Alfred Wolfenstein: Städter
Alfred Wolfenstein stellt in seinem Sonett das typisch expressionistische Thema des modernen Großstadtlebens dar, das von Anonymität und Kontaktarmut gekennzeichnet ist. Die Aussage seines Gedichtes könnte man folgendermaßen zusammenfassen: Obwohl - oder gerade weil in der Großstadt die Menschen einander unerträglich nahe sind, ist doch jeder isoliert und einsam.
Das Sonett ist keine dem unmittelbaren Gefühlsausdruck der Expressionisten entsprechende Gedichtform, obwohl sie nicht unüblich war, wenn man etwa an Georg Heym denkt. Der hässliche Inhalt in der schönen Form bildet einen Kon- trast, der möglicherweise gerade den Protest des Dichters gegen die Tradition ausdrückt.
Der inhaltliche Aufbau entspricht der klassischen Sonettform: Der Aufgesang enthält eine metaphernreiche Darstellung der menschenfeindlichen Stadtarchitektur (1. Quartett) und am Beispiel der Fahrgäste einer Straßenbahn eine Darstellung der Menschen in ihrem zugleich von Distanz und Begierde geprägten Verhältnis (2. Quartett).
Der Abgesang führt zu den persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs, seinem Mangel an Privatsphäre (1. Terzett) und zum Fazit des Gedichts: der Einsamkeit aller Menschen (2. Terzett).
Das Sonett führt also von der Außenwelt zur Innenwelt, vom Unpersönlichen zum Persönlichen, vom Großen zum Kleinen, vom Gedanken zum Gefühl. Der Wendepunkt liegt, wie für Sonette üblich, vor dem Abgesang. Das Gedicht enthält eine Fülle sprachlicher Mittel, die die Aussage des Gedichts zum Ausdruck bringen: Die Inversionen der Quartette ("Nah wie Löcher", "drängend fassen", etc) betonen die bedrückende Enge der Fenster, Häuser, Straßen und der Menschen in den Massenverkehrsmitteln; die häufigen Enjam- bements in Verbindung mit dem hypotaktischen Stil erzeugen Hektik und ent- sprechen dem "Ineinander-verhakt-sein" der Menschen und Gebäude. Alliterati- onen und Assonanzen vermitteln die Stimmung des Gedichts, wie etwa die wür- genden G-Laute in der 4. Zeile oder das traurige U in der vorletzten Zeile "unbe- rührt und ungeschaut", das zu der Einsamkeit des lyrischen Ichs passt. Das wichtigste Stilmittel des Autors ist jedoch das Bild. Am Anfang werden die nah bei einander stehenden Fenster der Mietskasernen mit Löchern eines Siebs verglichen. Im Gesamtzusammenhang des Gedichts stehen diese Löcher für das "Hindurchfallen" menschlicher Gefühle: menschliche Gefühle dringen mühelos nach innen und außen, gleichzeitig fallen sie durch ein Loch "hindurch", das heißt sie werden nicht aufgenommen und ernst genommen. Dies wird vor allem in der dritten Strophe ausgeführt: das Weinen und Flüstern des lyrischen Ichs "dringt hinüber" das heißt zu den anderen Wohnungen, erscheint dort aber als Störung, als "Gegröhle". Die Wände sind durchlässig, aber sie verbinden die Menschen nicht miteinander, sondern verraten ihre intimsten Gedanken und halten sie vor einander auf Distanz.
In der ersten Strophe folgt auf den ersten Vergleich ein zweiter: Die Häuser fas- sen sich so dicht an, dass die Straßen "wie Gewürgte (aus-)sehn". Dabei ist wohl an die Menschen auf diesen Straßen zu denken, die von den erdrückenden Ge- bäuden "gewürgt" werden. Typisch ist hier schon in der ersten Strophe die Ver- menschlichung von Dingen: Fenster "stehn", Häuser "fassen sich an", Straßen sind "wie Gewürgte". Im Kontrast dazu werden in der zweiten Strophe Men- schen verdinglicht: sie sitzen "zusammengehakt" in der Tram wie "Fassaden", ihre Blicke "laden eng aus", ihre Begierde "ragt ineinander". Wolfenstein will damit deutlich machen, dass die materiellen Verhältnisse gleichbedeutend sind mit menschlichen Verhältnissen: in einer unmenschlichen Stadt kann es keine Menschlichkeit geben, unter Unmenschen kann es keine menschliche Wohnwelt geben. Sage mir, wo und wie du lebst, und ich sage dir, wer du bist.
Die zweite Strophe macht deutlich, dass das Verhältnis der Menschen zueinan- der gestört ist: jeder verkriecht sich in einer Gruppe hinter einer "Fassade", be- müht sich seine Blicke zu kontrollieren, bei sich zu behalten, damit er nicht die Aufmerksamkeit oder den Unwillen anderer erregt (Sein Blicke "laden eng aus"); gleichzeitig sind die Menschen voller versteckter "Begierde". Sie sind al- so nicht wirklich am anderen interessiert, sondern benötigen ihn zur Befriedi- gung ihrer Triebe, die wie selbständige Dinge erscheinen, wenn die Bgierde "in- einander ragt". Dies ist ein Bild, das zugleich das Unpersönliche der Beziehun- gen zum Ausdruck bringt.
Im Abgesang tritt zum ersten Mal das lyrische Ich in Erscheinung: es weint und stört sich an der "Teilnahme" anderer, die keine echte "Anteilnahme" ist: Es spricht in seiner Isolation aber alle Menschen, auch den Leser an ("unsere Wände"), verallgemeinert also seine Situation.
Das zweite Terzett ist wie ein Fazit, zugleich der Schlusspunkt des Gedichts: jeder ist in seiner "Höhle" allein Dieses Fazit wird durch einen Doppelpunkt angekündigt, das letzte Wort, "alleine", wird ebenfalls durch einen Doppelpunkt hervorgehoben.
Das Sonett Wolfensteins ist mit den analysierten Merkmalen ein typisches Bei- spiel für den literarischen Expressionismus: einmal thematisch, durch die Dar- stellung der abstoßenden Seiten des modernen Großstadtlebens, daneben aber durch seinen düsteren Pessimismus, seine Hoffnungslosigkeit und kritische Hal- tung gegenüber der Zivilisation mit ihren Massenunterkünften, Massenver- kehrsmitteln und ihrer Industrialisierung. Darüber hinaus ist die Verdinglichung des Menschen und die Vermenschlichung von Dingen charakteristisch für die Epoche des Expressionismus.
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