INHALT
1. “The Romantic Movement”
1.1. Geschichte
1.2. Grundlagen
1.3. Zentrale Begriffe
2. Wordsworth und “The Prelude” in der englischen Romantik
2.1. William Wordsworth
2.2. The Prelude
3. Mensch und Natur in the Prelude
3.1. Einleitung
3.2. Mont Blanc (VI/453ff.)
3.3. Das Buch der Natur (VI/469ff.)
3.4. Die Alpen (VI/556ff.)
3.5. London (VII/695ff.)
4. Resümee
5. Bibliographie
1. “The Romantic Movement”
1.1 Geschichte
Ich werde zunächst etwas weiter ausholen, um die Bedeutung des Prelude William Wordsworths in der Epoche der englischen Romantik verständlich machen zu können. Der literaturhistorische Begriff des romantic movement wird im “Shorter Oxford English Dictionary (SOECD)” definiert als “die Bewegung in der Literatur (und der Kunst), die aus einer Auflehnung gegen die Formalitäten und Konventionen des Klassizismus heraus entstand und im 19.Jahrhundert durch bewußte Beschäftigung mit den subjektiven und imaginativen Aspekten der Natur und des Lebens charakterisiert war”.1 Wenn man den Beginn und das Ende der romantischen Periode politisch definieren will, muß das Jahr 1789 als Start dieser Epoche angesehen werden, da in Frankreich eine Revolution stattfand, welche die Ideale der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit schuf, die sich die englischen Romantiker danach auf ihre Fahne schrieben, um durch sie eine bessere Gesellschaft zu erschaffen. Ihnen schwebte hierbei eine wie in Frankreich geschaffene Republik vor, welche die in England etablierte konstitutionelle Monarchie ablösen sollte. Es gibt jedoch auch andere wissenschaftliche Stimmen, welche die Meinung vertreten, schon das Jahr 1776 mit der amerikanischen declaration of independence, politischen Unruhen in England und den Kolonialkriegen sei der Auslöser für die Literatur der Romantiker gewesen. Mit der großen englischen Wahlrechtsreform von 1832, die eine neue bürgerlich- demokratische Ära einleitete, ging diese -“in Wucht und Wirkung der großen Zeit des [elisabethanischen] Dramas”2 vergleichbare- lyrische Epoche zuende. Betrachtet man die Zeitspanne unter Berücksichtigung der literarischen Bemühungenn einzelner Autoren, so startet die englische Romantik ebenfalls im Jahre 1789 mit William Blakes Veröffentlichung der Songs of Innocence, endet jedoch bereits 1824 mit Percy Bhysshe Shelleys Posthumous Poems.
Die 40 fruchtbaren Jahre der englischen Literatur der Romantik kann wiederum in zwei TeilEpochen unterteilt werden, in denen bis auf Byron unterschiedliche Dichter ihre Blütezeit hatten. Der ersten Generation der englischen Romantikdichter gehörten Blake, Coleridge und Wordsworth an, die bis 1815, der Schlacht von Waterloo, literarisch von Interesse sind, Vertreter der zweiten Generation waren vor allem Shelley und Keats.
1.2. Grundlagen
Die Grundlagen, welche die englischen Romantiker zu Vertretern einer eigenen literaturhistorischen Epoche werden lassen, sind mannigfaltig und entstanden vor vielen verschiedenen Hintergründen, sowohl politischen als auch individuellen.
So gibt es drei gesellschaftspolitische Ereignisse, die wohl als Eckpfeiler der englischen Romantik gelten müssen:
1.Die industrielle Revolution, von deren Folgen (Entstehen einer neuen, verarmten gesellschaftlichen Klasse, die zusammengepfercht in den Slums der schnell wachsenden Großstädte leben muß und aus von ihrem Land geflohenen Bauern besteht (enclosure)) sich die Romantiker durch die Betonung der Wichtigkeit des Individuums und nicht der Gesellschaft abgrenzen.
2.Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (declaration of independence) von 1776
3.Die französische Revolution von 1789, welche die englischen Romantiker insofern beeinflußte, als sie das Modell der ersten französischen Republik auf ihr eigenes Land übertragen wollten, wobei sie jedoch nicht nur die Monarchie kritisierten, sondern vor allem auch die Tatsache der christlichen Legitimation der absoluten Herrscher durch die katholische Kirche.
Gemeinsame individuelle Grundlagen der Schriftsteller der Romantik sind die philosophische Theorie des Pantheismus, die besagt, daß Gott der Schöpfer von Naturgesetzen und spirituell in allen Dingen der Natur zu finden ist, also auch in den Menschen, die dadurch selbst zum Schöpfer werden können, beispielsweise wenn sie Gedichte oder Bilder erschaffen. Diese Theorie stellt sowohl eine Kritik an den neuen Errungenschaften und Erfindungen der Industrialisierung, da diese den Naturgesetzen zuwider handeln, als auch an der Monarchie dar, da die Naturgesetze für die Menschen ebenso gelten wie für die anderen Bestandteile der Natur, so daß es keine Unterschiede zwischen Menschen geben kann, was in der Monarchie jedoch der Fall ist.
