Fassbinders Bilder


Term Paper (Advanced seminar), 1998

22 Pages


Excerpt


Inhalt

Einleitung

Assoziative Bilder

Gitter

Spiegel

Rahmen

Schlussüberlegung

Szenenprotokoll

Filmverzeichnis

Literaturverzeichnis

Assoziative Bilder

Die gestalterischen Konzepte der Fassbinder-Filme lassen im einzelnen enge Verknüpfungen mit anderen ästhetischen Erscheinungen erkennen. Sozialdramen wie Katzelmacher und Warum läuft Herr R. Amok verpflichten sich einem antiästhetischen Purismus, der für eine politisierte Kunstauffassung kennzeichnend ist und in der deutschen Theatergeschichte einen Bogen von der Piscator-Bühne zur 68er Bewegung spannt. Fassbinder, der sich mit dem Münchner „antitheater“ selbst an der Theaterszene der Revolte-Zeit beteiligte, übernimmt in den genannten Filmen die agitierende Vordergründigkeit der Experimente der damaligen Theaterdebatte. Die karge Inszenierung wird in starren Einstellungen belassen. Die Figuren agieren vor hellen Wänden bei gleichmäßigem Licht und flächiger Bildschärfe. Im Kontrast hierzu entwirft die Bildgestaltung der Literaturverfilmungen mitunter stark artifizielle Räume– Querelle bedient sich einer Bildästhetik, die sehr an Fotografien von Pierre et Gilles und Jan Saudek erinnert.

Die typische Fassbinder-Einstellung[1] sieht etwa so aus: Zwei oder mehrere Figuren werden im Dialog oder in Interaktion dargestellt oder auch eine Figur in innerem Monolog, wobei die Einstellung selten Teil einer standardisierten Szenenauflösung wie im Coverage-System ist, sondern durch die Objektbewegung der Schauspieler oder die Subjektbewegung der Kamera gegliedert wird. Im Fall einer Kamerabewegung sind die häufigsten Anwendungen einer innere Montage ein close-up durch Objektivfahrt am Ende einer Einstellung oder ein Schwenk vom Gesicht auf die Hand einer Figur oder umgekehrt. Bereichert wird die Einstellung durch eine Staffelung in Vorder-, Mittel- und Hintergrund, durch die dementsprechende Positionierung der Schauspieler, durch Rahmung und Vergitterung, durch Raumerweiterung in Spiegelflächen etc. Wenn doch eine Szene in Schuß und Gegenschuß aufgelöst wird, bedient sich Fassbinder am häufigsten dem Over shoulder, wodurch das Bild an räumlicher Tiefe gewinnt, in dem eine Person im Vordergrund angerissen wird.

Stimmungen und Gemütszustände werden auf diese Weise in die für den Handlungsablauf relevante Einstellung integriert. Dagegen sind bei Fassbinder selten eigenständige assoziative Einstellungen zu finden, wie in der Schlachthofsequenz in In einem Jahr mit 13 Monden. Elvira führt Zora in den Schlachthof, in dem sie gearbeitet hatte. Die erste Einstellung zeigt beide hinein-, die letzte beide herausgehen (Einstellungsprotokoll). In der Mitte der Sequenz ist eine Zweier-Einstellung von Elvira und Zora zu sehen. Die übrigen Bilder zeigen die mechanische Abwicklung des Schlachtprozesses durch die Beschäftigten. Der Boden ist naß von Blut und Wasser, die Tiere zappeln, bis ihnen die Köpfe abgetrennt werden. Auch die genannten Ein- und Ausgangseinstellungen konzentrieren sich in ihrem Bildinhalt auf die Tiere, die jeweils den Vordergrund ausfüllen und die Kamera verleiht den Protagonisten nur dadurch Gewicht, daß sie ihnen folgt, sich mit ihnen bewegt.

