Georg Cantors „Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre“ bilden den fünften Teil einer Serie von sechs Artikeln, die unter dem gemeinsamen Titel „Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten“ zwischen 1879 und 1884 in den Mathematischen Annalen abgedruckt wurden.
Innerhalb dieser Serie gebührt den „Grundlagen“ eine besondere Stellung: Sie sind als geschlossene Darstellung derjenigen Ergebnisse konzipiert, die den Kern der zwischen 1871 und 1884 geschaffenen Cantorschen Mengenlehre bilden. 1883, also noch vor ihrer Publikation in den Annalen, wurden sie – um den Untertitel „Ein mathematisch-philosophischer Versuch in die Lehre des Unendlichen“ und ein Vorwort erweitert – als Separatdruck bei Teubner herausgegeben.
Dazu Cantor (im in der Gesamtausgabe seiner Werke nicht abgedruckten Vorwort): „Since the present essay carries the subject much further, and since its main thesis is independent of the earlier articles, I decided to publish it separately under a title that corresponds more closely to its contents.“ Ausdrücklich wendet er sich dabei an ein doppeltes Publikum, den mit den aktuellen mathematischen Entwicklungen vertrauten Philosophen, sowie den philosophisch vorgebildeten Mathematiker.
Der erste Abschnitt liefert einige Angaben über die bewegte Biographie von Georg Cantor. Im Anschluss daran betrachte ich den Gang der Arbeiten, die den jungen Privatdozenten zu den ersten Arbeiten über die Mengenlehre führt. Abschnitt 4 konzentriert sich auf die „Grundlagen“. Sie dienen mir als Ausgangspunkt zur Untersuchung wichtiger Punkte in Cantors Werk: Mengenlehre, die Grundlegung der reellen Zahlen, transfinite Grössen sowie philosophische Betrachtungen der Mathematik.
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
2 Biographische Angaben
3 Der Weg zur Mengenlehre
4 Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre
4.1 Der Mengen-Begriff
4.2 Die Einführung irrationaler Zahlen
4.3 Mächtigkeit der reellen Zahlen
4.4 Der Streit mit Kronecker
4.5 Das Kontinuum
4.6 Transfinite Ordinalzahlen
4.7 Das Eigentlich-Unendliche: Das Wesen der Mathematik liegt in ihrer Freiheit
5 Schlussbetrachtungen
1 Einführung
Georg Cantors „Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre“[1] bilden den fünften Teil einer Serie von sechs Artikeln[2], die unter dem gemeinsamen Titel „Über unendliche lineare Punkt- mannigfaltigkeiten“ zwischen 1879 und 1884 in den Mathematischen Annalen abgedruckt wurden.[3] Innerhalb dieser Serie gebührt den „Grundlagen“ eine besondere Stellung: Sie sind als geschlosse- ne Darstellung derjenigen Ergebnisse konzipiert, die den Kern der zwischen 1871 und 1884 ge- schaffenen Cantorschen Mengenlehre bilden. 1883, also noch vor ihrer Publikation in den Anna- len, wurden sie - um den Untertitel „Ein mathematisch-philosophischer Versuch in die Lehre des Unendlichen“ und ein Vorwort erweitert - als Separatdruck bei Teubner herausgegeben. Dazu Cantor (im in der Gesamtausgabe seiner Werke nicht abgedruckten Vorwort): „Since the present essay carries the subject much further, and since its main thesis is independent of the earlier articles, I decided to publish it separately under a title that corresponds more closely to its con- tents.“[4] Ausdrücklich wendet er sich dabei an ein doppeltes Publikum, den mit den aktuellen ma- thematischen Entwicklungen vertrauten Philosophen, sowie den philosophisch vorgebildeten Ma- thematiker.
