Das Institut des Anscheinsbeweises erfreut sich in der Rechtsprechung auch unterer Gerichte ungebrochener Beliebtheit und ist aus der gerichtlichen Praxis nicht mehr wegzudenken. Neben den klassischen Anwendungsbereichen im Haftpflicht- und Straßenverkehrsprozeß spielte dieses "anerkannte und bewährte" Rechtsinstitut in den vergangenen Jahren aufgrund der rasanten technischen Entwicklung auch bei folgenden Fragen eine Rolle:
- Beweis des Zugangs eines Telefaxes durch das Sendeprotokoll.
- Berechtigung der Höhe von Telefonrechnungen.
- Sicherheit des ec-Karten-PIN-Systems.
Dieser Beitrag versucht aufzuzeigen, daß trotz der bisweilen berechtigten Kritik seitens des Schrifttums gegen die Anwendung dieses Instituts selbst in der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Schwierigkeiten bei seiner Anwendung nicht allein aus seiner mangelnden dogmatischen Durchdringung zu erklären sind, sondern zu einem wesentlichen Teil auf seiner unzureichenden Handhabung durch die Untergerichte beruhen.
Torsten Martini
Der prima-facie-Beweis
Eine kritische Betrachtung der Umsetzung höchstrichterlicher
Anforderungen an den Anscheinsbeweis durch die Rechtsprechung der Instanzgerichte
(Köln 1998)
I. Die Bedeutung des Anscheinsbeweis in der Praxis der Gerichte
Das Institut des Anscheinsbeweises erfreut sich in der Rechtsprechung auch unterer Gerichte ungebrochener Beliebtheit und ist aus der gerichtlichen Praxis nicht mehr wegzudenken. Neben den klassischen Anwendungsbereichen im Haftpflicht- und Straßenverkehrsprozeß spielte dieses "anerkannte und bewährte" Rechtsinstitut in den vergangenen Jahren aufgrund der rasanten technischen Entwicklung auch bei folgenden Fragen eine Rolle:
- Beweis des Zugangs eines Telefaxes durch das Sendeprotokoll.
- Berechtigung der Höhe von Telefonrechnungen.
- Sicherheit des ec-Karten-PIN-Systems.
Dieser Beitrag versucht aufzuzeigen, daß trotz der bisweilen berechtigten Kritik seitens des Schrifttums gegen die Anwendung dieses Instituts selbst in der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Schwierigkeiten bei seiner Anwendung nicht allein aus seiner mangelnden dogmatischen Durchdringung zu erklären sind, sondern zu einem wesentlichen Teil auf seiner unzureichenden Handhabung durch die Untergerichte beruhen.
II. Die Voraussetzungen seiner Anwendbarkeit
Der Anscheinsbeweis spielt vor allem zum Nachweis des Verschuldens und der Kausalität eine bedeutende Rolle, ist jedoch nicht darauf beschränkt. Auch in anderen Bereichen erleichtert er der beweisbelasteten Partei die Beweisführung in solchen Fällen, in denen ein typischer Geschehensablauf, also ein sich aus der Lebenserfahrung bestätigender gleichförmiger Vorgang, gegeben ist, durch dessen Typizität es sich erübrigt, die tatsächlichen Einzelumstände eines bestimmten historischen Geschehens nachzuweisen. Nach herrschender Ansicht stellt er dabei den Richter jedoch vom Erfordernis der vollen Überzeugung im Sinne des § 286 ZPO nicht freí.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes erscheint der Anwendungsbereich des Anscheinsbeweises klar:
"Der Anscheinsbeweis ist bei typischen Geschehensabläufen anwendbar zum Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs und des Verschuldens. Er erlaubt es, in solchen Fällen aufgrund einer bestimmten Wirkung eine bestimmte Ursache und umgekehrt, sowie das Verschulden beteiligter Personen als erwiesen anzusehen. Er setzt jedoch voraus, daß ein Tatbestand feststeht, bei dem der behauptete ursächliche Zusammenhang oder das Verschulden typischerweise gegeben ist, beruht also auf der Anwendung von Wahrscheinlichkeit (...).
Es muß sich also um ein Geschehen handeln, bei dem (...) die Erfahrung des Üblichen und Gewöhnlichem dem Richter die Überzeugung vermitteln, daß auch in dem von ihm entscheidenden Fall der Ursachenverlauf so gewesen ist, wie in den vergleichbaren Fällen.