Diese Bilder vom Schlachthof stehen filmgeschichtlich in einer Reihe mit Tierschlachtszenen beispielsweise in Apocalypse Now (der Parallelmontage mit dem Ritualmord an einem Wasserbüffel) oder Underground (dem Bombenangriff auf den Zoo). Ihre drastische Wirkung erreichen sie durch die metaphorische Präsenz von Grausamkeit und Leiden bei höchstem visuellen Reiz. Der Ursprung dieses Motivs liegt in Eisensteins Parallelmontage in Streik und jede Tierschlachtszene ist zunächst eine Anlehnung an Eisenstein. Schon diese Patenschaft deutet auf Fassbinders Absicht, hier mit dem nur dem Film eigenen Stilmittel Montage zu argumentieren, hin, denn Fassbinders Schlachthofsequenz ist gewissermaßen auch als Parallelmontage angelegt: auf der Ebene des Bildes die ausblutenden Rinder, auf der Tonebene die intimen Äußerungen der Off-Stimme des Protagonisten, deren Schallquelle im Bild auch in den Einstellungen mit Elvira nicht eruierbar ist. (Dabei ist als Adressat entsprechend dem visuellen Geschehen ausdrücklich Zora festgeschrieben.) Die Motivation dieser ‚Quasi‘-Parallel-montage liegt im Kontrast der visuell und auditiv vermittelten Inhalte.

Die Anführung dieser Szene als „eigenständige assoziative Bilder“ ist im Grunde widerlegt durch den Auftritt der Protagonisten. Doch einerseits dient ihre Gegenwart, wie ich schon andeutete, nur als Alibi für den kontinuierlichen Ablauf der Narration. Die Szene ist dramaturgisch überflüssig (Warum muß Elvira Zora beweisen, daß sie früher im Schlachthof arbeitete?), sie entfaltet ihre Bedeutung nur durch die Ton-Bild-Montage. Zum anderen sind die im engsten Sinn eigenständigen Assoziationen dem Spielfilm überhaupt abhanden gekommen. Eisensteins Schlachtbilder stehen als extradiegetische Einschübe noch neben der Handlung (der Niederwerfung des Aufstandes), doch in der weiteren Tradition dieser Gestaltungspraxis bemühte man sich um eine Integration assoziativer Momente in die Spielhandlung. Durch das Hinzufügen einer Parallelhandlung wurde der Büffelmord in Apocalypse Now in die Diegese eingebunden. Weitgehende Eigenständigkeit erhalten solche Stimmungsbilder durch ein Herauslösen aus dem narrativen Kontext in der Großaufnahme oder eine drastische Verkleinerung dessen in einer Panoramaeinstellung bzw. einem cut-away. Die letzte Variante praktiziert der Fassbinder-Film Chinesisches Roulette mit den traurig-bedrohlichen Landschaftsschwenks, die, wie Schnittbilder in Fernsehserien zur Markierung eines Zeitsprungs eingefügt, die Umgebung des Familienschlosses zeigen. Nach einem solchen (Angela rezitiert Rimbaud) schließt sich die Großaufnahme eines abgeschlagenen Tierkopfes an. Das Stück Kadaver liegt auf weichem Waldboden und wird von Ameisen besetzt. Dieses Bild läßt nur noch über die Gedankenkette, daß der Familiensitz in einer idyllischen Waldgegend gelegen ist, die Zugehörigkeit zur Spielhandlung erkennen. Dagegen ist die Einstellung der umstürzenden Schachfiguren - Angelas Mutter zieht einen Revolver aus der Schublade, weil ihre Tochter sie bloßgestellt hat - szenisch völlig eingebunden: sie endet mit einem Schwenk auf die entzürnte Mutter und bereits vorher wurde das Schachspiel als Requisit etabliert.

Fassbinders Filme kennzeichnet eine Dominanz psychodramatischer Handlungsketten. Das dem gesellschaftlichen Dschungel ausgesetzte Individuum erreicht niemals triumphierend das Licht. Es opfert oder tarnt sich, immer wird es vereinnahmt. (In einem Jahr mit 13 Monden, Martha, Lili Marleen, Fontane Effie Briest, Katzelmacher...) Die bildliche Umsetzung dieses Dilemmas behauptet sich in einstellungsinternen Gestaltungsvarianten wie Absperrungen durch Gitter, Geländer und Glasscheiben, isolierenden Rahmen, desorientierenden Spiegelflächen. Extern formulierte Assoziationen bilden eine große Ausnahme. Die Kamera bleibt auf den Menschen gerichtet, auch wenn die dramatische Situation filmisch-spektakuläre Ausmalungen ermöglicht.

Gitter

Die Gestaltungselemente, auf die ich jetzt näher eingehe, haben ihren Platz in der Szenerie, in der sich auch die Figuren bewegen. Sie widersetzen sich der Vermutung des effektheischenden Arrangements. Ihre Plazierung im Dekor erscheint völlig authentisch, so daß die resultierenden Aufnahmen nicht überlastet wirken. Dem Spiel der Darsteller nimmt die Bildgestaltung keine Inszenierungsarbeit ab.

