Inhalt
1. Einführung: Kommunikation im „demokratischen Klassenzimmer“
2. Zur Theorie: Grundlagen der personenzentrierten Gesprächsführung
2.1. Klärung persönlichkeitstheoretischer Begriffe und Zusammenhänge
2.1.1. Aktualisierungstendenz
2.1.2. Bedürfnisse
2.1.3. Wahrnehmung
2.1.4. Verhalten
2.1.5. Das Selbst
2.1.5.1. Entwicklung des Selbst
2.1.5.2. Veränderung des Selbst
3. Zur Praxis: Das Lehrerverhalten auf Basis der klientenzentrierten Gesprächsführung
3.1. Echtheit/Selbstkonkruenz
3.1.1. Ich-Botschaften
3.2. Einfühlendes Verstehen
3.2.1. Aktives Zuhören
3.3 Emotionale Wärme und Wertschätzung
3.3.1. Ermutigung
4. Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anlagen
„ An den Pädagogen selbst ist es, sich der unwissenschaftlichen Pra- xis zu versagen, für die man sie vorbereitet hat. “
Manès Sperber
1. Einführung. Kommunikation im „demokratischen Klassenzimmer“
Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit Wegen zu einer gelungenen Kommunikati- on im und außerhalb des Unterrichtsgeschehens. Die Themenstellung impliziert, daß heute im Unterrichtsalltag eine gelungene Verständigung zwischen Lehrern und Schülern eher die Ausnahme als die Regel ist: Kritik, Herabsetzungen, Bes- serwisserei, Sarkasmus, Machtspiele, Du-Botschaften wie „Du sollst...“ oder „Du mußt...“ auf Seiten der Lehrer und störendes Verhalten, Fehlen, Provokationen, Faulheit, Unkonzentriertheit, Sturheit auf Seiten der Schüler blockieren die Inter- aktion zwischen Lehrer und Schüler. Kommunikationsblocker führen aber nicht nur von den Zielen des Lehrens ab, kognitive, soziale, methodische und affektive Fähigkeiten zu vermitteln, sie frustrieren und entmutigen auch Lehrer und Schü- ler gleichermaßen. Die Folgen sind nicht selten ausgebrannte, entidealisierte, resignierte Lehrer und gestörte, fehlgeleitete, lustlose Kinder.
Dieser Arbeit liegt die Auffassung zugrunde, daß Kommunikation in einer autori- tär-hierarchischen Atmosphäre nicht gelingen kann. Soll der Eid des beamteten Lehrers auf den demokratischen Rechtstaat kein Lippenbekenntnis sein, so muß auch im Unterricht Demokratie gefördert werden. Gelungene Kommunikation kann nur unter Gleichen erfolgen, in einer Atmosphäre der sozialen Gleichwertig- keit. Jenseits von Nachsicht oder Strenge begegnen sich Lehrer und Schüler mit gegenseitiger Wertschätzung und Respekt vor den unterschiedlichen Erlebnis- welten.
„Kommunikationsförderung in der Schule“ rückt damit den Wert der Erziehung wieder in den Unterricht. Manès Sperber, ein an Alfred Adler geschulter Individualpsychologe, sieht die „Grenzen der Erziehung“ noch lange nicht erreicht.
„ Dilettanten, die eine Praxis betreiben, ohne sich um ihre theoretische Grundlage zu kümmern, wollen bestimmen, welche Rolle die Vererbung spielt und wie eng die Grenzen der Erziehung gezogen sind. Sie verwech- seln ihre eigenen Grenzen - die allerdings sehr eng sind - mit den Grenzen der Welt. “ 1
Sperber meint, wer den Begriff des Unterrichts von dem der Erziehung trenne, sehe keine Möglichkeit für die erzieherische Wirkung des Erwachsenen. In einer seiner letzten Vorlesungen, die Sperber vor seiner Emigration 1933 am Individu- alpsychologischen Institut in Berlin gehalten hat, sieht er zwischen der Wissensvermittlung und der Bewußtseinsschulung einen direkte Zusammenhang.