Mit ihrer Geisteshaltung stellen sie einen Gegenpol zum Gedankenbild der Aufklärung dar, das den Menschen als Maschine ohne Gefühle begreift und die Vernunft als höchstes Gut preist. Sie orientieren sich hierbei an den Gedanken des französischen Philosophen JeanJaques Rousseau, der bereits in der Mitte des 18.Jahrhunderts Kritik am vernunftorientierten Menschenbild der Aufklärung übte, und entwickeln diese weiter.
1.3. Zentrale Begriffe
Der erste zentrale Begriff der romantischen Dichtung, der sich immer wieder finden läßt, ist der Begriff der Imagination, der das Denken in Ganzheiten für sich in Anspruch nimmt, um unter der sichtbaren Oberfläche aller Dinge das Göttliche freilegen und damit erkennen zu können. Die Imagination ist also der Begriff für die Betrachtungsweise der Welt durch die englischen Romantiker, ihre Theorie der Poesie.
“ If we wish to distinguish a single characteristic which differentiates the English Romantics from the poets of the eighteenth century, it is to be found in the importance which they attached to the imagination and in the special view which they held of it. ” 3
Ein zweiter wichtiger Begriff ist der Begriff der Solitude, der das Zurückziehen des Individuums aus der Gesellschaft in die Natur bezeichnet, da nur dort die eigene Lebens- und Geisteseinstellung vertreten wird. Die englischen Romantiker fühlten sich also von der Natur eher verstanden als von anderen Menschen der oberflächlichen Gesellschaft. Ein möglicher Grund für diese Einstellung liegt wohl auch in der politischen Isolation, in der sie sich in England als Befürworter der französischen Revolution befanden, da dort aus Angst vor einer vergleichbaren Revolution jegliche politische Opposition unterdrückt wurde. Nach dem Scheitern der Theorie der perfekten Gesellschaft in Frankreich mit dem Einsetzen der Schreckensherrschaft der Jakobiner unter Robespierre, war das Land als Zufluchtsort der eigenen Ideale gestorben, so daß nichts blieb, als das Zurückziehen in die Natur.
Der dritte und letzte Begriff ist der Begriff des Sublime, des Erhabenen in der Welt, welcher sich besonders gut mit den Alpen als dem Begriff des Erhabenen unter den Romantikern erklären läßt. In ihrer unvorstellbaren Größe haben sie etwas Erhabenes, Göttliches, das sich weder mit der Vernunft, noch mit den Gefühlen erklären lassen kann. Laut Immanuel Kant geht die Erhabenheit über jeden Vernunftbegriff hinaus.
Diese drei Begriffe sind nicht nur als Bestandsaufnahme für das Vokabular der
Romantiker gedacht, sondern wichtig für das Verständnis des Prelude.
2. Wordsworth und “The Prelude” in der englischen Romantik
2.1. William Wordsworth
Als einer der Vertreter der ersten Generation der Romantiker, der die französische Revolution selbst miterlebte, ist Wordsworth aufgrund seiner Wanderungen durch Frankreich, über die Alpen, und den Rhein entlang durch Deutschland zurück nach England geradezu prädestiniert, sich der Erlebnis (später Bewußtseins)- und Naturlyrik anzunehmen, die in seinem Werk dann schließlich auch die größte Rolle spielen soll.4
Er hatte einen stark mystisch angelegten religiösen Sinn, der in seiner Welt des Lake Districts die überwältigende Macht der Natur erlebte, “die für ihn als lebendige Weltseele oder Weltgeist alles Seiende erfüllte und mit der er immer wieder in Augenblicken beglückender Erhebung in vertrauensvolle Beziehung trat.”5 Die Natur wurde also zu einer Ersatzreligion, die ihm gefühlsträchtige Erlebnisbereiche eröffnete und den christlichen Offenbarungsglauben verdrängte.
Anstelle des Geistes Gottes herrscht in der Welt laut Wordsworth also der Geist der Natur, der jedoch nicht nur dort, sondern auch in jedem Menschen vorhanden ist, so daß in seinem Werk eine Zweiteilung zwischen Außen und Innen, zwischen dem Geist des Universums und dem Geist des Einzelnen, zwischen universal soul und earthly soul herrscht.
