Tiz Heinrich
Forschungsmeinungen zu "vor dem Gesetz"
Allgemeines
1915 Als eigenständige Erzählung in der Prager Wochenschrift "Selbstwehr" erschienen. 1917 In den LandarztBand aufgenommen (1920 gedruckt).
Form:
Im epischen Präsens geschrieben.
Da sich der Geschehnisrahmen auf keinen best. Ort, Zeit, reale Person bezieht, ist der Wahrheitsgehalt nicht überprüfbar!
Perspektive:
Text ist nicht nur/immer = auktoriale Erzählung, manchmal versteckt sich der Autor hinter der Figur! (Bsp: Perspektive des M.v.Lande, der sein Lebensziel wegen des TüHü nicht erreicht!)
Parabel oder nicht?:
Nach Binder ('93) sowohl ja als auch nein!
In der klass. Parabel erscheint der darzustellende Problemfall nicht direkt! (Bildebene & Sachebene) Durch einen -ausserhalb dieser 2 Hälften angelegten- Vergleichspunkt wird ein Analogieschluss erlaubt, (Bsp. Sämann: Hat Ergebnis nicht in der Hand) pro's: Grobe, knappe Gestaltung, ohne Ausschmückungen und Umwege, auf eine Deutung durch den Leser zustrebend. Auf realistisches Beiwerk wird verzichtet (M.v.Lande sitzt ein Leben lang auf einem Schemel.)
Der Leser muss also den Sinn auf einer anderen Ebene suchen! Es treten nur 2 Personen auf, die meistens auch gegensätzlich sind. Ihre Charakterisierung beschränkt sich aufs Notwendigste! Sehr hoher Gesprächsanteil im "Gesetz".
Contras:In der klassischen Parabel werden die inneren Affekte bloss erwähnt, wenn sie für den Handlungsablauf notwendig sind.
Befund: Nach Binder ('93) ist der Text bezüglich Strukturmerkmalen keien Parabel!
HANSEN-LÖVE zu "Vor dem Gesetz ('92 ersch.)
1. Ha.-Lö. geht davon aus, dass der Text eine Parabel ist. (das Gefühl: "Kenn ich doch...")
2. Kafkas Parabel ist eine Falle! (Eine Interpretationsfalle) Indem man sie interpretiert geht man Kafka in die Falle.
Der Interpretationsmechanismus des Bewusstseins, der in allem einen Sinn sucht, wird durch den Text paralysiert, bzw. ad absurdum geführt. Nach Ha.-Lö. ist also eine Interpretationsvermeidung gefragt, oder zumindest die Auflösung der Interpretation im Verlauf ihrer Anwendung. Gerade weil alles auf die Lösung starrt bleiben einige Einzelheiten unbeachtet! (Er zählt 10 Paradoxien auf):
1. Türhüter ist selber in der Rolle des Mannes v. Lande: "...schon den Anblick des dritten könnte ich nicht ertragen." Jeder Raum ist bloss ein Vorraum, zugleich aber existiert eine Hierarchie von Mächtigkeit. Aber: Es gibt keinen TELOS!
2. Der Mann v. Lande fragt, statt zu handeln! Er könnte eintreten, er müsste es nur versuchen. Aber er weiss nicht was ihn erwartet, drum wartet er auf Erlaubnis. Seine Aporie:Trtitt er ein, dann hat er Erkenntnis, muss aber vielleicht sterben. Tritt er nicht ein dann hat er zwar keine Erk., bleibt aber am Leben. Das Hauptproblem ist aber seine Ungewissheit, ob er beim Eintritt überhaupt Schaden erleidet.
3. Das Tor steht immer offen. Jetzt darf er nicht eintreten. Wann dann? Türhüter: "Es ist möglich, jetzt aber nicht." Immer ja, jetzt nein = widersprüchliche Formel, denn der Akt des Eintretens ist ja ein Jetzt, kein Immer. [Gesuchtes Paradoxon!!!! Ausserdem sagt der TüHü nichts von "immer." Im Text steht nur: "...das Tor steht offen wie immer"]
4. Ein Türhüter der sagt, der Eintritt sei frei ist kein Türhüter. [Er sagt nicht: "Der Eintritt ist frei"!]
5. Der TüHü ist selber ein Um-Einlass-Bittender. Ausserdem steht er vor der Türe, hat also noch nicht 'mal seine eigene/die erste Schwelle überschritten, wie der Mann v. Lande. [Alles hineininterpretiert!!!! Kafka hätte es wohl schon 'irgendwie' gesagt, wenn...]
