1768 zwang Goethe eine schwere psychische und physische Krise sein Rechtsstudium in Leipzig zu unterbrechen und nach Frankfurt zurückzukehren. „Es dauerte mehrere Monate, bis er sich nach Liegekuren und unangenehmen ärztlichen Eingriffen einigermaßen erholte. Allmählich kurierte er sich auch von der schweren inneren Krise, die das rastlose Leipziger Leben und vor allem die Trennung von Käthchen in ihm ausgelöst hatten.“
Anfang April 1770, nachdem nach anderthalb Jahren im Vaterhaus Goethes Gesundheit wieder hergestellt war, ging er bereitwillig auf Wunsch seines Vaters nach Straßburg, um dort sein Studium zu beenden.
Straßburg bedeutete für ihn ein Entfliehen aus dem engen Elternhaus und auch ein
Neubeginn. Im Gegensatz zu Leipzig war Goethe ernsthaft bereit, sein Rechtsstudium abzuschließen, dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, aus Interesse und Neugierde auch Vorlesungen der Medizin und der Staatswissenschaft zu besuchen. Auch lernte er in Straßburg Menschen kennen, die für seine weitere Entwicklung von wegweisender Bedeutung waren.
Wie in Leipzig fand Goethe auch hier bald nahe Freunde. Seinen Mittagstisch teilte er mit weiteren jungen Leuten, meist Medizinstudenten (daher auch sein wachsendes Interesse besonders an der Anatomie) aber auch einigen gesetzten Junggesellen, darunter der Straßburger Jurist Johann Daniel Salzmann , „der ihn später als treuer Mentor väterlich beriet.“
Gliederung
1. Goethe in Straßburg
2. Begegnungen
2.1. Herder
2.2. Friederike Brion
3. Einfluss des Straßburgaufenthalts auf Goethes Lyrik
4. Willkommen und Abschied
4.1. Entstehung
4.2. Gedicht (spätere Fassung 1789)
4.3. Interpretation
5. Literaturangaben
1. Goethe in Straßburg
1768 zwang Goethe eine schwere psychische und physische Krise sein Rechtsstudium in Leipzig zu unterbrechen und nach Frankfurt zurückzukehren. „Es dauerte mehrere Monate, bis er sich nach Liegekuren und unangenehmen ärztlichen Eingriffen einigermaßen erholte. Allmählich kurierte er sich auch von der schweren inneren Krise, die das rastlose Leipziger Leben und vor allem die Trennung von Käthchen in ihm ausgelöst hatten.“1
Anfang April 1770, nachdem nach anderthalb Jahren im Vaterhaus Goethes Gesundheit wieder hergestellt war, ging er bereitwillig auf Wunsch seines Vaters nach Straßburg, um dort sein Studium zu beenden.
Straßburg bedeutete für ihn ein Entfliehen aus dem engen Elternhaus und auch ein
Neubeginn. Im Gegensatz zu Leipzig war Goethe ernsthaft bereit, sein Rechtsstudium abzuschließen, dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, aus Interesse und Neugierde auch Vorlesungen der Medizin und der Staatswissenschaft zu besuchen. Auch lernte er in Straßburg Menschen kennen, die für seine weitere Entwicklung von wegweisender Bedeutung waren.
Wie in Leipzig fand Goethe auch hier bald nahe Freunde. Seinen Mittagstisch teilte er mit weiteren jungen Leuten, meist Medizinstudenten (daher auch sein wachsendes Interesse besonders an der Anatomie) aber auch einigen gesetzten Junggesellen, darunter der Straßburger Jurist Johann Daniel Salzmann , „der ihn später als treuer Mentor väterlich beriet.“2
2. Begegnungen
2.1. Herder
Anfang September 1770 traf Johann Gottfried Herder, Theologe und Reiseprediger des Erbprinzen von Holstein-Gottorp, in Straßburg ein. Herder begleitete diesen nach Italien und unterbrach in Straßburg die Reise, um sich von einem Augenleiden, dem Verschluss einer Tränendrüse, befreien zu lassen.
