Gliederung
Teil A: Historischer Überblick
I. Entwicklung des RKG seit seiner Gründung (1495 - 1607)
II. Kammergericht und Ludoviciana in der Zeit vor 1693
III. Phase der Nachbarschaft (1693 - 1806)
Teil B: personelle Beziehungen
I. Professoren und Assessoren
1. berufliche Beziehungen
2. verwandtschaftliche Bindungen II. Studenten und Praktikanten
1. Tätigkeit am RKG als Teil des Gießener Jurastudiums
2. Studien späterer Kammergerichtsbeamter in Gießen
Teil C: Auswirkungen auf die Lehrtätigkeit
Teil D: Spruchtätigkeit der Juristenfakultät für das RKG
I. Allgemeines zu Spruchtätigkeit und Aktenversendung
II. Aktenversendung des RKG an die Ludoviciana
1. rechtliche Grundlagen der Aktenversendung durch das RKG
2. rechtliche Grundlagen der Spruchtätigkeit der Ludoviciana
3. Ablauf der Aktenversendung
4. praktische Bedeutung der Gießener Spruchtätigkeit
Teil E: Anderweitige Beziehungen
Teil F: Fazit
Literaturverzeichnis
1. Diestelkamp, Bernhard: Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, o. Aufl., Köln 1990
2. Diestelkamp, Bernhard: Das Reichskammergerichtsmuseum in Wetzlar (Ausstellungskatalog), o. Aufl., Wetzlar 1987
3. Gundel, Hans Georg (Hrsg.): Statuta Academiae Marpurgensis deinde Gissensis de anno 1629, 1. Aufl., Marburg 1982
4. Gundel, Hans Georg: ,,Rescripta, welche vim legis haben" in Moraw / Press: Academia Gissensis - Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, 1. Aufl., Marburg 1982, s. 183 ff.
5. Hall, Karl A.: ,,Die juristische Fakultät der Universität Gießen" in Festsschrift zur 350-Jahrfeier der Universität Gießen, o. Aufl., Gießen 1957, S. 1 ff.
6. Hattenhauer, Hans: Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 3. Aufl., Heidelberg 1983
7. Hoke, Rudolf / Reiter, Ilse: Quellensammlung zur österreichischen und deutschen Rechtsgeschichte, 1. Aufl., Wien 1993
8. Jahns, Sigrid: ,,Die Universität Gießen und das Reichskammergericht" in Moraw / Press: Academia Gissensis - Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, 1. Aufl., Marburg 1982, S. 189 ff.
9. Köbler, Gerhard: Deutsche Rechtsgeschichte, 5. Aufl., München 1996
10. Köbler, Gerhard: Gießener juristische Vorlesungen (Sammlung der Vorlesungsverzeichnisse 1607 bis 1982), 1. Aufl., Gießen 1982
11. Löwenstein, Hubertus Prinz zu: Deutsche Geschichte, 2. Aufl., München 1976
12. Moraw, Peter: Kleine Geschichte der Universität Gießen 1607 - 1982. o. Aufl., Gießen 1982
13. Pütter, Johann Stephan: Vollständigeres Handbuch der teutschen ReichsHistorie, Bd. II, o. Aufl., o. Ort, 1761
14. Rehmann, Wilhelm: ,,Chronik der Ludwigs-Universität 1607 - 1945 und der Justus- Liebig-Hochschule" in Festsschrift zur 350-Jahrfeier der Universität Gießen, o. Aufl., Gießen 1957, S. 447 ff.
15. Rösch, S.: ,,Die Professorengalerie der Gießener Universität - ikonographische und genealogische Betrachtungen" in Festsschrift zur 350-Jahrfeier der Universität Gießen, o. Aufl., Gießen 1957, S. 433 ff.
16. Rüping, Hinrich: Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 2. Aufl., München 1991
17. Schlosser, Hans: Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 7. Aufl., Heidelberg 1993
18. Schmidt, Erwin: ,,Wetzlarer Postgeschichte - 300 Jahre Postamt Wetzlar" in Hessische Postgeschichte, Heft 35 / 1990, o. Aufl., Frankfurt 1990
19. Söllner, Alfred: Einführung in die römische Rechtsgeschichte, 4. Aufl., München 1989
Seminar Rechtsgeschichte 18. - 20. Jhr.
Seminararbeit
Beziehungen zwischen der Academia Ludoviciana und dem Reichskammergericht, 1607 bis 1806
Mit der Verlegung des Reichskammergerichts nach Wetzlar in den Kriegswirren des Jahres 1690 begann für die Academia Ludoviciana eine mehr als 100 Jahre währende unmittelbare geographische Nachbarschaft zu einem der beiden höchsten Gerichtshöfe des Alten Reiches. Die nachfolgende Arbeit unternimmt den Versuch, die vielfältigen Beziehungen darzustellen, die sich in diesem langen Zeitraum zwischen beiden Institutionen entwickelten.
Teil A: Historischer Überblick
Wenngleich die Beziehungen zwischen der Gießener Universität und dem Kammergericht erst in der Zeit nachbarschaftlicher Existenz beider Einrichtungen besondere Ausprägung erfuhren, bestanden sie schon in früheren Tagen und gründeten in der Geschichte des Reichskammergerichts, dessen Entwicklung auch in der Zeit vor der Entstehung der Ludoviciana für das spätere Verhältnis zwischen beiden Institutionen von Bedeutung war. Im Rahmen eines kurzen historischen Überblicks sind demnach drei Zeitabschnitte zu berücksichtigen: die Geschichte des Reichskammergerichts vor Entstehung der Ludoviciana, die Zeit zwischen der Gründung der Universität und dem Umzug des Gerichts nach Wetzlar und die Phase der nachbarlichen Beziehungen bis zur Auflösung des römisch-deutschen Reiches.
I. Entwicklung des Reichskammergerichts seit seiner Gründung (1495 - 1607)
In den Anfängen des mittelalterlichen deutschen König- und deutsch-römischen Kaisertums zählte das Privileg oberster Gerichtsgewalt zu den elementaren Rechten des Herrschers und wurde üblicherweise von ihm persönlich oder von Angehörigen des Hofes wahrgenommen.1 Als sich im Hochmittelalter der Einfluß italienischer Bemühungen um eine Rezeption des antiken römischen Rechts auch in den transalpinen Reichsteilen durchsetzte und daduch die Rechtsanwendung komplizierteren wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werden musste, wurde die Einrichtung eines Hofgerichts notwendig, das mit ausgebildeten Rechtsexperten besetzt war und in Wahrnehmung des kaiserlichen Privilegs Recht sprach.2 Die Existenz eines solchen Gerichts ist seit dem Jahre 1415 belegt.3
Auf Drängen der Reichsfürsten, die seit längerem eine größere Eigenständigkeit des höchsten Reichsgerichts forderten, wurde im Rahmen der großen Reformen Maximilians I. das alte Hofgericht in ein unabhängiges, von den Reichsständen personell besetztes Reichskammergericht umgewandelt, dessen formelle am 31. Oktober 1495 im Frankfurt am Main erfolgte.4
Die ersten Jahrzehnte der Existenz des Gerichts waren gekennzeichnet von konfessionellen Konflikten, beständiger Geldnot, Einflussnahme verschiedener politischer Kräfte und häufigem Wechsel des Tagungsorts; erst 1527 besserte sich die Situation, als das Gericht festen Sitz in Speyer nahm, wo ihm eine erste juristische Blütezeit vergönnt war und es die Wirren der Reformationszeit überdauerte.5
II. Kammergericht und Ludoviciana in der Zeit vor 1693
Die akademische Geschichte Hessens begann, als Landgraf Philipp der Großmütige, Einiger des zuvor vielfach gespaltenen Landes und bedeutender Gönner der Wissenschaft und Kultur, 1527 in Marburg die Gründung einer Akademie veranlasste, deren Existenz als alleinige hessische Landesuniversität indes nicht lange währte, da nach dem Tode Philipps 1567 das Territorium unter seinen vier Söhnen aufgeteilt wurde. Marburg fiel an den nördlichen Landesteil Hessen-Kassel, der sich in den folgenden Jahrzehnten dem Calvinismus zuwandte, gegen den Kaiser opponierte und dadurch in Widerstreit zum protestantisch gebliebenen und Habsburg in Treue verbundenen südlichen Bruderterritorium Hessen-Darmstadt geriet. Da diese Konflikte einen Besuch der Universität Marburg durch hessen-darmstädtische Landeskinder weitgehend unmöglich machte, erwog Landgraf Ludwig V. die Gründung einer eigenen, protestantischen Landesuniversität in Gießen, die 1605 mit der Errichtung eines ,,Gymnasium illustre" und 1607 mit der feierlichen Eröffnung der nach ihrem Gründer als Academia Ludoviciana bezeichneten Universität realisiert wurde.6 Die neue Hochschule wurde durch Errichtung eines angemessenen Gebäudekomplexes und Ankauf einer stattlichen Bibliothek vorbildlich ausgestattet und entwickelte sich erfreulich, bis neue Konflikte zwischen den hessischen Territorien eine vorübergehende Verlegung der Ludoviciana nach Marburg (1625 - 1646) bedingten, was sich für die Lehrtätigkeit und den Ruf der Hochschule als schädlich erwies. Die Rückkehr nach Gießen gestaltete sich als überstürzte Flucht vor einer drohenden Einnahme Marburgs durch Truppen Hessen-Kassels; erst 1650 konnte in Gießen der reguläre Lehrbetrieb wieder aufgenommen werden.7
Das Reichskammergericht blieb unterdessen in Speyer von den Wirren des Dreißigjährigen Krieges weitgehend untangiert; im Westfälischen Frieden von 1648 erfuhr es gar eine Stärkung seiner rechtlichen Position und wurde organisatorisch reformiert. Die Blüte des Gerichts dauerte fort, bis 1688 die Stadt Speyer im Rahmen des Pfälzer Erbfolgekrieges von französischen Truppen besetzt wurde; die Gerichtsangehörigen mussten unter Zurücklassung des gesamten Archivs und sonstigen Inventars fliehen.8
III. Phase der Nachbarschaft (1693 - 1806)
Die Verhandlungen über den Standort einer Neugründung des Reichskammergerichts dauerten mehrere Jahre, bis 1690 eine Entscheidung zugunsten der Freien Reichsstadt Wetzlar fiel; dort wurde das Gericht 1693 mit prunkvollem Zeremoniell wiedereröffnet, nachdem man Frankreich in langwierigen Verhandlungen zur Herausgabe der Aktenbestände hatte bewegen können.9 Für ein Jahrhundert bestanden von diesem Zeitpunkt an die Academia Ludoviciana und das Kammergericht in unmittelbarer Nachbarschaft, ohne dass neue Krisen ihre Existenz bedroht hätten, und entwickelten jenes vielfältige Geflecht von Beziehungen, auf das im folgenden noch näher einzugehen sein wird. Um 1790 setzte ein langsamer Niedergang des Gerichts ein, dem die zu absolutistischer Staatlichkeit entwickelten deutschen Territorien zunehmend die Existenzberechtigung absprachen.10Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im Jahre 1806 bedingte die Aufhebung seiner verbliebenen Institutionen und damit das Ende der gemeinsamen Geschichte von Reichskammergericht und Universität Gießen.