Ungeachtet der abweichenden in der Literatur hierzu vertretenen Ansichten, die den Anscheinsbeweis teilweise als Möglichkeit zur Herabsetzung des Beweismaßes sehen oder eine Umkehr der Beweislast befürworten, sieht der BGH, ohne sich mit der Problematik näher auseinanderzusetzen, seine Bedeutung im Rahmen der Beweiswürdigung und vollzieht damit eine Rückausnahme vom Prinzip der freien Beweiswürdigung . Er erreicht so auf der einen Seite die gewünschte Flexibilität, erkauft diese jedoch durch seine schwierige Handhabbarkeit im Einzelfall. Die behauptete fehlende Durchdringung seiner dogmatischen Anbindung im Prozeßrecht stellt, da der Anscheinsbeweis zu recht als gesicherter Bestand der deutschen Zivilprozeßrechtswissenschaft bezeichnet wird, keinen Makel da, solange diese Schwierigkeiten nicht zu einer unkalkulierbaren Einzelfallrechtsprechung der Untergerichte führen. Demgegenüber sieht z. B. Greger die fehlende dogmatische Durchdringung dieses Rechtsinstituts als Ursache einer fehlenden einheitlichen Handhabung in der Rechtsprechung. Nach Ansicht des Verfassers ist dies jedoch, wie einige nachfolgende exemplarisch ausgewählte Entscheidungen zeigen, nicht der alleinige Grund für seine fehlerhafte Anwendung in der Rechtsprechung zumeist der Untergerichte.
III. Die Anwendung dieser Grundsätze in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung
Die fehlerhafte Anwendung dieser von dem BGH postulierten Anwendungsvoraussetzungen durch die Untergerichte ist nicht selten.
Erstens sollte es selbstverständlich sein, daß sich den Entscheidungsgründen entnehmen läßt, ob ein Gericht den Anscheinsbeweis überhaupt anwendet oder contra legem eine Herabsetzung des Beweismaßes vornimmt. Daß dies nicht immer der Fall ist, zeigt beispielhaft ein Urteil des LG Osnabrück. Dieses läßt nur vermuten, daß der Anscheinsbeweis Anwendung fand. Vieles deutet aber auch darauf hin, daß das Gericht hier tatsächlich eine unzulässige Herabsetzung des Beweismaßes vorgenommen hat. Mit einer fehlenden dogmatischen Durchdringung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung hat dies nichts zu tun, sondern vielmehr mit der Mißachtung einer Grundregel zum Aufbau von Entscheidungsgründen: das Gericht hätte schon deutlich machen sollen, unter welchen Begriff es subsumiert. Dies ist nicht geschehen.
Zweitens entbindet der schillernde Begriff des Anscheinsbeweises den Richter nicht von der Funktion der Entscheidungsgründe: sie haben eine tragfähige Begründung des gefundenen Ergebnisses zu liefern. Die Anwendung auf Fälle, in denen z. B. die Typizität des Vorgangs zwar noch als Voraussetzung des Anscheinsbeweises genannt, jedoch mit keinem Wort geprüft wird, ist beliebt, läßt man dieses Tatbestandsmerkmal nicht sogleich, wie das AG Hamburg in einer Entscheidung aus dem Jahre 1993, unter den Tisch fallen und prüft nur das Vorliegen eines Erfahrungssatzes oder läßt offen, ob nun das Vorliegen eines Erfahrungssatzes geprüft wird oder dessen Typizität, wie das OLG Köln in einer Entscheidung vom 05.02.1992. Nicht umsonst sieht sich der BGH häufig genötigt, die Gerichte darauf hinzuweisen, daß die Frage, ob ein die Anwendung des Anscheinsbeweises typischer Vorgang vorliegt, revisibel ist und eine Wertung aller tatsächlichen Umstände, auch derjenigen, die ihr entgegenstehen können, zu berücksichtigen hat und dabei den gesamten Sachvortrag der Parteien auszuschöpfen sowie den Beweisangeboten der Gegenseite nachzugehen hat. Die Typizität wird beispielsweise auch nicht durch Hinweis auf das millionenfache fehlerfrei Funktionieren der Gebührenerfassungseinrichtungen der Telekom belegt, dieser Umstand stellt höchstens einen Erfahrungssatz dar, der aber für die Fälle, für die er fruchtbar gemacht werden soll, nämlich im Falle einer ungewöhnlich hohen Telefonrechnung, gerade nicht greift. Ein Erfahrungssatz mag dafür sprechen, daß das Telefonierverhalten eines Kunden im Durchschnitt beispielsweise eines Monats annähernd gleich ist. Einen Erfahrungssatz dahingehend, daß derjenige, dessen Telefonrechnungen sich monatelang in einem annähernd gleichen Rahmen bewegt hat, nunmehr das zigfache an Einheiten vertelefoniert haben soll, gibt es nicht. Vielmehr erschüttert ein solcher Gebührensprung gerade den Anscheinsbeweis.