Im Gegensatz zu den Spiegeln und Rahmen im Bild lassen sich Gitter kaum auf rückbezügliche Anstöße auf das Medium Film bzw. Fernsehen untersuchen, es sei denn, man betrachtet sie als Rahmen. Tatsächlich existiert ein Grenzbereich zwischen beiden Elementen, wenn man die Vergitterungen nach dem Kriterium des Abstands gliedert. Besonders weitmaschige Gitter teilen die Bildfläche gröber und lassen sich mitunter als Rahmen auffassen, etwa bei den näheren Einstellungen im Kreuzgang des Klosters in In einem Jahr mit 13 Monden. Je enger das Gitter seine Maschen zieht, desto mehr zerteilt es das Objekt, dem es vorsteht. Schließlich rücken die Blickfluchten so dicht aneinander, daß einzelne Bildteile nicht mehr auszumachen sind. (Hier eröffnet sich doch ein Vermerk auf Autoreflexivität von Gittern, denn jedes mediale Bild entsteht aus Bildpunkten oder Pixeln.) Die Gardine am Fenster erreicht vielleicht die größte Kompaktheit im Film gebräuchlicher Gitter. Ihr feines Gewebe funktioniert für ein durch sie aufgenommenes Gesicht wie ein weichzeichnender Filter am Kameraobjektiv.

Das Interesse an Gittern im Filmbild liegt insbesondere auf seiner Anbringung im Bildvordergrund. Nur wenn die Figuren wenigstens eine Bildebene dahinter agieren, lassen sich raumwirkende Schärfenverlagerungen erzielen. Die Versperrung hinterer Bildebenen markiert eine Zaungastposition des Zuschauers (oder der Figur, wenn es sich um eine subjektive Einstellung handelt), etwas wird aus einem Versteck beobachtet.

Für die Lichtgestaltung lassen sich Gitter durch ihren markanten Schattenwurf verwenden. Die entstehenden Schatten können, wie die anderen Bildobjekte auch, stellvertretend für das eigentliche Objekt eingesetzt werden. Auch kann die Vergitterung erst durch Schatten hervorgerufen werden, wofür wieder In einem Jahr mit 13 Monden ein beeindruckendes Beispiel bereithält. Der aus Strick gefertigte Lampenschirm in Elviras Flur wirft ein Netz aus Schattenfäden in den Raum. Dieses Netz überzieht das gesamte Bild wie ein Geflecht die Haut. Elviras Lampe wurde zuvor angestoßen, so daß die Schatten sich kreisend bewegen und dem statischen Bild eine beängstigende Unruhe verabreichen.

Weitere Anwendungen bei Fassbinder ließen sich an Treppengeländern und anderen raumteilenden Konstruktionen aufzählen. Um auch den diffusen Übergang zur Kategorie der Spiegelungen hervorzuheben, möchte ich noch Lichtreflexe auf Glasscheiben als Gitterformen anführen. Auf den Frontscheiben von Autos bleiben selten transparente Spiegelbilder aus. In frontalen Kadrierungen von Insassen während der Fahrt werden auf diese Weise deren Gesichter verschleiert bis hin zur Zersetzung durch Doppelbilder.

Spiegel

Bei aller philosophischer, psychoanalytischer und mythologischer Überfrachtung ist der Spiegel in Fassbinders Szenenbild fürs erste ein assoziationsträchtiger Platzhalter. Seine unbeschränkte Präsenz im Interieur und seine Dominanz innerhalb der Einstellung setzen einen Akzent in Fassbinders Filmsprache.

Zunächst ist der Spiegel im Film ein Bildgegenstand der Mise-en-scène, hier erfüllt er je nach Verwendung metaphorische oder metonymische Funktionen. Als Metapher steht er für Eitelkeit, Eigenliebe, die Suche nach sich selbst oder die gespaltene Psyche, wenn er zerbrochen ist. Elvira in In einem Jahr mit 13 Monden fühlt sich verloren, als ihr Freund sie verläßt. In einer Toilette, die mit Spiegelfliesen übersät ist, sieht sie sich in viele Teile zerstückelt - eine Mischform aus den Varianten Spiegelung und Vergitterung. Ein Rückspiegel am oberen Bildrand kann - als metonymische Verwendung - Aufschluß darüber geben, daß eine Szene im Inneren eines Fahrzeugs spielt.