„ Gilt es zwischen Bewußtsein einerseits und Wissen andererseits zu unter- scheiden, so darf nie verkannt werden, daßdas Wissen eine Funktion des Bewußtseins ist. Wissenübernehmen und sich aneignen, bedeutet,über die Vermehrung der Bildung hinaus, die Erweiterung des Wahrnehmungsin- haltes; es ist eine fortgesetzte Auseinandersetzung und, weil sie es ist, von beträchtlicher Wirkung auf die Charakterbildung. Der Lehrer kann also keineswegs der Erkenntnis entgehen, daßer, indem er Wissen vermittelt, erzieherische Wirkungen ausübt, nicht nur durch diese Mittlerschaft, son- dern auch durch die Beziehung, innerhalb derer dieseübermittlung er- folgt. “ 2
Sich seiner Wirkung auf den Schüler bewußt zu werden, erfordert ein hohes Maß an Selbstauseinandersetzung. Was in vielen pädagogischen, helfenden und an- deren Berufen längst zum professionellen Profil gehört, hat noch nicht Eingang in den Lehrberuf geschweige denn in seiner Ausbildung gefunden: Reflexion, Su- pervision, Team-Teaching oder gegenseitige Hospitation sind noch immer eher die Ausnahme als die Regel. Das Fehlen einer psychologischen Grundlegung der pädagogischen Praxis zeigt sich vor allem im Verhältnis zum Schüler. So wird auf störendes Verhalten im Unterricht entweder mit Nachsicht oder mit Strafe reagiert, statt die dahinterliegenden Ziele des Schülers aufzudecken und zu än- dern. Seine Schüler zu verstehen lernen, ist somit neben der Selbstauseinander- setzung die zweite große Aufgabe des Lehrers, wenn die Kommunikation im Klassenzimmer reibungslos verlaufen soll.
Der amerikanische Gesprächstherapeut Carl R. Rogers (1902-1987) hat mit der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie die theoretischen Grundlagen erar- beitet, die es dem Lehrer ermöglicht, diese beiden Aufgaben besser zu meistern. Obgleich es nicht die Profession des Lehrers ist, therapeutisch tätig zu sein, sondern Wissen, Einsichten und Fähigkeiten zu vermitteln, dienen die Grundla- gen der Persönlichkeitstheorie nach Rogers dazu, sein eigenes und das Verhal- ten des Schülers besser verstehen zu lernen und Fehlleitungen zu vermeiden, weswegen in dieser Arbeit hierauf besonders eingegangen werden soll.3
Die Berücksichtigung der individualpsychologischen Arbeiten der Adler-Schüler Rudolf Dreikurs (1897-1972) und Manès Sperber (1905-1984) soll darüber hinaus die Möglichkeiten aufzeigen, wie in einer respektvollen und gleichwertigen Weise dem Schüler im „demokratischen Klassenzimmer“ begegnet werden kann.
„ Es ist egal, ob ein Kind intelligent ist oder nicht. Wenn es glaubt, daßes dumm ist, dann wird es sich so verhalten, als wäre es wirklich dumm. “
Theo Schoenaker
2. Zur Theorie: Grundlagen der personenzentrierten Gesprächsführung
Die personenzentrierte Gesprächsführung geht zurück auf Elemente der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Carl R. Rogers, einem Hauptvertreter der humanistischen Psychologie. Rogers bezeichnet sie deshalb als klien tenzentriert („client-centered Therapy“), da der Therapeut sich an der Erlebniswelt des Klienten orientiert. Häufig wird sie auch als nicht-direktiv bezeichnet, da der Therapeut dem Klienten keine Ratschläge und Deutungen gibt und dem Klienten weitgehend selbst die Initiative im Gesprächsverlauf läßt. Diese besondere therapeutische Interaktion als ‘Hilfe zur Selbsthilfe’ fördert eine positive Änderung des Erlebens und Verhaltens auf seiten des Klienten.