Drittens stellen die vom Bundesgerichtshof genannten Merkmale des Anscheinsbeweises kein Glaubensbekenntnis, sondern subsumierbare Tatbestandsvoraussetzungen dar. Dem wird die Rechtsprechung nicht gerecht, wenn ein als Lebenserfahrung dargestellter Erfahrungssatz zwar den im entschiedenen Fall wahrscheinlichsten Kausalverlauf darstellt, dabei jedoch mißachtet wird, daß dies nach der insoweit eindeutigen Rechtsprechung des BGH nicht ausreicht. So ist z. B. nicht ersichtlich, woher die Gerichte so häufig ihre Kenntnis vom fehlerfreien Funktionieren der Gebührenerfassungseinrichtungen der Deutschen Telekom nehmen, eine Beweisaufnahme gibt es insofern selten, häufig wird diese Eigenschaft nur herbeigeredet.
Viertens haben die Untergerichte zu beachten, daß der Anscheinsbeweis nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in gewissen Bereichen von vornherein nicht anwendbar ist, beispielsweise in der Regel bei
individuellen Willensentschlüssen, mag dieser Fehler auch noch verzeihlich sein, da die Rechtsprechung des BGH insofern selbst nicht immer konsequent ist.
Fünftens scheinen einige Gerichte auf dem Standpunkt zu stehen, daß der Verweis auf eine hohe Zahl gleichlautender Entscheidungen eine fallbezogene Begründung zu ersetzen vermag. Kein spezifisches Problem des Anscheinsbeweises, jedoch umso schwerwiegender, als gerade im Bereich des Anscheinsbeweises eine umfassende Wertung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls erforderlich ist. Das gleiche gilt für vernebelnde Ausführungen, die nicht erkennen lassen, bei der Prüfung welcher Tatbestandsvoraussetzung sich das Gericht gerade befindet. Das genannte Urteil des OLG Köln stellt ein Beispiel für ein solches methodisch nicht korrektes Vorgehen dar. Daß dem "Beklagten ... die Grundsätze über den Anscheinsbeweis zur Hilfe kommen" und "in der Regel" von diesem und jenem ausgegangen werden kann, hört sich gut an, läßt aber offen, welche Wirkung das Gericht dem Anscheinsbeweis beimißt.
Daß der Anscheinsbeweis nicht schon dann anwendbar ist, wenn von zwei nicht nur theoretisch denkbaren Kausalverläufen einer wahrscheinlicher ist als der andere, hat der BGH wiederholt klargestellt. Gleiches gilt für die Notwendigkeit, die tatsächlichen Grundlagen, die Gegenstand eines typisierten Erfahrungssatzes sein sollen, mit der nach § 287 ZPO erforderlichen Gewißheit festzustellen. Mag man auch in der Rechtsprechung des BGH bisweilen eines konzeptionsloses case-law sehen, so gibt es doch auch Bereiche, in denen nach der Rechtsprechung des BGH der Anscheinsbeweis jedenfalls nicht anwendbar ist. Die vorgenannten Judize wären, hätten sich die Gerichte am BGH orientiert, so nicht ergehen dürfen oder zumindest eines wesentlich eingehenderen Begründungsaufwands bedurft.
Woran liegt das?
Greger meint, das Bestreben, eine unrichtige Tatsachenfeststellung durch die Anwendung des Anscheinsbeweises zu korrigieren, sei zwar im Einzelfall ausschlaggebend für seine Heranziehung gewesen, könne aber das Gesamtphänomen nicht erklären, insbesondere da sonst im verborgenen bliebe, weshalb der Anscheinsbeweis gerade im Bereich der Kausalität und des Verschuldens eine so starke Bedeutung erlangt habe. Dem vermag der Verfasser nicht zuzustimmen. Gerade im Bereich der Kausalität und des Verschuldens entzieht sich das, was tatsächlich vorgefallen ist, häufig der Kenntnis des Gerichts, lassen aber die äußeren Umstände bisweilen den Schluß zu, wie es wohl gewesen sein wird. Hierin liegt das Problem. Daß eine Tatsache wohl so sein wird, ist im Rahmen des § 286 ZPO nicht ausreichend, eine Herabsetzung des Beweismaßes kommt nicht in Betracht. Hier bildet der Anscheinsbeweis eine Brücke, um ein für richtig gehaltenes Ergebnis ohne viel Aufwand begründen zu können.