J. G. Herder galt damals schon als anerkannte Größe im Bereich der Literatur. In Straßburg arbeitete er an einer „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, der Preisfrage des Jahres 1969 der Berliner Akademie der Wissenschaften.
Goethe versuchte bald seine Bekanntschaft zu machen. Er lernte ihn nicht bei der „Tischgesellschaft“ kennen, sondern bei einem zufälligen Besuch im Gasthof „Zum Geist“. Diese Bekanntschaft prägte die Lyrik Goethes und die Gespräche mit Herder verhalfen ihm zu seinem eigenen Wesen und seinem eigenen Schaffen. „ Und so hatte ich von Glück zu sagen, dass durch eine unerwartete Bekanntschaft alles, was in mir von Selbstgefälligkeit, Bespiegelunglust, Eitelkeit, Stolz und Hochmut ruhen oder wirken mochten, einer sehr harten Prüfung ausgesetzt war, die in ihrer Art einzig, der Zeit keineswegs gemäß und nur desto eindringender und empfindlicher war. Denn das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte, war die Bekanntschaft und die daran knüpfende nähere Verbindung mit Herder.“3
Goethe durfte bei Herders Operation zuschauen und besuchte ihn danach regelmäßig am Krankenbett. Es folgten Monate voll geistiger Gespräche, in denen Herder dem fünf Jahre jüngeren Goethe eine ganz neue Welt erschloss: Eine Welt der Wirklichkeit, des Gefühls und der Volksseele. Er machte Goethe mit der deutschen Geschichte, mit
Shakespeare-Dichtung und der antirationalistischen Gedankenwelt des Philosophen Johann Georg Hamann vertraut, begeisterte ihn für Ossian und den ästhetischen Reiz der Volkspoesie, weckte in ihm das Interesse für Sprache und Gotik. Herder sah „besonders in der Dichtkunst, der großen „Welt- und Völkergabe, die schöpferische Kraft der Sprache wirksam: In den Werken Homers, Pindars und Shakespeare, die er einzig als wahre poetische Genies gelten ließ, ebenso wie in den Mythen und den einfachen Lieddichtungen der Völker. Hier fand er Originalität, natürlichen und unverfälschten Ausdruck, eine unmittelbare Sprache der Seele(und nicht nur des Verstandes), wie er sie in der Poesie seiner eigenen Zeit vermisste.“4 Herders Kunsttheorie forderte gerade das, was Goethe suchte: Natürlichkeit, Einfachheit, Gefühl, Ausdruckskraft, Symbol.
2.2. Friederike Brion
Nicht minder wichtiger als dieser intellektuelle Austausch war in Goethes Straßburger Zeit die Liebe zu Friederike Brion, der Tochter eines Landgeistlichen in Sesenheim. Sie war wohl seine größte Inspiration in dieser Zeit.
Im Oktober 1770 wurde Goethe durch seinen Freund Friedrich Leopold Weyland mit den Brions bekanntgemacht. Sie reisten zusammen nach Sesenheim zu Verwandten Weylands. Vom ersten Anblick an war Goethe von Friederike fasziniert und in sie verliebt.
„ In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Tür; und da ging fürwahr an diesem
ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Beide Töchter trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese fast verdrängte Nationaltracht kleidete Friederiken besonders gut. Ein kurzes, weißes, rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als das die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes Mieder und eine schwarze Taftschürze so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige
Pädagogische Hochschule Karlsruhe Goethe, Friederike und Sesenheim - „Willkommen und Abschied“ 5 Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorgen geben könnte; und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen.“5
„Ihr natürlicher Frohsinn, ihre unverbildete Schlichtheit machte sie zu einem Gestalt gewordenen Volkslied.“6
Goethes Besuche in Sesenheim wurden immer häufiger und das Verhältnis der beiden immer inniger. Zwischen seinen Besuchen entwickelte sich ein reger Briefwechsel, der nicht nur der Freundschaft diente, sondern auch dem Austausch von Literatur. Die achtzehnjährige Friederike erwiderte seine Zuneigung leidenschaftlich und unbefangen. Goethe hatte sich wohl noch nie so glücklich gefühlt.
