Inhalt:
1.Einleitung
2. Rousseau
2.1. Über das Leben Rousseaus
2.2. Rousseaus Gesellschaftstheorie
2.3. Weiblichkeitsentwurf und Geschlechterverhältnis bei Rousseau
3. Condorcet
3.1. Über das Leben Condorcets
3.2. Condorcets Gesellschaftstheorie
3.3. Weiblichkeitsentwurf und Geschlechterverhältnis bei Condorcet
4. Die Positionen Condorcets und Rousseaus im Vergleich
5. Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die feministische Wissenschaft kritisiert seit nunmehr fast 30 Jahren die Französische Revolution als ,,männliche Revolution". Die Frauen waren offenbar nicht das Geschlecht, für das die Menschenrechte erkämpft werden sollten. Denn den Frauen wurden die Menschenrechte nicht zugesprochen; Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die großen Errungenschaften der Revolution, sie galten nur für die eine Hälfte der Menschheit, für die Männer. Für die andere Hälfte dagegen war diese Revolution durch ihr Einhergehen mit dem neuen, bourgeoisen Frauenbild sogar eine Aberkennung von zuvor erlangten Privilegien. Im vorrevolutionären Frankreich konnten adlige Frauen unbehelligt ihre politischen und intellektuellen Interessen verfolgen, indem sie sich in Salons trafen und über gesellschaftliche Entwicklungen diskutierten. Nach der Revolution war das kaum mehr möglich. Wie aber konnte es zu einem repressiven Frauenbild kommen?
Die Ausführungen Rousseaus werden schon lange vom Feminismus kritisiert. Doch Rousseau war nicht der einzige Philosoph dieser Tage, der sich zur Geschlechterfrage geäußert hat. Es gab Vorstellungen, die viel weniger restriktiv, sondern fortschrittlich und ,,frauenfreundlich" waren. Schon 1673 forderte Poulain de la Barre in seiner (übrigens weit verbreiteten) Broschüre ,,De l'égalité des deux sexes" die rechtliche Gleichheit zwischen Mann und Frau. Poulain glaubte wie Descartes an die Trennung von Geist und Körper und lehnte deshalb Inferioritätsbegründungen, die auf die physische Schwäche der Frau zurückgehen, ab. Frauen sind seiner Meinung nach ebenso zu vernünftigem Denken fähig wie Männer, alle anderen Vermutungen beruhten auf Vorurteilen. Genau in dieser Tradition de la Barres argumentiert auch Condorcet. Er bildet mit seinen Ansichten ein Gegengewicht zu Rousseau. Dieses Gewicht war aber offenbar nicht schwer genug. Rousseaus Aussagen waren wesentlich weiter verbreitet und haben die bürgerliche Gesellschaft entscheidend geprägt. In der vorliegenden Arbeit sollen die beiden verschiedenen Meinungen von Rousseau und Condorcet dargestellt und verglichen werden. Das Augenmerk gilt dabei der Tatsache, wie zwei so unterschiedliche Auffassungen in das Bild der Aufklärung passen; zu diesem Zweck müssen die Thesen zum Geschlechterverhältnis jeweils im Zusammenhang mit der Gesellschaftstheorie und der persönlichen Vorstellung von Anthropologie der beiden Autoren betrachtet werden.
2. Rousseau
2.1. Über das Leben Rousseaus
Jean-Jacques Rousseau wurde am 28. Juni 1712 in Genf geboren. Sein Kindheit verlief unglücklich; die Mutter starb kurz nach seiner Geburt, und er wuchs als Halbwaise auf.
Rousseau trat in Genf eine Lehre bei einem Kupferstecher an, blieb ansonsten jedoch ohne systematische Ausbildung.
Mit 16 Jahren lernte Rousseau in Savoyen Madame de Warens kennen, die ihn zum Katholizismus brachte und später seine Gönnerin und Geliebte wurde. 1741 trennte er sich von ihr, um nach Paris zu gehen. Er tat sich in dieser Zeit als politischer Philosoph, Schriftsteller und Musiktheoretiker hervor. 1745 begegnete er Therèse le Vasseur, die er erst 1768 heiratete. Er zeugte fünf Kinder mit ihr, die er alle im Findelhaus unterbringen ließ. 1750 gewann Rousseau den Preis der Akademie in Dijon, wo er eine Arbeit eingereicht hatte zu dem Thema , ,,ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe". In dieser Schrift, in der Rousseau die Frage mit einem klaren ,,Nein" beantwortet, liegt der Grundgedanke seiner späteren gesellschaftstheoretischen Überlegungen. Rousseau verkehrte regelmäßig mit den Enzyklopädisten Condillac, Diderot und d`Alembert; er schrieb musiktheoretische Beiträge für ihre Publikationen und pflegte mit d`Alembert einen regen Briefkontakt.
1755 verfasste Rousseau ,,Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen"; 1761 erschien sein sentimentaler Liebesroman ,,La nouvelle Heloise"; 1762 schloß er die Manuskripte von ,,Emile oder Über die Erziehung" und ,,Vom Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes" ab. Wegen der beiden letztgenannten Werke wurde gegen Rousseau Haftbefehl erlassen; die Zensur und der Erzbischof verboten ,,Emile" und den ,,Contrat social". Seit 1762 hielt sich Rousseau in der Schweiz und in England im Exil auf. 1770 kehrte er nach Paris zurück und lebte dort einsam und zurückgezogen. 1778 starb Rousseau in Ermonville.
1781/82 wurden die ,,Bekenntnisse" veröffentlicht, die aufgrund ihrer schonungslosen Offenheit in der Selbstdarstellung große Aufmerksamkeit erregten und besonderen Einfluß auf die spätere Literaturform der Autobiographie hatten.
2.2. Rousseaus Gesellschaftstheorie
Vorbemerkung: Rousseau benutzt in seinen französischen Originalschriften den Ausdruck "l'homme" für "Mensch"; "l'homme" heißt jedoch gleichzeitig "Mann". Dieser Ausdruck für den "Menschen Mann" ist, wie wir später sehen werden, genauso maskulin geprägt wie es scheint. Der Einfachheit halber benutze ich im folgenden aber den "normalen" Ausdruck, nämlich "Mensch", in Rousseau-Zitaten. Der "Mensch Frau" wird im Kapitel "Weiblichkeitsentwurf und Geschlechterverhältnisbei Rousseau" genauer bestimmt.
Das wichtigste Werk, in dem Rousseau seine Vorstellung von der "richtigen"
Gesellschaftsform darstellt, ist ,,Der Gesellschaftsvertrag (Contrat Social) oder Die Grundsätze des Staatsrechtes." Der erste Satz des ersten Kapitels lautet ,,Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten." Diesen Widerspruch versucht Rousseau zu lösen, indem er das Prinzip des ,,Gesellschaftsvertrags" entwirft. Er ,,hatte gesehen, daßalles im letzten Grunde auf die Politik ankäme und daß, wie man es auch anstellte, jedes Volk stets nur das würde, was die Natur seiner Regierung aus ihm machen würde." 1
Eine ,,gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht..." 2 . Allerdings soll eine Regierung nicht mehr länger durch die Erbfolge legitimiert sein, denn ,,dieses Recht (die gesellschaftliche Ordnung, F.W.) entspringt [...] keineswegs der Natur; es beruht folglich auf Verträgen." 3 Diese Grundidee beschreibt Rousseaus Demokratieverständnis; in Lehrbüchern wird er wegen seines Konzepts vom Vertragssystem sogar als "Begründer der Theorie der direkten Demokratie" betitelt.
Wie sieht nun Rousseaus Entwurf vom ,,Gesellschaftsvertrag" aus?