Anschaulich führt Peter Hartmann aus:
"Freilich birgt der Anscheinsbeweis auch eine erhebliche Versuchung. Denn man kann mit seiner Hilfe unter Berufung auf so schillernde Begriffe wie "Lebenserfahrung" oder "typischer Geschehensablauf" dem Prozeß eine gewünschte Richtung geben, die derjenigen ohne Anwendung solcher oft gefährlich unkontrollierter Begriffe gerade entgegengesetzt verläuft. Eine "Lebenserfahrung" ist rasch hingeredet und dann nur mühsam als Leerformel widerlegbar".
Wenn dies zutrifft, liegt die Problematik nicht allein in seiner fehlenden dogmatischen Verortung begründet, sondern in dem Umstand, daß einige Gerichte der Versuchung, die dieses Institut ihnen bietet, nicht widerstehen können und nicht in der Lage sind, bei seiner Anwendung die notwendige Zurückhaltung zu üben.
Bisweilen lassen die Entscheidungsgründe erahnen, daß erkennbar nur der Sachvortrag der beweisbelasteten Partei zutreffen konnte, diese ihn aber nicht mit der nach § 286 ZPO erforderlichen Gewißheit zur Überzeugung des Gerichts bringen konnte. In einem solchen Fall bietet das Institut des Anscheinsbeweises tatsächlich die genannte "erhebliche Versuchung", dem Prozeß die gewünschte Richtung zu geben, der ohne die Anwendung solcher Begriffe wie "Lebenserfahrung" und "typischer Geschehensablauf" in die andere Richtung laufen würde. Der Anscheinsbeweis dient also der Vermeidung des unerwünschten, weil im konkreten Fall als unbillig empfundenen, non liquet. Gerade im Bereich komplexer technischer Abläufe, wie eben der Frage nach der Übertragung eines Telefaxes oder der Gebührenerfassung von Telefongesprächen, ist der Nachweis mit dem im Rahmen des § 286 ZPO erforderlichen Grad an Gewißheit auch kaum mehr zu führen, weil der zumeist komplexe technische Vorgang für den Richter nicht mehr nachvollziehbar ist.
So führt beispielsweise das Landgericht Aachen zu der Frage, ob der Beweis des ersten Anscheins für die Richtigkeit hoher Telefonrechnungen spricht, in einer Entscheidung aus dem Jahre 1994 aus:
"Die Kl. kann sich nicht darauf berufen, schon der Beweis des ersten Anscheins spreche dafür, daß der Bekl. die automatisch aufgezeichneten Gebühreneinheiten auch vertelefoniert habe. Insoweit ist sich die Kammer durchaus bewuß t, daß von der ganzüberwiegenden Anzahl der Gerichte ein solcher Anscheinsbeweis generell oder jedenfalls nach einer Zählerüberprüfung durch die Telekom bejaht wird (...). Dieser Rechtsprechung vermag die Kammer jedoch nicht zu folgen (...).
Der in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannte Anscheinsbeweis setzt einen feststehenden typischen Geschehensablauf voraus, bei dem nach der Lebenserfahrung auf das Hervorrufen einer bestimmten Folge oder auf die Verursachung durch ein bestimmtes Verhalten geschlossen werden kann (...).
Daran fehlt es nach Auffassung der Kammer in Fällen der hier vorliegenden Art. Die Kammer hat keine Bedenken anzunehmen, daß nach der Lebenserfahrung ein von der Telekom nachträglichüberprüfter und ordnungsgem äß arbeitender Gebührenzähler auch in dem Abrechnungszeitraum die Gebührenimpulse zutreffend aufgezeichnet hat. Ebenso hat die Kammer keine Bedenken anzunehmen, daß die aufgezeichneten Gebührenimpulse nach der Lebenserfahrung von dem Telefonkunden ausgelöst, d. h. vertelefoniert wurden, sofern sie sich in einem Rahmen bewegen, welcher auch in den Monaten vorher erreicht wurde".
