressourcen der Kirchen existenzsichernd waren.
Ausgehend von der Bausoldatenbewegung, die ihre Ursprünge in den 60er Jahren hatte, bis hin zu den ersten Friedensdekaden und der Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen, bildete das dritte Jahrzehnt des Bestehens der DDR eine wesentliche Grundlage für das entstehen einer politisch motivierten Opposition, ohne die die „Oktoberrevolution" in der DDR nicht möglich gewesen wäre. Zudem stärkte die Unterzeichnung der KSZE-Akte durch die DDR und der Beitritt zur UNO die rechtlichen Basis der Oppositionsarbeit. Zum ersten Mal hatten damit die Oppositionellen in der DDR eine rechtliche Legitimation für ihre Arbeit, die auch vom SED-Regime nicht abgelehnt oder kriminalisiert werden konnte. Gleichwohl fanden die SED und ihr Repressionsapparat Möglichkeiten, die es erlaubten, unter den Zwängen der internationalen Rücksichtnahme, die eigene Bevölkerung und insbesondere unliebsame Personen, weiterhin wirksam zu unterdrücken (weiche Formen der Repression). Trotz vieler Rückschläge (vor allem die Ausbürgerungen führender Oppositioneller), die die Opposition dadurch hinnehmen musste, konnte die Staatssicherheit die sogenannten „feindlich-negativen Kräfte" nie voll unter Kontrolle bringen, so dass dieser Dauerkonflikt auch ein Element im Prozess des Niedergangs des SED-Regimes wurde.57Ungeachtet dessen verhinderte aber die Staatssicherheit, dass in den 70er Jahren eine größere systemkritische Öffentlichkeit entstehen konnte bzw. existierte, wie dies etwa in den 80er Jahren der Fall war, wo die DDR-weite Zusammenarbeit und Koordination verbessert wurde. Internationale Ereignisse, wie die Entspannungs- und Reformpolitik Gorbatschows taten ihr Übriges hinzu und motivierten die Menschen gegen die bestehenden Verhältnisse und die politisch geschaffene Isolation der DDR aufzubegehren.
Besonders problematisch erschien in dieser Zeit, dass sich die offizielle Kirche den Auffassungen der SED-Regierung, vor allem im Bereich der Friedens- und Menschenrechtspolitik, immer mehr angepasst hatte. So kam es auf der Ebene der Kirchenbasis zu einer Herausbildung organisierter thematischer Gruppen, bei denen man seit Ende der 70er Jahre eine langsame aber kontinuierliche Qualitäts- und Quantitätsverbesserung verzeichnen konnte. Diese ersetzte faktisch die Arbeit der Kirchenleitungen in den umstrittenen Themenbereichen. Zu Beginn der 80er Jahre spielte ferner die Herausbildung der sogenannten Netzwerke, die eine Verbindungs- und Koordinierungsfunktion zwischen den einzelnen regionalen Gruppen wahrgenommen hatten, eine entscheidende Rolle. Durch sie intensivierte sich die Zusammenarbeit der Oppositionsgruppen in der gesamten DDR - trotz zunehmender Repression durch das Ministerium für Staatssicherheit, die zum Teil durch die offizielle Kirche unterstützt bzw. gebilligt wurde.
Als nun in den Jahren zwischen 1985 und 1989 eine „ tiefgreifende Veränderung des internationalen Umfelds durch Gorbatschows Perestroika, die Reformprozesse in Polen und Ungarn, die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze mit der einsetzenden Massenflucht und nicht zuletzt die völlig bornierte und im Sinne der eigenen Herrschaftssicherung geradezu selbstmörderische Strategie der SED und ihres Polizeiapparates ..." einsetzte, waren es viele jener Mitglieder der Opposition der 70er Jahre, die den Stein des Niedergangs der DDR ins Rollen brachten. Waren es zuerst nur wenige, die z.B. regelmäßig im Januar eine Gegendemonstration zu den staatlichen Bebel/Luxemburg- Demonstrationen so gut es ging durchführten, so bewirkten besonders die revolutionären Ereignisse in Polen und Ungarn einen Mobilisierungsprozess, der letztendlich zu den Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten in Ostdeutschland führte. Obwohl die Oppositionsgruppen der DDR nie das organisatorische und programmatische Profil der polnischen Opposition besaßen und zu jeder Zeit nur auf eine begrenzte gesellschaftliche Unterstützung hoffen konnten, trugen sie entscheidend dazu bei, dass Mißstände in der DDR aufgedeckt und entsprechende Lösungen angeboten wurden. Dadurch entstand letztendlich in der Öffentlichkeit eine Diskussion, die, orientiert an westdeutschen Maßstäben und der Hoffnung auf eine besseres Leben, den Sturz des DDR-Regimes bewirkte.