Diese Liebe und der idyllische, naturnahe Lebensraum des Pfarrhauses erweckten einen poetischen Schaffensdrang in ihm.
„ Unter diesen Umgebungen trat unversehens die Lust, zu dichten, die ich lange nicht gefühlt hatte, wieder hervor. Ich legte für Friederiken manche Lieder bekannten Melodien unter. Sie hätten ein artiges Bändchen gegeben; wenige davon sind übrig geblieben, man wird sie leicht aus meinen übrigen herausfinden.“7 So entstanden die Sesenheimer Lieder, seine ersten Gedichte des neuen Stils. Er löste sich hier von den literarischen Konventionen und kreierte eine Lyrik, eine Sprache der echten Empfindungen. „Willkommen und Abschied“, „Mailied“ und „Heidenröslein sind die bekanntesten Gedichte aus dieser Zeit.
Doch das Glück der beiden währte nur ein dreiviertel Jahr. . Die Liebe und die ländliche Idylle konnten Goethe nicht auf Dauer fesseln. Er fühlte sich der zunehmenden Verantwortung gegenüber Friederike nicht gewachsen und noch mehr drängte es ihn, nach Neuem, nach Höherem zu streben. Er fühlte wohl, dass eine so frühe dauerhafte Bindung ihn in seinem Schaffen einschränken würde.
Am 6. August 1771 war Goethe zum Doktor der Rechte promoviert worden und der Hauptzweck seines Aufenthalts in Straßburg erreicht. Sein Vater bat ihn in durch dringende Briefe wieder nach Frankfurt zurückzukehren, und somit musste Goethe Abschied von Friederike nehmen. Er gestand ihr jedoch nicht, dass es ein Abschied für immer sei, dass er die Bindung völlig lösen wollte. Erst von Frankfurt aus schrieb er ihr dann einen Brief, welcher das Verhältnis vollständig löste. Goethe fühlte sich schuldig und als die Antwort auf den Abschiedsbrief kam, wurde ihm noch bewusster, welchen Schmerz er Friederike zugefügt hatte.
„Die Antwort Friederikens auf den schriftlichen Abschied zerriss mir das Herz (...) Hier war ich zum ersten Mal schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten gebrochen.“8
3. Der Einfluss des Straßburgaufenthalts auf Goethes Lyrik
Die Erfahrungen, Begegnungen, die Liebe und Gespräche, die Goethe während des knapp eineinhalb Jahre dauernden Aufenthalts in Straßburg und im Elsaß durchlebte prägten seine damalige Lyrik offenkundig. J.W. Goethe machte in Straßburg einen inneren Wandel durch, der die „Geniezeit“ der späteren Jahre bestimmte. Goethe begann mit seiner Lyrik im Stil der Anakreontik, „eine literarische Richtung (...) zur Zeit des Rokokos mit den Hauptmotiven Liebe, Freude an der Welt und am Leben.“9
Das Rationale und Artistische der vorausgegangenen Epoche des Barocks waren geblieben. Die von Goethe vorgefundene deutsche Aufklärungsliteratur mit ihrer nüchternen und rationalen Betrachtungsweise war für lyrische Dichtungen kein guter Nährboden .
„Lehrhafte Absicht, Wahrscheinlichkeit, vernunftgemäß: das sind Stichworte, in denen sich die Weltsicht (...) im Zeitalter der Aufklärung ausdrückt. Wir befinden uns im Zeitalter der Vernunft.“10
Es herrschte das Formprinzip des „Witzes“, spielerisch, gewollt, klar, überraschend, pointiert, analysierbar. Beispielsweise wurde eine erotische Situation nur kurz ausgemalt und endete mit einer witzigen Wendung. Es zielte alles auf eine Schlusspointe bzw. auf eine Lehre hin.
Goethe übernahm zunächst diesen Stil, um überhaupt dichten zu können. Und während er dichtete überwand er diesen Stil.