Seine nicht tragenden Erwägungen zum Anscheinsbeweis hätte die Kammer getrost fortlassen können, da sie der herrschenden Rechtsprechung ohnehin nicht gefolgt ist. Die Ausführungen, die sie aber dennoch zu den Voraussetzungen des Anscheinsbeweises vornimmt, werden der Rechtsprechung des BGH nicht gerecht. Das Landgericht spricht zweimal davon, daß es keine Bedenken habe, einen entsprechenden Satz der Lebenserfahrung anzunehmen. Begründet wird diese Ansicht nicht, was unzweifelhaft erforderlich gewesen wäre. Der Umstand, daß die aufgezeichneten Einheiten einen Umfang erreichen, der auch in den vorherigen Monaten erreicht wurde, stellt jedenfalls keine Begründung dar. Denn daß eine Telefonrechnung sich in jedem Monat in einem annähernd gleichen Rahmen bewegt, ist naheliegend. Erklärungsansätze für einen Gebührensprung lassen sich jedoch viele finden. Wer konnte sich nicht schon selbst einmal die Höhe seiner Telefonrechnung nicht erklären? Was die Kammer als Erfahrungssatz dargestellt hat, mag sich ja so zu getragen haben. Daraus folgt jedoch nicht zwingend das Vorliegen eines Erfahrungssatzes. Naheliegender wäre es dann schon anzunehmen, daß es einen Erfahrungssatz gibt, daß am Jahresende im Durchschnitt mehr telefoniert wird. Wieso sollte es zu anderen Zeiten aufgrund individueller Gegebenheiten nicht (nur theoretisch denkbar) ähnlich sein? Das genannte Urteil krankt damit daran, daß die Frage, ob der im Fall für wahrscheinlich gehaltene Kausalverlauf tatsächlich einen Satz der Lebenserfahrung darstellt, apodiktisch behauptet und allzu kursorisch behandelt wird, das gegenteilige Ergebnis aber ebensogut vertretbar wäre. Da das Landgericht den von ihm als Satz der Lebenserfahrung dargestellten Erfahrungssatz nicht als solchen herleitet, sich vielmehr auf Entscheidungen anderer Gerichte stützt, entbehren seine Ausführungen auch der Überzeugungskraft. Die Frage, ob ein die Anwendung des Anscheinsbeweises legitimierender Erfahrungssatz besteht, hätte der eingehenden Begründung bedurft. Genau dies fordert der BGH als Voraussetzung seiner Anwendbarkeit. Die Entscheidungsgründe zeigen gleichfalls, daß die Frage, ob ein entsprechender Erfahrungssatz besteht, in hohem Maße von Fragen der technischen Entwicklung und Forschung abhängig ist, und daher stets nur aktuelle Erfahrungssätze Grundlage eines Anscheinsbeweises sein können. Auf die Frage der Typizität des von ihm behaupteten Erfahrungssatzes geht die Kammer schließlich gar nicht ein. Diese Typizität stellt sich jedoch selbstredend als elementare Voraussetzung der Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises dar. Wann diese vorliegt, nämlich nur dann, wenn eine aus allgemeinen Umständen gezogene Feststellung so häufig vorkommt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Fall auch hier vorliegt, sehr groß ist, hat der BGH explizit festgestellt. Fehlt sie, läßt sich der Verzicht des Richters auf die Feststellung einer anspruchsbegründenden Tatsache im Hinblick auf das nach § 287 ZPO erforderliche Beweismaß nicht rechtfertigen. Warum dennoch ständig über dieses Tatbestandsmerkmal hinweggegangen wird, kann man, unterstellt man den Untergerichten nicht Unkenntnis der neueren BGH-Rechtsprechung, nur mit der Scheu vor einer Beweislastentscheidung erklärt, einem Problem also, daß mit der angeblich unzureichenden dogmatischen Klärung des Anscheinsbeweises rein gar nichts zu tun hat, sondern vielmehr mit dem im Rahmen des § 286 ZPO häufig als übersteigert empfundenen Beweismaß.
Im methodischen Vorgehen ebensowenig haltbar ist das Urteil des LG Essen vom 16.02.1993, in dem die Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises auf die Höhe einer Telefonrechnung bejaht wird. In seinen Entscheidungsgründen steckt die Kammer zunächst die Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises nach der Rechtsprechung des BGH ab und fährt dann fort:
"Insoweit gilt, daß die Anzeige der automatischen Gebührenerfassungseinrichtung, soweit keinerlei Ansatz für einen technischen Fehler besteht,üblicherweise zutreffende Aussagenüber die von dem betreffenden Telefonanschluß verbrauchten Gebühreneinheiten mach[t]".