6. Wenn der Mann v. Lande jetzt eintritt, und es gelingt ihm nicht [was?], dann kann er nie mehr feststellen, ob ein anderer Zeitpunkt besser gewesen wäre. [Nirgends im Text steht 'was von bloss einem Versuch!]
7. Will ich es genau wissen bevor ich handle, dann handle ich nicht Handle ich einfach drauflos, dann weiss ich nicht was ich tue. Handeln ist also exxtreem mit Ungewissheit verbunden, es gibt nur entweder oder. [Alles hineininterpretiert! Ausserdem stellen diese 2 Aussagen keine Prämissen eines log. Arguments dar!]
8. Obwohl er weiss, dass ihn der TüHü nicht einlässt wartet er. [eben deshalb wartet er!!!] Oder: TüHü lässt ihn nicht ein, weil er wartet und nicht sucht. Ohne Hoffnung gäbe es kein Warten, ohne Warten kein Altern uns Sterben. [Schon wieder an den Haaren herbeigerissen; und keine log. Schlussfolgerung!]
9. Erst al der Mann erblindet geht ihm ein Licht auf, zu spät! [Mann erblindet gar nicht! Überinterpretiert das Licht usw.]
10.Normalerweise ist das Gesetz für jeden, jederzeit offen. Hier ists aber nur für einen offen. Weshalb also die Verweigerung bzw. Behütung, wenns doch sein Eingang war, sein Besitz?
[Alles müssige Fragen! Ha.-Lö. geht Kafka voll in die Falle!!!]
Das "wahre" Paradoxon lässt keine Auflösung in eine Sinngebung zu! [Wenns denn überhaupt eines ist!]
[vgl. Kafkas "Von den Gleichnissen." Er sagt dort: "Eine Parabel sagt aus, dass das Unfassbare unfassbar ist und bleibt." Besonders da er 1. Jude war; 2. in einer Zeit lebte, als das 'Unfassbare' immer mehr an Boden verlor!]
Helmut BINDER zu "vor dem Gesetz" ('93)
Binder beklagt dei monokausalistische Sicht der Forschung: "Die Erzählung könnte ja auch einen Sachverhalt darstellen, der sich nicht dem Satz der Widerspruchsfreiheit fügt!" Kafka wollte mit dieser Beispielerzählung im ep. Präsens eine allgemeine Gesetzmässigkeit darstellen.
Kafka hatte nach der Niederschrift dieses Textes ein "Zufriedenheits-und Glücksgefühl!!!"
Binder spricht von einem "zwielichtigen Textbefund (vgl. Parabel Pro's u. Contras). Es scheint ihm. Kafka habe die Parabel-Form für seine Zwecke unmgeformt.
Binder schliesst aus diesem Befund: "Der Text, da im 'Process' eingebettet- ist innerhalb dieses Gegenstandsbereiches zu deuten (Als Bsp.-erzählung des Geistlichen an Jos. K. im Dom), ohne Überetragungen usw!" [ABER: "Process" = einzeln veröffentlicht, d.h. Verständnis muss auch ohne "Process" gegeben sein!]
Er kritisiert Interpreten, die eine Parabel-Auffassung erschleichen (Z.Bsp.: Text sei eine stark modifizierte Spätform der Parabel...)
Binder meint, Kafka hätte doch bestimmt zw. Bild- u. Sachebene unterschieden, wenn er eine Parabel hätte schreiben wollen. Ausserdem fehlen Formelemente der Parabel:
a) Der Handlungsgang zeigt nicht die Überzeugungskraft alltäglicher Verrichtungen und deren Wirkungen die den Leser belehren sollten! Im Ggteil, beim Leser treten grosse Probleme auf!
b) Kafka verschweigt/übergeht Sachverhalte. D.f. Probleme statt Lösungen für den Leser!
Also schliesst Binder:
1. Kafka hat sich beim Text nicht an der Parabelform orientiert. D.h. Struktur und Verstehensbedingungen lassen sich nicht auf NT-Vorbilder zurückführen. Df. Theologische Deutungen können nicht durch formale Überlegungen gestützt werden!
2. Die besondere Gestalt des Textes ist auch durch dessen Einbettung im "Process" bedingt. Kafka musste die Passage sprachlich vom Process-Kontext abheben!