Rogers theoretische Ansätze, seine tiefenpsychologische Anleihen und weltanschaulichen Einflüsse, haben sich im Laufe von Jahrzehnten entwickelt. An seinem eigenen Lebensweg ist zu erkennen, daß „bei ihm die Erfahrung vor der Theoriebildung“ steht, mithin seine Theorie eher induktiv als deduktiv entstanden ist.4 Der hohe Praxisbezug mag der Grund dafür sein, daß die personenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers sich heute vor allem in den beratenden Berufen, speziell im Berufsfeld Sozialarbeit/Sozialpädagogik, durchgesetzt hat. Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie selbst gilt heute neben der Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie und der individualpsychologischen Therapie als eine der bekanntesten Formen der Psychotherapie. Seit 1965 wird sie in Deutschland an Universitäten in Lehre und Forschung vertreten.5
2.1. Klärung persönlichkeitstheoretischer Begriffe und Zusammenhänge
Obwohl für Rogers selbst seine Persönlichkeitstheorie „immer von zweitrangi- gem Interesse“ war6, wird sie im Rahmen der personenzentrierten Gesprächs- führung doch besonders hervorgehoben. Denn seine persönlichkeitstheoreti- schen Begriffe beinhalten Grundaussagen zum menschlichen Erleben und Ver- halten, zur Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten an und für sich. In ihnen kommt das Menschenbild zum Ausdruck, das der personenzent- rierten Gesprächsführung bzw. der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie zugrunde liegt.
Eine Persönlichkeitstheorie läßt sich nach Alterhoff „ als ein Satz allgemeiner Erklärungsbegriffe und -aussagen zum menschli chen Erleben und Verhalten verstehen [...] Mit ‘ Persönlichkeit ’ ist dabei eine relativüberdauernde Struktur der Psyche gemeint, die sich im Erleben und Verhalten ausdrückt. “ . 7
Jede Persönlichkeitstheorie versuche, „ eine Antwort auf die Frage zu geben, wie und durch was der menschliche Organismus in Gang gesetzt und gehalten wird oder wie die das menschli che Verhalten bewegende Kraft beschaffen ist. “ 8
2.1.1. Aktualisierungstendenz
Rogers Persönlichkeitstheorie setzt voraus, daß es nur eine Antriebskraft gibt, die den Menschen im Bewegung hält: die Tendenz zur Selbstverwirklichung, die Rogers „Aktualisierungstendenz“ nennt. Bei dieser Vorannahme handelt es sich um eine nach Rogers jedem Lebewesen angeborene Verhaltensmotivation, einem Basismotiv menschlichen Verhaltens und Erlebens. Jeder Mensch strebe da- nach, seine in ihm innewohnenden Möglichkeiten und Fähigkeiten zu entwickeln und zu entfalten, um seinen Gesamtorganismus - verstanden als die Gesamtheit des körperlichen, affektiv-emotionalen und kognitiven Systems Organismus - zu erhalten und zu fördern.
Dieses „Charakteristikum für Leben schlechthin“9 ist konstruktiv, weil der Mensch nach Rogers von Natur aus gut ist. Rogers beschreibt den Menschen als im Grunde sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch. Den Kern der Persönlichkeit bewertet Rogers also als positiv. Bei Menschen, die unter Voraussetzungen leben, die ihnen die Verwirklichung ihrer Aktualisierungstendenz ermöglichen, kann man demnach davon ausgehen, daß sie sich zu sozialen, selbstbestimmten und unabhängigen Wesen entfalten.