Der folgende Abschnitt liefert einige Angaben über die bewegte Biographie von Georg Cantor. Im Anschluss daran betrachte ich den Gang der Arbeiten, die den jungen Privatdozenten zu den ersten Arbeiten über die Mengenlehre führt. Abschnitt 4 konzentriert sich auf die „Grundlagen“. Sie die- nen mir als Ausgangspunkt zur Untersuchung wichtiger Punkte in Cantors Werk: Mengenlehre, die Grundlegung der reellen Zahlen, transfinite Grössen sowie philosophische Betrachtungen der Ma- thematik.
2 Biographische Angaben
Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor wurde am 19. Februar alten Stils (3. März n. St.) 1845 in St. Petersburg geboren.[5] Sein Vater Georg Woldemar Cantor arbeitete dort als erfolgreicher Makler.[6] Nach dem Rückzug von den Geschäften aufgrund eines Lungenleidens, übersiedelte die Familie im Jahre 1856 nach Frankfurt am Main.
Georg besuchte kurzzeitig Privatschulen in Frankfurt und das Gymnasium in Wiesbaden. Im Hinblick auf ein Ingenieurstudium trat er Ostern 1859 in die Realschule in Darmstadt ein. Im folgenden Jahr wechselte er an die damit verbundene „Höhere Gewerbeschule des Grossherzogtums Hessen“. Nachdem Cantor die Einwilligung seines Vaters zum Mathematikstudium erhalten hatte, legte er im Sommer 1862, zusätzlich zum Abschluss der allgemeinen Klassen, die dafür notwendige Reifeprüfung mit sehr gutem Ergebnis ab.
Im Herbst 1862 immatrikulierte er sich an der Universität Zürich. Die zu jener Zeit die Mathematik vertretenden Professoren Carl Heinrich Graeffe[7] und Johann Wolfgang Deschwanden traten nicht durch besondere Ergebnisse in der aktuellen Forschung hervor, galten jedoch als gute Lehrer. Aufgrund des Todes seines Vaters unterbrach Cantor im Frühsommer 63 sein Studium für ein Semester. Nach der Übersiedelung mit seiner Mutter nach Berlin trat er im Wintersemester 63/64 in die dortige „Friedrich-Wilhelms-Universität“ ein. Diese war mit Professoren wie Karl Weierstrass, Ernst Eduard Kummer und Leopold Kronecker eines der grossen Zentren der Mathematik. „Zu Weierstraß kamen die Zuhörer aus aller Herren Länder, weil er gerade das brachte, was noch in keinem Lehrbuch und in keiner Fachzeitschrift stand.“[8]
Cantor hörte Mathematikvorlesungen bei Friedrich Arndt, Kronecker, Kummer und Weierstrass, Physik bei Heinrich Wilhelm Dove und Heinrich Gustav Magnus sowie Philosophie bei Adolf Trendelenburg. 1866 weilte er für ein Semester in Göttingen.
1867 promovierte er unter dem Titel „De aequationibus secundi gradus indeterminatis“ über ein Problem aus der Zahlentheorie. Nach dem Abschluss in Mathematik legte Cantor zusätzlich die Staatsprüfung für das höhere Lehramt ab und unterrichtete mit gemischtem Erfolg für kurze Zeit am Königlichen Friedrich-Wilhelms Gymnasium.[9]
In Halle an der Saale bot sich dem jungen Cantor, vermutlich durch den Einsatz des nach Zürich berufenen Studienfreundes Hermann Amandus Schwarz, im Frühjahr 1869 die Möglichkeit zur Habilitation und einer Position als Privatdozent. Die Thema der Habilitationsschrift entstammte wiederum der Zahlentheorie und behandelte invariante Transformationen einer speziellen quadratischen Form. Die Universität Halle, im 18. Jahrhundert noch Zentrum der deutschen Aufklärung, hatte zu jener Zeit ihre Blüte überschritten und galt bloss noch als preussische Provinzuniversität von lokaler Bedeutung. Durch den Ordinarius für Mathematik, Eduard Heine, erhielt Cantor jedoch entscheidende Impulse für den weiteren Gang seiner Forschungen.