2.2. The Prelude
Die an den Freund Samuel Taylor Coleridge adressierte epische Blankvers-Dichtung The Prelude, welche zwischen 1795 und 1805 entstand, nach mehreren Überarbeitungen jedoch erst 1850 nach Wordsworths Tod veröffentlicht wurde, ist das große autobiographische Gedicht der Romantik, in dem der Dichter in 13 Büchern seine eigenen Erfahrungen schildert, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist.
Der Untertitel Growth of a Poet ’ s Mind macht deutlich, daß es sich hierbei nicht nur um Lebenserinnerungen handelt, die den Leser zu erfreuen versuchen, sondern um den Versuch einer Erklärung, wie ein Dichtergeist durch verschiedenste Einflüsse wachsen kann, vor allem auch durch die Natur als Erzieherin.
Die beiden ersten vor 1800 entstandenen Bücher beschäftigen sich mit der Dichterjugend, Kindheit und Jugendalter. Ab dem dritten Buch wird das Verhältnis des Dichters zur Welt und zur Zivilisation behandelt, immer vor dem Hintergrund des Problems, sich denkend in diesen Bereichen des Lebens zurechtzufinden. Darüber hinaus existiert außerdem ein pädagogisches Ansatz, da Wordsworth versucht, den Menschen die seiner Meinung nach einzig mögliche Lebensweise nahezubringen, nach der es sich lohnt zu leben. Das gesamte Gedicht ist auf die These gegründet, “daß jeder Gedanke Teil eines lebendigen Stromes des Geistes sei, von dem getrennt zu werden allerdings gleichbedeutend mit dem Tod ist.”6
Wordsworth selbst sah sich in der Tradition Miltons, was sich an zahlreichen intertextuellen Anspielungen erkennen läßt, die sich auf dessen zwei Hauptwerke Paradise Lost und Paradise Regained beziehen, und er wird in seinem eigenen Anspruch dadurch bestärkt, daß Literaturkritiker noch immer darüber diskutieren, ob The Prelude und die Werke Miltons, einmal abgesehen von ihrer äußeren Form, in ihrer Wichtigkeit vergleichbar sind.
“ No true comparism is possible between the well-placed reflections that open Book IX of Paradise Lost [ … ] and this enormous testimonial Worsworth gives himself in a mixture of self-reproach and self-affirmation. ” 7
“ Wordworth is idealizing himself as the Poet - not the imitator of Milton, but the heir, and perhaps ultimately, the rival in fame. ” 8
An diesen beiden Zitaten werden die unterschiedlichen Meinungen der Literaturkritiker widergespiegelt.
3. Mensch und Natur in The Prelude
3.1. Einleitung
In dem nun folgenden Teil der Hausarbeit werde ich, die Wichtigkeit des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur in Wordsworths Prelude anhand ausgewählter Textstellen verdeutlichen.
Wie bereits erwähnt ist die Natur einer der wichtigsten Faktoren für das Heranwachsen des Dichtergeistes in der Funktion einer Erzieherin, was auch daran deutlich wird, daß die Natur für Wordsworth der erste Grund war, überhaupt zum Dichter zu werden.
“ Nature from the first intended him to be a poet. ” 9 Darüber hinaus jedoch kann das Verhältnis des Menschen zur Natur im Prelude auch unter anderen Gesichtspunkten wie der Beseeltheit der Natur, der Liebe zur Natur, der Natur als moralischer Landschaft oder der Einheit der Welt und des Universums untersucht werden. Ich werde versuchen, hierfür die Texstellen aus der Version von 1805 zu finden, welche diese Thesen untermauern.
Wordsworths Theorie der Beziehung zwischen Mensch und Natur basiert auf seinem Verständnis, daß ein sich ständig verbessernder, kumulativer Prozeß des Austausches zwischen Mensch und Natur stattfindet, der niemals endet, wie das Leben an sich für ihn einen nicht endenden Lernprozeß darstellt, in welchem ,wie bereits oben erwähnt, Stillstand den Tod bedeuten würde.
“ Our destiny, our nature, and our home, Is with infinitude, and only there - With hope it is, hope that can never die, Effort, and expectation, and desire, And something evermore about to be. ” 10
Jede neue Erfahrung mit der Natur kommt zu dem bereits vorhandenen Erfahrungsschatz hinzu, ohne diesen jedoch zu vernachlässigen, und führt zu einer tieferen Verbindung des Menschen mit der Natur. Zu beachten ist hierbei jedoch die Entwicklung Wordsworths innerhalb des Prelude vom unschuldig rezeptierenden Kind zum Ereignisse reflektierenden
Erwachsenen, welche einhergeht mit einer unterschiedlichen Betrachtungsweise der Natur. Als Kind und Jugendlicher in den ersten drei Büchern des Prelude war er überwältigt von der Schönheit der Natur, der Welt der Objekte, und konnte diese unreflektiert beinahe physisch spüren, wohingegen er in späteren Jahren einer darunterliegende abstrakten Ebene gewahr wurde, die von ihm selbst als “ presence ” bezeichnet wird und den Geist der Natur meint, der unter den sichtbaren Dingen der Natur liegt (vgl. Pantheismus). Es existiert also eine Kraft, die hinter der Schönheit der Natur liegt, und Wordsworth erkennt, daß die Realität der Natur eher im Geist der Dinge denn in ihrer Form zu finden ist11, obwohl er die kindliche Wahrnehmung genau wie die anderen Romantiker hoch schätzt und es eigentlich bevorzugt, seine Wahrnehmung nicht abstrahieren zu müssen, was jedoch, je älter man wird, automatisch geschieht.