4. Literaturverzeichnis
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9. Kleinschmid, Harald: Vor 20 Jahren: Ausbürgerung von Wolf Biermann. In: Deutschland Archiv, Nr. 6, 1996, S. 913 - 917.
18. Kleßmann, Christoph: Opposition und Dissidenz in der Geschichte der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 5, 1991, S. 52 - 62.
19. Knabe, Hubertus: Politische Opposition in der DDR - Ursprünge, Programmatik, Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd., 1 / 2, 1990, S.21 - 32.
10. Knabe, Hubertus: Weiche Formen der Verfolgung in der DDR - Zum Wandel repressiver Strategien in der Ära Honecker. In: Deutschland Archiv, Nr. 5, 1997, S. 709 - 720.
14. Knauer, Gerd: Innere Opposition im Ministerium für Staatssicherheit? In: Deutschland Archiv, Nr. 7, 1992, S. 718 - 727.
15. Land, Rainer: Reformbewegungen in der SED in den 80er Jahren - Möglichkeiten und Grenzen. In: Pollack, Detlef & Rink, Dieter (Hrsg.): Zwischen Verweigerung und Opposition - Politischer Protest in der DDR. Frankfurt a. Main & New York 1997, S. 129 - 144.
16. Neubert, Erhard: Das MfS und die Kirchenpolitik der SED. In: Deutschland Archiv, Nr. 4, 1992, S. 346 - 358.
17. Ders.: Geschichte der Opposition in der DDR 1949 - 1989. Berlin 1997.
18. Ders.: Der KSZE-Prozess und die Bürgerrechtsbewegung in der DDR. In: Henke, KlausDietmar & Steinbach, Peter & Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand und Opposition in der DDR. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 295 - 308.
19. Otto, Wilfriede: Gemeinsamkeiten und Unterschiede oppositioneller Handlungen in der SED bis zur Entmachtung der Staatspartei. In: Timmermann, Heiner (Hrsg.): Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall DDR. Berlin 1996, S. 437 - 448.
20. Pollack, Detlef & Rink, Dieter (Hrsg.): Zwischen Verweigerung und Opposition - Politischer Protest in der DDR. Frankfurt a. Main & New York 1997.
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22. Schroeder, Klaus & Alisch, Steffen: Der SED-Staat - Geschichte und Strukturen der DDR. Herausgegeben von der bayrischen Landeszentrale für politische Bildung. München 1998.
23. Suckut, Siegfried (Hrsg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit - Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit". Berlin 1996.
24. Teichmann, Helmut: Die Politik der Honecker-Führung seit Anfang der 70er Jahre. In: Deutschland Archiv, Nr. 8, 1990, S. 1211 f..
25. Timmermann, Heiner (Hrsg.): Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall DDR. Berlin 1996.
26. Weber, Hermann: Nicht immer brennt Feuer, wenn es qualmt. In: Deutschland Archiv, Nr. 3, 1995, S. 271 - 277.
27. Wilke, Manfred & Kubina, Michael: „Die Lage in Polen ist schlimmer als 1968 in der CSSR " Die Forderungen des SED-Plitbüros nach einer Intervention in Polen im Herbst 1980. In: Deutschland Archiv, Nr. 3, 1993, S. 335 - 340.
28. Zech, Karl-Adolf: er traf den Nerv - Die Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz im August 1976 und ihre Folgen. In: Deutschland Archiv, Nr. 4, 1996, S. 587 - 607.
[...]
1 Hierbei denke ich u.a. auch an die sportlichen Erfolge der DDR-Athleten bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und Europameisterschaften, seitdem es eine eigenständige DDR-Mannschaft gab. Diese wurden systematisch von der SED-Führung für propagandistische Zwecke ausgenutzt.
2 Pollack & Rink (1997) S. 11 f..
3 Schroeder & Alisch (1998) S. 547.
4 Bei letzteren möchte ich, auch hier aus eigenem Erleben, die Angelvereine nennen, wenn gemeinsame Angelausflüge zu einem „gemeinschaftlichen Ausbruch" aus dem staatlich verordneten Alltag wurden. Selbst gestandene SED-Genossen, die in den Versammlungen Propagandavorträge hielten, verließen ihre eng begrenzten Handlungsspielräume und gaben sich so, wie sie wirklich waren.