Teil B: personelle Beziehungen zwischen RKG und Ludoviciana
Sowohl das Reichskammergericht als auch die Ludoviciana waren, wie die Geschichte ihrer räumlichen Verlegungen offenbart, Institutionen, deren Existenz und Eigentümlichkeiten nicht an bestimmte Orte und Bauten gebunden waren: vielmehr manifestierten sich beide Einrichtungen in erster Linie im Personenverband ihrer jeweiligen hochrangigen Angehörigen.11 Sowohl die Universität als auch das Kammergericht bildeten innerhalb der sie beherbergenden Städte gegenüber der sonstigen Bevölkerung weitgehend abgeschlossene soziale Gruppen, die einander im Hinblick auf Herkunft, Ausbildung, Einkommen, Selbstverständnis und Status ihrer Mitglieder sehr ähnlich waren. Daher waren die Beziehungen zwischen Kammergericht und Gießener Juristenfakultät in weit stärkerem Maße personeller als institutioneller Art und sind vorrangig als solche zu untersuchen. Innerhalb beider Einrichtungen existierte eine prinzipielle Zweiteilung des Personals, die Beziehungen auf unterschiedlicher Ebene bedingte: am Kammergericht wie an der juristischen Fakultät waren graduierte Juristen und solche in Ausbildung tätig, Professoren und Studenten an der Universität, Gerichtsangehörige und Praktikanten am Reichskammergericht.
I. Professoren und Assessoren
1. berufliche Beziehungen
Die Arbeit des Kammergerichts wie der Gießener Juristenfakultät prägten Rechtswissenschaftler, die sich auf ihrem Gebiet bereits Reputation erworben hatten: das Amt eines Kammergerichtsassessors galt als erstrebenswerter Ziel- und Endpunkt einer glänzenden juristischen Karriere; die Tätigkeit als Professor der Rechte war Resultat einer erfolgreich abgeschlossenen, für damalige Verhältnisse außerordentlich langen Ausbildungszeit und zugleich chancenreiche Ausgangsposition für weiteren Aufstieg in Diensten des Reiches oder eines Landesherrn. Aus diesem Umstand resultierten vielfältige, sehr enge personelle Beziehungen zwischen den Rechtsgelehrten des Kammergerichts und der Ludoviciana, bedingt sowohl durch Karrieren früherer Absolventen und Gießener Professoren, denen - meist mit mehreren Interimsstationen in landesherrlichem oder diplomatischem Dienst - der Aufstieg in ein Assessorenamt am Reichskammergericht glückte, als auch durch die fortgesetzte Lehrtätigkeit amtierender Gerichtsangehöriger.
Als herausragende Gestalten der Gießener Universitätsgeschichte verdienen in diesem Zusammenhang die Professoren v. Eyben und Reinking besondere Erwähnung. Huldrich v. Eyben (1629 - 1699) entstammte ostfriesischem Uradel; er wurde im Jahre 1664 Professor der Rechte an der Ludoviciana und erlangte dort binnen kurzer Zeit einen hervorragenden Ruf als Rechtsexperte und Dozent; der Wiederaufstieg der Universität nach den Verwicklungen des Marburger Exils war in nicht geringem Maße der Attraktivität seiner Vorlesungen zu verdanken, deren Qualität viele ambitionierte Studenten aus dem gesamten Reichsgebiet in das Provinzstädtchen Gießen lockte.12
Nach einigen Jahren in Gießen wechselte Eyben zum Reichskammergericht, wo er als einer der renommiertesten Assessoren galt und sich besonders durch seine umfangreiche publizistische Tätigkeit hervortat.13Eybens Tätigkeitszeitraum am
Kammergericht umfasste die Auflösung des Gerichts in Speyer und die Neueröffnung in Wetzlar; er steht somit am Beginn der Ära enger Kontakte zwischen dem Gießener Professorenkollegium und dem Gericht.
Dietrich Theodor Reinking, der sich wie Eyben schon in jungen Jahren durch herausragendes juristisches Talent hervortat, hatte niemals ein Amt am Reichskammergericht inne, war jedoch als Vertreter Hessen-Darmstadts an vielen Prozessen des Gerichts und auch an Verfahren vor dem Reichshofrat beteiligt. Als einer der letzten Vertreter der ,,translatio imperii"-Theorie und rechtspolitischer Publizist, der in den staatstheoretischen Diskussionen seiner Zeit stets die Position eines kaisertreuen Protestantismus vertrat, trug er maßgeblich dazu bei, den Ruf der Ludoviciana, an der er von 1617 bis 1624 lehrte, als den einer dem Kaiserhof besonders nahestehenden Universität zu begründen, der auch für die Kontakte zum Kammergericht nicht ohne Bedeutung war, zumal Reinking als Mitglied des Spruchkollegiums der Gießener Juristenfakultät seine rechtspolitischen Ansichten auch in zahlreichen Responsen zu Kammergerichtsprozessen zum Ausdruck bringen konnte.14Den Zenit seines wissenschaftlichen Ruhms erreichte Reinking, wie am Rande bemerkt sei, erst nach Beendigung seiner Giessener Lehrtätigkeit, als er in der Funktion eines Vertreters der dänischen Krone maßgeblich an der Aushandlung des Westfälischen Friedens mitwirkte; er beschloß seine Laufbahn in dänischen Diensten als hochrangiger Regierungsbeamter.
Neben derartigen Karrieren, die Verbindungslinien zwischen Ludoviciana und Reichskammergericht sichtbar werden lassen, aber in ihrer Zeit naturgemäß seltene Ausnahmeerscheinungen waren, verdienen auch personelle Kontakte Erwähnung, die sich auf alltäglicherer Ebene vollzogen: Hohe Kammergerichtsbeamte, darunter der für die Geschichte des Gerichts im frühen 18. Jhr. sehr bedeutende Präsident v. Ingelheim, werden mehrfach als Mitglieder der Kommissionen erwähnt, die die mündlichen Abschlussprüfungen der Giessener Juristenfakultät durchführten; vermutlich ist in dieser Tätigkeit allerdings weniger eine echte Prüferfunktion als vielmehr ein Ehrenvorsitz zu sehen, der mit formellen Pflichten wie der Verleihung von Preisen an besonders erfolgreiche Absolventen verbunden war.15Außerhalb solcher offiziellen Universitätstraditionen entwickelte sich schon seit Ende des 17.
Jhrs. in Wetzlar eine rege private Lehrtätigkeit durch Assessoren und andere Kammergerichtsbeamte, die von der schlechten personellen Ausstattung der Ludoviciana profitierten; Zweck dieser Arbeit war wohl in erster Linie das Bemühen der Gerichtsangehörigen, ihre aufgrund bisweilen jahrelang ausbleibender Gehaltszahlungen und erheblichen Repräsentationsbedürfnisses meist desolaten finanziellen Verhältnisse durch Einkünfte aus solchen Nebentätigkeiten aufzubessern. Wie umfangreich das daraus resultierende Studienangebot gewesen sein muss, zeigt der Umstand, dass, obgleich vor 1806 in Wetzlar offiziell keine Hochschule existierte, die Kandidaten in Gießener Examensprüfungen bei den Angaben zur Person verschiedentlich zu Protokoll gaben, sie hätten in Wetzlar Jura studiert.16
2. verwandtschaftliche Bindungen
Geprägt wurden die sozialen Strukturen an der Ludoviciana wie am
Reichskammergericht insbesondere durch ein komplexes Netz verwandtschaftlicher Beziehungen, die am Kammergericht aufgrund der regional unterschiedlichen Herkunft der Assessoren insbesondere in Form adliger Verwandtschaft bestanden, an der Ludoviciana dagegen zur Entwicklung einer für viele europäische Hochschulen ähnlichen Alters typischen ,,Universitätsfamilie" führte, in der annähernd alle Mitglieder des universitären Lehrkörpers untereinander verwandt waren und diese Verbindungen durch entsprechende Heiraten bewusst pflegten, was nicht selten dazu führte, das Lehrstühle über Generationen faktisch nicht aufgrund besonderer Qualifikation, sondern unter Berücksichtigung der genealogischen Verhältnisse vergeben wurden. Angesichts der vergleichbaren sozialen und insbesondere standesrechtlichen Verhältnisse, in denen hohe Kammergerichtsbeamte und Universitätslehrer lebten, war das Entstehen familiärer Beziehungen zwischen Kammergericht und Ludoviciana naheliegend und fand in zahlreichen Fällen tatsächlich statt: einer anlässlich der 350-Jahrfeier der Universität erstellten graphischen Übersicht, die den Versuch unternimmt, die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse darzustellen, ist zu entnehmen, dass im Zeitraum von 1607 bis 1806 etwa fünfzig Juristen, die entweder am Wetzlarer Gericht oder an der Gießener Universität arbeiteten, mit einander verwandt waren, darunter prominente Wissenschaftler wie der erwähnte Huldrich v. Eyben, Gottfried Antonii, Heinrich Christian v. Senckenberg, Karl v. Grolman und Julius Höpfner.17Der Stammbaum nennt daneben die Namen von 103 weiteren mit einander verwandtschaftlich verbundenen Giessener Hochschullehrern aller Fachbereiche, unter ihnen mit Liebig, Ihering, Harnack und Delbrück einige der bedeutensten Gießener Professoren; auch Goethe und das hessische Landgrafenhaus standen in genealogischer Beziehung zu diesem beeindruckenden Familiengeflecht.18
II. Studenten und Praktikanten
Von nicht geringerer Wichtigkeit für die Geschichte der Gießener Juristenfakultät waren die Beziehungen der Studentenschaft zum Reichskammergericht. Zwei wesentliche Teilaspekte sind dahingehend zu unterscheiden: die Einbeziehung von Tätigkeiten am Reichskammergericht in das Gießener Jurastudium und die Karriereaussichten von Absolventen der Ludoviciana am Kammergericht.