In der Bildkomposition ist ein Spiegel als Rahmen verwendbar, durch den sich ein neuer Raum eröffnet. Er läßt sich hier als Bild-im-Bild-Konstruktion beschreiben mit allen genealogischen Signa dieser Spezies. Mit der Rahmung im Filmbild befaßt sich das letzte Kapitel.

In Fassbinders Filmen häufig verwendet kommt das Spiegelbild einer Person als stellvertretender Dialogpartner vor, was für die Bildkomposition als Bereicherung genutzt werden kann und oft auch als Irritation über die Raumsituation eingesetzt wird, wobei durch eine anschließende Kamerabewegung die Verhältnisse aufgeklärt werden. Durch solche Spiegeldialogsituationen intensiviert sich das Spiel der Blicke unter den Figuren.

Eine vierte Bedeutungsebene erhält der Spiegel im Film durch die Markierung von Autoreflexivität. Im Gegensatz zu der vorher genannten Kategorie des Spiegels als Bildgegenstand läßt sich seine Verwendung nicht nur auf die Existenz als Requisit beschränken. Jeder Einsatz eines Spiegels im Film ist ein Stück Rückbezüglichkeit dieses Films, allein schon deshalb, weil beinahe die Kamera zu sehen wäre. Generell ist die Verwendung von Spiegeln im Film ein autoreflexiver Akt, da er ein Bild zurückwirft, so wie es ein Filmprojektor tut.

Mit Konnotationen im Bereich der Psychologie halten sich die Spiegeleinstellungen bei Fassbinder zurück. Die Spiegelflächen stellen in seinem Werk keine Bewußtseinsgrenze dar[2], die von einer Figur durchschritten wird. Auch die Kamera unterläßt es, durch eine Annäherung einen solchen Übergang zu imitieren. Der poetisch-mythologische Aspekt der Überschreitung des Diesseits, das zwar das Leben ausmacht aber durch seine Intensitätsmängel unzureichend bleibt, entzieht sich ebenfalls dem Bedeutungsumfeld. Im Werk Fassbinders gibt es keine Figur, die (wie Alice im Wunderland oder Jean Marais in Orphée) zum Zweck der Bewußtseinserweiterung durch einen Spiegel steigt und sich staunend in eine durch Schwerkraftverlagerung und subversive Regelverstöße befreiende Gegenwelt begibt. Fassbinders Spiegel sind keine Tore in ein fremdes Reich. So undurchdringlich die Glasflächen sind, so erbarmungslos reflektieren sie. Oder: „Das Bewußtsein ist ... nur das Abbild des Seins.“[3]

Im Spiegelbild wird die Fremdanschauung zur Selbstanschauung. So wie ich mich sehe, sehen mich die anderen. „Dies ist die tatsächliche Verkehrung, die der Spiegelverkehrtheit zugrunde liegt.“[4] In Fassbinders gruppen-/gesellschaftshermetischen Erzählungen signalisiert der Spiegel eine Affinität zur existenzspaltenden Wahrnehmungswahrnehmung: Die Erkenntnis, daß ich mich nicht nur als Selbst mit dem eigenen Blick, sondern auch als Objekt der anderen Blicke zu verstehen habe, läßt mich zwangsweise vermitteln zwischen dem Für-mich-sein und dem Für-andere-sein.[5] Christoph zerrt Elvira vor den Wohnzimmerspiegel und zwingt sie unter Androhung von Schlägen, sich selbst zu betrachten (In einem Jahr mit 13 Monden). Seiner Meinung nach äußert sich ihre Willenlosigkeit in ihrer vernachlässigten Ausstrahlung: „Siehst du, warum ich nicht mehr nach Hause komme?“ Für ihn ist sie der Ekel einer ansteckenden Krankheit. Elvira muß die Augen am Spiegel öffnen. Sie kann die häßlichen Attribute, die Christoph ihr zuraunte, nicht wahrnehmen: „Ich seh mich dich lieben.“ Elvira läßt sich auf keine äußere Betrachtung ihrer Person ein, sie bleibt für sich. Anders wirkt sich die Begegnung mit dem Spiegelbild bei Gabriel (Chinesisches Roulette) aus. Die Manuskripte seiner philosophisch-poetischen Traktate lagern hinter einem barocken Wandspiegel im Treppenhaus des Familienschlosses. Wenn er sie hervorholt, um sie den Gästen - in der Hoffnung, entdeckt und durch ihre einflußreichen Positionen gefördert zu werden - in einer Lesung anzubieten, muß er bei dieser Kletterübung zum Spiegel also notgedrungen sein Ebenbild betrachten, das er wenig später mit den Texten zusammen präsentiert. Die Schizophrenie diese Befindens führt auf mythologischem Pfad zum Doppelgänger-Motiv. In einer Traumvision schlägt Hermann (Eine Reise ins Licht - Despair) den mannsgroßen Spiegel ein, in dem sein Doppelgänger Felix zu sehen ist. Das Glas birst, doch das Spiegelbild bleibt erhalten. Hermann wirft Felix einen Revolver hinüber (es handelt sich hier um eine Ausnahme, daß Fassbinder die Spiegelfläche überschreiten läßt) und fordert diesen auf, ihn zu erschießen. Doch obwohl das Spiegelglas zu Bruch gegangen ist, reflektiert die Trennfläche die Schüsse und Felix selbst geht zu Boden. In dieser Szene wird der mehrmals von Fassbinder aufgegriffene Doppelgänger-Topos kombiniert mit dem Gestaltungselement Spiegel. Die Trennung des Spiegelbildes von der Körperlichkeit seines Originals bringt den Doppelgänger des Erasmus Spikher in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Abenteuer der Silvesternacht hervor. Auch die Betrachtung des Doppelgängers entzweit das Bewußtsein des Originals, da es sich sieht, als sei es ein anderer.