Der Mensch ist von Natur aus gut und frei; erst die Gesellschaft hat ihn korrumpiert und zum Sklaven gemacht. Diese Annahme bringt Rousseau dazu, die "alte Tugend" (Güte) und das "ursprüngliche Recht" (Freiheit) zum Ausgang einer Gesellschaftstheorie zu machen. Denn mit der unnatürlich unfreien und "nicht-guten" Verfassung des Menschen im 18.Jahrhundert ist kein Staat zu machen: ,,Ich nehme an, daßdie Menschen sich zu der Stufe emporgeschwungen haben, wo die Hindernisse, die ihrer Erhaltung in dem Naturzustand schädlich sind, durch ihren Widerstand die Oberhandüber die Kräfte gewinnen, die jeder einzelne aufbieten muß, um sich in diesem Zustand zu behaupten. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht länger fortbestehen, und das menschliche Geschlecht müßte zugrunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nichtänderte." 4
Also muß eine Lösung gefunden werden, die dem drohenden Untergang der Menschheit entgegenwirkt. Diese Lösung ist laut Rousseau der ,,Gesellschaftsvertrag":
,, ,Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und kraft dessen jeder einzelne, obwohl er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?` Dies ist die Hauptfrage, deren Lösung der Gesellschaftsvertrag gibt." 5
Die Struktur des Contrat Social muß, um diesem Anspruch gerecht zu werden, folglich so sein: ,,Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf." 6
Im Detail heißt das: an die Stelle der einzelnen Personen tritt ein Gesamtkörper, nämlich der Staat oder die Republik. Dieser Gesamtkörper stellt den Zusammenschluß aller Stimmabgebenden, aller Bürger dar. Es gibt ein Staatsoberhaupt, das den Bürgerwillen in die Tat umsetzt. Die Staatshoheit ist unteilbar, d.h. es gibt keine Auftrennung in Staatssekretäre, Minister usw.: ,,Sie machen aus dem Staatsoberhaupt ein phantastisches und zusammengestückeltes Wesen; es ist, als ob sie den Menschen aus mehreren Körpern zusammensetzten, von denen der eine nur Augen, der andere nur Arme, der dritte nur Füße und sonst weiter nichts hätte." 7
Der allgemeine Wille ist laut Rousseau auch nicht gleichzusetzen mit dem Willen aller: der allgemeine Wille ,,geht nur auf das allgemeine Beste aus" 8, der Wille aller aber auf das Privatinteresse des Einzelnen. Der allgemeine Wille (volonté générale) wird so zum "Willen aller mit Abstrichen"; er stellt aber nach wie vor die gemeinschaftliche Basis, die allen Bürgern gemein ist, dar. Trotz der genannten Abstriche, die der Einzelne in bezug auf seine persönliche Meinung machen muß, sieht Rousseau den Gesellschaftsvertag als ,,vorteilhaften Tausch" 9 für alle, nämlich indem sie ,,für eine unsichere und ungewisse Lebensweise eine bessere und gesicherte (und) für die natürliche Unabhängigkeit Freiheit _...eintauschten." [100] Entscheidend für diesen Gesellschaftsentwurf, der sicherlich Rousseaus Wunsch nach einer demokratischen Staatsform widerspiegelt, ist die ihm zugrundeliegende positive Anthropologie, d.h. die Ansicht, der Mensch sei von Natur aus gut. ,,Es gibt keine Ur- Verderbtheit des Herzens. Es gibt darin kein einziges Laster, von dem man nicht sagen könnte, wie und woher es hineingekommen ist." [111] Diese Meinung Rousseaus steht im klaren Gegensatz z.B. zu Hobbes, der glaubt, der Mensch sei schlecht; im Leviathan erklärt er, daß eine Unterordnung der einzelnen Menschen unter ein Staatsoberhaupt unumgänglich sei, damit Ruhe und Frieden gewahrt blieben. Rousseau dagegen glaubt, daß Korruption, Schlechtigkeit und der Verfall von Tugend und Moral nur die Folge äußerer Umstände sind (wie z.B. der Fortschritt der Wissenschaft, der zu höherer Arbeitsteiligkeit und damit zu Konkurrenzdenken und Sozialneid geführt hat) und keineswegs in der Natur der Menschen zu finden sind. Damit der Mensch aber auch wirklich so gut sein kann, wie er es im Naturzustand eigentlich ist, darf er natürlich nicht durch den Einfluß der Gesellschaft verdorben werden; er muß vielmehr durch die Erziehung "zu seinem Glück gezwungen werden". Wie dies geschehen soll, erläutert Rousseau in ,,Emile oderÜber die Erziehung".
Rousseau ist in diesem Erziehungsroman der Erzieher des fiktiven Emile, der zu einem perfekten Saatsbürger, frei denkend und im Wesen gut, erzogen werden soll. Um Grundzüge der rousseauschen Erziehungstheorie deutlich zu machen, zitiere ich einige "Maßnahmen", die ergriffen werden sollen, um Emile zum aufgeklärten, freien Menschen werden zu lassen. Emile soll lieber auf dem Land aufwachsen als in der Stadt; in der Stadt lauert viel Verderben, auf dem Land dagegen bekommt ein Kind die nötigen Kräfte, die es braucht. Emile soll sich an nichts gewöhnen: ,,Die einzige Gewohnheit, die ein Kind annehmen darf, ist die, keine anzunehmen." [122] Durch fehlende Gewohnheiten kann Emile mit seiner späteren Freiheit besser umgehen.
Emile soll glauben, er sei mächtiger als sein Erzieher, in Wahrheit aber hält der Erzieher die Fäden in der Hand und beherrscht Emile. ,,Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, die den Schein der Freiheit wahrt: so nimmt man den Willen selbst gefangen." [133] Emile soll nur nützliche Dinge lernen; sobald er den Sinn des Wortes "nützlich" kennt, soll er immer die Frage stellen: wozu nützt das? [144] Nur so kann er vor falschen Bedürfnissen und übertriebenem Verlangen nach sinnlosen Dingen abgehalten werden; nur so wird er ein vernünftiger Bürger.
Diese Erziehungsregeln sollen beispielhaft veranschaulichen, was Rousseau mit seiner Kindeserziehung bezwecken will. Emile soll der perfekte Staatsbürger werden. Er soll in allem, was er tut, frei sein. ,,Der einzige, der nach seinem Willen handelt, ist der, der nicht auf die Hilfe eines anderen angewiesen ist. Daraus folgt, daßdas höchste Gut die Freiheit ist und nicht die Macht." [155] Emile soll ein natürlicher, unverfälschter Mensch werden. Einzig in diesem Naturzustand ist er der freie Mensch mit dem freien Willen, der den Bürger in Rousseaus Republik darstellt, der den Gesellschaftsvertrag verwirklichen kann. Emile ist also ein vernünftiger, rational denkender Bürger. Er trifft vernünftige Entscheidungen. In seinem -politischen- Leben spielen Leidenschaften, Emotionen und irrationale Empfindungen keine Rolle. Emile wägt ab und setzt seinen Verstand zur Problemlösung ein. Auf der anderen Seite seines Lebens fehlt aber die Moral. Durch seine Vernunftfähigkeit tritt ein Moraldefizit auf. Die Frau füllt bei Rousseau diese moralische Lücke. Wie die Eigenschaften und die gesellschaftliche Funktion der Frau genau aussehen, soll im nächsten Kapitel gezeigt werden.
2.3. Weiblichkeitsentwurf und Geschlechterverhältnis bei Rousseau
Vorbemerkung: Alle Hervorhebungen in Rousseau-Zitaten stammen, soweit nicht ausdrücklich anders vermerkt, von mir selbst und nicht vom Autor. F.W.
Im folgenden werde ich versuchen, an Zitaten aus dem ,,Emile" darzustellen, wie Rousseau sich das spezifische Wesen der Frau vorstellt. Hierzu eignet sich hervorragend das fünfte Buch, ,,Sophie oderÜber die Frau", in dem es, wie der Titel schon sagt, weniger um Mädchenerziehung geht als um die Manifestierung und Erklärung typisch weiblicher Charaktermerkmale:
,,Im Grunde löst sich für Rousseau das Problem der Mädchenerziehung in Lesen, Schreiben und Rechnen, das er nicht weiter betont, und in Hauswirtschaft und Nadelarbeit, die er mit dem Trieb, sich zu putzen, in Verbindung bringt. So ist der Teil, der eigentlich der Erziehung der Frau gewidmet sein müßte, eine Psychologie der Frau. Denn wer behauptet, ,ihre Studien müssen sich auf das Praktische beziehen`, und ,die Erforschung der abstrakten und spekulativen Wahrheiten, die Prinzipien und Axiome der Wissenschaften, alles, was auf die Verallgemeinerung der Begriffe abzielt, ist nicht Sache der Frauen`, kann sich ja gar keine Erziehung der Frauen vorstellen."[166]
Und trotz dieser klaren Erkenntnis des Übersetzers widmet Rousseau der Frau ein ganzes Buch in seinem Erziehungswerk ,,Emile". Wie er sich ,,die Frau" vorstellt, läßt sich an vielen Zitaten aufzeigen.
Die Frau ist, genau wie der Mann, ein Mensch. ,, In allem, was nicht mit dem Geschlecht zusammenhängt, ist die Frau Mann: sie hat die gleichen Organe, die gleichen Bedürfnisse und die gleichen Fähigkeiten [...]" [177]. Mit Bedürfnissen und Fähigkeiten sind hier allerdings nur solche gemeint, die körperlicher Natur sind, z.B. Essen, Laufen, Schlafen usw. Denn wie wir feststellen werden, sieht Rousseau die Frau als Geschlechtswesen, das in fast allem, was es tut, von seinem Geschlecht beeinflußt wird. ,,Mit Hilfe der vergleichenden Anatomie, aber schon bei bloßer Betrachtung findet man allgemeine Unterschiede, die nichts mit dem Geschlecht zu tun zu haben scheinen. Trotzdem hängen sie damit zusammen, aber in Verbindungen, die wir nicht wahrnehmen können [...]" [188] ,,Der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau aber ihr ganzes Leben lang Frau [...] Alles erinnert sie unaufhörlich an ihr Geschlecht, und um dessen Aufgabe erfüllen zu können, braucht sie eine entsprechende Konstitution." [199]
Typisch weiblich ist für Rousseau bspw. die Putzsucht. ,,Fast von Geburt an lieben Mädchen den Putz. Es genügt ihnen nicht, hübsch zu sein, sie wollen auch, daßman sie hübsch findet." [200] Zu dem Drang, sich herauszuputzen, gesellt sich also automatisch die Gefallsucht.