1. Tätigkeit am RKG als Teil des Gießener Jurastudiums
Die Chance, die sich für die Verbesserung der Juristenausbildung an der Ludoviciana durch die geographische Nähe zum höchsten Gericht des Alten Reiches ergab, wurde von der Universität schon unmittelbar nach der Verlegung des Kammergerichts nach Wetzlar erkannt und zum Wohle der Studenten genutzt, zweifellos auch in der Hoffnung, die von der Zahl ihrer Studenten wirtschaftlich abhängige Universität für Studienanfänger aus Gebieten jenseits des unmittelbaren Einzugsgebiets der Ludoviciana attraktiver zu gestalten. Bereits Ende des 17. Jhrs. wurde daher die Lehre des ,,stylus cameralis", des Kameralprozess- und Kammergerichtsverwaltungsrechts zu einem festen Bestandteil des Gießener Studienangebots, wobei sich bereits eine für das Gießener Studium späterer Jahrzehnte charakteristische Schwerpunktsetzung zugunsten praxisnaher Ausbildung ohne übertriebene Betonung der an anderen Universitäten intensiver gepflegten theoretischen Jurisprudenz abzeichnete. Die besondere Pflege des kameralpro-zessrechtlichen Lehrstoffs wurde offenbar auch am Reichskammergericht selbst als zusätzliche Qualifikation bewertet: Anwärter auf ein Assessorenamt konnten in ihrer Aufnahmeprüfung mit besonderem Wohlwollen der Prüfer rechnen, wenn sie angaben, ,,non procul ab hinc Gisae" studiert zu haben.19Das für eine eventuelle spätere Karriere am Kammergericht seit dem 17. Jhr. zwingend vorgeschriebene Gerichtspraktikum, das im Anschluß an das Universitätsexamen zu absolvieren war und üblicherweise einige Monate dauerte, konnte mit einem Studium in Gießen aufgrund der geringen räumlichen Distanz besonders gut verbunden werden. Auch unter solchen Absolventen der Ludoviciana, die keine Hoffnung auf eine Laufbahn am Reichskammergericht hegten, bestand ein reges Interesse am Besuch des Praktikums, da ein Nachweis der Teilnahme beim Eintritt in landesherrliche Dienste die Aufstiegschancen verbessern konnte.
Erstaunlich erscheint angesichts dieser Umstände die Tatsache, dass in den erhaltenen Matrikeln des Kammergerichts trotzdem nur eine relativ geringe Zahl Gießener Studenten verzeichnet ist. Eine vollständige Klärung dieses Phänomens ist bislang nicht gelungen; in der Forschung überwiegt heute die noch nicht hinreichend belegte Vermutung, die Aufnahme in die Gerichtsmatrikel sei mit einer Gebühr verbunden , aber zum Besuch der Verhandlungen des Kammergerichts nicht zwingend erforderlich gewesen, weshalb der überwiegende Teil der Praktikanten aus Sparsamkeit auf eine formelle Immatrikulation verzichtet habe.
2. Studien späterer Kammergerichtsbeamter in Gießen
Fraglich bleibt, ob die dargelegten besonderen Kontakte der Gießener Jurastudenten zum Reichkammergericht tatsächlich geeignet waren, die Aussicht auf eine Karriere am Kammergericht zu verbessern und Gießener Absolventen gegenüber denen anderer Hochschulen dahingehend einen Vorteil zu verschaffen. Zu dieser Frage existieren umfangreiche statistische Untersuchungen:
Die Zahl der Einschreibungen späterer Kammergerichtsassessoren erreichte einen ersten Höhepunkt schon um 1630; dies ist insbesondere damit zu erklären, dass zu dieser Zeit mit Lyncker und Reinking zwei weithin bekannte Juristen an der Ludoviciana lehrten und die Fakultät damit für ambitionierte Studenten recht attraktiv war.20Danach nahm die Anzahl in der Phase des Marburger Exils der Universität deutlich ab, um nach der Wiedereröffnung in Gießen 1650 einen neuerlichen Anstieg zu erleben. Für die Zeit unmittelbar nach der Etablierung des Reichskammergerichts in Wetzlar zeigt die Statistik einen sprunghaften Anstieg der Immatrikulationen späterer Kammergerichtsangehöriger, ab 1730 indes einen fast ebenso schnellen Rückgang, der mit allgemeinem Attraktivitätsverlust der Kammergerichtslaufbahn gegenüber einer Karriere in landesherrlichen Diensten und mit dem zunehmenden Einfluss der 1737 neu gegründeten Universität Göttingen zu erklären ist, die seit etwa 1740 eine führende Rolle in der deutschen Rechtswissenschaft einnahm. Ein letzter Anstieg der Einschreibungen um 1780 steht mit der organisatorischen Entwicklung des Reichskammergerichts in Verbindung, das in dieser Zeit vorübergehend mit Vollbesetzung beider Senate arbeitete, die vorher fast nie erreicht worden war und einen erhöhten Personalbedarf bedingte. Ab etwa 1790 ließen die Auflösungserscheinungen im Alten Reich das Interesse der Studenten an einer Laufbahn in Reichsdiensten schwinden.21
Deutlich zeigt die Analyse einen Zusammenhang zwischen der Geschichte des Kammergerichts und der Zahl erfolgreicher Karrieren Gießener Absolventen; die Frage, inwieweit Gießen durch die Nähe zu Wetzlar tatsächlich eine Sonderrolle zukam, kann allerdings nur beantwortet werden, wenn man die Gießener Erfolgsstatistik mit denen anderer Universitäten vergleicht. Die Aussage der dahingehend verfügbaren Auswertungen ist mehr als deutlich: keine andere Universität konnte unter ihren Absolventen eine so hohe Zahl späterer Kammergerichtsassessoren vorweisen wie die Ludoviciana.22Ein statistischer Vergleich von 31 Hochschulen des Alten Reiches und benachbarter Territorien für die Zeit von 1648 bis 1806 zeigt Gießen mit vierzig späteren Assessoren an erster Position, was umso bemerkenswerter erscheint, wenn berücksichtigt wird, dass die Gießener Akademie hinsichtlich der Gesamtzahl der Immatrikulierten unter den genannten 31 Universitäten nur Platz 17 einnahm.23Wenngleich es naheliegend scheint, diese herausragende Stellung Gießens als Konsequenz der durch die geographische Lage bedingten besonderen Attraktivität für Studenten mit Aussicht auf eine Kammergerichtslaufbahn zu interpretieren, wirft ein weiteres Resultat statistischer Untersuchungen Zweifel an der Richtigkeit dieser Annahme auf: die Assessorenstellen am Reichskammergericht waren konfessionell paritätisch und mit Juristen aus allen Teilen des Reiches besetzt, die Gießener Studenten dagegen im langjährigen Durchschnitt zu 87,5% Protestanten und mehrheitlich gebürtige Hessen.24 Wäre tatsächlich der durchschnittliche Gießener Jurastudent bezüglich einer Kammergerichtslaufbahn besonders begünstigt gewesen, so hätten konfessionelle und landsmannschaftliche Struktur an beiden Institutionen einander ähnlicher sein müssen.25
Mit der Erfolgsstatistik vereinbar wird dieser Umstand, wenn man ein Phänomen berücksichtigt, das mit dem System der Besetzung offener Assessorenstellen am Reichskammergericht zusammenhing. Die Anwärter auf ein Assessorenamt wurden von ihren Heimatterritorien nach einem festen Zahlenschlüssel dem Gericht präsentiert, d. h. zur Ernennung vorgeschlagen. Sie mussten daraufhin nach Wetzlar reisen und sich einer zeitaufwendigen Prüfung durch das Gericht unterziehen, deren Ausgang über die Ernennung entschied. Bürgerliche Praesentati mussten bei ihrer Ernennung zum Assessor einen juristischen Doktorgrad vorweisen; viele hatten diesen bei ihrer Präsentation aber noch nicht erworben.26Daher schrieben sich Praesentati oft während oder nach ihrer Prüfungszeit in Gießen pro forma als Studenten ein und erwarben an der Ludoviciana die fehlenden Titel, was seitens der Universität durch erheblich reduzierte Anforderungen an eine Promotion erleichtert wurde; in der zweiten Hälfte des 18. Jhrs. fanden sogar Promotionen ,,in absentia" statt.27Die Doktoranden-Einschreibungen erklären partiell den enormen Anteil Gießener Studenten unter den Kammergerichtsassessoren; eine dahingehend bereinigte Erfolgsstatistik lässt Gießen auf den zweiten Platz hinter Göttingen zurückfallen.28 Als bemerkenswertes Detail ist hinzuzufügen, dass auch das Wetzlarer Patriziat die besonderen Karrierechancen zu nutzen wusste, die sich durch die Ansiedlung des Gerichts und die Promotionspraxis der Ludoviciana ergaben: unter den Gießener Absolventen, die später den Beruf eines Prokurators oder Advokaten am Reichskammergericht ergriffen, ist der Anteil Wetzlarer Bürgersöhne weit überproportional.29
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Ludoviciana durch ihre Nähe zum Reichskammergericht und die Qualität ihres praxisnahen Lehrprogramms viele begabte Studenten mit überdurchschnittlichen Karriereaussichten anlockte und hinsichtlich der Absolventenlaufbahnen tatsächlich eine für eine Hochschule ihrer Größe beachtliche Erfolgsquote vorweisen konnte.30Der enorme Vorsprung gegenüber anderen Universitäten erklärt sich jedoch vorrangig aus der Erleichterung des Promotionsverfahrens für Praesentati, die zwar indirekt ebenfalls Folge der Nähe der Ludoviciana zum Reichskammergericht war, aber nicht aus der Qualität der Gießener Juristenausbildung resultierte.31
Teil C: Auswirkungen auf die Lehrtätigkeit
Über die Frage, welche konkreten Auswirkungen auf die juristische Lehre an der Ludoviciana die Nähe zum Reichskammergericht hatte, geben insbesondere die erhalten gebliebenen Vorlesungsverzeichnisse des 17. und 18. Jhrs. Aufschluß, denen zu entnehmen ist, welche Themengebiete von den Professoren der Gießener Juristenfakultät besonders gepflegt wurden.