3. Der Text sollte -wegen seiner zentralen Stellung im Roman- besondere Aufmerksamkeit des Lesers hervorrufen, drum stattete Kafka ihn mit einer geheimnisvollen Aura aus (vgl. Verschachtelung der Räume, Lichtglanz, Widersprüche...)
Binder zum "Mann vom Lande"
Binder vs. Politzers (Vieldeutuigkeit...) Meinung: M.v.L. = ungeschultes jüd. Volk im AT., sondern Stadt/Land Problematik! Begründung Binders: Übereinstimmung zw. M.v.L & Joseph K. "...die ohne Zweifel gewollt ist."
Binders Vgle zw. MvL & Joseph K.:
1. Joseph K. im Kap. "Staatsanwalt" kann am Stammtisch "nur wenig eingreifen" (=Ü.fordert)
2. Im Dom bei der "Erzählung" ist K. ebenfalls ü.fordert
3. Die 2 Wächter im "Process" bewirken durch ihre blosse Anwesenheit, dass K. nicht denken kann, und stattdessen wartet.
4. K. fühlt sich von den Wächtern physisch bedroht (Kind-Erwachsene).
5. Ähnliche Weltanschauung: "Gesetz steht allen offen..."
6. Jos.K. wird in die Welt des Gesetzes eingeschlossen / MvL. ausgeschlossen!
7. Vernehmungen sind in beiden Texten = Farcen
8. M. v. L. ist genauso fixiert wie Jos. K. (Bedeutung im Leben wird immer grösser)
9. Beide versuchen zu bestechen.
Binder Zusammenfassend: Welche Bedeutungen 1-9 haben "...kann hier nicht erörtert werden," aber die Figur des M. v. Lande sei mehr in Hinsicht auf diese Entsprechungen, als auf biblische Entsprechungen gestaltet [Problem bleibt! Ist denn die Figur Jos. K. biblisch motiviert?]
Binder zur "Schuld"
Kritik Binders: "Alle geben dem MvL. die Schuld fürs nicht-erreichen des Lebenszieles." ZBsp. Muschg ('58): "MvL. hätte ohne Furcht eintreten sollen..."
Ingeborg Henel ('63): "Es handelt sich also um ein Versäumnis des MvL...". Das Hören auf bloss äussere Verordnungen verhindert Eintritt ins 'wahre' Gesetz (vgl Kafkas Tagebuchnotiz zu Paulus).
Binder: a) MvL wusste ja nicht, dass Eingang = für ihn bestimmt!
b) Kafka setzt dieser Zielstrebigkeit des Handelns (¹wahres Leben), die er bei seinen Fam.-mitgliedern beobachtet (Tagebuch: = Narrheit), eine Position der Stagnation entgegen, des im-Leben-nicht-vorankommens.
Also verurteilt Kafka - gemäss dieser Tagebuchnotiz- den MvLande nicht!
Horst Steinmetz ('77): "Das Gesetz regelt doch den Einlass. Der MvL. verstösst durch seine Hartnäckigkeit gegen das Gesetz, also kann er auch nicht eintreten, da er ihm nicht entspricht!"
Binder: Im Text steht weder 'was von "Regelung des Einlasses durch das Gesetz", noch von "Versagen des MvLande." (Alles = Interpretationskünste!!!)
H. Sokel ('67): "Die Angst vor dem bedrohlichen TüHü hält den MvL. zurück. Er will kein Risiko eingehen und wartet deshalb lieber auf die Erlaubnis Er will nicht wahrhaben, dass der Zugang zum Absoluten auch das Fürchterliche einschliesst. (Also Furcht vs/& Hoffnung)"
Binder: Die Angst kommt erst wegen des Verbotes! Hinzu komme, dass Sokel Existentialistisches Gedankengut in den Text hineintrage, ohne einen Anhalt dafür zu haben.
Jürgen Born ('83/'86): "Man sieht bloss, dass das Unbegreifliche unbegreiflich ist. D.h. Man soll die paradoxale Struktur des Textes nicht auflösen!!!"
Binder: a) Dies ist kein Spättexte Kafkas, wo er sagt, alles Reden sei Lüge, schweigen sei vollkommen.
b) Verwendung des Begriffs Paradox! Einerseits
angelsächs. Gebrauch D.h. = Antinomie die einem Verständnis zugeführt werden muss
Andererseits Hierzulande Gebrauch D.h. = bloss scheinbare Widersprüche, bei näherer Betrachtung lösen sie sich auf.