Diese kommt jedoch nicht von ungefähr, sondern liegt in der Natur der Frau - womit ein Naturgesetz feststeht : ,,[...] so folgt daraus, daßdie Frau eigens dazu geschaffen ist, dem Mann zu gefallen." [211] Dieses Beispiel ist symptomatisch für Rousseaus Entwurf vom "richtigen" Geschlechterverhältnis: er schreibt der Frau Eigenschaften zu, die sie nicht ablegen kann, da sie angeboren sind. So schafft er unter dem Deckmantel der natürlichen Gegebenheiten Gesetzmäßigkeiten, die das Zusammenleben von Mann und Frau reglementieren. Diese Regeln sind also unumstößlich, weil naturgegeben.
Als natürliche Eigenschaft der Frau beschreibt Rousseau auch die Begeisterung für Handarbeit: ,,Tatsächlich lernen alle Mädchen nur mit Widerwillen Lesen und Schreiben; aber wie man eine Nadel hält, das lernen sie gerne." [222] Wieder wird durch das Argument der "Naturgegebenheit" Frauen ein Recht abgesprochen. Nicht, daß sie zu dumm wären, Lesen und Schreiben zu lernen: ,,Was auch Spaßvögel darüber sagen mögen, beide Geschlechter besitzen gleicherweise gesunden Menschenverstand." [233] Dieser Verstand bringt Frauen aber nicht wie Männer dazu, sich bilden zu wollen und "abstrakte Wahrheiten zu erforschen"; dies ist auch nicht nötig, da ,,alleÜberlegungen der Frauen, die sich nicht unmittelbar auf ihre Pflichten beziehen, auf das Studium der Männer [...] gerichtet sein müssen." ,,... Ihre Studien müssen sich auf das Praktische beziehen."[244] Die Frau kann also den gleichen Menschenverstand haben wie der Mann; sie wendet ihn nur "anders" an. ,,Die Vernunft der Frau ist eine praktische Vernunft." [255]
Folgende Charaktereigenschaften sind außerdem dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen: ,,Sie schmeicheln und heucheln und können sich gut verstellen." [266]
,,Die List ist eine Naturgabe dieses Geschlechts." [277]
,,Der Mann will dienstfertig erscheinen, die Frau gefällig. Daraus folgt, daßdie Höflichkeit der Frauen, wie ihr Charakter auch sonst beschaffen sein mag, weniger falsch ist als die unsere; sie weiten nur ihren Urinstinkt aus." [288]
,,Geistesgegenwart, Scharfsinn, feine Beobachtungsgabe bilden die Wissenschaft der Frauen. Sie geschickt für sich zu nutzen, ist ihr Talent." [299]
,,Die Frau ist schwach und sieht nichts von der Welt draußen." [300]
Was bedeutet dieses Bild für seinen Entwurf vom Geschlechterverhältnis?
Übergreifend ist zu sagen, daß sich die Frau dem Mann unterordnen muß, auch wenn sie im Recht sein sollte: ,,Aus diesem zur Gewohnheit gewordenen Zwang entsteht die Folgsamkeit, die die Frauen ihr ganzes Leben lang brauchen, weil sie immer entweder einem Mann oder den Urteilen der Gesellschaft unterworfen sind und sichniemalsüber diese Urteile
hinwegsetzen dürfen ... (die Frau) muß[...] frühzeitig lernen, Unrecht zu erdulden und Übergriffe eines Mannes zu ertragen, ohne sich zu beklagen." [311] Die Frauen empfinden diese Unterordnung jedoch nicht als ungerecht oder falsch, sie werden ,,beizeiten an den Zwang gewöhnt" [322], so daß es ihnen ,,später keine Mühe mehr macht, ihre Launen zu beherrschen und sie dem Willen eines anderen unterzuordnen." [333] So gut vorbereitet auf die Aufgabe, sich zu fügen, haben die Frauen den Naturzustand ihres Daseins erreicht: ,,...die Abhängigkeit ist ein natürlicher Zustand der Frauen, und die Mädchen fühlen, daßsie zum Gehorchen geschaffen sind." [344]
Die Aufgaben der Frau in der Gesellschaft sieht Rousseau auf die familiäre Sphäre beschränkt. Daß die Frau ihre "Pflichten als Hausfrau und Mutter" wahrnimmt, ist von höchster Wichtigkeit. Schon im ,,Gesellschaftsvertrag" sagt Rousseau, ,,dieälteste undeinzig natürliche Formaller Gesellschaften ist die Familie..." [355] Da wir wissen, daß Rousseau sich in seiner Argumentation für oder gegen Verhältnisse oder Tatsachen immer auf ,,die Natur" bezieht, d.h. immer den -seiner Meinung nach- naturgewollten Zustand als den richtigen ansieht, ist die Familie offenbar von immenser Bedeutung. Hier müssen keine neuen Entwürfe für eine Gesellschaftsform gemacht werden; die natürliche Aufgabe der Frau, die Familie zu erhalten, garantiert diese Grundform der Gesellschaft. Die Familie ist gleichzeitig Stützpfeiler für die weiteren bürgerlichen Gesellschaftskonzeptionen. Als Beispiel dient Rousseau das alte Griechenland: ,, Auf ihr Haus beschränkt, kümmerten sie (die Frauen, F.W.) sich nur mehr um ihre Wirtschaft und ihre Familie. Das ist die Lebensweise, die Natur und Vernunft ihrem Geschlecht vorschreibt. Diese Mütter haben die gesündesten , die stärksten, die schönsten Kinder der Welt geboren." [366] Zu dieser ,,Familienaufgabe" gehört natürlich die bedingungslose Treue dem Mann gegenüber: ,, Aber die ungetreue Frau tut mehr: sie löst die Familie auf und bricht alle Bande der Natur." [377]
Rousseau versucht auch, den Frauen diese ihnen zugedachten Aufgaben ,,schmackhaft" zu machen, indem er sie lobt und ihnen eine Art von Macht zugesteht, wenn sie sich ,,geschlechtsgemäß" verhalten: ,,Überall, wo sie (die Frau, F.W.) ihre Rechte als Frau geltend macht, ist sie im Vorteil;überall, wo sie sich die unsrigen anmaßt, ist sie uns unterlegen." [388] Durch ihre weiblichen Tugenden ist die Frau in der Lage, Herrin über den Mann zu werden: ,,Die dem weiblichen Geschlecht verliehene, ihm eigentümliche Geschicklichkeit ist ein sehr gerechter Ausgleich für die Kraft, die ihm fehlt. [...] Durch diese Überlegenheit an Witz bleibt sie ihm (dem Mann, F.W.) ebenbürtig und beherrscht ihn, indem sie ihm gehorcht." [399] Hier greift Rousseau ein Motiv auf, das er auch schon in seinen Erziehungsregeln für Emile genannt hat: der Zögling kann den Lehrer manipulieren, indem er vorgibt, ihm zu folgen, ihn aber eigentlich in der Hand hat und ihn lenkt (was natürlich zu verhindern ist). Dies kann die Frau auch erreichen; sie muß das Wesen eines Mannes nur gründlich studieren. ,, Alles, was ihr Geschlecht nicht selbst machen kann, was ihm aber angenehm oder notwendig ist, mußes mit Geschick dahinbringen, daßwir es machen wollen. Sie mußalso bis auf den Grund den Geist des Mannes erforschen." [400] Um die Leidenschaften der Männer zu wecken und um für sie interessant zu sein, bedient sich die Frau der Koketterie: sie reizt Männer, indem sie für sie unerreichbar scheint, sich ihnen doch zugleich verlockend anbietet.[411] Auch so kann die Frau Macht über den sonst in allen Bereichen herrschenden Mann gewinnen.
Rousseaus Frauenbild ist, wie wir gesehen haben, sehr vielfältig und teilweise auch paradox: die Frau soll treu und sittsam, aber auch kokett und reizvoll sein; sie ist intelligent, aber nicht fähig, große Zusammenhänge zu begreifen. Sie ist ernst und still, wie es sich ziemt, ihr Wesen aber ist leicht und fröhlich. Stellt man die Traumbilder Rousseaus gegenüber, sieht man die Unvereinbarkeit der Ansprüche: die Frau ist gleichzeitig Ehefrau und Geliebte, Mutter und Kind, Heilige und Hure. Nur ein Grundsatz bliebt immer derselbe: Die Frau ist vom Mann abhängig. ,,Wir könnten eher ohne sie als sie ohne uns bestehen." [422]
Wie hängt nun Rousseaus Vorstellung vom Geschlechterverhältnis mit seinem Gesellschaftsund Geschichtsentwurf zusammen?