Mit seiner Schaffensperiode in Straßburg, inspiriert durch die Bekanntschaft mit Herder und durch die Liebe zu Friederike Brion entwickelte sich die leidenschaftliche Sprache des Sturm und Drang. Im Gegensatz zur Rokokolyrik wurde hier persönliche Erfahrung miteingebracht. Es ging um die unmittelbare Darstellung, nicht um die rhetorische Beschreibung von Emotionen, die sich sowohl im Inhalt wie auch in der metrischen und syntaktischen Struktur findet.
Das „wieder auferstandene“ Volkslied und damit die Anfänge der Sturm und Drang Epoche stand im Gegensatz zur Anakreontik. Anstatt des Aufbaus einer Pointe wurde hier auf eine gefühlsmäßige Reihung wertgelegt, statt Bewußtsein stand Literatur, die Galanterie und Begehrlichkeit im Gegensatz zu Liebe und Innigkeit, vorher die Beziehung auf eine begrenzte Gesellschaftsschicht, jetzt auf breite Kreise vor allem schlicht empfindender Menschen.
Die „Sesenheimer Lieder“ waren seine ersten großen Gedichte des neuen Stils, sie gaben der Epoche des Sturm und Drang von vornherein entscheidende Züge. In der Straßburger Lyrik vereinigt sich all das, was auf Goethe gewirkt hat: die Selbsterforschung, die Beschäftigung mit der Volkspoesie und das Liebeserlebnis. Seit dem frühen Barock war das Volkslied aus dem Gesichtskreis der deutschen Schriftsteller ausgeschieden. Die alte Verbindung wurde wiederhergestellt durch Herder als Theoretiker und Goethe als Dichter.
4. Willkommen und Abschied
4.1. Entstehung
Als Beispiel für das neue Dichtungskonzept kann das 1771 entstandene Gedicht „Willkommen und Abschied“ gelten, eines der Liebeslieder, die aus den Erlebnissen in Straßburg entsprangen. Der Anlass des Gedichts war wahrscheinlich die Begebenheit, als Goethe zu Beginn der Osterferien nach einigen anstrengenden Wochen kurz entschlossen ins „geliebte
Sesenheim“11 ritt. Es war vermutlich ein bewegter Ritt durch den Mondschein, dessen Erfahrungen er in diesem Gedicht verarbeitete.
„ Ich glaubte, eine Stimme vom Himmel zu hören und eilte, was ich konnte, ein Pferd zu bestellen und mich sauber herauszuputzen. Ich schickte nach Weyland, er war nicht zu finden. Dies hielt meinen Entschluss nicht auf, aber leider verzogen sich die Anstalten, und ich kam nicht so früh weg, als ich gehofft hatte. So stark ich auch ritt, überfiel mich doch die Nacht. Der Weg war nicht zu verfehlen, und der Mond beleuchtete mein leidenschaftliches Unternehmen. Die Nacht war windig und schauerlich, ich sprengte zu, um nicht bis morgen früh auf ihren Anblick warten zu müssen. Es war schon spät, als ich in Sesenheim mein Pferd einstellte.“12
4.2. Johann Wolfgang Goethe: Willkommen und Abschied
(spätere Fassung, 1771/1789)
Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war getan fast eh gedacht. Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht; Schon stand im Nebelkleid die Eiche, Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von einem Wolkenhügel Sah kläglich aus dem Duft hervor, Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr; Die Nacht schuf tausend Ungeheuer, Doch frisch und fröhlich war mein Mut: In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!
Dich sah ich, und die milde Freude Floss von dem süßen Blick auf mich; Ganz war mein Herz an deiner Seite Und jeder Atemzug für dich. Ein rosenfarbnes Frühlingswetter Umgab das liebliche Gesicht, Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter! Ich hofft‘ es, ich verdient‘ es nicht!
Doch ach, schon mit der Morgensonne Verengt der Abschied mir das Herz: In deinen Küssen welche Wonne! In deinem Auge welcher Schmerz! Ich ging, du standst und sahst zur Erden Und sahst mir nach mit nassem Blick: Und doch, welch Glück geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück!