Deshalb komme Born, trotz der 'Unbegreiflichkeits-These', zu Aussagen wie: "Der Mann hätte "
Binder: Der arme Mann vom Lande, er kann tun und lassen was er will, er hat gegen seine Interpreten keine Chance! Christian Eschweiler ('88) sei der radikalste MvL- Schuldzuweiser. "Er liest dermassen selektiv, dass er schliesslich das Gegenteil dessen findet, eas im Text steht."
Der Mann v.L. ist nicht frei!!! Er kann nicht frei entscheiden...Wegen des Verbots!
Jürgen Kobs = der extremste Verteidiger des MvL.: Der TüHü verarscht ihn! Nach Binder sind Kafkas Helden immer Opfer ihrer Verhältnisse. Warum nicht auch der MvL.?! Es gibt ja ohnehin nur 4 Schuldzuweisungen: Keiner; Beide; TüHü; MvL.
Binder zählt 7 Verfehlungen des TüHü auf:
1. Er verbietet den Eintritt
2. Er verunsichert und ängstigt den MvL. durch seine Aussagen.
3. Er weckt Hoffnungen.
4. Er verführt ihn zu passivem Warten /vgl. Schemel)
5. Verhört ihn.
6. Er plündert den MvL. aus, ohne ihm dafür 'was zu geben.
7. Info über die Bedeutung des 'Eingangs' kommt viel zu spät!
Nach Binder ist es ein theologisches Vorverständnis des Textes, das zu einer Schuldzuweisung an den MvL. führt.
Binder zum TüHü
Kafka wollte mit dem (mongolisch/fremden) Aussehen des TüHü Angst wecken, negative Konnotationen hervorrufen. (Bart ¹ jüdisch, sondern wirklich tatarisch!)
Binder abschliessend:
- "Process" & "VdGesetz" sind stark miteinander verknüpft!
Im "Process" ¹ gewöhnliches Gericht. In "vdGes." ¹ gewöhnliches, materielles Gesetz! Der Begriff "Gesetz" ist unspezifisch, offen, semantisch vieldeutuig!!! Er benutzte den Begriff als Leerformel.
- Nach Binder hat der TüHü keinen ideologischen Überau! Er ist vs. alle solche Interpretationen!!!
- Der Prager Zionosmus, dem Kafka damals nahe stand, wandte sich bewusst vs. orthodoxe Überlieferungen.
- Kafka nennt im Tagebuch den Text: "Legende, Geschichte, TüHü-Geschichte" Darum kann man seine Etikettierungen nicht gebrauchen!
- 1915 Trennung von FeBa. & Aufgabe des Schreibens. D.f. Sinnverlust, Vakuum. "V.d.Ges." ist...?
Binder: "Wie weiter?" Er ist vs. Dekonstruktivisten wie Z.Bsp. Derrida & Bloom. (= Nicht der Autor, sondern der Leser hat zu bestimmen, was ein Text zu bedeuten hat. Also Leser ¹ Hermeneut, Interpret, sondern Mit-Autor. Wahr ist alles, was der Leser im Text findet. [vgl. Kafkas Tagebuchnotizen und Briefe bezügl. "Urteil", wo er genau dies behauptet - aber bloss als Verwirrungstaktik!]. Ihre Ansicht: Das Spiel der Literatur ist ausgespielt, damit es weitergeht darf jeder neu definieren -So Binder)
Binder ist aber der [richtigen!] Ansicht: moderne Methoden sind nicht auf 'ältere' Texte anwendbar!
Forschungsmeinungen zu "vor dem Gesetz": Häufig gestellte Fragen
Was ist "vor dem Gesetz"?
"Vor dem Gesetz" ist eine Erzählung von Franz Kafka, die 1915 in der Prager Wochenschrift "Selbstwehr" erschien und später, 1917, in den Landarzt-Band aufgenommen wurde (gedruckt 1920). Sie ist im epischen Präsens geschrieben und behandelt die Geschichte eines Mannes vom Lande, der versucht, Zugang zum Gesetz zu erhalten.
Welche Perspektive wird in der Erzählung verwendet?
Der Text wird nicht nur auktorial erzählt; manchmal verbirgt sich der Autor hinter der Figur. Ein Beispiel ist die Perspektive des Mannes vom Lande, der sein Lebensziel aufgrund des Türhüters nicht erreicht.
Handelt es sich bei "vor dem Gesetz" um eine Parabel?