“ Presence [ … ] is the power behind that beauty [ … ] the reality of Nature is the spirit rather than the form ” 12
Im folgenden Text werde ich mich nun mit ausgewählten Textstellen auseinandersetzen, um diese unter den hier beschriebenen Gesichtspunkten zu analysieren.
3.2. Mont Blanc (VI/453ff.)
In Buch VI des Gedichts, in dem Wordsworth die Themen Cambridge und seine Wanderung durch die Alpen beschreibt, werde ich mich auf seine Wanderung konzentrieren und Cambridge außer acht lassen.
In den Versen 453-461 schreibt Wordsworth von dem Tag, an dem er zum ersten Mal in seinem Leben den Gipfel des Mont Blanc, dem höchsten Berg der Alpen und aufgrund seiner beinahe unvorstellbaren Größe dem Symbol des Erhabenen (sublime) der Romantiker schlechthin, erblickt, jedoch nur, um seine Enttäuschung auszudrücken.
Der Grund für diese Enttäuschung ist wohl gerade in der so bewunderten unvorstellbaren Größe des Berges zu suchen, welche Wordsworth keinen Platz läßt, um darüber hinaus noch etwas Göttliches in ihm zu sehen und die ihm wie massive Stagnation vorkommt, welche in seiner Gedankenwelt das Ende der Imagination durch Stillstand bedeutet.
“… [We] grieved
To have a soulless image on the eye
Which had usurped upon a living thought That never more could be. ” 13
An dieser Stelle des Gedichtes wird die Differenz zwischen Imagination und Wirklichkeit deutlich, da der Mont Blanc in Wordsworths Imagination zu etwas unvorstellbar Großartigen gereift ist, so daß sein Anblick in der Wirklichkeit diesem Anspruch nicht standhalten kann. Hier wird der starke Projektionsmechanismus der eigenen Gedanken auf die Realität, dem kindlichen Sinn des Erlebens, deutlich, der die Romantiker prägte.
Ab Vers 456 jedoch kommt eben dieser Projektionsmechanismus wieder in Gang, als Wordsworth das Tal von Chamonix beschreibt, das er am Morgen des nächsten Tages zu Gesicht bekommt und von dessen Schönheit er überwältigt ist, da er sich zuvor noch kein stilisiertes Idealbild dieses Tals in seinem Kopf geschaffen hatte. So bewundert er den gesehenen Gletscher mit seinen “ dumb cataracts and streams of ice , a motionless array of mighty waves, five rivers broad and vast ” 14 , der ihn schließlich wieder mit der Realität versöhnt (“ and reconciled us to realities ” 15 ), die er ja zuvor bei der Betrachtung des Mont Blanc als furchtbar empfunden hatte. Allerdings muß man hier berücksichtigen, daß der Dichter nach der erlittenen Enttäuschung des Berges förmlich nach Erlösung sucht und deswegen das Tal vielleicht als schöner empfindet als er es ohne die Enttäuschung getan hätte.
War der Mont Blanc durch seine Bewegungslosigkeit das Zeichen für Stillstand, den Tod der Imagination, so sind die “ dumb cataracts ” nur in einer vorübergehenden eisigen Stille erstarrt, die endlich ist, so daß sie, der Imagination Wordsworths folgend, noch immer klingen. Die “ streams of ice ” fließen weiter und die “ five rivers, broad and vast ” schlagen noch immer Wellen in der Imagination des Dichters. Es findet also ein Protest der Sinne gegen die Realität statt.
Man könnte diese Textstelle letztendlich als zweigeteilt bezeichnen, in dessen ersten Teil Wordsworth seine Enttäuschung über die Realität des Mont Blanc zum Ausdruck bringt, wohingegen er im zweiten Teil ab Vers 456 seine Bewunderung über das ihm wundervoll erscheinende Tal von Chamonix mit seinem beeindruckenden Gletscher zum Ausdruck bringt. Diese Zeilen sind der Anlaß für den wenig später im Text getätigten Vergleich der Natur mit einem Buch, aus welchem die Menschen lernen können.