Der Spiegel befindet sich in selbstreferenziellem Gebrauch ab dem Punkt, an dem sich der Betrachter selbst darin erkennt.[6] Der Spiegel als pri-vilegiertes filmisches Requisit steht in der Genese seiner psychischen Struktur in Verwandtschaft zur Leinwand, ohne daß man von einer Identität von Leinwand und Spiegel sprechen könnte oder daß gar „eine große empirische Analogie zwischen beiden“[7] bestünde. Metz unterscheidet im Spiegelkapitel den reflektierenden vom nicht-reflektierenden Spiegel in dem Sinn, daß jener dem Zuschauer das Bild eines diegetischen Betrachters (ein Spiegelbild einer sich betrachtenden Figur) zeigt, während der andere lediglich einen Bildausschnitt vermittelt, ohne den Blick einer Figur der Spielhandlung zu kreuzen. Maßstab der Reflexivität ist der Blick. Die nicht-reflektierenden Spiegel (eine Figur betrachtet im Spiegel etwas anderes als sich selbst oder der Spiegel bleibt von Blicken völlig unberührt) fungieren ausschließlich als Bild-im-Bild-Gefüge, wobei ihnen als solche ein spezifischer Handlungsmodus zuzuschreiben ist, da sie keine ins Bildinnere führenden Passagen erzeugen (wie Tür- oder Fensterrahmen), sondern einen nicht einsehbaren Raumausschnitt präsentieren.

Für die Metz’sche „Kartografie der Enunziation“[8] ergeben sich einige verschiedenartige Verwendungen des Spiegels im Filmbild. Die von Fassbinder am häufigsten praktizierte ist das intensivierte Spiel der Blicke. Hanni betrachtet sich weinend im Taschenspiegel (Bolwieser). Im Spiegelbild bemerkt sie den Eintritt ihres Mannes, doch Bolwieser selbst kommt erst einige Zeit später ins Bild. Dieser Film stellt einen ganzen Katalog an Spiegeleinstellungen zur Schau, die zum größten Teil Blickkonstruktionen tragen. Als Bolwieser ein anderes Mal seine Wohnung betritt, entdeckt er seine Frau zusammen mit ihrem Geliebten. Beide - sie konnten sich gerade noch aus einer verfänglichen Situation befreien - wenden sich im folgenden Gespräch direkt an Bolwieser, während dieser sich mit dem Spiegelbild der beiden unterhält. Als er seinen Kopf vom Spiegel weg zu den leiblichen Figuren wendet, entsteht ein neuer Akzent. Diese von den Spiegeln ping-pong-artig parierten Blicke privilegieren eine andere Figurenanordnung, als das Vis-à-vis der Dialogpartner. Der Spiegel ergänzt die Figurenpositionen um eine weitere Instanz zu einem Dreieck.