Eine bloße, durch nichts belegte Behauptung. Der Rechtsprechung des BGH wird dies nicht gerecht. Eine Begründung läßt sich auch nicht ersetzen durch den Hinweis auf eine gängige Rechtsprechung, der sich das Gericht ohne weiteres anschließt. À propos Behauptung: der Gegner der beweisbelasteten Partei kann den Anscheinsbeweis regelmäßig nur durch bewiesene oder unstreitige Umstände erschüttern. Dies übersieht das LG Aurich in einer neueren Entscheidung.
Kommen wir kurz zu den Entscheidungen, die sich mit ec-Karten- Problematik beschäftigen. Die Fragestellung ist bekannt, sie war Gegenstand zahlreicher Entscheidungen und Abhandlungen: spricht der Anscheinsbeweis für eine Verfügung durch den berechtigten Karteninhaber, wenn diese Transaktion unter Verwendung seiner ec-Karte nebst der dazugehörigen Geheimzahl vorgenommen wurde? Die Rechtsprechung ist widersprüchlich, wobei überwiegend davon ausgegangen wurde, daß der Anscheinsbeweis dafür spreche, daß der Einsatz der ec-Karte unter Verwendung der richtigen PIN durch den berechtigten Karteninhaber selbst erfolgt sein muß oder er jedenfalls durch ein sorgfaltswidriges Verhalten - Notieren der PIN an einer auffindbaren Stelle etc. - zum Mißbrauch der ec-Karte beigetragen habe. Seiner Anwendbarkeit liegt damit die Annahme zugrunde, daß eine Transaktion mit der ec-Karte nur mit der dazugehörigen PIN durchführbar sei, die nur dem berechtigten Karteninhaber bekannt und aufgrund des verwandten Sicherheitssystems durch Dritte auch nicht ermittelbar sei. Aufsehen erregt hat seinerzeit ein Urteil das OLG Hamm, das (im zwischenzeitlich nicht mehr verwandten Offline-Verfahren) von einer unter Umständen möglichen Ermittelbarkeit der Geheimzahl durch einen Unbefugten ausgegangen war. Besonders Augenmerk sei auf ein Urteil des AG Frankfurt/Main gelenkt, das angesichts einer 27seitigen Urteilsbegründung gegenüber dem eher bescheidenen Begründungsaufwand anderer Gerichte bei weitem aus dem Rahmen fällt und zeigt, daß es auch anders geht. Das Amtsgericht Frankfurt kommt zu dem Ergebnis, daß die gestellte Frage aufgrund der gestiegenen technischen Möglichkeiten eines derartigen Mißbrauchs zu verneinen sei. Zum gleichen Ergebnis wie das OLG Hamm und das AG Frankfurt war bereits das AG Oschatz gekommen, während der wohl überwiegende Teil der Gerichte, die über einen solchen Fall zu entscheiden hatten, die Anwendung des Anscheinsbeweises bejaht hatten. Diese widersprüchliche Rechtsprechung zeigt, wie schwierig der Umgang mit dem Anscheinsbeweis gerade im Bereich komplexer technischer Abläufe ist, noch dazu, wenn das Gericht die Frage, ob es einen geeigneten Satz der Lebenserfahrung gibt, nur mit Hilfe eines Sachverständigen überprüfen kann oder von falschen Voraussetzungen ausgegangen wird, indem nicht hinreichend zwischen dem alten und nicht mehr eingesetzten Offline- und dem neueren Online-Verfahren unterschieden wird - eine Frage der Aktualität des Erfahrungssatzes. Widersprechende Entscheidungen trotz scheinbar identischen Sachverhalts sind hier an der Tagesordnung. Das AG Frankfurt setzt sich in genanntem Urteil zunächst in aller Ausführlichkeit mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung auseinander. Zutreffend ist die Annahme des Gerichts, daß die nur theoretische Möglichkeit der Ermittelbarkeit der PIN die Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises nicht ausschließt. Zutreffend wird auch festgestellt, daß es nicht ausreichend ist, wenn die beweisbelastete Partei ihre Darstellung nur wahrscheinlich macht, vielmehr sei auch im Falle der Anwendung des Anscheinsbeweises die volle richterliche Überzeugung von dem behaupteten Geschehensablauf erforderlich. Diese hält das Gericht für nicht gegeben, vielmehr sieht es als erwiesen an, daß der Schlüssel, der zur Ermittelbarkeit der PIN erforderlich ist, auch von Unbefugten errechnet werden könne und stützt sich dabei auf eine Vielzahl wissenschaftlicher Stellungnahmen. Die praktische Demonstration der Entschlüsselbarkeit der PIN durch den Sachverständigen, deren Fehlen einige Gerichte bewogen hat, sich weiterhin der Ansicht anzuschließen, daß dies nicht