3.3. Das Buch der Natur (VI/469ff.)
Im ersten Teil dieser Textstelle, die von Vers 469 bis 473 reicht beklagt Wordsworth den unreifen Zustand des eigenen Intellekts und des eigenen Herzens (“ Unripe state of intellect and heart ” 16 ), der jedoch wunderbar zu den einfachen Dingen paßt, die er mit Freunden auf seiner Wanderung erlebt hat, bevor er durch Gefühle, die er als puren Atem des wirklichen Lebens beschreibt, die Wahrheit erkennt, auf die er sich im zweiten Teil dieser Textstelle ab Vers 473 bezieht.
Diese Wahrheit (“ The truth of young and old ” 17 ) wird hervorgerufen durch die Natur, die er hier als Buch bezeichnet, das ihn durch seine unvorstellbare Schönheit zwingt, es zu lesen, da er keine andere Wahl hat.
“ With such a book
Before our eyes we could not choose but read A frequent lesson of sound tenderness ” 18
Der letzte Teil dieses Satzes bezieht sich, wie schon zuvor die Konzentration der Romantiker auf die Gefühle und nicht die Vernunft, wiederum auf Jean-Jaques Rousseau, der als erster von der Zärtlichkeit der Natur gesprochen hatte, auf die Wordsworth sich hier bezieht. Die Auffassung, die Natur gehe zärtlich mit den Menschen um, stellt erneut ein Gegenbild zum Naturverständnis der Philosophen des 18.Jahrhunderts dar, welche die Verbindung der Natur mit den Menschen als nicht relevant vernachlässigten.
Die Wortwahl Wordsworths macht nicht nur seine Nähe zu Rousseau, sondern auch seine Einstellung zum Prozeß der Industrialisierung deutlich. Die Existenz der Bauern und Schäfer, deren Lebensweise im Einklang mit der Natur stand und die er noch aus seiner Jugend im Lake District kannte, hat, aufgrund der Landflucht der Menschen in die Städte und der Ausbeutung der Natur, keineGrundlage mehr. Ihr von Wordsworth als friedliches Geben und Nehmen zwischen Mensch und Natur empfundenes Vorhandensein wird von den neu entstehenden grauen Industriestädten abgelöst, in deren Ghettos die Menschen vom Lande nun leben, um in Fabriken zu arbeiten, die für ihr Ziel, das Erwirtschaften von Gewinn, in Kauf nehmen, daß die Natur wegen menschlicher Interessen ausgebeutet wird, wo doch eigentlich das Empfangen von Liebe aus der Natur mit der Liebe des Individuums zurückgezahlt werden sollte.
Die Naturzärtlichkeit könnte also als romantisches Grundgesetz des menschlichen Verhaltens bezeichnet werden, wobei es von diesem Ansatz ausgehend verständlich ist, daß weder die Industrialisierung noch die Ständegesellschaft, noch irgendetwas, daß diesem Prinzip widerspricht, von den Romantikern akzeptiert werden kann.
Der Vergleich der Natur mit einem Buch macht das Bemühen Wordsworths deutlich, Erfahrungen, bei denen es keine Rolle spielt, wie groß oder gewaltig sie sind, kategorisieren zu wollen, indem er versucht, sie auf sinnvolle Dinge zurückzuwerfen und sie unter dem Begrif des common sense begreifbar zu machen. Dies wird hier an diesem speziellen Beispiel dadurch deutlich, daß er versucht zu suggerieren, daß die schwierigen und teilweise sicherlich unverständlichen Vorgänge, die in der Natur geschehen, trotzdem einen Vergleich zwischen Natur und Buch nahelegen, obwohl in Büchern traditionell alles Sinn machen sollte und geordnet ist, wie es so in der Natur nicht der Fall ist. Es findet eine erneute Projektion statt. Diese Form, mit der Realität umzugehen, sie zu kategorisieren, macht sich jedoch nicht nur Wordsworth zu eigen, sondern der Großteil der englischen Romantiker, so daß dieses Prinzip als Grundsatz romantischer Realitätserkennung bezeichnet werden könnte.
Eine weitere Interpretation, welche diese Textstelle nahelegt, ist der mögliche Bezug Wordsworths auf das, im Verständnis der europäischen Tradition, eine Buch, welches die größte Wichtigkeit besitzt, die Bibel, so daß durch den Vergleich der Natur mit einem Buch ebenfalls ein Vergleich der Natur mit dem Göttlichen der Bibel vorliegt, was wiederum mit der pantheistischen Einstellung der romantischen Schriftsteller im Einklang steht, die, wie bereits erwähnt, der Meinung sind, daß Gott in allen Dingen ist.