4.3.Interpretation
Wie schon beschrieben besitzt dieses Gedicht einen großen autobiographischen Bezug. Bei dem lyrischen Ich handelt es sich wohl um einen jungen Mann, der keine Gefahren scheut, um seine Geliebte zu sehen; und sei es auch nur für wenige Stunden.
Das Gedicht besteht aus vier Strophen mit jeweils acht Versen, was durchaus noch der zwischen 1700 und 1770 gängigsten Form der Rokokolyrik entspricht. Auch das Metrum, der durchgehende vierfüßige Jambus, zeugt von diesem Stil.
Und doch kann man schon darin die Veränderung zur Sturm und Drang Lyrik erkennen. Mit dem Versmaß lässt sich der Schritt, oder besser der Galopp des Pferdes nachvollziehen und auch der Kreuzreim, bei dem sich weibliche (Pferde -u) und männliche ( gedacht u-) Reime in gleichmäßiger Folge abwechseln deuten auf das innere Erlebnis des Autors .
Die sinntragenden und bedeutenden Wörter stehen nicht immer zum Rhythmus passend, z. B. muss das erste Wort in der dritten Strophe einen starken Akzent bekommen, obwohl es nach dem Versmaß in einer Senkung steht. So kann das Gedicht nicht starr dem Metrum entsprechend, sondern vielmehr müssen die Betonungen ganz nach dem Empfindungsgehalt gelesen werden.
Daraus ergibt sich ein Auf- und Abschwellen, ein Hin und Her des Rhythmus die der seelischen Bewegung des lyrischen Ich entsprechen.
Noch deutlicher erkennt man den neuen Stil an der Sprache. Der Dichter hält sich nicht an bestimmte Konventionen oder an irgendwelche vorgegebenen Liebesfloskeln. Das Herz spricht, nur die Gefühle, die in ihm stehen kommen hier zum Ausdruck, gleich nach dem Sprichwort: Wo das Herz überquellt, soll der Mund sprechen. Jedoch fühlt man sich als Leser bei dem Gedicht keineswegs als Außenseiter; der Autor lässt uns an seiner Geschichte teilnehmen, wir fühlen die Angst, wenn er durch den Wald reitet und wir verspüren dieses wunderbare Glücksgefühl, wenn er seine Geliebte trifft.
Auch Wilhelm Scherer (1920, Geschichte der deutschen Literatur) lobt „die Umsetzung des Gefühls in Handlungen und die ‚Kraft der Belebung natürlicher Dinge‘ und resümiert emphatisch:
‚ Alles genau nach Herders Theorie des Liedes, die er auf die älteste Natur der Sprache gründete: Verbum! Leben! Handlung! Leidenschaft! Mythologie nicht tot übernommen, sondern neu geschaffen, als ob sie eben erst entstehen sollte.‘“13
Das Gedicht beginnt wie mit einem „Glockenschlag“14: ‚Es schlug mein Herz.‘ Das lyrische Ich bereitet sich auf den Aufbruch zu seiner Geliebten vor. „Vorbereiten“ ist jedoch übertrieben, er denkt nicht, oder zumindest sehr wenig. Der einzige Gedanke der gilt, ist, so schnell wie möglich zur Geliebten zu gelangen. Die Anapher im ersten und zweiten Vers deutet auf den eiligen Aufbruch hin, es gibt nichts wichtigeres als den Ruf des Herzens. Auch die hereinbrechende Nacht ( ‚Der Abend wiegte schon die Erde Und an den Bergen hing die Nacht‘) mit ihren möglichen Gefahren, die personifiziert schauerlicher und vielleicht auch bekämpfungswürdig wirken, hält den Jüngling nicht von seinem Vorhaben ab.