möglich sei, scheiterte im Ergebnis daran, daß die Beklagte nicht in der Lage war, zu Testzwecken einen der früher üblichen Geldautomaten mit integriertem Poolschlüssel zur Verfügung zu stellen, was aber erforderlich gewesen wäre, da es sich um eine Verfügung zu einer Zeit handelte, als noch das alte, zwischenzeitlich nicht mehr verwandte, PIN-Sicherheitssystem Anwendung fand. Das Gerichte folgte daher, da es ein derartiges Verhalten auch im Hinblick auf die noch zahlreichen anhängigen Verfahren, in denen das alte PIN-Verfahren eine Rolle spielte, für nicht nachvollziehbar hielt, den Ausführungen des Sachverständigen, da die beklagte Bank dazu beigetragen habe, daß die Klägerin durch eine praktische Demonstration den Gegenbeweis nicht zu führen vermochte. Daß das Gericht auf diese Weise zu der erforderlichen Überzeugung im Sinne des § 287 ZPO gelangt ist, es sei möglich, die PIN zu errechnen, mag im Ergebnis zweifelhaft sein. Methodisch angreifbar ist dieses Vorgehen nicht, die Grundsätze des BGH über die Anwendung des Anscheinsbeweises sind beispielhaft beachtet worden. Daß es die Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises ausschließt, wenn die beweisbelastete Partei die Möglichkeit des Gegenbeweises vereitelt, hat der BGH erst jüngst klargestellt. Gleiches gilt für den Umstand, daß allein die überwiegende Wahrscheinlichkeit die Anwendung des Anscheinsbeweises nicht rechtfertigt. Denn dies würde bedeuten, daß die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Tatsache bereits allein geeignet wäre, diese als erwiesen anzusehen. Zu recht stellt Greger für den Bereich des Nachweises der Kausalität fest, daß dem Beweisrecht in diesem Fall eine haftungsbegründende Funktion zukäme - alleinige Aufgabe des materiellen Rechts. Daß die nur theoretische Möglichkeit, daß es auch anders gewesen sein könnte, nicht dem Anscheinsbeweis entgegensteht, ist ebenfalls ständige Rechtsprechung. Demgegenüber mangelt es einem Teil der Entscheidungen, die hierzu die gegenteilige Ansicht vertreten, an einer konsequenten Anwendung eben dieser von dem BGH aufgestellten Grundsätze. Das AG Charlottenburg hält den Anscheinsbeweis für gegeben. Die Ausführungen, daß die "völlig herrschende Meinung" dies ebenso sieht und das (gegenteilig entscheidende) OLG Hamm "die bisher geltende Rechtsprechung ohne hinreichende Begründung aufgegeben" hat, ersetzt jedoch keine eigene Begründung. Das Vorgehen, einen anerkannten Fall des Anscheinsbeweises rechtssatzmäßig und unter Verzicht auf jegliche Beweiswürdigung heranzuziehen, stellt, wie gesagt, kein spezifisches Problem des Anscheinsbeweises dar, ist jedoch gerade im Bereich des Anscheinsbeweises, wo stets eine Würdigung aller tatsächlichen Umstände erforderlich ist und diese nicht ersetzt werden kann durch den Rückgriff auf eine herrschende Rechtsprechung, zu vermeiden. Und das Argument, mit dem sich das AG Charlottenburg der gegenteiligen Ansicht anschließt, weil eine Änderung der Darlegungs- und Beweisführungspflicht nicht in Betracht gezogen werden könne, "solange nicht mit hinreichender Gewißheit feststeht, daß es innerhalb kurzer Zeit möglich ist, die jeweilige PIN-Nummer zu ermitteln" ist einfach falsch. Denn der Beweis des Gegenteils - eben der Eindruck, daß dieser erforderlich wäre, wird hier erweckt, ist, um eine Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises abzulehnen, nach der eindeutigen Rechtsprechung des BGH eben nicht erforderlich. Den gleichen Fehler begeht das AG Dinslaken in seiner Entscheidung vom 29.04.1998. Zur Überzeugung des Gerichts müssen in diesem Rahmen nur diejenigen Umstände feststehen, aus denen sich die ernste Möglichkeit eines abweichenden Verlaufs ergeben sollen. Das Ergebnis, zu dem das AG Charlottenburg gelangt, mag vertretbar sein, die methodische Begründung ist es nicht. Diese Entscheidung beruht damit nicht auf der behaupteten fehlenden dogmatischen Durchdringung des Anscheinsbeweises durch die höchstrichterliche Rechtsprechung oder seine Widersprüchlichkeit, sondern auf der fehlerhaften Anwendung einer Voraussetzung seiner Anwendbarkeit, die der BGH stets postuliert hat.