Rahmen

So, wie der Spiegel ein Bild innerhalb des Filmbildes erzeugt, geben sich auch der laufende Fernseher in In einem Jahr mit 13 Monden und die Kinoleinwand in Despair als Bild-in-Bild-Konstellationen zu erkennen. Entgegen den Spiegelbildern stehen letztere jedoch in technischer Abhängigkeit der mittelbaren Hervorbringung. Das innerhalb des Filmbildes auf Monitoren (Kinoleinwände inbegriffen) gesehene unterliegt nicht dem Zwang zeitlicher Parallelität mit dem Handlungsumfeld. Es hat denselben isolierten Status des Filmbildes, das der Zuschauer auf der Leinwand betrachtet. Film-im-Film-Gebilde sind so gesehen einer stärkeren Rückbezüglichkeit verbunden als Bild-im-Bild-Konstellationen im allgemeinen. Doch alle ins Filmbild integrierten Bilder - bewegt oder unbewegt - sind als sekundäre Leinwände autoreflexive Verweise. Die Grenzlinien einer Bildfläche zeichnen einen Rahmen, auch wenn dieser substantiell gar nicht existiert (rahmenloser Spiegel). Rahmen locken die Blicke des Betrachters auf die eingeschlossene Fläche oder in die räumliche Flucht. Die Betrachterposition liegt in jedem Fall im Zuschauerraum, sie kann aber zusätzlich auch einer Figur zukommen. Deutlichste Beispiele gewähren subjektive Einstellungen durch Masken (Ferngläser, Schlüssellöcher etc.) Irene klingelt und klopft an Elviras Wohnungstür (In einem Jahr mit 13 Monden). Gemeinsam mit ihr späht der Zuschauer durch das Schlüsselloch. Auf ähnliche Weise wie der Spiegel in seiner Verwendung bei Fassbinder funktioniert der Rahmen allgemein durch das Manövrieren von Blicken. Eine Figur erscheint in ihrer visuellen Präsenz innerhalb eines Rahmens wohlpositioniert, eine ungerahmte dagegen im direkten Vergleich haltlos.

Die Kinoleinwand zeigt und versteckt, ebenso die sekundäre Leinwand im Film. Durch Rahmungen im Bild, wie sie für Fassbinder bezeichnend sind und in In einem Jahr mit 13 Monden beinahe bis zur Grenze des Möglichen eingesetzt wurden, entsteht eine zweite Kadrierung und somit eine zweite Möglichkeit, bestimmte Bildinhalte zu zeigen und unwichtiges zu verdecken. In diesem Film ist zum Teil nur ein Drittel des Filmbildes auf der Leinwand aktiv, Elvira ist durch einen Türrahmen zu sehen, das Außerhalb ist bis zur Unkenntlichkeit in Dunkelheit belassen. Die Kinoleinwand in ihrer longitudinalen Ausrichtung (Cinemascope 1:2,35), ebenso wie das Fernsehbild (PAL 1:1,33), nähert sich dem menschlichen Blickfeld an und bringt ein Querformat hervor. Die Türrahmen in In einem Jahr mit 13 Monden aber lassen vertikal ausgerichtete Rahmen entstehen, die der Körperlichkeit des aufrecht stehenden Menschen eher entsprechen als die horizontale Lagerung der Leinwand. Die Türrahmen in Elviras Wohnung bilden senkrechte Leinwände.

Diese im Format dem Körper angepaßten Rahmen lassen der Figur kaum Freiraum und betonen ihre Isolation. Als Irene sich vor Elvira wegen des Interviews über Anton Saitz empört, nimmt eine Zimmertür beinahe das gesamte Bild in Anspruch. Der Blick in den Korridor, in dem beide ihre Auseinandersetzung haben, ist auf ein Minimum der Kenntlichkeit reduziert. Zwischenzeitlich erscheint Irene am Türrahmen im äußersten rechten Bildbereich und stützt sich an den Pfosten. Das massive Holz erdrückt sie, obwohl sie in den Vordergrund gerückt ist. Elvira ist innerhalb des durch die Tür gesetzten Rahmens zur gleichen Zeit in die Unschärfe des Hintergrundes und damit in ein kümmerliches Elend abgetaucht. Daß Depression und Ausweglosigkeit häufige Grundstimmungen in Fassbinder-Filmen sind, wird von dieser Praxis der optischen Umsetzung unterstützt.