3.4. Die Alpen (VI/556ff.)
In dieser apokalyptischen Textstelle wandert Wordsworth auf seinem Weg über den Simplonpaß durch eine schmale Alpenschlucht bei Gondo und ist von der Natur um ihn herum sowohl fasziniert, als auch verängstigt, da es sich nicht um die ihm bekannte Natur des Flachlandes oder Mittelgebirges handelt, sondern um die Natur des Hochgebirges, hier in der
Form von Felsen, Sturzbächen, Windböen und den darüberziehenden Wolken des Himmels, die er durch die eingeschränkte Sicht dieser Felsspalte nur auschnitthaft wahrnehmen kann.
“ The stationery blast of waterfalls [ … ] Winds thwarthing winds, bewildered and forlorn [ … ] The rocks that muttered close upon our ears, Black drizzling crags that spoke by the wayside As if a voice were in them, the sick sight And giddy prospect of the raving stream, The unfettered clouds and region of the heavens ” 19
An der Beschreibung der Dinge, die Wordsworth um sich herum wahrnimmt, wird die Bedrohung des Menschen durch das Ungeheuerliche der Natur deutlich, daß ihn wohl dazu veranlaßt, sich mit der Apokalypse auseinanderzusetzen.
Dies tut er durch das Deutlichmachen der Gegensätze in der Natur, die er in Vers 567 mit “ Tumult and peace, the darkness and the light ” 20 zusammenfaßt, um dann in der nächsten Zeile die Einheit wiederherzustellen, indem er die Gegensätze der Natur vergeistigt und sie als die Arbeit eines einzigen übergeordneten Geistes darstellt. Die zuvor beschriebenen Widersprüche
“ Were all like workings of one mind, the features Of the same face, blossoms upon one tree ” 21
Diese zuvor bereits in 2.1. erwähnte Theorie der Trennung der Welt in universal mind und earthly mind, Objekt und Subjekt, ist an dieser Stelle des Textes mit der Dialektik Hegels vergleichbar, die, von einem Weltgeist ausgehend, darauf basiert, daß dieser Weltgeist in gegensätzlichen Naturformen zum Ausdruck kommt und sich durch sie hindurchkämpfen muß, bevor eine Einigung stattfinden kann, welche die vorherige Trennung wieder aufhebt. Diese Theorie verknüpft Wordsworth hier mit der Theorie der Apokalypse. Nach deren Ende ist die eben angesprochene Vereinigung aller Gegensätze selbst in den Menschen wieder möglich. Eine Entfremdung von der Entfremdung der Menschen ist also nur im Geistigen möglich.
“ (They) were all like [ … ] Characters of the great apocalypse, The types and symbols of eternity, Of first, and last, and midst, and without end. ” 22
Diese Zeilen, wobei die letzte eine intertextuelle Anspielung auf Milton ist, der sich mit den gleichen Worten auf Gott bezieht23, was Wordsworth hier bewußt vermeidet, machen erneut das Bemühen des Romantikdichters deutlich, die Welt kategorisieren zu wollen, da er erneut das Bild des Buches benutzt, dieses Mal jedoch nicht des Buches der Natur, sondern des Buches der Apokalypse, in dem die Menschen und die Gegensätze in der Natur nur Buchstaben und Symbole der Ewigkeit sind. Dies wiederum macht erneut die Einstellung der Romantiker deutlich, daß alles in ständiger Verwandlung begriffen ist und das ganze Leben einen Prozeß der Seinswerdung darstellt und ein ständiger Übergang zu anderen Daseinsformen stattfindet, so daß der Weg das Ziel ist, da kein eigentliches Ziel existiert, das erreichbar wäre.
Zusammenfassend könnte man sagen, daß Wordsworth die Natur hier durch ihre Vergeistigung zu einer moralischen Landschaft werden läßt. Er benutzt sie, um durch ihre Modifizierung seine eigene Theorie des Lebens vor dem Hintergrund der Einheit der Welt und des Universums vor dem Leser auszubreiten.
3.5. London (VII/695ff.)
In dieser Textstelle, die auf den ersten Blick nicht viel mit dem behandelten Mensch- Natur- Verhältnis zu tun zu haben scheint, schreibt Wordsworth von seinen Erfahrungen, die er in London gemacht hat. Sie eignet sich trotz des Fehlens der Natur im Häusermeer der großen Stadt gut, um die Einstellung des Dichters zum Verhältnis des Menschen zur Natur deutlich zu machen, da hier all die Dinge, welche er zuvor durch sein spezielles Verhältnis zur Natur erworben hat (Natur als Erzieherin), auf die Probe gestellt werden, ohne daß er direkt mit ihr kommunizieren kann.
Am Anfang des Textbeispiels gibt er seine enttäuschten Eindrücke preis, die er von der Großstadt London gesammelt hat. So bezeichnet er das Leben dort als blanke Konfusion und vergleicht deren Einwohner mit Tieren, die in Schwärmen daherkommen.