Bereits im Verzeichnis für das Wintersemester 1693 / 1694, das erste neue Semester, das nach der Wiedereröffnung des Kammergerichts in Wetzlar begann, sind Einflüsse der Wechselwirkung zwischen beiden Institutionen festzustellen: offenkundig ist dabei der Rückgang römisch-rechtlicher Veranstaltungen gegenüber Angeboten aus dem Reichsrecht und Reichslehnsrecht.32Zum ersten Male in der Geschichte der Fakultät wurde in diesem Semester dem damals aktuellen Staatsrecht eine besondere Stellung eingeräumt, indem ein Professor Dr. Friedrich Nitzschius ,,lectiones ad Capitulationem Josephi Romanorum Regis", also Unterweisungen zur Wahlkapitulation Kaiser Josephs I. anbot, die in erster Linie Gesetzesmaterie zu staatsrechtlichen und die Privilegienvergabe betreffenden Themen beinhaltete und daher für den vor allem mit dem Erlernen der Theorie und Praxis des Gemeinen Rechts beschäftigten ,,normalen" Studenten dieser Zeit von untergeordnetem Interesse war, für die Rechtsprechung des Reichskammergericht dagegen einige Bedeutung besaß.33
Im weiteren Verlauf der Koexistenz von Kammergericht und Ludoviciana blieben die Vorlesungen zu reichsrechtlichen Themengebieten, etwa zu kaiserlichen Gesetzen, Reichstagsabschieden und der Constitutio Criminalis Carolina, trotz ihrer Stellung außerhalb des vom Corpus Iuris geprägten traditionellen juristischen Fächerkanons fester Bestandteil des Gießener Vorlesungsprogramms, was auf eine entsprechende Nachfrage seitens der Studenten schließen lässt.34Von der einst vielgerühmten Praxisnähe des Gießener Jurastudiums jener Zeit zeugt der Umstand, dass das reichsrechtliche Veranstaltungsangebot durch eine Vielzahl begleitender Übungen und Seminare ergänzt wurde, die freilich zumeist von Hochschullehrern als ,,collegia privata" gegen Bezahlung in ihren Privatdomizilen abgehalten wurden und schon aus Kostengründen nur solchen Studenten offen standen, deren soziale Herkunft Chancen auf eine spätere Karriere am Kammergericht oder bei anderen Reichsinstitutionen eröffnete.35Auch die an den geschichtlichen Abläufen orientierte strukturelle Durchformung des Reichsrechts, das kein einheitliches System darstellte, wurde in Gießen sehr ernst genommen.36
Obwohl das Reichskammergericht im Verlaufe des 18. Jhrs. an Ansehen und Bedeutung verlor, blieb sein Einfluß auf die Lehre an der Ludoviciana bestehen: noch 1783, in jener letzten kurzen Blütezeit, die eine Vollbesetzung beider Senate des Gerichts und damit erhöhten Personalbedarf bedingte, begann in Gießen ein Prof. Dr. Musaeus mit Vorlesungen über die ,,praxin cameralem".37Die Beseitigung des Kammergerichts infolge der Auflösung des Alten Reiches bedingte daher eine tiefgreifende Veränderung in der Struktur der juristischen Lehre an der Ludoviciana.
Da die Vorlesungsverzeichnisse der Jahre 1805 bis 1807 nicht erhalten sind38, können die unmittelbaren Auswirkungen des politischen Geschehens nicht mehr im einzelnen nachvollzogen werden, doch belegt auch der Vergleich der verfügbaren Verzeichnisse vor 1805 und nach 1807 den Zusammenbruch: noch zu Beginn des 19. Jhrs. war das Reichsrecht Gegenstand verschiedener Veranstaltungen, während schon 1808 seine gänzliche Entfernung aus dem Vorlesungsangebot zugunsten napoleonisch beeinflusster Themen vollzogen war.
Teil D: Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät für das RKG
Ein weiterer Aspekt der vielfältigen Verbindungen zwischen Reichskammergericht und Ludoviciana ist die Spruchtätigkeit der Juristenfakultät für das Gericht, die in recht bescheidenem Umfang bereits lange vor der Wetzlarer Zeit des Kammergerichts begann und ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte des 18. Jhrs. erlebte.
I. Allgemeines zu Spruchtätigkeit und Aktenversendung
Das Prinzip der gerichtlichen Aktenversendung an akademisch tätige Rechtsgelehrte konnte, als die Ludoviciana ihre diesbezügliche Arbeit aufnahm, bereits eine lange Tradition vorweisen: in der vorklassischen Phase des antiken römischen Rechts war es Aufgabe des Priesterstandes der pontifices, in schwierigen Rechtsfragen unabhängige Gutachten, sogenannte responsa, abzugeben; später übernahmen weltliche ,,iuris consulti" diese Funktion.39In der römischen Kaiserzeit oblag die Respondiertätigkeit zeitweise einer besonderen staatlichen Behörde. Die Rezeption des römischen Rechts im deutschen Hochmittelalter bedingte ein Wiederaufleben der Rechtsgutachten, da die nach germanischrechtlicher Tradition in der Regel nicht mit professionellen Juristen besetzten Gerichtshöfe im Umgang mit der komplizierten Systematik des rezipierten römischen Rechts häufig überfordert waren. Aus der Respondiertätigkeit einzelner ,,consiliatores" entwickelte sich im 15. Jhr. ein organisiertes Gutachterwesen, das zunächst von ,,Schöffenstühlen", Kollegien erfahrener Rechtspraktiker, bald jedoch in zunehmendem Maße von den neuen Universitäten wahrgenommen wurde, deren juristische Fachbereiche sich als ,,Spruchfakultäten" mit der Erstellung von Rechtsgutachten beschäftigten. Begünstigt durch den gemeinrechtlichen Prozessgrundsatz der Schriftlichkeit, der es gestattete, einen Fall ausschließlich nach Aktenlage zu entscheiden, entwickelten sich die Spruchfakultäten bald zu echten Rechtsprechungsorganen, denen die fraglichen Akten zugesandt wurden und deren Gutachten die Gerichte in aller Regel unverändert als Urteile übernahmen.
II. Aktenversendung des RKG an die Ludoviciana
Die Praxis der Aktenversendung wurde auch vom Reichskammergericht in sehr umfangreichem Maße betrieben, dort freilich nicht zum Ausgleich mangelnder juristischer Kenntnisse der Gerichtsangehörigen, sondern als Möglichkeit, die permanente Arbeitsüberlastung des Gerichts wenigstens partiell zu kompensieren und das Fehlen eines eigenen wissenschaftlichen Mitarbeiterstabes auszugleichen. Die Juristenfakultät der Ludoviciana nahm unmittelbar nach ihrer Gründung die Spruchtätigkeit für verschiedene Gerichte auf und orientierte sich dahingehend zunächst an der Tätigkeit der Marburger Universität.40Das große Interesse der Ludoviciana an schnellstmöglicher Aufnahme der Respondiertätigkeit ist insbesondere dadurch zu erklären, dass die Gutachten keineswegs kostenlos erstellt wurden, sondern vom Fragesteller je nach Aufwand und Komplexität des Falles teuer zu bezahlen waren; sie bildeten daher für die Fakultät eine wichtige Einnahmequelle.41
1. rechtliche Grundlagen der Aktenversendung durch das RKG
In bezug auf das Spruchverfahren war zunächst zu untersuchen, welche Rechtsgrundlage im Rahmen des Kameralprozesses für den Vorgang der Aktenversendung maßgeblich war und auf wessen Verlangen die Einholung eines Universitätsgutachtens veranlasst wurde.
Bemerkenswert erscheint zunächst, dass die Reichskammergerichtsordnung von 1555, die als Prozessordnung des Gerichts mit vielfältigen Änderungen bis in das 18. Jhr. gültig blieb und alle Aspekte des Kameralprozesses mit großer Akribie bis in kleinste Details regelt, die Aktenversendung mit keinem Wort erwähnt: dies mag als Indiz dafür zu sehen sein, dass in der Frühzeit des Kammergerichts die Aktenversendung als außergerichtliche Maßnahme angesehen wurde, die nicht unmittelbar Teil des Prozesses war und daher keiner gesetzlichen Regelung innerhalb der RKGO bedurfte. Andere Gesetze des 16. Jhrs. nehmen indes das System der Aktenversendung bereits zur Kenntnis und suchen es im Sinne besserer Rechtsfindung nutzbar zu machen; so wird etwa schon 1532 in §219 der Carolina verfügt:
,,[Es] sollen die Richter, wo jnen zweiffell zufiehel, bej den nechsten hoehen Schulen,
Stetten, Communen oder andern Rechtsverstendigen, dae sie die Vnderricht mit dem Wenigisten Cossten zu erlangen vermeynen, rath zu suchen schuldig sein." 42
Wenngleich diese Norm für das in Strafsachen nur selten zuständige Reichskammergericht von untergeordneter Bedeutung war, ist sie für das Verhältnis zur Ludoviciana in sofern von Bedeutung, als dass sie ausdrücklich vorschreibt, die Rechtsgutachten aus Gründen der Sparsamkeit bei der jeweils nächstgelegenen Universität einzuholen, im Falle des Reichskammergerichts also in Gießen.43 Eine reichsgesetzliche Regelung der zivilrechtlichen Aktenversendung erfolgte erst siebzig Jahre später, nachdem einige Territorien eigene Vorschriften erlassen hatten, im Abschied des Reichsdeputationstages zu Speyer vom 30. Oktober 1600:
§ 16. Es soll aber den Unterthanen unbenommen seyn, [...] da sie unter benannter Summa [...], davon nicht appellirt werden mag, sich beschwert zu seyn befinden, solche ihre Beschwerde und gravamina per viam supplicationis [...] in gebührender Zeit Rechtens anzubringen, welche auch schuldig seyn sollen dieselbe anzunehmen, und per modum Revisionis ex eisdem actis (es hätten dann die Partheyen etwas Neues fürzubringen, darüber sie gehört werden müsten [...]) endlich zu entscheiden oder aber nach Gelegenheit einer jeden Sachen, und da es von einer oder der andern Parthey begehrt wird, und erhebliche Ursachen vorhanden wären, auf einer Universität, oder aber zweyen oder dreyen Rechts-Gelehrten ad revidendum zuüberschicken. [...] 44
Dieser Norm sind alle wesentlichen prozessualen Grundsätze der Aktenversendung zu entnehmen: sie musste vom Richter angeordnet werden, wenn wenigstens eine Partei dies beantragte, ein erheblicher Anlass dafür bestand und der Streitwert ein gewisses Maß überschritt. Der Antrag auf Durchführung der Aktenversendung war somit auch am Reichskammergericht ein Recht der Prozessparteien, die Entscheidung über eine tatsächliche Vornahme der Versendung blieb dem Richter vorbehalten.