2.1.2. Bedürfnisse
Nach Rogers ist das Basismotiv der Aktualisierungstendenz - unabhängig von den Elementarbedürfnissen wie Hunger, Durst etc.- der Ausgangspunkt für alle anderen spezifischen Bedürfnisse des Menschen. Zwei dieser Bedürfnisse hebt er besonders hervor: das Bedürfnis nach Zuwendung und das Bedürfnis nach Selbstwertschätzung. Beide Bedürfnisse korrespondieren miteinander, denn die Selbstwertschätzung entwickelt sich erst aus der Erfahrung, angenommen zu sein, sich zugehörig zu fühlen. So mündet eine positive Zuwendung in einer posi- tiven Selbsterfahrung. Eine lang anhaltende positive Zuwendung führt schließlich dazu, daß sich der Mensch auch selbst zu schätzen und für wertvoll anzusehen vermag, ungeachtet der fortgesetzten Zuwendung und Anerkennung durch ande- re. So wird der Mensch schließlich sein eigener Freund/Freundin oder, wie Ro- gers sagt, der Mensch wird „his own significant social other“.10
Rogers weist aber auch darauf hin, daß beide Bedürfnisse in Konflikt mit dem Basismotiv der Aktualisierungstendenz geraten können. So kann das Streben nach Selbstverwirklichung beeinträchtigt werden, zum Beispiel dadurch, daß nur Verhaltensweisen gezeigt werden, die von anderen akzeptiert werden, um damit das Bedürfnis nach Zuwendung befriedigen zu können. Ein solcher Mensch wird letztlich nur eine unvollständige Persönlichkeit entwickeln.
2.1.3. Wahrnehmung
Für Rogers gibt es ebenso viele ‘wirkliche Welten’, wie es Menschen gibt.11 Da- mit betont er das subjektive Erleben des Menschen und stellt eine quasi-objektive Wirklichkeit hinten an. Diese nennt er „absolute Realität“ und meint damit die „physikalische oder erlebnisjenseitige Welt“12. Rogers hält aber nur die subjektiv- erlebte Realität für relevant, um menschliches Verhalten und Erleben erklären zu können. Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawik meint dementspre- chend:
„ Was wir die Wirklichkeit nennen, wird also nicht von uns entdeckt, son dern recht eigentlich geschaffen. [...] Wer seelisch leidet, leidet eben nicht an der ‘ wirklichen ’ Wirklichkeit, sondern an seinem Bild der Wirk lichkeit. Dieses Bild ist aber für ihn die Wirklichkeit. “ 13
So muß derjenige , der das Verhalten seines Gesprächspartners verstehen will, sich zunächst ganz auf die Wahrnehmung des anderen konzentrieren, „sozusa- gen die Welt mit dessen Augen sehen“.14 Wie sich diese Bedingung auf das Ver- ständnis des Lehrers von seinem Schüler auswirkt, soll Kapitel 3.2.1 zeigen.
2.1.4. Verhalten
Analog zur subjektiven Wahrnehmung ist auch das menschliche Handeln in ers- ter Linie Ausdruck von innerpsychischen Kräften und nicht als Reaktion auf Um- weltreize zu sehen. Rogers versteht das menschliche Verhalten immer als Be- friedigung aktuell erlebter Bedürfnisse, es ist mithin zielgerichtet. Alterhoff führt an:
„ Unter Beachtung der Ziele der Aktualisierungstendenz wird dasjenige Ver halten ausgeführt, das in konstruktiver Weise zu der angestrebten Befriedigung führt; denn das Individuum interagiert mit seiner Realität unter Be rück sichtigung der Verwirklichungstendenz. “ 15
Neben der Zielgerichtetheit sind es vor allem Ganzheitlichkeit und Strukturiertheit, die Rogers dem menschlichen Verhalten zuschreibt. Mit der These von der „unteilbaren Ganzheit des Organismus“ steht er ganz in der Tradition der humanistischen Psychologie. So führt die Veränderung eines Teiles der psychophysischen Ganzheit zwangsläufig zu Veränderungen anderer Teile, was besonders bei psychosomatischen Krankheitsbildern zu beobachten ist.