“ Oh, blank confusion [ … ] the whole swarm of its inhabitants ” 24
Jedoch existieren dort nicht nur Schwärme von Menschen, sondern auch ein ununterbrochener Strom sinnloser Dinge, die alle gleich sind, da all ihre vorhandenen Unterschiede so unwichtig sind oder keinen Zweck haben, daß sie sinnlos werden.
“ [ … ] the same perpetual flow Of trivial objects, melted and reduced To one identity by differences That have no law, no meaning, and no end ” 25
All diese der Stadt eigenen Dinge führen dazu, daß der Dichter, der es gewohnt ist, um Lake District so gut es geht mit der Natur im Einklang zu leben, darüber klagt, daß er einen Druck fühlt, unter dem selbst die genialsten Geister leiden müssen, die sich diesen Eindrücken aussetzen, da ihre Sensibilität bzw. Imagination nicht arbeiten kann.
“ Oppression under which even highest minds Must labour ” 26
Nachdem er sich jedoch über den schlechten Einfluß der Stadt beklagt hat, der das Auge ermüdet, was seiner Meinung nach in der Natur so nie der Fall sein könnte, findet in seinem Kopf eine erneute Projektion statt, um das seiner Meinung nach richtige Weltbild vor sich selbst zu rechtfertigen, das so in London nicht zu finden ist. Er tut dies, indem er sich selbst sagt, daß dieses London nicht das ganze London ist, und er erneut das Ganze von einzelnen Teilen trennt, wie er es bereits vorher getan hat (siehe 2.1. und 3.4.). Dies führt zu der These, daß sich, wenn man die Stadt genauer betrachtet, unter ihren oberflächlichen Nichtigkeiten dieselbe Großartigkeit erkennen läßt, wie dies in der Natur der Fall ist. Alles ordnet sich erneut dem einen universal mind unter, dessen Einzelteile durch Widersprüche geprägt sind.
“ It is not wholly so to him who looks
In steadiness, who hath among least things
An under-sense of greatest - sees the parts As parts, but with a feeling of the whole. ” 27
Darüber hinaus kommt hier die positive Grundeinstellung der Romantiker zum Tragen, die, wobei es keine Rolle spielt, wie enttäuschend Eindrücke sind, ihn hier dazu veranlaßt, trotz seiner anfänglichen Abneigung gegen das Leben der Großstadt das Gute im Schlechten zu erkennen, mag es auch so klein sein wie hier, wo er als kleinsten gemeinsamen Nenner die Größe der Stadt mit ungeheuerlichen Größen in der Natur vergleicht. Dieser angesprochene Vergleich ist der Auslöser für weitere Vergleiche der Stadt mit der Natur, bevor er in Vers 735 zum Ausdruck bringt, was er als Romantiker zum Ausdruck bringen muß:
“ The spirit of nature was upon me there ” 28
An dieser Zeile wird die oben erwähnte Projektion guter Dinge auf schlechte Dinge der Romantiker deutlich, die es sich damit selbst schwer machen Realitäten zu akzeptieren. Hier wird die grausame Stadt mit dem Mantel der Natur verhüllt, so daß Wordsworth sie nicht mehr zu sehen braucht.
Begründet wird dies durch die Größe Londons, die ihn z.B. an die Größe des Mont Blanc erinnert. Und obwohl diese Erfahrung für ihn mit unguten Erinnerungen behaftet ist, dient sie als Grundlage für das Aufbauen der Natur als Gegenbild der Stadt, um es ihr letztendlich überzustülpen und sagen zu können, daß alles was in der Natur vorhanden ist, auch in London zu finden ist. Ein Beleg für die Verbindung der gewaltigen Berglandschaften mit London könnte die Zeile “ Oh, blank confusion, and a type not false Of what the mighty city is itself ” 29 sein, die sich ganz am Anfang der Textstelle befindet und einen Kontrast zur Verwendung der “ types and symbols of eternity ” 30 darstellt, die Wordsworth zuvor bei der Beschreibung der vorherigen apokalyptischen Textstelle benutzt hat.
4. Resümee
An den vorausgegangenen drei Textstellen, die ich in dieser Hausarbeit behandelt habe und die, wie ich denke, als exemplarisch für viele andere in Wordsworths Prelude angesehenen werden können, wird die Geisteshaltung des Dichters, und mit ihm die anderer englischer Romantiker, deutlich.