2. rechtliche Grundlagen der Spruchtätigkeit der Ludoviciana
Auch die Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät bedurfte einer rechtlichen Regelung, die Grundsätze und organisatorischen Ablauf des Spruchverfahrens normierte. Geschaffen wurde diese Rechtsgrundlage als Teil der Universitätsstatuten, die im Jahre 1629, also zur Zeit der gesamthessischen Universität Marburg, im Auftrag des landgräflichen Hofes erstellt wurden. Verfasser der Statuten war der bedeutende Gießener Jurist Anton Nesen; erhalten sind acht Handschriften des umfangreichen lateinischen Werks, das bis 1878 gültig blieb, aber in dieser langen Zeit nie publiziert wurde; erst 1982 erschien der Wortlaut im Druck; eine vollständige deutsche Übersetzung existiert bis heute nicht.45
Die Spruchtätigkeit und auch die diesbezüglichen Kontakte zum Reichskammergericht sind in Titel 37 der Statuten ausführlich geregelt:
§§ 1 und 2 verbieten jede Art von Bestechung der an der Spruchtätigkeit beteiligten Professoren durch die Prozessparteien und drohen für den Fall der Zuwiderhandlung ,,schimpfliche Klage"46an, wobei darauf verwiesen wird, das entsprechende Vorfälle bereits häufig vorgekommen seien.
§§ 3 bis 8 regeln den technischen Ablauf des Spruchverfahrens, auf den noch näher
einzugehen sein wird, und damit verbundene Anweisungen bezüglich der Dienstpläne der Professoren.
In § 9 wird den Professoren die Pflicht zu größtmöglicher Sorgfalt bei der Bearbeitung der Akten auferlegt; die Vorschrift zitiert hierzu ausführlich einen entsprechenden Erlaß Philipps des Großmütigen, der an die moralische Integrität der Professoren appelliert.
§§ 10 bis 12 betreffen die Abfassung und formale Gestaltung der Responsen; von
Bedeutung ist die in § 12 getroffene Anweisung, es sei entgegen dem damals üblichen Subsidiaritätsgrundsatz im Regelfalle das allgemeine Reichsrecht und nicht das jeweils einschlägige Partikularrecht anzuwenden, damit es nicht zu Missverständnissen komme, wenn eine in einem anderen Territorium beheimatete Partei sich später auf einen Spruch der Gießener Fakultät berufe.
Von besonderer Bedeutung sind die §§ 13 und 14, die Sondervorschriften für die Zusammenarbeit mit dem Reichskammergericht enthalten. § 13 schreibt für die Erstellung von Responsen in Kammergerichtsprozessen noch größere Sorgfalt als sonst üblich vor; § 14 legt als Ausnahme zu § 12 fest, dass in Responsen an das Reichskammergericht neben dem Reichsrecht immer auch die Rechtsgebräuche der beteiligten Territorien zu berücksichtigen und auf ihre Kompatibilität zum Reichsrecht zu prüfen seien; diese Bestimmung zeigt, dass solche partikularrechtlichen Probleme einen Kernbereich der Arbeit des Reichskammergerichts bildeten und gerade hier ein besonderer Bedarf an wissenschaftlicher Gutachtertätigkeit bestand.
§ 15 betrifft die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen juristischer und theologischer Fakultät, was notwendig war, da letztere in kirchen- und eherechtlichen Fragen sowie bei Klagen wegen Eidbruchs ebenfalls Responsen erstellte; dieser Norm mag für die Beziehungen zum Reichskammergericht von gewisser Bedeutung gewesen sein, da dort Verfahren mit religiösem Hintergrund sehr häufig anhängig wurden.
In §§ 16 und 17 werden Besonderheiten der Respondiertätigkeit in Strafsachen behandelt; §§ 18 bis 25 betreffen die Vergütung der Professoren für ihre Spruchtätigkeit und sind insofern bemerkenswert, als dass die Höhe der Gebühren vom Dekan der Fakultät selbst festgelegt werden durfte; die Statuten beschränkten sich auf einen Appell zur Mäßigung und eine bemerkenswerte Umsetzung sozialer Solidaritätsideen: auch erkrankte oder dienstlich verhinderte Professoren wurden an den Einnahmen aus der Spruchtätigkeit beteiligt.47
3. Ablauf der Aktenversendung
Anhand der beschriebenen Normen ist es möglich, den organisatorischen Ablauf der Aktenversendung und der Erstellung der Responsen zu rekonstruieren: Im Rahmen eines Verfahrens vor dem Reichskammergericht konnten die Prozessparteien, soweit sich im Verfahrensgang rechtliche Probleme offenbarten, die das Gericht alleine nicht zu bewältigen vermochte oder deren gesonderte Klärung einer Seite von Vorteil schien, die Versendung der Akte an eine universitäre Juristenfakultät beantragen. Soweit der Kammerrichter bzw. der jeweils zuständige Senatspräsident des Wetzlarer Gerichts dem Ansinnen zustimmte, wurde die Prozessakte, die nach damaligem Verfahrensrecht alle zur Bearbeitung des Falles notwendigen Angaben enthielt, der von den Parteien ausgewählten Spruchfakultät überstellt. Da dem Prozessgrundsatz der Schriftlichkeit folgend die Akte alleinige Grundlage der Entscheidungsfindung war, sich in ihr mithin das Verfahren manifestierten, bedingte ihre Versendung zugleich eine Abgabe des Prozesses selbst an die jeweilige Spruchfakultät.48
Sofern die Wahl der Parteien auf die Juristenfakultät der Ludoviciana gefallen war, erhielt zunächst der Dekan des Fachbereichs die Akte.49Ihm oblag es, nach erster
Durchsicht den Fall je nach ,,Schwierigkeitsgrad" der enthaltenen juristischen Problemstellungen entweder einem einzelnen Professor zur Erstellung der Response übergeben oder an das Spruchkollegium der Fakultät weiterleiten, das aus allen zum jeweiligen Zeitpunkt abkömmlichen Professoren des Fachbereichs bestand und vom Dekan selbst geleitet wurde.50Das Kollegium händigte die Akte zunächst einem Mitglied aus, dem die Aufgabe zukam, den Fall genau zu studieren und danach in gebotener Kürze unter Berücksichtigung seiner wissenschaftlichen Auffassung den Kollegen vorzutragen; seine Funktion entsprach insofern der eines Referenten an heutigen deutschen Gerichten.51
Im Anschluss an den Vortrag beriet das Spruchkollegium den Fall; die eigentliche Entscheidungsfindung erfolgte durch Mehrheitsbeschluss, wobei allerdings die Rangstellung der Professoren innerhalb der traditionellen Ordnung der Fakultät eine gewisse Rolle bei der Gewichtung des jeweiligen Votums spielte.52Einem Professor oblag sodann die schriftliche Formulierung der Response, hinsichtlich derer verschiedene Formvorschriften zu beachten waren; das fertige Dokument wurde von Dekan der Fakultät ausgefertigt und besiegelt; das Universitätsarchiv erhielt eine Abschrift. Die Response wurde dem Reichskammergericht zusammen mit der Akte rückübersandt; das Gericht übernahm den Spruch der Rechtsgelehrten, obwohl es formell nicht zwingend daran gebunden war, zumeist ohne weitere Änderungen und Verfahrensschritte als Urteil.53
4. praktische Bedeutung der Gießener Spruchtätigkeit
Der Umfang der Spruchtätigkeit der Ludoviciana für das Reichskammergericht war schon vor dessen Verlegung nach Wetzlar ansehnlich und wuchs nach 1690 so stark an, dass 1713 ein Angehöriger der Fakultät beklagen konnte, es ,,seien bereits 600 Responsen elaboriret" und täglich träfen neue Akten zur Bearbeitung ein.54Die Gießener Universität war wenigstens in der Wetzlarer Zeit des Reichskammergerichts durch die geographische Lage für gutachterliche Tätigkeiten in
Kammergerichtsverfahren prädestiniert: in dem Bemühen, die ohnehin unerträgliche Verfahrensdauer am Reichskammergericht nicht durch langwierige und risikoreiche Korrespondenz mit weit entfernten Universitäten zusätzlich zu verlängern, favorisierten viele Verfahrensbeteiligte eine Aktenversendung nach dem in kaum einer Stunde Fußmarsch erreichbaren Gießen.
Trotzdem bedingten nicht alleine die räumlichen Verhältnisse die herausragende Stellung der Gießener Spruchfakultät: einige weitere Faktoren begünstigten die Wahl der Ludoviciana durch Prozessparteien und verursachten so den stetigen Anstieg der Zahl abgegebener Responsen.
Wesentliche Bedeutung kam der Tatsache zu, dass die Gießener Universität bereits infolge der Umstände ihrer Gründung den Ruf erwarb, dem Kaisertum und der Reichsidee in besonderer Weise verbunden zu sein, was durch Berufung entsprechend gesinnter Professoren und verschiedene Gnadenerweise des Kaiserhofs zusätzliche Bestätigung erfuhr und von den Tagen Huldrich v. Eybens bis zu Hartmann Samuel Gatzert, der der alten Reichsidee noch seine Huldigung erwies, als in Frankreich schon Revolutionsgesänge vom Anbruch einer neuen Epoche kündeten, ein Leitmotiv Gießener Rechtswissenschaft bildete.55In den zahlreichen Prozessen vor dem Reichskammergericht, die Abgrenzungsprobleme zwischen kaiserlichen und landesherrlichen Privilegien, zwischen vom Kaiser verliehenen Rechten und territorialem Machtstreben thematisierten, wurde die Ludoviciana nicht selten von der auf Wahrung ihrer Privilegien bedachten pro-kaiserlichen Seite angerufen, da sie sich in Gießen bessere Erfolgsaussichten als an anderen Hochschulen ausrechnen durfte. Die im 17. und beginnenden 18. Jhr. festzustellenden Versuche des Kaiserhofs, in stärkerem Maße als bisher Einfluss auf die Tätigkeit des Reichskammergerichts zu nehmen, und die Dominanz kaisertreuer Reichsritter gegenüber anderen Adelsklassen unter den Assessoren der ,,adligen Bank" mögen gleichfalls dazu beigetragen haben, dass das Gericht eine Kooperation mit der Ludoviciana der Zusammenarbeit mit dem als abtrünnig geltenden Marburg vorzog.56Sogar den Responsen der Ludoviciana verlieh die Kaisernähe besondere Autorität, was am bis heute verwendeten Siegel der Juristenfakultät abzulesen ist, das ihr 1607 von Kaiser Rudolf II. verliehen wurde: während die Siegel anderer juristischer Fakultäten jener Zeit - so auch das in Marburg verwendete - mit Gerechtigkeitsallegorien geschmückt waren, zeigt das Gießener Exemplar ein Portrait Rudolfs und ist dessen eigenem Siegel nachempfunden; ein mit diesem Zeichen beglaubigtes Dokument besaß nicht nur die wissenschaftliche Autorität eines Professorenkollegiums, sondern auch die im 16. Jhr. noch vielfach religiös interpretierte unmittelbare Gewalt kaiserlichen Willens.57 Auch materiell-rechtliche Vorzüge bedingten die große Nachfrage nach Responsen aus Gießen: in vielen Territorien bestand für Spruchkollegien und Schöffenstühle die gesetzlich geregelte Verpflichtung, Responsen vor Rücksendung an die Gerichte dem eigenen Landesherrn zur Prüfung und inhaltlichen Korrektur vorzulegen, so etwa schon seit 1572 in Sachsen.58Für die Ludoviciana existierte eine solche Bestimmung nicht, weshalb das Gießener Spruchkollegium seine Sprüche ohne unmittelbaren Einfluss der Territorialherrschaft erstellen konnte; dies mag manchen Kläger, der das Wagnis eingegangen war, am Reichskammergericht gegen seinen Landesherrn zu prozessieren, dazu bewogen haben, sich in der Hoffnung auf ein möglichst unparteiisches Urteil an die Ludoviciana zu wenden.