In Verbindung mit Hell-Dunkel-Konstellationen verstärken die Rahmen einen voyeuristischen Blick auf die Figuren. Wiederum findet sich hier eine autoreflexive Markierung, denn auch der Kinozuschauer richtet seinen Blick aus dem dunklen Saal auf die helle Leinwand. Der voyeuristische Blick schafft außerdem eine Distanz des Nicht-Betroffen-Seins, des Nur-Beobachtens, wodurch die verfremdete Darstellungsweise der Schauspieler ergänzt wird.

Schlussüberlegung

In Fassbinders Mise-en-scène sind es in erster Linie Fenster, Türen und Spiegel, die den Figuren eine gestalterische Rahmung zur Verfügung stellen. Diese Elemente bezeichnen die beengende Umgebung menschlicher Zivilisation. Deren kleinste bauliche Entsprechung ist das Haus. Fassbinder griff in der Veranschaulichung der Motivation für sein Filmschaffen auf das Haus zurück: „Ich möchte mit meinen Filmen ein Haus bauen. Einige sind der Keller, andere die Wände und wieder andere die Fenster. Doch am Ende hoffe ich, daß es ein Haus ist.“[9]

Das szenische Umfeld für mitteleuropäische Filme (und besonders die gesellschaftlich ambitionierten) ist verständlicherweise ein urbanes. Das von Fassbinder favorisierte Ambiente (ich beziehe mich hier hauptsächlich auf die Gegenwartsfilme) liegt jedoch nicht im städtischen Gefilde schlechthin. Es entzieht sich der Öffentlichkeit der Straße, des Platzes, oder des Bahnhofs und verschanzt sich in den Zellen persönlichster Konflikte - dem Haus, der Wohnung, dem Zimmer. Akteur dieser Austragungsorte ist die Familie. Falsche Illusionen vor der Hochzeit (Martha u.a.), Eifersucht (Bolwieser u.a.) oder materielle Abhängigkeit (Katzelmacher u.a.) sind Motive solcher Auseinandersetzungen.

Das Haus liefert das Dekor (Gitter, Glas) für die gestalterische Bereicherung des Filmbildes und steuert durch Rahmen und Reflexionen die Blicke der Figuren und der Zuschauer. Das Haus versinnbildlicht die Suche nach Geborgenheit in der Familie, sein trügerisches Innenleben verbirgt sich hinter den soliden Fassaden zur Außenwelt. Das Haus beansprucht Fassbinders Leitmetapher vom persönlichen Lebenswerk, das ihn bis zum Tod arretierte. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“[10], heißt es in Lola, einem Film über Korruption mit Baugenehmigungen und Fassbinders Episode in dem Kollektivfilm Deutschland im Herbst läßt das Geschehen in der eigenen Wohnung und der eigenen Lebensgemeinschaft stattfinden.

Einstellungsprotokoll

Schlachthofsequenz In einem Jahr mit 13 Monden

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Filmverzeichnis

(Quelle: Lexikon des internationalen Films, Hgg. v. Kath. Institut für Medienforschung und der Kath. Filmkommission für Deutschland)

Apocalypse Now (Apocalypse Now)

USA, 1976-79, 153 min., Scope, Literaturverfilmung, Drama, Kriegsfilm

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bolwieser

BR Deutschland, 1976-77, 201 (TV 112) min., Melodram

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Deutschland im Herbst

BR Deutschland, 1977/78, 123 min.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eine Reise ins Licht – Despair (Despair)

BR Deutschland/Frankreich, 1977, 119 min., Drama

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Faustrecht der Freiheit

BR Deutschland, 1974, 123 min., Melodram

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Händler der vier Jahreszeiten

BR Deutschland, 1971, 89 min., Tragikomödie

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In einem Jahr mit 13 Monden

BR Deutschland, 1978, 124 min., Drama

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Katzelmacher

BR Deutschland, 1969, Schwarzweiß, 88 min., Drama

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Lili Marleen

BR Deutschland, 1980, 120 min., Drama / Musikfilm

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Lola (1981) (Eine Frau namens Lola)

BR Deutschland, 1981, 115 min., Drama

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Martha (1973)

BR Deutschland, 1973, 116 min., Melodram

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Orphée (Orphee)

Frankreich, 1949, 95 min., schwarzweiß, Drama

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Querelle - Ein Pakt mit dem Teufel (Querelle)

BR Deutschland/Frankreich, 1982, Scope, 108 min., Drama

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Sehnsucht der Veronika Voss, Die

BR Deutschland, 1982, Schwarzweiß, 104 min., Melodram

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Streik (Statschka)

UdSSR, 1924, 68 min., schwarzweiß, Arbeiterfilm, Drama

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Underground (1995) (Underground)

Frankreich / Deutschland / Ungarn, 1995, 170 min., Scope, Drama

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Warum läuft Herr R. Amok?