The Prelude, als Vorbereitung auf ein großes philosophisches Gedicht mit dem Titel The Recluse gedacht, das letztlich nie zustande kam, wurde von Wordsworth mit dem ersten Teil des heutigen Prelude mit dem Titel Was It For This begonnen, ohne daß er wußte, daß sich daraus das große autobiographische Gedicht, das wir heute kennen, entwickeln würde, obwohl das Thema der Natur als Erzieherin bereits dort behandelt wurde, welches sich schließlich, gemischt mit den Themen der Natur als moralischer Landschaft und der Einheit der Welt und des Universums, durch das gesamte Prelude ziehen sollte, um Wordsworths Einstellung zum Verhältnis des Menschen zur Natur deutlich zu machen.
Durch seinen autobiographischen Charakter ist es ein interessanter Vertreter der Erlebnislyrik, das aber außerdem noch den Auftrag hat, die Menschen dazu zu erziehen, sich auf eine gewisse Weise zu verhalten, um sinnvoll zu leben, wobei Wordsworth immer daran zweifelte, ob er der Richtige für die Aufgabe der Erziehung der Menschheit sei. Ich denke, dieser pädagogische Aspekt ist beim näheren Betrachten der Textstellen ebenso deutlich geworden wie die speziellen Theorien der Romantiker, die zu kennen notwendig sind, um sich auf den pädagogischen Ansatz einzulassen.
Die meisten diese Theorien wie die besondere Rolle der Natur in diesem ständigen Prozeß der Seinswerdung der Menschen bedarf wohl keiner weiteren Erwähnung, da sie der Ursprung beinahe allen Lebens und für Wordsworth der Grund zu schreiben ist. Diese spezielle Verbindung zur Natur, gekoppelt mit der Ablehnung der Gesellschaft und der Auffassung, daß sich Kreativität nur in solitude finden läßt und der ausführlich besprochenen Projektion, um sich Dinge, die einem nicht gefallen so zu machen, wie man sie haben will, charakterisiert die gesamte Struktur des Prelude und macht es zu einem der herausragenden Gedichte der Romantik, die es möglich machen, die Geisteshaltung und die verzweifelten politischen Versuche ihrer Schriftsteller, eine Republik in England zu etablieren und die Monarchie abzuschaffen und ihre damit verbundene Isolation im eigenen Land, zu verstehen.
5. Bibliographie
- William Wordsworth: “The Prelude, The Four Texts (1798,1799,1805,1850)”, Penguin Books, London 1995.
- Helmut Viebrock u. a.: “Die europäische Romantik”, Athenäum, Frankfurt 1972.
- C.M. Bowra: “The Romantic Imagination”, Oxford University Press, Oxford 1969.
- Penelope June Stokes: “The Quest for Maturity: A Study of William Wordsworth’s The Prelude”, Institut für englische Sprache und Literatur der Universitaet Salzburg, Salzburg 1974.
- Geoffrey H. Hartman: “Wordsworth’s Poetry 1787-1814”, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts and London, England 1987
- Richard J. Onorato: “The Character Of The Poet - Wordsworth in The Prelude”, Princeton University Press, Princeton New Jersey 1971.
- J.H. Alexander: “Reading Wordsworth”, Routledge & Kegan Paul, London 1987.
[...]
1 Helmut Viebrock: “Die englische Romantik”(=ER) in “Die europaeische Romantik”, Athenaeum, Frankfurt 1972. S.333
2 ER, S.333
3 C.M. Bowra: “The Romantic Imagination”, Oxford University Press, Oxford 1969. S.1
4 Ich werde mich im folgenden Text ausschließlich mit der Version von 1805 beschaeftigen.
5 ER, S.351
6 ER, S.359
7 Geoffrey H. Hartman: “Wordsworth’s Poetry 1787-1814”(=WP), Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts and London, England 1987. S.208
8 Richard J. Onorato: “The Character Of The Poet - Wordsworth in The Prelude”, Princeton University Press, Princeton New Jersey 1971. S.130
9 WP, S.209
10 William Wordsworth: “The Prelude, The Four Texts (1798, 1799, 1805, 1850)”(=TP), Penguin Books, London 1995. S.240
11 vgl. Penelope June Stokes: “The Quest for Maturity: A Study of William Wordsworth’s The Prelude”(=QfM), Institut für englische Sprache und Literatur der Universitaet Salzburg, Salzburg 1974. S.19ff.
12 QfM. S.23
13 TP, S.236
14 TP, S.236
15 TP, S.236
16 TP, S.236
17 TP, S.236
18 TP, S.236
19 TP, S.240ff.
20 TP, S.242
21 TP, S.242
22 TP, S.242
23 “ Him first, Him last, Him midst and without end ” aus Milton: “Paradise Lost” (V/165)
24 TP, S.290
25 TP, S.290ff.
26 TP, S.292
27 TP, S.292
28 TP, S.292
29 TP, S.290
30 TP, S.242
- Quote paper
- Oliver Buchholz (Author), 2000, Das Verhaeltnis des Menschen zur Natur in William Wordsworths "The Prelude", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96975
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