Lieselotte Steinbrügge hat den meiner Meinung nach interessantesten und logischsten Erklärungsweg gefunden. Sie sieht die Frau bei Rousseau als ,,moralisches Geschlecht". Laut Steinbrügge steht der rationalen Vernunft des Mannes das ,,weibliche Geschmacksempfinden (goût) gegenüber."[433] Dieser Geschmack ,,gilt für die Bereiche Kunst und Moral; er gilt sowohl der Beurteilung des Schönen wie auch des Guten." Und der Geschmack ist durchaus bedeutsam; er dient als Korrektiv für das reine Rationalitätsdenken der Aufklärung. Rousseau versucht, so Steinbrügge, ,,die universelle heilige Vernunft, von der bereits der Glanz abgebröckelt war, noch in seinem Geschichtsentwurf (zu) retten [...]"[444] Zu diesem Zweck läßt er die Frau die ,,moralische Lücke" auffüllen, die das absolute aufklärerische Vernunftdenken in die Gesellschaft gerissen hat. Das kann nur geschehen, indem die Frau sich ihre ,,Instinkthaftigkeit" bewahrt hat, indem sie sozusagen auf einer ,,vorzivilisatorischen Stufe" der Menschheitsentwicklung stehengeblieben ist und damit das ,,verlorene goldene Zeitalter", ,,in dem die Menschen im Einklang mit sich und der Natur lebten", repräsentiert.[455]
Durch die Lektüre des Emile sehe ich die Thesen Steinbrügges bestätigt. Weiterführend zu diesen Thesen läßt sich sagen, daß die Frau neben der Funktion der ,,moralischen Instanz" auch die Halterin und Schützerin der Familie sein sollte. Die Familie wiederum ist das Fundament der bürgerlichen Gesellschaft. Das hat auch Rousseau erkannt und spricht der Frau deshalb notwendigerweise Vernunft und Objektivität ab: ,,Wenn die Frau wie ein Mann bis zu den Prinzipien zurückgehen könnte und wenn der Mann wie sie den Sinn für Einzelheiten hätte, so würden sie, da sie ja immer voneinander unabhängig wären, im ewigen Streit leben und ihre Gemeinschaft könnte nicht weiterbestehen." [466] Als Konsequenz könnte man also sagen, ein abstraktes Denkvermögen der Frau würde die Familie -und dadurch die Gesellschaft- gefährden. Denn die Frau könnte, späche man ihr diese Fähigkeit nicht mehr ab, alle sonst männlichen Rechte einklagen - das hieße auch am gesellschaftlichen und politischen Leben teilnehmen und das familiäre womöglich vernachlässigen. Aus welchem Grund aber hat Rousseau die Frau dem Mann so extrem untergeordnet? Warum muß die Frau soviel Unrecht ertragen? Sieht Rousseau nicht die Unerfüllbarkeit seiner hohen Ansprüche, die Paradoxien seiner Traumbilder?
Das Unbedingte und Absolute an Rousseaus Meinung, Frauen seien von Natur aus inferior und dazu geschaffen, dem Mann zu gehorchen, läßt sich meiner Meinung nach letztlich doch nur mit seinen persönlichen Ansichten erklären. Ich habe deshalb einige Zitate herausgesucht, die belegen sollen, daß Rousseau ein kompliziertes, wenn nicht sogar gestörtes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht hatte. Dies ist vorerst eine rein persönliche Einschätzung, die wissenschaftlich sicher im Kontext der psychoanalytischen Rousseau-Kritik nachzuprüfen ist.
Rousseau hat Angst vor den Frauen. Warum sonst sollte er fordern, ,,sie beizeiten an den Zwang"[477] zu gewöhnen? Ihre Launen sind offenbar so stark und unberechenbar, daß sie immer gezügelt werden müssen, damit sie nicht zum Ausbruch kommen. Die Frauen haben für Rousseau eine Vielzahl an Fähigkeiten, die der Mann nie erlernen kann, und die deshalb so beeindruckend und unerklärlich auf ihn wirken. Eine Frau hat die angeborene Gabe der Koketterie - mit der sie die Leidenschaften des Mannes weckt und ihn zur Verzweiflung
treiben würde, könnte er sich nicht mit Hilfe seines Verstandes vor der Verführung schützen. Rousseau mystifiziert die Frau zum magischen Naturwesen, das Emotionen freisetzt, die universell und mächtig sind. Vor diesen Emotionen ist offenbar auch ein Lehrer, der eine Schülerin unterrichtet, nicht sicher: ,,Ich weißnicht, ob es nötig ist, daßein Tanzmeister seine junge Schülerin bei der Hand nimmt, sie den Rock raffen, Augen aufschlagen, die Arme ausbreiten und den wogenden Busen vorstrecken läßt.Ich weißnur, daßich um nichts jener Lehrer sein möchte." [488] Die Frau erscheint wie in einem schrecklichen Szenario; Rousseau spricht von diesem Bild, als könnte er sich nichts Schlimmeres denken als eine Frau, die mit ausgebreiteten Armen und mit ,,wogendem Busen" um ihn herumtanzt. Es ist schwer zu sagen, was ihn an dieser Frau abstößt - ob es nur ihre fehlende Sittsamkeit oder doch mehr die eigene Angst vor ihrer sexuellen Anziehungskraft ist.
Es muß etwas Besonderes sein, vor dem sich Rousseau bei der Frau so fürchtet, was ihn dazu bringt, die reellen, wirklichen Frauen zu übersehen und verschiedenste Hirngespinste und Phantombilder zu erdenken. Diese übermächtigen Frauen müssen gezähmt und besiegt werden, damit sie keine Gefahr bedeuten. ,,Zerstreutheit, Leichtfertigkeit, Unbeständigkeit sind die Fehler, die leicht aus ihren Launen entstehen, wenn man sie durchgehen läßt. Um diesem Mißbrauch vorzukommen, lehrt sie vor allem, sich zu beherrschen. Bei unseren unvernünftigen Einrichtungen besteht das Leben einer ehrbaren Frau aus einem einzigen Kampf mit sich selbst.Es ist aber nur gerecht, wenn das Geschlecht dieÜbel mit uns teilt, die es uns zugefügt hat." [499] Was für furchtbare Übel haben die Frauen den Männern wohl angetan? Weitere Erläuterungen gibt es dazu nicht. Man findet einige solcher Äußerungen in Rousseaus Werken, die seine vollkommen subjektive Einschätzung des weiblichen Geschlechts zur allgemeinen Maxime erheben, auch wenn seine Befürchtungen lächerlich und grundlos erscheinen. Deshalb glaube ich, daß Rousseaus Frauenbild nicht nur funktional begründet werden kann, sondern daß er außerdem ein psychisches Problem mit ,,der Frau" hat. Er fürchtet sie, aber er vergöttert sie auch. Aus diesem Grunde muß er ihren Einfluß beschränken; gleichzeitig aber lobt und bestaunt er ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten. Rousseau hat den Blick für die Realität verloren und läßt das weibliche Geschlecht so in seiner Traumwelt neu auferstehen.
3. Condorcet
3.1. Über das Leben Condorcets
(Marie Jean) Antoine (Nicolas de Caritat) Marquis de Condorcet, geboren 1743 in Ribemont/Picardie, gestorben 1794 in Bourg-la-Reine, war ein französischer Mathematiker, Politiker und Philosoph der Aufklärung. Er war Inspektor von Turgot von 1774 bis 1775, Mitglied der Legislative ab 1791 und Abgeordneter des Nationalkonvents ab 1792; in diesem Jahr wurde er auch Präsident der gesetzgebenden Nationalversammlung. Als Wissenschaftler arbeitete er seit 1773 in der ,,Académie des Sciences" als Sekretär und veröffentlichte dort zahlreiche Elogen über berühmte Persönlichkeiten und mathematische Arbeiten über die Integralrechnung. Er wurde in der Politik von den Ansichten Turgots und Voltaires beeinflußt (Turgot beschäftigte ihn zur Zeit seines Reformministeriums als Berater); schließlich verschrieb er sich den Ideen der Aufklärung.
1787 heiratete er die 22 Jahre jüngere Sophie de Grouchy. Als Mme de Condorcet hielt sie sich regelmäßig im Salon ihres Mannes auf und diskutierte bspw. mit d'Alembert. Sie schrieb vor der Revolution ein Buch, ,,Briefeüber die Sympathie", das erst 1798 veröffentlicht wurde. Das einzige Kind der Eheleute Condorcet wurde 1790, ein Jahr nach dem Sturm der Bastille, geboren.