2.1.5. Das Selbst
Das Selbst ist für Rogers eines der zentralsten Begriffe seiner Persönlichkeits- theorie. Unter dem Selbstkonzept, wie Rogers das Selbst auch nennt, versteht er die Art und Weise, in der ein Mensch sich selbst bzw. seine Charakteristika und Fähigkeiten wahrnimmt und beurteilt.16 Er definiert das Selbstkonzept wie folgt:
„ Das ‘ Selbst ’ oder ‘ Selbstkonzept kann man als ‘ eine strukturierte, konsi- stente Vorstellungsgestalt denken, die sich zusammensetzt aus Wahr- nehmungen vom ‘ Ich ’ oder ‘ Mich ’ und den Wahrnehmungen von den Beziehungen dieses ‘ Ich ’ zur Außenwelt und zu anderen Personen. Dazu gehören auch die mit diesen Wahrnehmungen verbundenen Wertvorstellungen. Diese Gestalt ist zwar fließend und veränderlich, aber sie ist in jedem Augenblick eine Einheit... Sie ist nicht unbedingt bewußt, aber dem Bewußtsein zugänglich. Sie ist für das Individuum ein ständiger Bezugspunkt, an dem es sein Handeln ausrichtet. “ 17
Das Selbstkonzept entwickelt sich aufgrund entsprechender Erfahrungen, die ein Mensch in seinem bisherigen Leben mit sich gemacht hat, angefangen bei den frühkindlichen Wahrnehmungen des eigenen Körpers und der Beziehung zur Umwelt. Aber auch wie er glaubt, von anderen Menschen wahrgenommen und bewertet zu werden, prägt sein Selbstkonzept. Von Selbsterfahrung und Fremd- einschätzung hängt es also ab, ob sich ein normales, flexibles oder ein gestör- tes, starres Selbstkonzept entwickelt. Starrheit des Selbstkonzepts ist nach Ro- gers eher ein Zeichen für eine ungesunde Persönlichkeitsentwicklung.
„ Hält sich zum Beispiel ein Mensch für sehr rational und unfähig zu emoti onalen Ausbrüchen, so wird er auch nicht in der Lage sein, Gefühle wie Wut undärger zuzulassen. “ 18
Charakteristisch für eine gesunde Entwicklung ist nach Rogers die grundsätzliche Fähigkeit, sein Selbstkonzept den gemachten Erfahrungen immer wieder flexibel anzupassen.
Neben dem Begriff des Selbstkonzepts nennt Rogers außerdem den Begriff des Ideal-Selbst. Es handelt sich dabei um eine Wunschvorstellung des Selbstkon- zepts. So wie das ideale Selbstkonzept beschaffen ist, möchte der Mensch sein. Rogers geht davon aus, daß der Mensch danach strebt, eine Übereinstimmung zwischen dem realen Selbst und dem idealen Selbst herzustellen. Der Grad der Übereinstimmung bestimmt, wie ausgeglichen und glücklich sich der Mensch fühlt. Die Diskrepanz zwischen dem realen Selbstkonzept und dem Ideal-Selbst wirkt sich auf den Menschen einschränkend aus, so daß psychische Störungen auftreten können. Ziel der Gesprächspsychotherapie ist es demnach, dem Klien- ten dazu zu verhelfen, ein realistisches Bild von sich zu bekommen.
2.1.5.1. Entwicklung des Selbst
Eine herausragende Bedeutung für die Entwicklung des Selbstkonzeptes kommt den Bezugspersonen des Kleinkindes zu. Aus seinen Beobachtungen und Erfahrungen seiner sozialen Umwelt zieht der Mensch von frühester Kindheit an Schlußfolgerungen für sein eigenes Selbstverständnis. Rogers unterscheidet dabei zwei unterschiedliche Bewertungsprinzipien.
Das erste Prinzip der Selbstbewertung resultiert aus „Werten, die vom Organis- mus direkt erfahren werden“.19 Es wird wirksam, sobald das Kind mit seiner Um- welt interagieren kann. Die entsprechenden Erfahrungen werden positiv bewertet, wenn sie dem Organismus im Sinne der Aktualisierungstendenz förderlich sind. Sind sie es nicht, werden die Erfahrungen negativ bewertet. So wird die Zuwen- dung der Mutter als positiv erfahren, das Alleinsein jedoch als negativ. Rogers weist jedoch daraufhin, daß sich diese Bewertungen mit Fortschreiten der kindli- chen Persönlichkeitsentwicklung ändern kann. Die gleiche Lebenssituation kann zu einem späteren Zeitpunkt ganz anders bewertet werden, wenn - das vorherige Beispiel aufgreifend - das Kind die Abwesenheit der Mutter als positiv bewertet, da es ohne sie tun oder lassen kann, was es im Sinne der Aktualisierungsten- denz gerne tun möchte. Gerät das Kind anschließend in Konflikt mit seiner Mut- ter, weil es beispielsweise in teuren Büchern malt, kommt das zweite Prinzip der Selbstbewertung zur Wirkung.