Cantor sollte für den Rest seines Lebens in Halle bleiben, auch wenn er sich dort zeitweilig schlecht behandelt fühlte und seine relative Isolation gegenüber den grossen Forschungszentren Berlin und Göttingen gern durchbrochen hätte. So schrieb er am 8. März 1874 an Richard Dede- kind: „Nachdem ich heute meine Vorlesungen geschlossen, denke ich nächster Tage nach Berlin zu gehen; in den Ferien habe ich es bis jetzt nie lange hierselbst ausgehalten, denn das einzige, was mich an Halle seit 5 Jahren gewissermassen bindet, ist der einmal gewählte Universitätsberuf.“[10] Erst nach einer Rücktrittsdrohung wurde ihm für sein Extraordinariat auch ein Gehalt gewährt. 1875 bewarb sich Cantor um ein in Berlin frei gewordenes Extraordinariat. Von der Fakultäts- kommission gemeinsam mit Heinrich Bruns an erste Stelle gesetzt, überging ihn das zuständige Ministerium aus nicht näher bekannten Gründen.[11] 1879 wurde Cantor Ordinarius in Halle, wo er, mit krankheitsbedingten Unterbrechungen, bis zu seinem Rücktritt 1913 unterrichtete. Im Sommer 1874 heiratete Cantor Vally Guttmann. Auf ihrer Hochzeitsreise trafen die beiden in Interlaken mit Dedekind zusammen, den Cantor zwei Jahre zuvor bei einer früheren Reise in die Schweiz kennengelernt hatte und mit dem er seither in Briefwechsel stand.
Die dreizehn Jahre zwischen 1871 und 1884 charakterisierte Adolf Fraenkel als Cantors „Zeit der schöpferischen Höchstleistung“. In diese Periode fallen die entscheidenden Entdeckungen und Veröffentlichungen zur Mengenlehre. Abrupt beendet wurde sie durch die erstmalige psychische Erkrankung Cantors im Frühsommer 1884. Gestützt auf spätere Krankheitsberichte, gehen Purkert und Ilgauds von einer manischen Depression aus, ein Leiden, das nicht primär durch äussere Um- stände verursacht wird.[12] Plötzliche Krankheitsschübe, berichtet wird von „gesteigerter Erregbar- keit“ und „Schrecknissen aller Art“[13], gefolgt von längeren depressiven Phasen, traten auch später wiederholt auf und erfordeten die zeitweilige Behandlung in Sanatorien oder der Universitätsklinik. Cantors psychische Lage wie auch die Enttäuschung über die Zurückweisung einer Arbeit über Ordnungstypen durch seinen Freund Gösta Mittag-Leffler führten ihn zur verstärkten Beschäfti- gung mit nichtmathematischen Themen. Eines davon lief unter dem Namen ‚Bacon-Shakespeare- Theorie‘ und besagte, dass sich hinter Shakespeare als wahrer Autor Francis Bacon verberge. Statt Cantor für sein heftiges Eintreten für diese Meinung zu pathologisieren, ist es mir eher Zeichen für seine breiten Interessen über die Mathematik hinaus, in Musik, Literatur, Philosophie und Theolo- gie. Schoenflies schreibt: „Ihm selbst lag alles [Allgemeine Mengenlehre, transfinite Zahlen, Philo- sophie] in gleicher Weise am Herzen, wie er überhaupt allen seinen Ideen, mit Einschluss der nichtmathematischen, mit gleicher Liebe ergeben war.“[14]
Cantor blieb, wenn auch in vermindertem Masse, mathematisch weiterhin produktiv. Den Ab- schluss seiner fachlichen Publikationen bilden die 1895 und 97 in den Annalen erschienenen „Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre“. In diesen ist zu beobachten, wie Cantors Interesse, wohl auch unter dem Einfluss Dedekinds, von der Mengenlehre vermehrt auf die Grundlegung des Zahlbegriffs überging.[15]
Um den übermächtigen Einfluss einzelner Gelehrter - wie er ihn selbst bei Kronecker erlebte - zu beschränken, betrieb Cantor den Zusammenschluss der deutschen Mathematiker, die 1890 in der Gründung der „Deutschen Mathematiker-Vereinigung“ (DMV) gipfelte. Cantor selbst wurde anlässlich der ersten Versammlung zum Vorsitzenden der Vereinigung gewählt. In den 90er Jahren konnte Cantor auch erleben, wie die Mengenlehre von einer jüngeren Generation - Hilbert, Hurwitz, Minkowski in Deutschland, Poincaré, Borel, Baire und Lebesgue in Frankreich - in ihrer Bedeutung langsam erkannt und aufgenommen wurde.