3.2. Condorcets Gesellschaftstheorie
Entscheidend für Condorcets Gesellschaftstheorie ist sein Glaube an einen nicht endenden Fortschritt, wie er ihn in seinem Buch ,,Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes" beschreibt. Dieser Fortschritt umspannt alle Felder der Menschheitsentwicklung; Antrieb für alle Veränderungen ist der Fortschritt der Vernunft, der über mehrere Generationen verfolgt werden kann: ,,Betrachtet man aber eben diese Entwicklung nach ihren Ergebnissen bezogen auf die Gesamtheit der Individuen, die gleichzeitig auf einer bestimmten Fläche der Erdkugel leben, und verfolgt man sie von einer Generation zur anderen, so ergibt sich daraus die Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes." [500] Dieser unendliche Fortschritt kann nie gestoppt werden. Es ist wie ein Naturgesetz, daß der Verstand, je älter die Menschheit wird, immer größer wird. Das Ende dieses Fortschreitens kann nur erreicht sein, wenn es kein Leben mehr auf der Erde geben würde: ,,[...] daßdie Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung tatsächlich unabsehbar ist; daßdie Fortschritte dieser Fähigkeit zur Vervollkommnung, die inskünftig von keiner Macht, die sie aufhalten wollte, mehr abhängig sind, ihre Grenze allein im zeitlichen Bestand des Planeten haben, auf den die Natur uns hat angewiesen sein lassen." [511] Diese Vervollkommnung bringt dem Menschen auch eine stetige Verbesserung seiner Lebensbedingungen. Durch immer neue Entdeckungen in der Wissenschaft schaffen sich die Menschen immer mehr Erleichterungen im Leben; durch Weiterentwicklung in der Kunst tritt eine Kultivierung der Menschheit ein. Es gibt kein Ende dieses Fortschritts; die menschliche Entwicklung wird niemals auf einer Stufe stehenbleiben, sondern stets voranschreiten:
,,Ohne Zweifel werden diese Fortschritte schneller oder langsamer erfolgen; doch niemals werden es Rückschritte sein, wenigstens solange die Erde ihren Platz im System des Universums behält..." [522]
Laut Condorcet läßt sich der Fortschritt des menschlichen Geistes durch die unterschiedlichen Zivilisationsstufen verfolgen, die er wie folgt einteilt:
Die erste Stufe war ein vorzivilisatorisches Stadium. Die Menschen lebten von der Jagd, die Gesellschaft bestand aus einzelnen Familien, es gab eine Sprache, um Bedürfnisse auszudrücken. Verhaltensregeln, die aus einfachen moralischen Empfindungen resultierten, bestimmten das Zusammenleben. Der Besitz des Einzelnen beschränkte sich auf erlegte Tiere, Hausrat und Waffen.
In der zweiten Stufe wurde - in der Zeit des Mangels - das Tauschgeschäft eingeführt, was einzelnen Menschen mehr Besitz brachte; hinzu kam die Ausweitung von Kunstfertigkeiten, die Herausbildung von ,,Berufen" und die Anfänge von Wissenschaft. Die dritte Stufe wurde eingeläutet mit dem Erfinden der alphabetischen Schrift. Durch die Schrift konnten Erfahrungen und Erinnerungen überliefert werden, ,, und dieser Schritt sicherte für immer den Fortschritt des Menschengeschlechts." [533]
Diese dritte, neuzeitliche Stufe ist die, in der man sich zur Zeit der Aufklärung befindet. Wie sieht nun die zukünftige Entwicklung aus?
Condorcet zeichnet ein durch und durch positives Bild der Erkenntnisse der folgenden Generationen. Die vielversprechende Entwicklung hängt unmittelbar mit der Verwirklichung der aufklärerischen Ideale zusammen: ,,Dabei wäre zu zeigen, warum trotz der Augenblickserfolge des Vorurteils und der Stütze, die es in der Verderbtheit der Regierungen oder der Völker hat, allein die Wahrheit auf die Dauer triumphieren muß; zu zeigen, durch welche Bande die Natur den Fortschritt der Aufklärung mit dem der Freiheit, der Tugend, der Achtung vor den natürlichen Rechten des Menschen unauflöslich verknüpft hat, und wie diese einzig wirklichen Güter [...] unzertrennlich werden müssen von dem Augenblick an, da die Aufklärung gleichzeitig bei einer größeren Anzahl von Nationen in ein bestimmtes Stadium getreten sein ... wird [...]" [544]
Zu diesen aufklärerischen Idealen gehört natürlich auch ein demokratisch geprägtes Gesellschaftsbild. Condorcet glaubt, daß ,,allen Menschen [...] aufgrund ihrer natürlichen Konstitution das Naturrecht in ungeteiltem Maße (zukommt). Es bedeutet die Grundlage jeglicher Verfassung und Gesetzgebung und verlangt politische Freiheit und Gleichheit sowie die Souveränität des Volkes." [555] Auch Condorcet sieht die Notwendigkeit einer ,,volonté générale" : ,,Die volontégénérale wird zu göttlicher Würde erhoben und vernichtet jeden Sonderwillen und alles Sonderinteresse, das ihr gegenüber nur wie Diebstahl erscheint." [566] Für Condorcet resultiert aus dem Fortschritt der Vernunft der Fortschritt der Moral: ,,Wir werden zeigen, inwiefern die Freiheit, die Kunst, die Aufklärung zur Verfeinerung und Verbesserung der Sitten beigetragen haben; wir werden beweisen, daßall die beredten Deklamationen, die man gegen Wissenschaft und Kunst vorgebracht hat, in einer fälschlichen Anwendung der Lehren der Geschichte gründen und daß, im Gegenteil, der Fortschritt der Tugend immer zusammengegangen ist mit dem Fortschritt der Aufklärung, genau wie wachsende Verderbnis stets mit dem Niedergang der Aufklärung zusammenging oder ihn angekündigt hat." [577]
Die Ungleichheit unter den Menschen ist keineswegs naturgegeben: ,,(Es) läßt sich leicht beweisen, daßdie Glücksgüter von Natur aus zur Gleichheit hinneigen und daßein übermäßiges Mißverhältnis in ihrer Verteilung entweder gar nicht bestehen kann oder schnell aufhören muß, wenn nicht die bürgerlichen Gesetze durch künstliche Mittel nachhelfen, ihnen Dauer zu verleihen und ihre Anhäufung zu erleichtern..." [588] Daß trotzdem soziale Unterschiede zwischen den Menschen bestehen können, liegt an der ungerechten Verteilung von Bildung und Geld: ,,Jener Unterschied hat hauptsächlich drei Gründe: die Ungleichheit des Reichtums; die Ungleichheit der Lage [...]; schließlich die Ungleichheit des Unterrichts." [599]
Diese unnatürlichen Mißverhältnisse gilt es zu beseitigen. Alle Menschen müssen die gleichen Möglichkeiten haben, ihr Naturrecht auszuüben und die gleiche Freiheit zu genießen. Diese Forderung nach mehr Gleichheit prägt auch Condorcets Entwurf vom Geschlechterverhältnis.
3.3. Weiblichkeitsentwurf und Geschlechterverhältnis bei Condorcet
Zu den genannten Mißverhältnissen und Ungerechtigkeiten zählt Condorcet auch die Unterdrückung der Frau. ,,Zu den Fortschritten des menschlichen Geistes, die für das allgemeine Glück am wichtigsten sind, müssen wir die völlige Beseitigung der Vorurteile zählen, die zwischen den beiden Geschlechtern eine Ungleichheit der Rechte gestiftet haben, welche selbst für jenes Geschlecht verhängnisvoll ist, das sie begünstigt. Vergebens würde man dafür nach Gründen der Rechtfertigung in den Unterschieden ihrer körperlichen Beschaffenheit oder in jener Verschiedenheit, die man etwa in der Kraft ihres Verstandes, in ihrer moralischen Empfindsamkeit suchen möchte. Diese Ungleichheit hat keinen anderen Ursprung als den Mißbrauch der Gewalt, und vergeblich hat man sie später durch Sophismen zu entschuldigen gesucht." [600]
Weiter geht er in seinem großen Werk ,,Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes" nicht auf die Geschlechterproblematik ein. Er hat jedoch 1789 einen Aufsatz geschrieben, in dem er dies umso ausführlicher tut , ,,Sur l'admission des femmes aux droits de cité" (Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht), veröffentlicht 1790 im ,,Journal de la société de 1789". Hier begründet er, warum er es für notwendig hält, daß die rechtlichen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen beseitigt werden und warum diese Beseitigung für das endgültige allgemeine Glück so wichtig ist.