Ursächlich für den Umfang der Gießener Respondiertätigkeit war auch das Faktum, dass am Reichskammergericht eine sehr große Zahl wissenschaftlich aufwendiger Prozesse geführt wurden: noch im 18. Jhr. war die mystische Vorstellung des ,,Vor- den-Kaiser-Tragens" einer Streitsache im Volk so lebendig, dass einfache Bürger und Hintersassen die weite Reise zum Hofrat nach Wien nicht scheuten und sogar aus der Wetterau in dörflich-grundherrlichen Angelegenheiten ganze Bauerndelegationen nach Österreich zogen, obwohl das Wetzlarer Kammergericht in wenigen Stunden erreichbar gewesen wäre.59Dagegen zogen es größere Territorien nicht selten vor, ihre Streitigkeiten vor dem als unabhängiger geltenden Reichskammergericht zur Verhandlung zu bringen, so dass sich rechtlich komplizierte Fälle am Reichskammergericht häuften und eine Entlastung des überforderten Gerichtsapparats durch Ausweitung der Aktenversendung erforderlich machten.60
Wie beträchtlich der Aktenaustausch zwischen Gießen und dem Kammergericht gewesen sein muss, ist daran zu ersehen, dass um 1750 in der kleinen Provinzstadt Wetzlar neben dem internen Botendienst des Gerichts zwei Posthaltereien der kaiserlich-Thurn-und-Taxisschen Reichspost sowie vier weitere Postämter anderer Territorialpostanstalten bestanden, die alle Reit- und Botenpostverbindungen nach Gießen anboten, so dass die dorthin gerichteten Sendungen mehrfach am Tag befördert werden konnten; nach Marburg bestand zur gleichen Zeit nur eine einzige wöchentliche Zustellung.61Noch 1752 gewährte eine kaiserliche Verfügung dem Kammerrichter, den Assessoren und einigen anderen Funktionsträgern des Kammergerichts für Sendungen nach Gießen das ,,unbegränzte Freythumb", also unbeschränkte Portofreiheit, weil die Kosten - vorher zwei Batzen für ein Aktenpaket - ins Uferlose gestiegen waren.62
Hinsichtlich der praktischen Bedeutung der Spruchtätigkeit für die Lehre an der Ludoviciana ist der interessante Umstand zu erwähnen, dass man die wissenschaftliche Arbeit der Spruchfakultät für die Studenten nutzbar zu machen verstand: das Spruchkollegium verhandelte öffentlich, und 1678 verfügte der Dekan, dass die an der Fakultät beschäftigten Doktoren, Licentiaten, Praktikanten und Kandidaten der Übung halber bei den Sitzungen zugegen sein sollten.63
Teil E: Anderweitige Beziehungen
Auch außerhalb der offiziellen Verbindungen bestanden zwischen dem Wetzlarer Gericht und Stadt wie Universität Gießen vielfältige Beziehungen in unterschiedlichsten Bereichen, deren nähere Erforschung zumeist noch aussteht und die hier daher nur kurz erwähnt sein können: das Fehlen einer akademischen Infrastruktur in der vor Verlegung des Reichskammergerichts nicht mit rechtswissenschaftlich tätigen Institutionen ausgestatteten Stadt Wetzlar machte eine Mitbenutzung der Gießener Einrichtungen durch die Angehörigen des Reichskammergerichts notwendig, zumal diese neben ihrer gerichtlichen Arbeit häufig auch publizistisch tätig waren; insbesondere das Fehlen einer brauchbaren Gerichtsbibliothek - die Buchbestände waren bei der Flucht aus Speyer von französischen Truppen beschlagnahmt worden und wurden infolge zäher Verhandlungen erst Jahre nach der Wiedereröffnung des Gerichts in Wetzlar teilweise zurückgegeben - dürfte durch Nutzung der damals hochgerühmten Gießener Bibliothek kompensiert worden sein; auch bedienten sich das Kammergericht und seine Angehörigen verschiedentlich des im 17. und 18. Jhr. umfangreichen Gießener Verlagswesens. Personelle Beziehungen zwischen den Angehörigen des Gerichts und der Universität dürften außerhalb des dienstlichen und verwandtschaftlichen Bereichs auch innerhalb der zahlreichen für das 18. Jhr. typischen Geheimgesellschaften und Verbindungen bestanden haben, die nachweislich in Wetzlar und Gießen existierten; auch diesbezüglich fehlen allerdings gesicherte Erkenntnisse.
Teil F: Fazit
Die Beziehungen zwischen dem Reichskammergericht und der Academia Ludoviciana waren, wie als Ergebnis abschließend festgehalten werden kann, außerordentlich eng und vielschichtig; zumindest hinsichtlich der Phase der räumlichen Koexistenz in Gießen und Wetzlar erscheint es nicht fernliegend, von einer symbiotischen Beziehung zwischen den Institutionen zu sprechen, von der beide Seiten profitieren: Das Reichkammergericht konnte auf die ausgezeichnete wissenschaftliche
Infrastruktur einer angesehenen, gut ausgestatteten Universität zurückgreifen, die einen großen Stamm ortsansässiger Rechtsgelehrter von hervorragendem Rang bot und durch vielfältige Ausbildungsmöglichkeiten dem Gericht einen stattlichen Zustrom an Praktikanten und qualifizierten Mitarbeitern sicherte. Die Nähe zur Ludoviciana garantierte dem Reichskammergericht insofern auch ständigen Kontakt zur aktuellen Jurisprudenz und Austausch mit derselben, was in dem Provinzstädtchen Wetzlar ansonsten nur unter weit schwierigeren Bedingungen möglich gewesen wäre und dazu beitrug, dass das Gericht trotz seines im Verlauf der Wetzlarer Zeit fortschreitenden politischen und praktischen Bedeutungsverlusts und der Krise des Alten Reiches an wissenschaftlicher Qualität der geleisteten juristischen Arbeit nichts einbüßte. Gerade deshalb blieb das Kammergericht bei aller zeitgenössischen Kritik unter den verbliebenen Institutionen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation bis zu dessen erzwungener Auflösung eine der beim Volke angesehensten.64 In vielleicht noch stärkerem Maße profitierte die Gießener Universität von den Beziehungen zum Reichskammergericht und den damit in Zusammenhang stehenden Verbindungen zum Kaiserhof, die Gießen für die angesehensten Rechtswissenschaftler des Reiches zu einer attraktiven Lehrstätte machten, was wiederum Studenten aus höchsten Kreisen und mit besten Karriereaussichten in das oberhessische Städtchen fernab der politischen Zentren jener Zeit lockte.
Das Ende des Alten Reiches geriet für Gießen und Wetzlar gleichermaßen zur Katastrophe: Wetzlar sank nach dem Verlust des Gerichts zu einer bedeutungslosen Kleinstadt herab; dem Projekt einer eigenständigen Wetzlarer Juristenschule war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Die Ludoviciana musste die bis dahin schwerste Krise ihrer an Wirren nicht armen Geschichte bewältigen; die Studentenzahlen sanken auf ein Minimum; die wissenschaftliche Arbeit stagnierte; von einer Erholung konnte erst zwanzig Jahre später gesprochen werden, als der Glanz großer Namen der deutschen Wissenschaft Gießen zu neuem akademischen Ruhm verhalf.
Was nach dem Zusammenbruch des Reichs von der Zeit gemeinsamer Geschichte des Reichskammergerichts und der Ludoviciana blieb, war wenig mehr als eine positive Bilanz einstiger Größe: die Universität hatte dem Gericht den Erhalt wissenschaftlicher Vitalität geschenkt, das Gericht der Universität Ansehen, Attraktivität und dadurch mittelbar auch wirtschaftliches Auskommen.
Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für die alte Ludoviciana, deren physische Gegenwart im Bombenhagel des Jahres 1944 weitgehend ausgelöscht worden war, als einzige deutsche Universität der Schließungsbefehl ergangen war und Gießener Wissenschaftler mit alliierten und hessischen Behörden um den Erhalt ihrer Hochschule rangen, war nicht zuletzt das Argument der herausragenden historischen Bedeutung der Akademie und der vielen großen Namen unter ihren Lehrern dafür ausschlaggebend, dass die staatlichen Stellen ihre bereits gegen den Hochschulstandort Gießen gefallene Entscheidung revidierten. Ohne die Arbeit der juristischen Fakultät und ihre Kontakte zu höchsten Institutionen des Alten Reiches wäre diese geschichtliche Größe nicht erreicht worden. Insofern bestehen die fruchtbringenden Folgen der Zusammenarbeit von Ludoviciana und Reichskammergericht in Gießen weiter fort, und die Existenz der Justus-Liebig- Universität ist ihr sichtbarer Ausdruck in der Gegenwart.