5 Zur Typologisierung der Oppositionsströmungen und der Oppositionsbewegung siehe Rink in Pollack & Rink (1997), S. 54 - 77.
6 Teichmann in Deutschland Archiv, 8, 1990, S.1212.
7 Schröder & Alisch (1998) S. 199 ff..
8 Haspel in Pollack & Reich (1997) S. 82.
9 Fricke (1992) S. 45.
10 Neubert in Deutschland Archiv, 4, 1992, S.349.
11 Rüddeklau (1992) S. 26.
12 Neubert (1997) S. 202.
13 Ebenda S.263 ff..
14 Erich Honecker auf dem 4. Plenum des ZK im Dezember 1971 zitiert aus Neubert (1997) S 214.
15 Kleßmann in Aus Politik und Zeitgeschichte, 5, 1991, S. 60.
16 Klaus in Rink & Pollack (1997) S. 107.
17 Rüddenklau (1992) S. 18 ff..
18 Neubert (1997) S. 214.
19 Rink in Pollack & Rink (1997) S. 61.
20 Otto in Timmermann (1996) S. 437.
21 Zum Widerstand im MfS Knauer in Deutschland Archiv, 7, 1992.
22 Ebenda S. 439.
23 Kleßmann in Aus Politik und Zeitgeschichte, 5, 1991, S. 61. Siehe dazu auch Abschnitt 3.2..
24 Rink in Pollack & Rink (1997) S. 63.
25 Land in Pollack & Rink (1997) S. 141.
26 Suckut (Hrsg.) (1996). S. 211.
27 Rüddenklau (1992) S. 26.
28 Neubert (1997) S. 250.
29 Rink in Pollack & Rink (1997) S. 55.
30 Haspel in Pollack & Rink (1997) S. 85.
31 Neubert (1997) S. 289.
32 Rüddenklau (1992) S.26.
33 Kleßmann in Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Band VII/2, S. 1095.
34 Neubert (1997) S. 291.
35 Dieser Ausweisentzug gehörte wohl zu einem der berüchtigtsten Repressionmitteln des SED-Staates. Neben der Reiseeinschränkung selbst innerhalb der DDR, bedeutete dieser Ausweis ständig den Schikanen der Volkspolizei ausgesetzt zu sein. Zu den bekanntesten Opfern des Ausweisentzuges gehörte wohl die Claus-Renft-Combo, die seit Mitte der 70er, neben dem Auftrittsverbot, dieser Schikane ausgesetzt war.
36 Neubert (1997) S. 293.
37 Eisenfeld in Deutschland Archiv, 3, 1995, S. 256.
38 Ebenda S. 261.
39 Ebenda S. 260.
40 Neubert (1997) S. 299.
41 Rink in Pollack & Rink (1997) S. 55. Schmid in Pollack & Rink (1997) S. 174 f..
42 Neubert (1997) S. 316.
43 Neubert (1997) S. 257 ff.
44 Neubert in Henke, Steinbach, Tuchel (1999), S. 301.
45 Ebenda S. 297.
46 Ausführlicher dargestellt in der Richtlinie 1/76 „Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge„ des Ministeriums für Staatssicherheit.
47 Knabe in Deutschland Archiv, 5, 1997, S. 715 ff..
48 Neubert in Henke, Steinbach, Tuchel (1999), S. 305.
49 Neubert (1997) S. 202.
50 Jander in Henke, Steinbach, Tuchel (1999), S. 289.
51 Neubert (1997) S. 229.
52 Rink in Pollack & Rink (1997) S.61.
53 Ebenda S. 275 ff.
54 Ausführlicher hierzu Wilke & Kubina: „Die Lage in Polen ist schlimmer als 1968 in der CSSR..." in Deutschland Archiv, 3, 1993, S. 335 ff..
55 Knabe in Aus Politik und Zeitgeschichte, 1 / 2, 1990, S. 22.
56 Knabe in Aus Politik und Zeitgeschichte, 1 / 2, 1990, S. 22.
57 Kleßmann in Aus Politik und Zeitgeschichte, 5,1991, S. 60.
- Quote paper
- Markus Praprotnick (Author), 1998, Die Etablierung der politischen Opposition in der DDR in den 70er Jahren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98010
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