Condorcets Aufsatz beginnt mit einem Erklärungsversuch für die bisherige Zurückhaltung der Frauen, wenn es um die Einforderung der Bürgerrechte ging: ,, Die Menschen können sich an die Verletzung ihrer naturgegebenen Rechte so gewöhnen, daßunter denen, die sie verloren haben, keiner daran denkt, sie zurückzufordern." [611] Durch die Macht der Gewohnheit sind die Frauen also blind geworden gegenüber einer möglichen Vorenthaltung der ihnen zustehenden Rechte; dies hindert sie auch daran, für ihre Rechte zu kämpfen. Condorcet beschreibt eindrücklich, wie sehr diese konventionelle Macht über der Gesellschaft lastet:
,,Gibt es einen stärkeren Beweis für die Macht der Gewohnheit selbstüber aufgeklärte Menschen als denjenigen, daßman sich auf das Gleichheitsprinzip der Rechte da beruft , wo drei- oder vierhundert Männer durch ein absurdes Vorurteil dessen beraubt werden, dort jedoch schweigt, wo es sich um zwölf Millionen Frauen handelt? Um zu widerlegen, daß dieser Ausschlußein Akt der Tyrannei ist, müßte man entweder beweisen, daßdie natürlichen Rechte der Frauen nicht unbedingt die gleichen sind wie die der Männer, oder daßsie nicht fähig sind, sie auszuüben." [622]
Zu diesen beiden möglichen Beweisführungen nimmt Condorcet im folgenden Stellung. Zum ersten geht es um die weit verbreitete Annahme, Frauen hätten von Natur nicht die gleichen Rechte wie Männer. ,,Die Menschenrechte leiten ihre Berechtigung jedoch allein daraus ab, daßMenschen sinnliche Wesen sind, sich moralische Ideen aneignen und mit diesen Ideen umgehen können.
Da nun die Frauen die gleichen Fähigkeiten aufweisen, haben sie notwendigerweise auch die gleichen Rechte. Entweder hat kein Glied des Menschengeschlechts wirkliche Rechte, oder sie alle haben die gleichen " [633] Durch die klare Zuordnung der Frau zum menschlichen Geschlecht muß der Frau also auch jegliches menschliches Recht eingeräumt werden. Auch kann nicht angeführt werden, daß keine Frau jemals ,,eine wichtige Entdeckung in den Wissenschaften gemacht und sich als Genie [...] ausgewiesen habe", denn ,,zweifellos würde man niemals vorgeben, das Bürgerrecht nur den Genies zuzugestehen." [644] Außer einigen wenigen Genies ist der Rest der Männerwelt -bezogen auf den Intellekt- gleichzusetzen mit den Frauen - und man würde nicht auf die Idee kommen, allen ,,unintelligenten" Männern das Bürgerrecht abzusprechen. Genauso widerfährt es aber den Frauen.
Den Grund, körperliche Schwächen würden Frauen daran hindern, das Bürgerrecht auszuüben, läßt Condorcet nicht gelten: ,,Warum sollte eine Gruppe von Menschen, weil sie schwanger werden können und sich vorübergehend unwohl fühlen, nicht Rechte ausüben, die man denjenigen niemals vorenthalten würde, die jeden Winter unter Gicht leiden und sich leicht erkälten?" [655] Die vorgegebenen körperlichen Schwächen werden so mit einem einzigen simplen, aber treffenden Beispiel relativiert und somit als Begründung zunichte gemacht.
Die Aussage, Frauen verfügten nicht über eine rationale Vernunft, sondern würden sich in ihren Taten und Urteilen nur von Gefühlen leiten lassen, ist für Condorcet falsch: er geht von einem ungeschlechtlichen Verstand aus. ,,[...] sie (die Frauen, F.W.) folgen zwar nicht der Vernunft der Männer, lassen sich aber durch ihre eigene leiten.
Da ihre Interessen nicht die gleichen sind, [...] können sie, ohne daßes ihnen an Vernunft fehlt, sich von anderen Prinzipien leiten lassen und einem anderen Ziel zuneigen." [666] Warum ihre Interessen nicht die gleichen sind, ist klar: ,,Ferngehalten von den großen Geschäften [...] sind die Dinge, mit denen sie sich befassen, [...] genau die, die sich durch natürlichen Anstand und durch das Gefühl regeln lassen. Es ist also ungerecht, den Frauen weiterhin den Genußihrer natürlichen Rechte zu verweigern, und dafür Gründe anzuführen, die nur deshalb eine gewisse Berechtigung haben, weil sie diese Rechte nicht genießen." [677] Hier wird der Teufelskreis aufgedeckt, in dem die Frauen sich befinden: durch äußere Umstände sind sie dazu gezwungen, sich nur mit privaten und familiären Problemen auseinanderzusetzen. Zur Regelung dieser Probleme müssen ,,gefühlvolle" Entscheidungen gefällt werden. Schlußfolgernd wird also behauptet, Frauen würden grundsätzlich nur nach ihrem Gefühl entscheiden. So kann also laut Condorcet eine Frau gar nicht lernen, objektiv zu urteilen, da sie von außen zum ,,emotionalen" Denken gezwungen wird: ,,Es wird gesagt, [...] daßsie (die Frauen, F.W.) ... kein natürliches Gerechtigkeitsgefühl hätten, daßsie eher ihrem Gefühl als ihrem Gewissen gehorchten. Diese Beobachtung ist schon richtiger, aber sie beweist nichts; nicht die Natur, sondern die Erziehung, die soziale Existenz verursachen diesen Unterschied." [688]
Condorcet meint zu erkennen, warum man die Frau bis dato daran gehindert hat, das Bürgerrecht wahrzunehmen: nur die Nützlichkeit der Fernhaltung der Frauen vom politischen Leben ist ausschlaggebend für diese Ungleichbehandlung. ,,In Wirklichkeit stellen sie (die Männer, F.W.) der Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht keine anderen Gründe entgegen als die der Nützlichkeit, Gründe, die ein wirkliches Recht nicht aufwiegen können." [699] Diese Nützlichkeit bezieht sich bspw. darauf, daß sich Frauen notwendigerweise auf ihre Pflichten im familiären Bereich konzentrieren sollen und deshalb nicht durch politisches Engagement von diesen abgehalten werden dürfen. Auch diese Argumentation kann Condorcet nicht nachvollziehen: ,,Also mußman nicht glauben, daßFrauen, weil sie Mitglieder der Nationalversammlung werden können, gleich Kinder, Haushalt und Nadel aufgeben. Sie wären dadurch besser geeignet, ihre Kinder zu erziehen, Menschen zu bilden." [700]
Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist, so Condorcet, nicht nur ungerecht, sondern auch gefährlich: ,, Bis heute haben alle bekannten Völker entweder wilde oder korrupte Sitten gehabt. [...] Bisher hat bei allen Völkern die gesetzliche Ungleichheit zwischen Männern und Frauen bestanden. Und es wäre nicht schwer zu beweisen, daßbei diesen beiden Erscheinungen, der gesetzlichen Ungleichheit und der korrupten Sitten, [...] das zweite eine der Hauptursachen für das erstere ist." [711] Condorcet glaubt bei weitergehendem Fortschritt von Vernunft und Moral (und damit auch dem Ende aller Verbrechen) daran, daß sich diese Gleichberechtigung durchsetzen wird: ,,Über die Gleichheit der Rechte aller Männer in unserer Verfassung hat es erhabene Reden und unendlich viele Witzeleien gegeben; aber bis heute hat noch niemand einen einzigen Grund dagegen vorbringen können. Und das liegt sicher weder an mangelndem Talent noch an mangelndem Eifer. Ich möchte glauben, daßes mit der Gleichheit der Geschlechter genauso sein wird." [722]
Hier wird die Verknüpfung von Condorcets Gesellschaftstheorie mit seiner Forderung nach Gleichbehandlung der Geschlechter deutlich. Die Gesellschaft befindet sich unter dem Einfluß eines unaufhaltsamen ökonomischen, wissenschaftlichen und moralischen Fortschritts. Im Laufe der Zeit wird sich automatisch die Vernunfteinsicht durchsetzen, daß die rechtliche Egalität zwischen den Geschlechtern und Unglück und Korruption sich gegenseitig bedingen. Diese Einsicht wird dann die Gleichberechtigung von Mann und Frau herbeiführen.
In diesem Zusammenhang erkennt man das große Manko an Condorcets Position: seine klare Analyse der Verhältnisse und seine deutlich formulierten Forderungen nach Aufhebung der Ungleichheit zwischen Mann und Frau verhallen wirkungslos im Kontext seiner Geschichtsphilosophie, die sich -salopp gesagt- darstellen läßt mit dem Satz ,,Es wird schon alles gut werden." Die utopische Sichtweise Condorcets, die heute zu Recht als ,,blinder Fortschrittsoptimismus" kritisiert wird, läßt das Streben nach Gleichheit in einem gedämpften Licht erscheinen - denn dieses Streben bleibt ohne Konsequenzen. Wahrscheinlich ist in diesem übertriebenen Optimismus auch der Grund zu finden, warum Condorcet nicht öfter und damit eindrucksvoller für die Emanzipation der Frau eingetreten ist - dies war für ihn im Hinblick auf die zu erwartende Automatisierung des Gleichsetzungsprozesses schlicht nicht notwendig.
Trotz dieser Aspekte ist es bemerkenswert, daß in den Zeiten der Aufklärung, die heute aus feministisch-kritischer Sicht die Frauen aus der Ratio komplett ausschloß und damit zur Wegbereiterin weiterer Unterdrückung wurde, solche Stellungnahmen, fern von patriarchalen Interessen und noch dazu von einem Mann, vorgetragen wurden.