Anhang: Rechtsquellen zur Spruchtätigkeit
I. Constitutio Criminalis Carolina, 1532
§219. [...] So sollen die Richter, wo jnen zweiffell 65zufiehel, bej den nechsten hoehen Schulen, Stetten, Communen oder andern Rechtsverstendigen, dae sie die Vnderricht mit dem Wenigisten Cossten zu erlangen vermeynen, rath zu suchen schuldig sein.
II. Abschied des Deputationstags zu Speyer, 30. Oktober 1600
§16. Es soll aber den Unterthanen unbenommen seyn, [...] da sie66 unter benannter Summa [...], davon nicht appellirt werden mag, sich beschwert zu seyn befinden, solche ihre Beschwerde und gravamina per viam supplicationis an ihre ordentliche Oberkeit und Herrschafften in gebührender Zeit Rechtens anzubringen, welche auch schuldig seyn sollen dieselbe anzunehmen, und per modum Revisionis ex eisdem actis (es hätten dann die Partheyen etwas Neues fürzubringen, darüber sie gehört werden müsten [...]) endlich zu entscheiden oder aber nach Gelegenheit einer jeden Sachen, und da es von einer oder der andern Parthey begehrt wird, und erhebliche Ursachen vorhanden wären, auf einer Universität, oder aber zweyen oder dreyen Rechts- Gelehrten ad revidendum zu überschicken. [...]
III. Alte Statuten der Universität Marburg, nachmals Gießen, 1629
Titel XXXVII - Von den Rechtsgutachten der juristischen Fakultät
1. Damit die juristische Fakultät einen ausgewogenen Rechtspruch 67jedem gewähre, der von ihr ausführliche Ratschläge erbeten hat, sollen sich die Professoren der Rechte eifrig bemühen, stets und allenthalben der Gerechtigkeit unabdingbar verpflichtet zu sein und sich davon in den erstellten Rechtsgutachten weder aus Gründen der Gnade noch des Hasses noch aus anderen Launen auch nur im mindesten freizumachen.
2. Auf keinen Fall sollen sie sich bei Androhung schimpflicher Klage der Bestechlichkeit hingeben, denn sie sind nämlich der heiligen und lauteren Meisterin Gerechtigkeit angehörig und haben [nur] ihr zu gehorchen.
Und weil keine Konsulenten und um ein Gutachten Nachsuchenden sich - sei es offen oder insgeheim - dahingehend binden sollen, dass die juristische Fakultät die Anfrage in irgendeiner bestimmten Weise beantworte, soll im Gutachten alleine die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen. Denn oft sind solche Abmachungen getroffen worden, durch die das Rechtsgutachten der juristischen Fakultät einer Partei größere Befriedigung gewährte, bald angeblich zum Wohle der Waisen, Witwen und anderen Elenden, bald angeblich, um das Leben eines sich dem Schiedsspruch anvertrauenden Gefangenen oder Verbrechers zu schonen, in Wahrheit jedoch, um die Kosten des Prozesses auszugleichen oder einzuschränken. Darum soll sich die Seele gegen alle Untreue verwahren.
3. Wenn zur Beurteilung eines Falles für die Professoren der juristischen Fakultät entweder der Anschein der [schriftlich festgehaltenen] Fakten oder anderweitig beschaffte Akten maßgeblich sind und die Sachlage auf den ersten Blick erkennbar ist, so kann der Dekan diese Akten einem einzelnen Professor ohne Bedenken schicken und ihm erlauben, für drei Tage zu Hause zu bleiben, wenn nicht der Umfang der Akten oder eine aus anderem Grunde bestehende größere Zeiterfordernis es nahe legen, [das Gutachten] gemeinsam von Kollegen schreiben zu lassen.
4. Wenn es den Professoren innerhalb der vorgeschriebenen Zeit beliebt, können sie eine Entscheidung mit ihren Gründen und, so sie dies verlangen, den Motiven aus den Rechtsquellen gleichzeitig nicht nur der Verwaltung, sondern auch einem einzelnen [Professor] zur Bearbeitung zuweisen und ihm auch die schon früher ergangenen Beurteilungen der anderen Richter und Rechtsgelehrten, soweit vorhanden, überlassen; die ihm zum Durchlesen überlassenen Unterlagen soll er [später wieder] zurückgeben.
5. Damit der Dekan bei der Erstellung des Gutachtens von Fleiß und Sorgfalt seiner Kollegen soviel als möglich herauslesen kann, soll der Referent aus den übersandten Akten die wesentlichen Aspekte dergestalt extrahieren, dass er die Seiten und Stellen notiere, wo die Leitsätze stehen und die einwerfenden und festlegenden Formeln, aus denen man sich über den gesamten Fall leichter unterrichten kann.
6. Insbesondere soll er zuallererst wahrheitsgemäß notieren, welche Hilfsmittel der Rechtsbeistand gebraucht, welche Klageart eingesetzt wurde und auf welche Weise sie einschlägig ist, und er soll auswählen, ob eine Einrede oder Verteidigung günstig scheint oder nicht.
7. Nachdem er dies zusammengestellt und vorgetragen hat und die Sätze und Beurteilungen und Tatsachen von seinen Kollegen genauestens und mit Sorgfalt erwogen sind, soll die Abstimmung darüber erfolgen, was zu antworten, welcher Rat zu geben sei und welchen Schiedsspruch die übersandten Akten tragen sollen. Dazu soll der Dekan herangezogen werden; er soll alles in Formeln fassen und [die Professoren] zu festgesetztem Tag und festgesetzter Stunde zusammenrufen und mit ihnen über den Entwurf entscheiden. Wenn dieser vom ganzen Spruchkollegium einträchtig oder wenigstens vom überwiegenden Teil als fest auf den Geist der Gesetze und Verordnungen und die Ehrerbietung gegründet gutgeheißen wurde, soll er in den gewohnten juristischen Floskeln formuliert und durch das Siegel des Dekanats beglaubigt den um Rat ersuchenden Parteien ausgestellt werden.
8. Wenn eine schriftliche Ausfertigung von irgend jemanden begehrt wird, so soll der Dekan einem Kollegen, dessen Identität er geheim hält, die Arbeit auferlegen, die Spruchformeln und Begründungen kritisch durchzusehen und abzuschließen, oder auch sich selbst dieser Mühe unterziehen, dergestalt, dass er in der Fakultät zurückbleibe, um den Anschein der Tatsachen oder der zur vorliegenden Sache übersandten Akten sorgfältigst zu prüfen; es sollen tragfähige Gründe aus dem Recht und dessen Auslegung eingebracht werden, die bald darauf dem System des Rechts auf angemessene Weise hinzugefügt werden sollen.
9. Die Rechtsgutachten der Akademien scheinen heute nicht mehr in so hohem Ansehen zu stehen, wie dies früher der Fall war, entweder weil sie meist allzu gehaltlos und oberflächlich geschrieben sind, oder weil es in gewissen Akademien üblich geworden sein soll, dass der jüngste Gelehrte die Rechtsgutachten verfassen muss, oder weil die Inhalte aller Akten nicht ordentlich durchgesehen und besprochen werden und die hastig zusammengeschusterten Werke und Haufen natürlich für alle Rechtsgutachten zum Maßstab genommen werden. Unsere juristische Fakultät soll bemüht sein, die Rechtsgutachten mit ganzer Sorgfalt und Treue kunstgerecht zusammenzufügen, damit nicht nur der Ruhm, mit dem diese unsere Akademie seit langem bis heute geziert ist, gewahrt bleibe, sondern mehr und mehr wachse zur Ehre unseres Ahnherrn, des Landgrafen Philipp von Hessen, eingedenk unter anderem der Verfügung von der Verwaltung der Universität Marburg aus dem Jahre des Herrn 1565, am Tage St. Jakobi erlassen, deren Wortlaut folgender ist:
Nachdem auch bisweilen bei der juristenfacultät unserer universität Marpurg von frembden orten her rhatschläge und urtheil gesucht und begehrt werden, so soll dieselbe facultät in dem ein sonder gut aufsehen haben, dass dieüberschickte acta nicht oben hin, sondern mit fleiß verlesen, auch die rhatschläge oder urtheil, so under der juristenfacultät insigel ausgehen, dermassen gestellt, dass sie mit der erbar- und billichkeit gemees und unserer universität nicht zu schimpf, sondern vielmehr zu ehren und ruf geraichen und die ansuchende partheyen damit verwahrt sein mögen.
10. Und weil die Parteien hinsichtlich der erbetenen Rechtsgutachten gegenüber der Fakultät gewöhnlich vieles verschweigen, was zur Folge hat, dass aus jenem Verschweigen Unkenntnis, aus der Unkenntnis aber ein Irrtum resultiert, soll weder in den Aussagen [der um Rat ersuchenden Partei] weder etwas Wahres fortgelassen werden noch falsche Rede dazwischengemischt sein.
Unsere Fakultät soll stets zu Beginn eines Rechtsgutachtens oder Ratschlags diesen Hinweis beifügen, dass alles Nachfolgende nur dann im Einklang mit dem Recht stehe und dem Richter nur dann empfehle, die das Gutachten vorlegende Partei zu verurteilen oder freizusprechen oder anderweitig zu behandeln, wenn alle Angaben [gegenüber der Fakultät] wahrheitsgetreu gemacht worden seien und nicht in Wirklichkeit andere Fakten vorgelegen hätten, als die Partei angegeben habe.
11. Wenn eine Streitfrage zur Entscheidung vorgelegt wird, sollen die Professoren beachten, dass, wenn die Sachlage in früherer Zeit in der Fakultät heftig umstritten war und die damals von ihnen gegebene Antwort diesmal wiederholt wurde, vorher die neue Response mit der früheren abgestimmt werden soll; die neue Entscheidung soll von der alten nicht abweichen, sofern sich nicht die Sachlage geändert hat oder das Recht nicht anders verteidigt werden kann.
Wenn es nämlich auch oft Rechtsgelehrte gibt, die in einer solchen Streitfrage bisher anders entschieden haben und dies mit stichhaltigen Argumenten und Entscheidungsgründen belegen, sollen sie [die Professoren] dennoch nicht [von ihrer bisherigen Rechtsprechung] abweichen, wenn zu vermuten ist, dass die Abweichung der Response in Gnade, bloßer Vermutung oder gar schlechter Gesinnung ihren Ursprung hat; sie sollen sich vielmehr um größtmögliche Sorgfalt bemühen und diese unsere Statuten mit Eifer befolgen, damit die Fakultät von aller Zweifelhaftigkeit [der Responsen] weit entfernt sei.