Wenn dem Anscheinsbeweis eine Existenzkrise bescheinigt wird, kann man sich darüber nicht wundern angesichts z. B. eines recht originellen Urteils des LG Stuttgart, in dem ausgeführt wird:
"Verliert ein gemeinschaftlicher Fallstrang in nahem zeitlichen Zusammenhang mit einer (nur lokalen) Reinigung einer verstopften Toilette seine Durchgängigkeit, spricht der erste Anschein und die Lebenserfahrung dafür, daß die Zweitverstopfung durch die unzulängliche Beseitigung der Erstverstopfung verursacht wurde, indem das verstopfende Material im Zuge der Reinigung zumindest teilweise in den Hauptstrang weitertransportiert wurde und sich dort festgesetzt hat".
Schon die Wortwahl ist unglücklich. Die Erfahrung (des Üblichen und Gewöhnlichen) ist im Rahmen der Voraussetzungen des Anscheinsbeweises zu prüfen, wenn "der erste Anschein und die Lebenserfahrung" dafür sprechen sollen, daß die Zweitverstopfung durch die Erstverstopfung verursacht worden ist, fragt man sich, welche Bedeutung der (hier sog.) "erste Anschein" noch hat. Im Ergebnis ist man natürlich geneigt zu sagen, das wird wohl so gewesen sein. Aber das reicht nicht. Denn daß dieser behauptete Kausalzusammenhang einleuchtet, ersetzt keinen Satz der Lebenserfahrung, erst recht keinen typischen. An einer widersprüchlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt dies nicht. Das Gericht hätte nach Beweislastgrundsätzen entscheiden sollen und sich so nicht dem Verdacht ausgesetzt, daß es zu einem Prozeßergebnis kommen wollte, das nach allgemeinen Beweislastregeln nicht zu erreichen war. Da kam der Anscheinsbeweis wohl gerade recht. Aber das ist nicht seine Aufgabe: Beweisnot vermag den nicht erbrachten Beweis nicht zu ersetzen.
IV. Ausblick
Wir haben gesehen: die Zufälligkeit einiger Entscheidungen, die sich mit dem Anscheinsbeweis befassen, ließe sich vermeiden, machten die Untergerichte ernst mit den vom BGH aufgestellten Anwendungsvoraussetzungen des Anscheinsbeweises. Damit soll nicht gesagt werden, daß nicht auch der BGH bisweilen widersprüchlich entscheidet. Doch in seinen Grundlinien verfolgt er eine stetige Rechtsprechung. Das Problem liegt in den Untergerichten, die den Anscheinsbeweis mitunter als willkommenen Anlaß nehmen, ohne viel Begründungsaufwand dem für richtig gehaltenen Prozeßergebnis auf die Sprünge zu helfen - ein unzulässiges Vorgehen. Solange das Beweismaß des § 286 ZPO besteht, darf der Anscheinsbeweis nicht dazu mißbraucht werden, contra legem eine geringere Wahrscheinlichkeit als ausreichend zu erachten. Ist die volle Überzeugung des Gerichts in diesem Sinne nicht zu erreichen, hat eben ein Beweislasturteil zu ergehen. Zu recht hat schon Diederichsen festgestellt: die Beweisnot ist kein Moment der Beweiswürdigung.
"Der Richter, der wirklich nichts anderes zu tun hat, als Beweise zu würdigen, kann in einer solchen Situation allenfalls bedauernd mit den Achseln zucken: Die Beweisnot vermag - für sich genommen - den nicht erbrachten Beweis in keiner Weise zu ersetzen".
Es wäre wünschenswert, wenn sich die Gerichte diesen Satz häufiger ins Bewußtsein riefen, bevor sie das Institut des Anscheinsbeweises als Billigkeitsinstrument mißbrauchen.
- Arbeit zitieren
- Torsten Martini (Autor:in), 1998, Der prima-facie-Beweis - Eine kritische Betrachtung der Umsetzung höchstrichterlicher Anforderungen an den Anscheinsbeweis durch die Rechtsprechung der Instanzgerichte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96630
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