Darunter versteht Rogers solche „Werte, die von anderen introjiziert oder über- nommen“ werden.20 Neben der eigenen Einschätzung („Ich fühle mich gut und es macht Spaß, wenn ich in Papas Bücher male“) tritt die wertende Reaktion der Mutter („Was machst Du schon wieder? Du bist ein böses Kind!“). Je mehr das Kind solche fremden Bewertungen für sich übernimmt, desto weniger relevant wird der eigene Bewertungsprozeß. Wertsetzungen von wichtigen Bezugsperso- nen werden somit im Laufe der Entwicklung internalisiert und so erfahren, als wären sie eigene Werte. Häufige Kritik, Entmutigungen oder Herabsetzungen füh- ren also zu einem entsprechenden Selbstkonzept: das Kind ist der festen Über- zeugung, es sei böse, schlecht, unfähig.21
2.1.5.2. Veränderung des Selbst
Rogers weist darauf hin, daß die Entwicklung des Selbstkonzepts nie abge- schlossen sein wird, denn alle Erfahrungen, die der Mensch macht, betreffen das Selbst. Er nennt drei Möglichkeiten, wie der Mensch seine aktuell gemachten Er- fahrung in Beziehung zu seinem Selbstkonzept bringen kann. So werden Erfah- rungen, die nicht zur Befriedigung von Bedürfnissen beitragen können und somit irrelevant sind, ganz einfach ignoriert. Erfahrungen, die eine Relevanz haben und mit dem Selbstkonzept übereinstimmen, werden symbolisiert und in das Selbst- konzept aufgenommen. Symbolisierung bedeutet dabei die Bewußtmachung von Erfahrungen. Die dritte Art, Erfahrungen zu verarbeiten, kommt bei Rogers eine besondere Bedeutung zu. Es handelt sich dabei um solche Erfahrungen, die nicht mit der Selbststruktur übereinstimmen, aber als wichtig wahrgenommen werden. Diese Inkongruenz zwischen Erleben und Selbst nimmt der Mensch als „Bedrohung für die festgefügte Wahrnehmung vom Selbst“ auf.22 Ein Mensch mit einem starren, ungesunden Selbstkonzept wird dieser Bedrohung entweder durch Leugnung oder einer verzerrenden, selektiven Symbolisierung begegnen. In bei- den Fällen hat es eine Veränderung seines Selbstkonzepts umgangen.
Je weniger Erfahrungen vollkommen symbolisiert werden und dem Selbstkonzept integriert werden können, desto starrer strukturiert sich nach Rogers das Selbst und desto wahrscheinlicher werden Erfahrungen als Bedrohung erlebt und wie- derum immer inadäquater symbolisiert oder gar ganz verleugnet. Dieser Teufels- kreis gilt für Rogers als Kern psychischer Störungen. Werden hingegen alle Er- fahrungen von einem Menschen unverzerrt symbolisiert und in die Selbststruktur integriert, spricht Rogers von einer „fully functioning person“.23. Dieser voll hand- lungsfähige Mensch zeichnet sich durch ein Selbstkonzept mit einem hohen Grad an Flexibilität aus. Es ist eine Person, die sich ständig in einem Prozeß der Neu- orientierung und Veränderung befindet.
Zu den wichtigsten Voraussetzungen, eine „fully functioning person“ zu werden, gehört nach Rogers das völlige Fehlen jeglicher Bedrohung für das Selbstkonzept. Das Selbstverständnis eines Menschen kann nur dann neue, ungewohnte Erfahrungen integrieren, wenn dies in einer angstfreien, ermutigenden Atmosphäre geschieht. Wie der Lehrer sich entsprechend verhalten kann, um im Klassenzimmer Bedrohungen abzubauen, soll im folgenden gezeigt werden.