Laut Binder (1993) sowohl ja als auch nein. Zwar weist die Erzählung Merkmale einer Parabel auf (knappe Gestaltung, Betonung auf Deutung durch den Leser, Verzicht auf realistisches Beiwerk), jedoch werden innere Affekte nicht nur erwähnt, wenn sie für den Handlungsablauf notwendig sind. Binder kommt daher zu dem Schluss, dass der Text bezüglich Strukturmerkmalen keine klassische Parabel ist.
Was sagt HANSEN-LÖVE zu "Vor dem Gesetz"?
HANSEN-LÖVE (1992) geht davon aus, dass der Text eine Parabel und eine Interpretationsfalle ist. Der Interpretationsmechanismus des Bewusstseins, der in allem einen Sinn sucht, wird durch den Text paralysiert. Er zählt 10 Paradoxien auf, die sich in der Geschichte finden.
Welche Paradoxien werden von HANSEN-LÖVE genannt?
Zu den von HANSEN-LÖVE genannten Paradoxien gehören: Der Türhüter ist selbst in der Rolle des Mannes vom Lande; der Mann vom Lande fragt, statt zu handeln; das Tor steht immer offen, aber der Mann darf jetzt nicht eintreten; ein Türhüter, der sagt, der Eintritt sei frei, ist kein Türhüter; und der Türhüter ist selbst ein Um-Einlass-Bittender.
Was ist Helmut BINDERS Meinung zu "vor dem Gesetz"?
Helmut Binder (1993) kritisiert die monokausalistische Sicht der Forschung und betont, dass die Erzählung einen Sachverhalt darstellen könnte, der sich nicht dem Satz der Widerspruchsfreiheit fügt. Kafka wollte mit dieser Beispielerzählung im epischen Präsens eine allgemeine Gesetzmässigkeit darstellen. Binder spricht von einem "zwielichtigen Textbefund" und schliesst, dass der Text innerhalb des Gegenstandsbereichs des "Process" zu deuten ist, ohne Übertragungen.
Was kritisiert Binder an anderen Interpretationen?
Binder kritisiert Interpreten, die eine Parabel-Auffassung erschleichen und betont, dass Kafka zwischen Bild- und Sachebene unterschieden hätte, wenn er eine Parabel hätte schreiben wollen. Er bemängelt auch das Fehlen von Formelementen der Parabel, wie die Überzeugungskraft alltäglicher Verrichtungen und deren Wirkungen, die den Leser belehren sollten.
Inwiefern ist der Mann vom Lande mit Joseph K. aus "Der Process" vergleichbar?
Binder sieht Übereinstimmungen zwischen dem Mann vom Lande und Joseph K. aus Kafkas "Der Process". Beide sind überfordert, fühlen sich bedroht und werden in eine bestimmte Welt (des Gesetzes oder des Prozesses) eingeschlossen bzw. ausgeschlossen. Beide versuchen auch, durch Bestechung ihr Ziel zu erreichen.
Wem gibt man die Schuld dafür, dass der Mann vom Lande sein Lebensziel nicht erreicht?
Viele geben dem Mann vom Lande selbst die Schuld. Binder kritisiert diese Schuldzuweisungen und führt an, dass Kafka den Mann vom Lande möglicherweise nicht verurteilt, sondern ihm eine Position der Stagnation entgegenstellt. Andere sehen die Schuld beim Türhüter.
Welche Verfehlungen des Türhüters listet Binder auf?
Binder listet sieben Verfehlungen des Türhüters auf: Er verbietet den Eintritt; er verunsichert und ängstigt den Mann vom Lande; er weckt Hoffnungen; er verführt ihn zu passivem Warten; er verhört ihn; er plündert den Mann vom Lande aus; und er gibt die Information über die Bedeutung des Eingangs viel zu spät.
Welche Bedeutung hat der Begriff "Gesetz" in der Erzählung?
Nach Binder ist der Begriff "Gesetz" unspezifisch, offen und semantisch vieldeutig. Er wurde von Kafka als Leerformel benutzt.
Wie steht Binder zu dekonstruktivistischen Interpretationen des Textes?
Binder lehnt dekonstruktivistische Ansätze ab, die den Leser als Mit-Autor betrachten und betonen, dass moderne Methoden nicht auf ältere Texte anwendbar sind.
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- Tiz Heinrich (Author), 1999, Forschungsmeinungen zu "vor dem Gesetz", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97441