Man erkennt die Angst des Reitenden, wenn man weiterliest. Im Nebel wird die Eiche zum Riesen und auch die Finsternis ist dem wagemutigen Liebhaber nicht geheuer. Die Personifikation (‚Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah‘)
lässt die hereinbrechende Dunkelheit noch unheimlicher erscheinen und durch das Enjambement erreicht der Dichter das Gefühl, man könne dieser unheimlichen Dunkelheit nicht entfliehen, sie herrsche überall.
In der zweiten Strophe wird der nächtliche Ritt fortgesetzt. Auch hier wird die Natur durch Personifikationen dargestellt: der Mond sieht kläglich von einem Wolkenhügel hervor, Die Winde schwingen leise und umsausen schauerlich das Ohr, die Nacht schafft Ungeheuer. Dieses rhetorische Mittel verschafft eine düstere und auch bedrohende Stimmung. Vielleicht fühlt sich der Reiter tatsächlich bedroht von der Natur, weil er weiß, dass er nichts gegen die Dunkelheit und die damit verbundenen Geräusche und erscheinenden Gestalten unternehmen kann.
Möglicherweise ist die Natur aber auch „ein Teil seines Erlebens, so sehr, dass sie sich in eine Fülle lebendigster Erscheinungen verwandelt, auf die sich die drängende seelische Bewegung des Reiters überträgt“15
Gerhard Sauder (1983) deutet die Bilder des Gedichts „als tiefenpsychologische
Symbole: Die Eiche als Figur des Vaters, das Wiegen der Erde als Zeichen der Mutter, aus deren Banden das lyrische Ich sich befreien müsse“16, was mir eher als fraglich erscheint. Die bedrohenden Naturbilder könnten auch ganz real gesehen werden: der Liebende nimmt jede Gefahr auf sich, um die Geliebte sehen zu können. Verbindet man die Metaphern mit dem biographischen Aspekt, könnte man sie auch als die schon herrschenden Bedenken Goethes bezüglich der Verbindung mit Friederike deuten. Nur schiebt er diese Zweifel zu diesem Zeitpunkt noch aus dem Weg, er widmet ihnen zwar kurze Aufmerksamkeit, ignoriert sie aber dann doch im Hinblick auf das bevorstehende Zusammensein.
Eine Stimmungswende tritt jetzt ein. Mit der Hyperbel „Die Nacht schuf tausend Ungeheuer“ wird die bedrohliche Gegenwart der Natur noch einmal übertrieben zusammengefasst, worauf der folgende Vers „Doch frisch und fröhlich war mein Mut“ fast wie ein heroischer Schlachtruf wirkt. Die Anapher mit dem darin verbundenen Parallelismus
‚In meinen Adern welches Feuer! In meinem Herzen welche Glut!‘ zeugt von der wahren, innigen Liebe des Jünglings. Diese Liebe trotzt jeder Bedrohung, jede Gefahr ist im Hinblick auf das Treffen mit der Geliebten unwichtig und überwindbar.
„Mensch und Natur können zwar voll unheimlicher Kräfte, sie können gefährlich und gefährdet sein, aber der Gedanke an die Geliebte gibt Mut und Lebensfreude. Der Dichter fühlt sich allen Gefahren gewachsen.“17
Die dritte Strophe leitet die Ankunft des Geliebten mit der Inversion ‚Dich sah ich‘ ein. Die Situation wechselt im Zusammenhang mit der zweiten Strophe ziemlich abrupt, als würde der nächtliche Reiter aus einem dunklen Wald herausfinden und das Erste, das er dann erblickt, ist seine Geliebte. Ihm stockt der Atem, der wilde Gefühlssturm verebbt und ihn überfällt ‚die milde Freude‘, der heroische, heißblütige Jüngling passt sich den zarten Gefühlen des Mädchens an. Die durch das Enjambement verdeutlichte
überströmende, klar und sanft erscheinende Freude des Mädchens berührt auch ihn
(‚ und die milde Freude
Floss von dem süßen Blick auf mich;).
Auch der dritte Vers beginnt mit einer Inversion und ist mit der Hyperbel im vierten Vers durch ein Enjambement verbunden(‚Ganz war mein Herz an deiner Seite Und jeder Atemzug für dich.‘).