„ Das kleine Kind sieht die Erwach- senen als außerordentlich groß, ungeheuer tüchtig und märchen- haft fähig an. Nur der dem Kind ei- gene Mut hält es davon zurück, angesichts dieser Eindrücke völlig aufzugeben. Wie wunderbar ist dieser kindliche Mut! Würden wir uns plötzlich in einerähnlichen Si- tuation befinden, nämlich unter Riesen leben, denen praktisch nichts unmöglich ist - könnten wir unsere Sache so gut machen wie unsere Kinder? “
Rudolf Dreikurs
3. Zur Praxis: Das Lehrerverhalten auf Basis der personenzentrierten Gesprächsführung
Da die Persönlichkeitstheorie von Rogers davon ausgeht, daß erst in einer angstfreien und ermutigenden Atmosphäre grundlegende, auf das Selbstverständnis des einzelnen basierende Erlebens- und Verhaltensänderungen gefördert werden können, bedarf es auch in der Schule eines grundlegenden Wandels des menschlichen Miteinanders. Kritik, Herabsetzungen oder gar Strafen können störendes, unerwünschtes Verhalten im Unterricht nicht dauerhaft unterbinden. Die individualpsychologische Schule nach Alfred Adler sieht im störenden Verhalten des Schülers und einem hierachisch-autoritären Unterrichtsstil sogar einen kausalen Zusammenhang. So schreibt Rudolf Dreikurs:
„ Ein ungezogenes Kind ist immer ein entmutigtes Kind “ 24
Sollen Disziplinprobleme im Unterricht gelöst, also Erlebens- und Verhaltensän- derungen beim Schülern herbeigeführt werden, kann dies - auch nach Dreikurs - allein in einer angstfreien und ermutigenden Art und Weise gelingen. Im „demo- kratischen Klassenzimmer“ herrscht nicht mehr der Lehrer, sondern eine Atmo- sphäre der sozialen Gleichwertigkeit. Dreikurs ist der Meinung, daß in dem Maße, wie der Mann die Herrschaft über die Frau verlor, beide die Herrschaft über die Kinder verloren. Gleichwertigkeit sei ein geschichtlicher Entwicklungsprozeß: so wie erst Schwarze, Arbeiter oder Frauen in den sich demokratisierenden Staaten Gleichberechtigung erlangten, so fordern heute die Kinder ebenfalls gleiche Rechte.25 In der Lehr- und Ausbildungspraxis hat sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt. Vielen erscheint die Vorstellung, ein Schüler habe die glei- chen Rechte wie ein Lehrer als abwegig, obgleich sie zwar jedem Erwachsenen unabhängig seiner Religion, Bildung, Herkunft, Besitzes oder Äußeres als gleichwertig akzeptieren würden. Dazu ist zu sagen, daß die Adler-Schule unter sozialer Gleichwertigkeit nicht Gleichermacherei, sondern die Achtung vor der- selben Würde und Ansehen des Kindes, seiner Rechte und Interessen als Schü- ler versteht.
„ Im demokratischen Klassenzimmer sollte gegenseitige Achtung herrschen - Achtung vor der Würde des anderen und Selbstachtung. Das bedeutet, daßjede Person mit Respekt begegnet wird, daßihre Ideen, ihre Vorschlä- ge und Beiträge angenommen, und ebenso, daßihre Beiträge zurückgewie- sen werden, wenn sie für eine bestimmte Situation nicht brauchbar sind, aber gleichzeitig nicht der Mensch zurückgewiesen wird. Respekt beinhal- tet die Erkenntnis, daßder andere sowohl etwas anzubieten hat als auch das Recht hat, es anzubieten. “ 26
Gegenseitige Achtung basiert nach Dreikurs auf soziale Gleichwertigkeit, wogegen Selbstachtung bedeute, „ daßman sich nicht durch Zwang in den Dienst anderer stellen l äß t, daßman zu seiner Meinung steht, ohne sich in Machtkämpfe verwickeln zu lassen, daßman schwächere oder jüngere nicht ausnutzt oder andere be straft, weil sie die eigenen Vorstellung nicht akzeptieren. “
Die Voraussetzung dafür ist nach Dreikurs, seine Achtung anderen in Wort und Tat zum Ausdruck zu bringen: durch eine bestimmte Art zu sprechen, zuzuhören und die Gefühle des anderen zu verstehen.27 Die personenzentrierte Gesprächs- führung nach Carl R. Rogers bietet dazu dem Lehrer das nötige Verhaltensreper- toire an: Echtheit, einfühlendes Verstehen und Wertschätzung. Da es sich bei diesen drei Verhaltensmerkmalen im Grunde um allgemeinmenschliche Einstel- lungen anderen Personen gegenüber handelt, sind sie ohne weiteres auf das Lehrerverhalten übertragbar.