12. Wenn Akten aus entlegenen und weit entfernten Gegenden zur Begutachtung den Konsulenten der juristischen Fakultät zugesandt worden sind, sollen diese die regionalen Gesetze jener Orte, den dort üblichen Kanzleistil und andere derartige Umstände besser außer Acht lassen. In diesem Falle soll die Fakultät in der Vorrede zur Response bescheinigen, dass nach Gemeinem Recht und nicht nach den besonderen Rechtsgebräuchen der jeweiligen Region, soweit sie dazu im Widerspruch stehen, respondiert wurde, damit nicht, wie es anderswo vorkommt, aus der Unkenntnis dieser partikularen Rechtssätze und sich widersprechenden Regeln Lächerlichkeiten oder Unmöglichkeit der Vollstreckung des Urteils hervorgehen können.
13. Unsere juristische Fakultät soll bemüht sein, sich bei der Entscheidung zweifelbehafteter Anfragen des Reichskammergerichts der Response so eingehend wie möglich zu widmen.
14. Wenn nämlich aus der Gesamtheit der Rechte, die in den Kurfürstentümern, Herzogtümern, Grafschaften und anderen Teilen des Reiches gelten, dargestellt werden soll, inwieweit Ordnung und Prozessrecht des Reichskammergerichts auf die Rechtslage des jeweiligen Orts zutreffend sein könnten, soll dies [in dem Gutachten ebenfalls] dargelegt sein, soweit es der juristischen Fakultät angemessen erscheint, da natürlich eine Darstellung dieser niederrangigen Rechtsauffassungen [eines Territoriums] oftmals erbeten wird.
15. Wenn in einem das Eherecht oder einen Eidbruch betreffenden Verfahren schwere Kontroversen den Mitgliedern des Spruchkollegiums drohen, können sie ihre Sprüche freundschaftlich mit den Professoren der theologischen Fakultät absprechen, um zu verhüten, dass, wenn die theologische Fakultät zu dieser Frage gehört werden sollte (was überaus leicht geschehen kann), die Response einer Fakultät von der Überzeugung der anderen abweicht und die Uneinigkeit ein nicht geringer Schandfleck für unsere Akademie ist.
16. In Strafverfahren, in denen nicht um juristische Angelegenheiten, sondern um Leben und Blut gestritten wird, sollen sie [die Professoren] größte und genaueste Sorgfalt beweisen, um nicht den Spruch überstürzt zu fällen, und sollen (wenn sie Gelegenheit haben und die Umstände es zulassen sollten) mehrheitlich über Freispruch oder Verurteilung entscheiden, da besser ein Verbrechen straflos freigesprochen als die Unschuld unschuldig bestraft sei.
17. Wenn sie also doch aus dem im Strafverfahren dargelegten Anschein strafen wollen, sollen sie darauf achten, dass [diesem Vorgehen] das öffentliche Interesse entgegenstehen könnte, weil die Strafe das ruchlose [Volk] aufstacheln könnte, gleichgültig, ob Aufruhr oder aufwieglerisch gefährliche Lage es befällt oder ein öffentlicher Skandal dahintersteckt. Daher sollen sie sich in einem unter normalen Umständen tauglichen Urteil, je nachdem, was die Schwere der verübten Schandtaten erfordert, allein nach der Strenge der Gesetze richten, damit der Beschluss nicht ungerecht werde, da der öffentliche Nutzen gegen den Einzelfall abgewogen werden muss.
18. Wenn es nicht möglich ist, eine sichere Gebühr festzusetzen, wollen wir diskret das Urteil darüber dem Dekan und seinen Kollegen anvertrauen; sie sollen verheimlichen, wie hoch das für die Response geforderte Honorar sei, wenn sie nur vorsichtig, umsichtig und gemäßigt vorgehen mögen, und eine zu große Gebühr sollen sie nicht eintreiben, um nicht den zivilen Verstand, der heiligste Sache und mit kostbaren Geld nicht zu würdigen ist, nicht bestechlich zu machen.
Sogar nachgeahmt werden sollen dahingehend an anderen Akademien Beispiel und Lehre, wie sie an dieser unserer Universität bis jetzt gebräuchlich sind, und die Art des Rechtsstreits, die Zusammensetzung der beteiligten Personen, die Schwierigkeit der beratenen Rechtsgründe und andere Umstände sollen sie [die Professoren] beachten.
19. Der Dekan soll die nach dem Beschluss seiner Kollegen für Auskünfte und Responsen festgesetzte Gebühr oder Geldsumme von den um Rat ersuchenden Parteien herausfordern und auf der Stelle nach dem festgelegten Schlüssel unter den Kollegen aufteilen.
20. Wer das Rechtsgutachten abgefasst hat, soll für diese Arbeit die Hälfte der Gebühr erhalten; die verbliebene Hälfte soll unter den Kollegen, den Ersteller des Konzepts eingerechnet, zu gleichen Beträgen verteilt werden.
21. Wenn einer der Professoren durch eine gefährliche Krankheit an seinen Arbeiten gehindert ist und in der Gemeinschaft das, was zu besprechen oder zu respondieren ist, nicht mitberaten kann, soll ihm trotzdem aus Ehrerbietung der gleiche Anteil, der ihm nach dem Wert des Falles sonst zustünde, gezahlt werden, um ihn während seiner Krankheit in freundschaftlicher Hochachtung zu unterstützen.
22. Gleiches soll gelten, wenn jemand auf unsere Weisung in öffentlichen Angelegenheiten, deren Eigenart ein Salär nicht gewährt, oder anderweitig im Namen der Akademie abwesend ist.
23. Wer aber aus privaten Gründen abwesend ist, soll von der Gebühr nichts erhalten; jene hingegen, die von der Fakultät für gewöhnlich zu den Kandidaten gezählt werden, sollen die Hälfte eines Anteils erhalten.
24. Die Ratschlüsse und Responsen seien mit genauestem Bemühen so angehäuft und ausgearbeitet, dass die Marburger Rechtssprüche allen Vorgängern im Lichte der Öffentlichkeit an Menge und Lobwürdigkeit gleichstehen sollen und das Respondieren an erster Stelle erscheine. Sie sollen sich bemühen, öffentlich Recht zu sprechen, stets darauf bedacht, dass entgegen dem am Anfang widersprechenden Bilde das Werk des Marburger Spruchkollegiums auf viele Bände anwachsen soll.
25. Kein Professor soll unter dem Vorwand der Ausarbeitung von Responsen seine ordentlichen Vorlesungen unterbrechen, weil es nicht angebracht ist, fremdländische Ratsuchende zu unterrichten, diejenigen, die große Aufwendungen in Kauf nehmen, um an Akademien in der Jurisprudenz hinzuzulernen, aber zu vernachlässigen.
[...]
1 Schlosser, Neuere Privatrechtsgeschichte, S. 16
2 Köbler, S.114
3 Schlosser, Neuere Privatrechtsgeschichte, S. 16
4 R. Seybold in Diestelkamp, Das RKG in der dt. Geschichte, S. 17
5 Rüping, Strafrechtsgeschichte, S. 35
6 Moraw, S. 19
7 Moraw, S. 19
8 Pütter, Reichshistorie, S. 881
9 Pütter, Reichshistorie, S. 881
10 Diestelkamp, Reichskammergerichtsmuseum, S. 68
11 Rösch, S. 433
12 Hall, S. 6
13 Hall, S. 6
14 Rehmann, S. 5
15 Hall, S. 11
16 Jahns, S. 218
17 Rösch, Faltpläne nach S. 433
18 Rösch, Pläne
19 Jahns, S. 191
20 Jahns, S. 197
21 Löwenstein, S. 274
22 Jahns, S. 198 f. (Diagramm)
23 Jahns, S. 196
24 Jahns, S. 203
25 Jahns, S. 204
26 Jahns, S. 192
27 Moraw, S. 85
28 Jahns, S. 200
29 Jahns, S. 216
30 Jahns, S. 192
31 Moraw, S. 85
32 Moraw, S. 84
33 Köbler, Vorlesungsverzeichnisse, WS 1693 / 94
34 Moraw, S. 85
35 Rehmann, S. 4
36 Moraw, S. 84
37 Köbler, Vorlesungsverzeichnisse, SoSem 1783
38 die fraglichen Verzeichnisse waren weder bei Köbler noch im Universitätsarchiv zu finden und wurden im Gegensatz zu späteren Vorlesungsverzeichnissen auch nicht von hessischen Stellen veröffentlicht; u. U. sind sie infolge der politischen Verhältnisse nie erschienen
39 Söllner, S. 80
40 Hall, S. 5
41 vgl. Statuta, Tit. XXXVII §§ 20 ff.
42 zitiert nach Hoke / Reiter, Q. 2280
43 Hall, S. 5
44 zitiert nach Hoke / Reiter, Q. 2394
45 Gundel, ,,Rescripte ...", S. 183
Da keine veröffentlichte deutsche Übersetzung existiert, beziehen sich alle nachfolgenden Zitate auf die vom Verfasser angefertigte, in Anhang 1 beigefügte Übersetzung des Tit. XXXVII.
46 Statuta, Tit. XXXVII §2 I
47 dazu weitere Bestimmungen in Statuta, Tit. XXVIII
48 Köbler, S. 155
49 Statuta, Tit. XXXVII, § 3
50 Statuta, Tit. XXXVII, § 7
51 Statuta, Tit. XXXVII, § 5
52 Statuta, Tit. XXXVII, § 8
53 Köbler, S. 155
54 Rehmann, S.5
55 Moraw, S. 87
56 Duchhardt in Diestelkamp, S. 38
57 Moraw, S. 20
58 Hoke / Reiter, Q. 2281
59 Troßbach in Diestelkamp, S. 132 f.
60 Troßbach in Diestelkamp, S. 133
61 Schmidt, S. 32 f.
62 Schmidt, S. 32
63 Rehmann, S. 5
64 Hattenhauer, Grundlagen, S.5, Rn.10
65 Quelle: Hoke / Reiter, Quellen zur dt. u. österr. Rechtsgeschichte, Rz. 2280
66 Quelle: Hoke / Reiter, Rz. 2394
67 Quelle: eigene Übersetzung nach der lateinischen Textausgabe der Statuten, Marburg 1982. Passagen in eckigen Klammern sind Ergänzungen; der kursiv gesetzte Erlass Philipps des Großmütigen ist auch innerhalb des lateinischen Textes deutsch wiedergegeben.
- Quote paper
- Heiko Hahn (Author), 2000, Beziehungen zwischen dem Reichskammergericht und der Ludoviciana, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97412
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