Das lyrische Ich gibt sich seiner Geliebten ganz hin. Er legt sein Leben in ihre Hände, jeder Atemzug ist nur für sie. Dies deutet auf eine so innige Liebe voll gegenseitigen Vertrauens hin, dass sich ein Vergleich mit Shakespeares ‚Romeo und Julia‘ fast nicht
Pädagogische Hochschule Karlsruhe
Goethe, Friederike und Sesenheim - „Willkommen und Abschied“ 13
umgehen lässt. Beide leben füreinander und sind nicht bereit, ohne den anderen zu leben (‚Und jeder Atemzug für dich‘).
Das weitere Zusammensein der beiden Verliebten wird nur angedeutet, im Gegensatz zu den ersten beiden Strophen herrscht eine freudige, sanfte frühlingshafte Stimmung. „Der ausschließlich visuelle Vollzug der Begegnung wird durch ‚rosenfarbne Frühlingswetter‘, wohl ein sanftes Erröten(?), noch verstärkt.“18 Ob man die Begegnung als einen „ausschließlich visuellen Vollzug“ sehen möchte ist wohl jedem selbst überlassen. Denn die beiden letzte Verse der dritten Strophe lassen die weitere Liebesbegegnung erahnen (‚ Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter! Ich hofft es, ich verdient es nicht!‘).
Der Empfang und der in der vierten Strophe dargestellte Abschied „vollziehen sich
(jedoch) in rein visueller Kommunikation durch die Sprache der Augen, der Herzen, der Brust, des Gesichts, des Mundes und durch die schlichten Gesten des Gehens, Stehens, Sehens und des Weinens.“19
In der vierten Strophe folgt wiederum ein abrupter Situationswechsel. Wurde in der dritten Strophe erst das Zusammentreffen beschrieben, steht jetzt schon wieder der Abschied bevor. Dies deutet darauf hin, dass die Nacht, wie so oft bei Liebenden, zu kurz war, die Zeit verging zu schnell. Ebenso wirkt das Enjambement, das Verse eins und zwei verbindet, als würde auch der Morgen, an dem man sich wieder trennen muss, nur so dahin rasen.
(‚Doch ach, schon mit der Morgensonne Verengt der Abschied mir das Herz‘) Die Anapher in den Versen drei und vier (‚In deinen Augen welche Wonne! In deinem Auge welcher Schmerz‘) verdeutlicht die zwei Seiten der Liebe. Freude, Glück aber auch Schmerz sind darin vereint.
Diese Doppelseitigkeit der Liebe erkennt man aber nicht nur in diesen zwei Versen des Gedichtes, sondern die Tatsache zieht sich durch das ganze Gedicht hindurch. War es in der ersten Strophe noch der Abend, der die Erde wiegt, so ist es in der vierten Strophe die Morgensonne; der in der zweiten Strophe so überzeugende Mut weicht nun einem verengten Herz.
Jedoch könnte die Alliteration ‚In deinen Küssen welche Wonne ‘ darauf hinweisen, dass die Freuden und der positive Teil der Liebe doch immer überwiegen. Er verlässt sie, so erscheinen dem Leser die nächsten beiden Verse. ‚Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick.‘
Es scheint, als würde hauptsächlich die Geliebte den Abschiedsschmerz verspüren, bei dem anfangs noch so euphorischen Jüngling verengt sich nur das Herz. Jedoch muss man wissen, dass diese Verse in der ersten Fassung folgendermaßen lauteten:
‚Du gingst, ich stund und sah zur Erden, Und sah dir nach mit nassem Blick.‘
Hier könnte man sich wieder auf den biographischen Hintergrund beziehen. Das tatsächliche Ereignis könnte sich so abgespielt haben, dass Friederike Goethe noch ein Stück begleitet hatte und dann eben wieder zurück kehren musste. Die zweite Fassung deutet eher auf die psychologische Vefassung hin. Friederike erfuhr erst später, dass Goethe sie endgültig verlassen hatte, als er wieder nach Frankfurt zurück fuhr. So ist die Geliebte diejenige, die dem Reiter mit Tränen nachsieht.