4. Die Positionen Condorcets und Rousseaus im Vergleich
Mit Rousseau und Condorcet prallen zwei völlig verschiedene Vorstellungen vom Geschlechterverhältnis, aber auch unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe aufeinander. Diese beiden Gedanken können nicht getrennt voneinander gesehen werden; hätte Rousseau bspw. den Verfall von Sitte und Moral nicht derartig gefürchtet, hätte er auch der Frau nicht die Rolle der moralischen Instanz bzw. des moralischen Geschlechts zuweisen müssen. Man muß sich jedoch zuerst deutlich machen, daß sich sowohl Rousseau als auch Condorcet der Aufklärungsbewegung verschrieben hatten und auch beide als Aufklärer bezeichnet werden. Rousseau wird oft ,,der Wegbereiter der Revolution" genannt. Mit seinem Entwurf vom ,,Gesellschaftsvertrag" hat er sicherlich versucht, ein Demokratie-Konzept zu schaffen, das die aufklärerischen Ideen präsentieren sollte. Seine positive Anthropologie läßt ihn auf eine Art sozialistische Solidarität unter den Bürgern seiner Republik hoffen. Wenn jeder Mensch zu einem freien und vernünftigen Bürger erzogen wird, wie es am Beispiel Emile erläutert wird, wird sich nach Rousseaus Meinung der ,,Gesellschaftsvertrag" durchsetzen. Es darf jedoch angemerkt werden, daß Rousseau mit seinem Titel ,,Revolutionär" bzw. als Vorkämpfer für revolutionäre Ziele etwas euphorisch überbewertet wurde. Sicherlich sind seine Entwürfe in ihrem Umfang und ihrer Ausarbeitung von großer Wichtigkeit gewesen, um aufklärerische Ideale zu formulieren. Man muß allerdings auch den Worten von Rainer Bolle Beachtung schenken: ,, Man kann sagen, daß Rousseau im Hinblick auf die Adressaten seiner Schriften ein bürgerlicher Schriftsteller war. Damit ist u.a. auch gemeint, daß er beispielsweise bezogen auf Frankreich, nicht für den sog. ,vierten Stand`, die Landbevölkerung, geschrieben hat." Und weiter: ,, Sein politisches Interesse galt bis mindestens 1763 in erster Linie Genf[733], und gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Genfer Geschichte von 1737 war Rousseau ein erklärter Gegner des Bürgerkriegs und damit letztlich jedweder gewaltsamen Revolution."[744]
Es soll hier der Kontrast zu Condorcet deutlich gemacht werden, der 1789 den Sturm auf die Bastille erlebte und auch in der Nationalversammlung 1793 die gemäßigt-aufklärerischen Forderungen nach Volkssouveränität und Befreiung der unterdrückten Völker vertrat. Schließlich wurde er dafür von den Jakobinern als Girondist verfolgt. Der Spätaufklärer Condorcet hatte also mit dem Frühaufklärer Rousseau im Grunde nur das Prinzip der aufklärerischen Idee gemein; die Konsequenzen dagegen sahen völlig verschieden aus. Der prägnanteste Unterschied der beiden Theorien ist m.E. Condorcets Fortschrittsoptimismus auf der einen und Rousseaus Fortschrittsangst auf der anderen Seite. Rousseau sieht zwar auch die Notwendigkeit einer neuen Staatsform zum Erreichen des allgemeinen Glücks, genauso will er aber traditionelle Verhältnisse im familiären Bereich beibehalten. Durch den hohen rationellen ,,Vernunftbedarf" im politischen Leben besteht ein ebenso hoher emotionaler ,,Moralbedarf" im Privatleben. Der Fortschritt ist also nur ein teilweise erwünschter Fortschritt, nämlich im Raum der gesellschaftlichen Gegebenheiten; auf gar keinen Fall jedoch im Hinblick auf die Situation von Familie und von der Frau - jede Neuerung würde hier ins Verderben führen. Rousseaus Marschroute heißt also in etwa ,,zurück zur Natur" - zur Verwirklichung des ,,Gesellschaftsvertrages" muß der Mensch so natürlich wie möglich sein, seine angeborene Freiheit (für die Frau: ihre angeborene Unfreiheit) darf durch keinen künstlichen Einfluß verändert werden. ,,Die Natur" ist das Heil von allem Übel.
Bei Condorcet dagegen läuft die Entwicklung konträr; es muß andauernden Fortschritt geben, damit sich die Gesellschaft von Korruption und Sittenverfall befreien kann. In allen Bereichen des Lebens regiert der Fortschritt, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Und dieser Fortschritt bringt eine stetige Verbesserung aller Umstände mit sich, allen voran eine Verbesserung der Moral und der Sitten. Es gibt also keinen Grund für Condorcet, die Frau zum moralischen Wesen zu stilisieren, weil sich die Sitten im Strudel des allgemeinen Wachstums und der Perfektion immer mehr verfeinern statt zu verschlechtern. In der Tradition von Descartes sieht Condorcet außerdem den Sinn der Trennung von Geist und Körper, von ,,res cogitans" und ,,res extensa", und wendet dieses Prinzip auch auf das Geschlechterproblem an; geistige Fähigkeiten können nicht vom Körper, d.h. auch nicht vom Geschlecht, abhängen.
Rousseau denkt nicht in cartesianischer Weise. Er sieht die Frau vielmehr als ,,kleinen Menschen", als Ergänzung zum Mann, in Abhängigkeit vom Mann, als negative Umkehrung eines männlichen Prinzips. Die Frau ist ein Geschlechtswesen, bei dem der Geist immer vom Geschlecht beeinflußt ist. Die Frau ist zwar Mensch genug für Emotionalität, aber nicht Mann genug für Rationalität.
Hinzu kommt Rousseaus problematisches Verhältnis zu Frauen; seine Abneigung gegen ,,Blaustrümpfe" und die feine Pariser Gesellschaft ist groß, und er wiederholt ständig seine Forderung nach der ,,natürlichen" Frau - wobei natürlich er den Begriff der Natur definiert und die Frau bei Bedarf auf diesen zurechtstutzt: ,,Nur der Zwang kann sie zu dem machen, was ihre prädestinierte Natur ist: dem Mann zu gefallen und die Managerin seiner Leidenschaften und sexuellen Triebe zu sein."[755]
Mme de Condorcet war selbst ein ,,Blaustrumpf". Es ist durchaus denkbar, daß sie die Meinung ihres Mannes nicht unwesentlich beeinflußt hat. Bemerkenswert an Condorcet ist auch, daß er weiblichen Sexus nicht ,,nur" als Geschlecht, sondern als politische Kategorie wertet, indem er ihn in einen Zusammenhang mit Religion und Hautfarbe bringt.[766] Die Frau ist also in erster Linie Mensch und erst in zweiter Linie Frau und nicht, wie bei Rousseau, umgekehrt.
5. Schlußbetrachtung
Nach der Darstellung dieser beiden unterschiedlichen Konzepte des Geschlechterverhältnisses bleiben Fragen offen. Meiner Meinung nach ist es besonders interessant, daß Rousseaus Ideen sich ganz offenbar durchsetzen konnten, Condorcets Ausführungen dagegen nur wenig Beachtung fanden und finden. Warum ist das so? Condorcet findet Beweisführungen für die Beseitigung der Ungleichheit, die gerade Frauen hätten aufgreifen müssen. Doch es waren erstaunlicherweise Rousseaus Thesen, für die Frauen sich begeisterten. An fehlendem Einfluß Condorcets kann dies nicht gelegen haben - er war immerhin Präsident der gesetzgebenden Nationalversammlung und hätte sich eindrucksvoll Gehör verschaffen können. Daß ihn sein unbeirrbarer Fortschrittsoptimismus offenbar daran gehindert hat, habe ich bereits erläutert. Rousseau hat dem weiblichen Geschlecht eine besondere Art von Macht zugesprochen, die vielen Frauen vermutlich gefallen hat - die ,,heimliche Herrscherin" zu sein durch einen Einfluß, der nicht rational erklärbar war (zumindest für Rousseau nicht) und deshalb einen besonderen Status hatte. Christine Garbe sagt bspw. zur List: ,,Die List als genuine Kommunikationsstrategie der Frau ist dem direkten, unverstellten Sprechen des Mannes überlegen - nicht nur, weil sie ihre Absicht zu verbergen weiß, sondern auch, weil ihre Rede von anderer Qualität ist."[777] Zweifellos kann man - oder vielmehr frau - Gefallen daran finden, eine Stärke zu besitzen, die dem Mann versagt bleibt. Die Frage nach der Qualität dieser Stärke bleibt - und diese Frage stellt Garbe nicht. Rousseau muß man ihrzufolge ,,nicht lesen wie einen Text im herkömmlichen Sinne, indem man für bare Münze nimmt, was er sagt; der literarischen Inszenierung muß ebensoviel Aufmerksamkeit gewidmet werden wie dem eigentlichen ,pädagogischen` Diskurs."[788] Doch so einfach lassen sich repressive Rousseau-Zitate nicht überlesen. Es ist richtig, seine Aussagen nicht einzeln zu sehen, sondern seinen Gesamtentwurf von Gesellschaft und Geschlechterverhältnis zu verstehen. Doch seine Eingeständnisse an weibliche Fähigkeiten geraten im Kontext seiner viel weiter ausgearbeiteten Unterdrückungsthesen zur Farce. Und Rousseaus Bedeutung als Schriftsteller interessiert im Zusammenhang der Geschlechterproblematik nur sekundär. Der Inhalt seiner Werke war schließlich der, der das Leben von Frauen nachhaltig beeinflussen sollte. Ich bin der Meinung, daß die Verführungskunst und die List als Möglichkeit der Machtausübung durch die Frauen keine natürliche Entschädigung sein können für die Vorenthaltung bspw. des Wahlrechts. Genau das aber hat Rousseau den Frauen geschickt und erfolgreich angepriesen. Und gegen diese ,,Abspeisung" will sich die feministische Kritik wehren - Frauen nur ein ,,weibliches", nicht aber ,,menschliches" Können zuzusprechen. Genau dieses Zu- bzw. Absprechen von Qualitäten hat nachhaltig die Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt - und es bestimmt noch heute die Rollenbilder in der öffentlichen Meinung und in unseren Köpfen. Dies ist der Grund, warum es wichtig ist, die Bedeutung von inferioren Frauendarstellung aus der Aufklärung für die heutige Zeit genau zu untersuchen.