Den endgültigen Durchbruch seiner Gedanken illustriert eine Grussnote der DMV zum 70. Geburtstag am 3. März 1915, gerichtet an den „Schöpfer der Mengenlehre, der dem Begriff des Unendlichen einen klaren Sinn gegeben und mit neuartigen, tiefen und weitausgreifenden Gedanken alle Gebiete der Mathematik befruchtet hat“[16]. Kurz darauf erkrankte Cantor erneut und musste die Universitätsnervenklinik von Halle aufsuchen, wo er am 6. Januar 1918 verstarb.
[...]
[1] In den Originalen findet sich die Schreibweise ‚Mannigfalti ch faltigkeit‘. Ich halte mich an die angepasste Orthographie der Cantor-Gesamtausgabe: Cantor, Georg: Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts. Herausgegeben von Ernst Zermelo. Reprint, ergänzt um eine Bibliographie weiterer Arbeiten des Autors, Berlin 1980.
[2] Einen siebten und letzten Teil, welcher im wesentlichen feststünde, kündigte Cantor in einem Brief vom 26. 11. 1883 an Felix Klein an. (Purkert Walter; Ilgauds, Hans Joachim: Georg Cantor: 1845-1918. Basel, 1987. Hier S. 191). Vermutlich verhinderte der Krankheitsausbruch im Jahre 1884 die Fertigstellung.
[3] Cantor 1980, S. 165-209.
[4] Zitiert nach Cantor, Georg: Foundations of a general theory of manifolds: A mathematico- philosophical investigation into the theory of the infinite. In: Ewald, William (Hg.) From Kant to Hilbert: A source book into the foundation of mathematics. Oxford 1996, S. 878-920. Hier S. 881.
[5] Fraenkel, Adolf: Das Leben Georg Cantors. In: Cantor, Georg: Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts. Reprint, ergänzt um eine Bibliographie weiterer Arbeiten des Autors, Berlin 1980, S. 452-483. Hier S. 452.
[6] Sofern keine andere Referenz angegeben ist, folge ich in diesem Abschnitt der Biographie von Purkert, Ilgauds.
[7] Kommunikation von J. J. Burckhardt vom 9.7. 1998: „C. H. Graeffe ist jetzt noch bekannt dank seines Verfahrens zur Auflösung algebraischer Gleichungen: ‚Graeffesches Verfahren‘ in jeder Abhandlung zur Algebraischen Lösung, angewandte Mathematik, auch von mir in Übungen vorge- führt.“
[8] Purkert, Ilgauds, S. 22.
[9] ebda., S. 26-27.
[10] Zitiert nach Purkert, Ilgauds, S. 53.
[11] Purkert, Ilgauds, S. 53-55.
[12] ebda, S. 79.
[13] Zitiert nach Purkert, Ilgauds, S. 80.
[14] Schoenflies, Arthur: Die Krisis in Cantor’s mathematischem Schaffen. Acta mathematica, 50 (1927), S. 1-23. Hier S. 3.
[15] Fraenkel, S. 468f.
[16] Zitiert nach Purkert, Ilgauds, S. 166.
- Arbeit zitieren
- Daniel Burckhardt (Autor:in), 1998, Georg Cantor - Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96325
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