Doch auch hier wieder eine Wende, der Dichter hat die positive und die negative Seite der Liebe aufgezeigt und ist jetzt aber überzeugt, dass es trotz Schmerz das schönste Gefühl ist, das es auf Erden geben kann: ‚Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!‘
Das Interessante hierbei ist, dass sich der Dichter beim Gefühl Liebe nicht nur auf das ‚Geliebtwerden‘ beschränkt, sondern, dass er das ‚Liebegeben‘ mit dem verbundenen Anruf an die Götter an die erste Stelle setzt.
„Das Wissen um die Vergänglichkeit aber vergiftet Goethes Lebensfreude nicht (...). Der Stürmer und Dränger hasst die Bedachtsamkeit, die Beschränkung, das schale Mittelmaß. Nur wer alle Empfindungen auskostet, die schrecklichsten und die zartesten, kann den Anspruch erheben, ein wahrer Mensch zu sein:
Alles geben die Götter, die unendlichen,
ihren Lieblingen ganz:
alle Freuden, die uendlichen,
alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. (1780)“20
Pädagogische Hochschule Karlsruhe
Goethe, Friederike und Sesenheim - „Willkommen und Abschied“ 15
5. Literaturangaben
- Duden: Fremdwörterbuch. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverlag, 1997
- Goethe, Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 2. Teil. Tübingen 1812
- Höfer, Anja: Johann Wolfgang von Goethe. München: dtv, 1999
- Matzen Raymond: Goethe, Friederike und Sesenheim. Kehl: Morstadt Verlag, 1989 · Matzen, Raymond: Goethe, Friederike und Salome-Olivie. Lahr/Schwarzwald: Verlag Moritz Schauenburg, 1993
- Rothmann, Kurt: Literaturwissen Johann Wolfgang Goethe. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1994
- Sowinski, Bernhard und Schuster, Dagmar: Gedichte der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang. München: Oldenbourg Verlag, 1992
- Staiger, Emil: Goethe. Zürich: Atlantis Verlag, 1964
- van Rinsum, Dr. A. und W.: Dichtung und Deutung. München: Bayrischer Schulbuch-Verlag, 1968
[...]
1 Höfer, Anja: Johann Wolfgang von Goethe. München: dtv, 1999
2 Matzen, Raymond: Goethe, Friederike und Sesenheim. Kehl: Morstadt Verlag1989
3 Goethe, Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 2. Teil. Tübingen 1812
4 Matzen, Raymond: a.a.O., S. 1
5 Goethe, Wolfgang: a.a.O., S. 2
6 van Rinsum Dr. A. und W.: Dichtung und Deutung. München: Bayrischer Schulbuchverlag, 1968
7 Goethe, Wolfgang: a.a.O., S. 3
8 Goethe, Wolfgang: a.a.O., S. 3
9 Duden: Fremdwörterbuch. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverlag
10 van Rinsum: a.a.O., S. 4
11 Goethe, Wolfgang: a.a.O., S. 2
12 Goethe, Wolfgang: a.a.O., S. 2
13 Sowinski, Bernhard und Schuater, Dagmar: Gedichte der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang. München: Oldenbourg Verlag, 1992
14 Sowinski Bernhard und Schuster, Dagmar: siehe Fußnote 13
15 van Rinsum Dr. A. und W. : a.a.O., S. 4
16 Sowinski, Bernhard und Schuster, Dagmar: a.a.O., S. 9
17 van Rinsum Dr. A. und W.: a.a.O., S. 4
18 Sowinski, Bernhard und Schuster, Dagmar: a.a.O., S. 9
19 Rothmann, Kurt: Literaturwissen Johann Wolfgang Goethe. Stuttgart: Philipp Reclam jun. ,1994
20 van Rinsum, Dr. a. und W.: a.a.O., S. 4
- Quote paper
- Ariane Gerst (Author), 2000, Goethe, Johann Wolfgang von - Friederike und Sesenheim - Willkommen und Abschied, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96566
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