Barbara Schaeffer-Hegel nennt in diesem Zusammenhang die Studien der US-amerikanischen Philosophin Nancy Jay: "Auf dem Hintergrund des von ihr nachgewiesenen Zusammenhangs zwischen dichotomer Logik[799] und dem Widerstand gegen politische Veränderung ist eine wichtige Feststellung die, daß es in der Regel im Interesse derjenigen, die eigene Privilegien zu schützen suchen, liegt, soziale Dichotomien beizubehalten, bzw. wieder einzurichten [...] Für unsere eigene Gesellschaft ist insbesondere der ,Zusammenhang zwischen konservativem politischem Denken und dem Festhalten an starren Geschlechterdifferenzierungen klar ersichtlich.` "[800]
Der Glauben an eine natürliche Differenz zwischen den Geschlechtern hat also auch heute vielfach großen Einfluß auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche. ,,Friederike Hassauer hat (es) treffend auf den Punkt gebracht, wenn sie feststellt: ,Der menschliche Mehrwert bleibt implizit beim Mann.` Allerdings meine ich, daß er sehr explizit, institutionell verankert und politisch unübersehbar bis heute bei den Männern bleibt."[811] Aus feministischer Sicht läßt sich deshalb das Urteil Schaeffer-Hegels bestätigen: ,,Der politische Diskurs der Aufklärung - so läßt sich zusammenfassend urteilen - ist nicht zu Ende gedacht."[822]
Literaturverzeichnis:
Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung. 12. Auflage UTB Schöningh 1995 ders., Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. Reclam Leipzig 1928
Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1963
Rainer Bolle, J.-J. Rousseau. Das Prinzip der Vervollkommnung des Menschen durch
Erziehung und die Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit, Glück und Identität. Waxmann Münster/New York 1995
F. Lebrecht, Der Fortschrittsgedanke bis Condorcet.
Hrsg. v. Astrid Deuber-Mankowsky u.a.: 1789-1989. Die Revolution hat nicht stattgefunden. Edition Diskord Tübingen 1989
Hrsg. v. Ute Gerhard: Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. Helmer Frankfurt am Main 1990
Metzlers Philosophenlexikon J.B.Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttgart 1989
Sarah Kofman, Rousseau und die Frauen. Erweiterte Fassung eines Vortrages. Konkursbuchverlag Tübingen 1986
Lieselotte Steinbrügge, Das moralische Geschlecht. Beltz Weinheim/Basel 1987
Christine Garbe, Die ,,weibliche" List im ,,männlichen" Text. Metzler Stuttgart/Weimar 1992
Hrsg. v. Hannelore Schröder, Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation. C.H.Beck München 1979
Susanne Petersen, Marktweiber und Amazonen. Frauen in der Französischen Revolution. PapyRossa Verlag 1991
Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Suhrkamp Frankfurt am Main 1993
[...]
1 Metzlers Philosophenlexikon, S.665
2 J.-J. Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag, S.34
3 ebd.:S.34
4 ebd.: S.44/45
5 ebd.: S.45
6 ebd.: S.46
7 ebd.: S.57
8 ebd.: S.59
9 ebd.: S.64
10 0 ebd.: S.64
11 1 Emile, S.71
12 2 ebd.: S.39
13 3 ebd.: S.105
14 4 ebd.: S.173
15 5 ebd.: S.61
16 6 ebd.: S.544, Bemerkungen zur Übersetzung von Ludwig Schmidts
17 7 ebd.: S.385
18 8 ebd.: S.385
19 9 ebd.: S.389
20 0 ebd.: S.395
21 1 ebd.: S.386
22 2 ebd.: S.398
23 3 ebd.: S.398
24 4 ebd.: S.420
25 5 ebd.: S.409
26 6 ebd.: S.400
27 7 ebd.: S.401
28 8 ebd.: S.408
29 9 ebd.: S.418
30 0 ebd.: S.421
31 1 ebd.: S.400
32 2 ebd.: S.399
33 3 ebd.: S.399
34 4 ebd.: S.400
35 5 J.-J.Rousseau, DerGesellschaftsvertrag, S.34
36 6 Emile, S.396
37 7 ebd.: S.390
38 8 ebd.: S.393
39 9 ebd.: S.402
40 0 ebd.: S.421
41 1 ebd.: S.417
42 2 ebd.: S.394
43 3 L.Steinbrügge, Vernunftkritik und Weiblichkeit in der französischen Aufklärung, in: A.Deuber-Mankowsky u.a., 1789-1989, Die Revolution hat nicht stattgefunden, S.72
44 4 ebd.: S. 75
45 5 L. Steinbrügge, Das moralische Geschlecht, S.82
46 6 Emile, S. 409
47 7 ebd.: S.399
48 8 ebd.: S.407
49 9 ebd.: S.400
50 0 Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, S.383
51 1 ebd.: S.29
52 2 ebd:: S.29/31
53 3 ebd.: S.35
54 4 ebd.: S.39
55 5 Lebrecht, der Fortschrittsgedanke bis Condorcet, S.93
56 6 ebd.: S.94
57 7 Condorcet, Entwurf... S.123
58 8 ebd.: S.357
59 9 ebd.: S.357
60 0 ebd.: S.383
61 1 Condorcet, Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht, in: H.Schröder, Die Frau ist frei geboren, S.55
62 2 ebd.: S.55/56
63 3 ebd.: S.56
64 4 ebd.: S.56
65 5 ebd.: S.56
66 6 ebd.: S.58
67 7 ebd.: S.59
68 8 ebd.: S.58/59
69 9 ebd.: S.59
70 0 ebd.: S.61
71 1 ebd.: S.61/62
72 2 ebd.: S.62
73 3 Rousseau hat sich oft als ,,Genfer Bürger" bezeichnet und in seinen Werken seine Heimatstadt als vorzeigbare Republik gelobt. Für weitere Erläuterungen s. R.Bolle, J.-J. Rousseau
74 4 R.Bolle, J.-J. Rousseau, S.29
75 5 B.Schaeffer-Hegel, Freiheit und Gleicheit der Brüder, in: A.Deuber-Mankowsky u.a., 1789-1989, Die Revolution hat nicht stattgefunden, S.57
76 6 ,,Entweder hat kein Glied des Menschengeschlechts wirkliche Rechte, oder sie alle haben die gleichen, und derjenige, der gegen das Recht eines anderen stimmt, mag er auch einer anderen Religion, einer anderen Hautfarbe oder dem anderen Geschlecht angehören, hat damit seine Rechte verwirkt." (Condorcet, Über die Zulassung... in: H.Schröder, Die Frau ist frei geboren, S.56)
77 7 C.Garbe, Die ,,weibliche" List im ,,männlichen" Text, S.104
78 8 C.Garbe, Sophie oder Die heimliche Macht der Frauen, in: I.Brehmer, Frauen in der Geschichte, S.68
79 9 Anm.: Es geht hier also nicht mehr nur um die Inferiorität, sondern um die grundsätzliche Andersartigkeit des weiblichen Geschlechts!
80 0 B.Schaeffer-Hegel, Die Freiheit und Gleicheit der Brüder, in: A.Deuber-Mankowsky u.a., 1789-1989 Die Revolution hat nicht stattgefunden, S. 61/62
81 1 ebd.: S.60
82 2 ebd.: S.62
- Arbeit zitieren
- Frauke Wille (Autor:in), 1998, Weiblichkeitsentwürfe und das Geschlechterverhältnis in der französischen Aufklärung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97741
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