BR Deutschland, 1969, 88 min., Drama

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Literaturverzeichnis

- BERLING, Peter: Die 13 Jahre des Rainer Werner Fassbinder. Seine Filme, seine Freunde, seine Feinde. Bergisch-Gladbach: Gustav Lübbe Verlag GmbH, 1992.

- BOWIE, Malcolm: Lacan. 1. Aufl. d. dtsch. Ausg. Göttingen: Steidl Verlag, 1994.

- Elsaesser, Thomas: Der Neue Deutsche Film. Von den Anfängen bis zu den neunziger Jahren. Heyne Filmbibliothek Nr. 32/209. Dtsch. Erstausg. München: Heyne Verlag GmbH, 1994.

- Elsaesser, Thomas: Fassbinder’s Germany. History Identity Subject. Amsterdam: Amsterdam University Press, 1996.

- Haubl, Rolf: Unter lauter Spiegelbildern. Zur Kulturgeschichte des Spiegels. Frankfurt/M.: Nexus Verlag GmbH, 1991.

- Truffaut, Fran¹ois: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?. 19. Aufl. München: Carl-Hanser-Verlag, 1997.

- LENIN, Wladimir Iljitsch: Materialismus und Empiriokritizismus. Werke Bd. 14. Berlin: Dietz, 1964.

- METZ, Christian: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films. Film und Medien Diskussionen Bd. 6, Münster: Nodus Publikationen, 1997.

- Pflaum, Hans Günther und Hans Helmut Prinzler: Film in der Bundesrepublik Deutschland. Der neue deutsche Film. Herkunft / Gegenwärtige Situation. Ein Handbuch. München, Wien: Carl-Hanser-Verlag, 1979.

- PFLAUM, Hans Günther und Rainer Werner Fassbinder: Das bißchen Realität, das ich brauche.Wie Filme entstehen. München: Carl-Hanser-Verlag, 1976.

- Rainer Werner Fassbinder. Hg. v. Wolfram Schütte in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek. München: Carl-Hanser-Verlag, 1985.

[...]


[1] Ohne alle Fassbinder-Filme an einem bestimmten Standard festmachen zu wollen, meine ich, daß sein Name sich nicht nur aus der Präsenz von Mitgliedern seines Schauspieler- Stamms, sondern auch aus Kriterien einer Einstellungsanalyse herauslesen läßt.

[2] vgl. Rolf Haubl: Unter lauter Spiegelbildern.... S. 181., wonach der Raum vor dem Spie- gel das Bewußtsein und der dahinter das Unbewußte ausmacht.

[3] W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. S. 326.

[4] Rolf Haubl. S. 85. Diesem Fazit geht eine (mit Umberto Eco) widerlegte Auffassung vom seitenverkehrten Spiegelbild voraus, die lediglich einer eingewöhnten Sichtweise die Treue hält.

[5] Rolf Haubl. S. 88, eingehend auf Jean Paul Satre und das freie Spiel wechselseitiger Blicke (Das Sein und das Nichts)

[6] Malcolm Bowie: Lacan. S. 26 ff., eingehend auf das „Spiegelstadium“ Jacques Lacans

[7] Christian Metz. S. 65. Metz unterstreicht die Absurdität der Vorstellung, die Leinwand würde den Körper des Zuschauers widerspiegeln.

[8] ebd. S. 66.

[9] Thomas Elsaesser: Fassbinder’s Germany. S. 263.

[10] einem Ausspruch von Rainer Maria Rilke gleichend

Excerpt out of 22 pages

Details

Title
Fassbinders Bilder
College
Free University of Berlin
Author
Year
1998
Pages
22
Catalog Number
V96010
ISBN (eBook)
9783638086875
ISBN (Book)
9783656761143
File size
431 KB
Language
German
Keywords
Fassbinders, Bilder
Quote paper
Sascha Quednau (Author), 1998, Fassbinders Bilder, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96010

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