Weil die Gesprächspsychotherapie mittlerweile eines der am häufigsten erforschten Therapieverfahren ist28, läßt sich sagen, daß sich die Gesprächshaltungen des Therapeuten Echtheit, einfühlendes Verstehen und Wertschätzung in der Praxis bewährt haben.
„ Helfende Personen mit gr öß erem gleichzeitigen Ausmaßder drei Haltun- gen und Aktivitäten hatten Gesprächspartner, die von den Gesprächen mehr befriedigt waren und sich konstruktiver wandelten als Gesprächspart- ner von Helfern mit durchschnittlichem oder geringem Ausmaßin diesen drei Haltungen. “
Damit ist auch die Untersuchung, inwieweit die Gesprächshaltungen der personenzentrierten Gesprächsführung auf den schulischen Alltag anwendbar sind, gerechtfertigt.
3.1.Echtheit/Selbstkonkruenz
Eine besondere Voraussetzung für die Bildung einer effektiven Lehrer-Schüler- Beziehung - stellt die Echtheit bzw. Selbstkonkruenz auf seiten des Lehrers dar. Rogers erläutert den Begriff wie folgt:
„ Statt des Begriffs ‘ Echtheit ’ oder ‘ Wirklichsein ’ habe ich manchmal das Wort ‘ Konkruenz ’ benutzt. Damit meine ich folgendes: wenn mein Erleben dieses Augenblicks in meinem Bewußtsein präsent ist und wenn das, was in meinem Bewußtsein präsent, auch in der Form, wie ich mit anderen kommuniziere, präsent ist, dann stimmen diese drei Ebenen miteinanderüberein, sie sind kongruent... Ich habe die Erfahrung gemacht, daßWirk- lichsein oder Echtheit oder Kongruenz - wie auch immer Sie es nennen wollen - eine bedeutsame Basis für Kommunikation im besten Sinne des Wortes ist. “ 29
Stimmen also Erfahrung, Bewußtsein und Kommunikation überein, spricht Ro- gers von Konkruenz. Dies erfordert vom Lehrer erstens eine Offenheit gegenüber seinem eigenen Erleben und zweitens eine Selbstöffnung seinem Schüler gegen- über.30
‘Offenheit gegenüber sich selbst’ ist ein Vorgang, der sich der direkten Beobach- tung entzieht. Trotzdem ist es einem Schüler häufig möglich, zwischen Konkruenz oder Inkonkruenz von Erleben und Bewußtsein beim Lehrer zu unter- scheiden: die Überzeugungskraft non-verbaler Verhaltensweisen ist erheblich größer als der Sprechakt selbst. So wirkt ein Lehrer mit gepreßter Stimme und zurücknehmender Körperhaltung wenig glaubwürdig, wenn er einem Schüler ver- sichert, er könne mit ihm ‘über alles’ reden. Eine wenn auch oberflächliche Deu- tung dieses widersprüchlichen, unklaren Lehrerverhaltens im Sinne Rogers Per- sönlichkeitstheorie ergäbe, daß das (Selbst-) Erlebnis des Lehrers nicht oder nur verzerrt von ihm symbolisiert wird. Der Lehrer verwechselt in diesem Fall sein Real-Selbst mit seinem Ideal-Selbst, indem er sich selbst für offen und allzeit gesprächsbereit hält, in der Tat aber auf den Schüler eine eher distanzierende (Gesprächs-) Haltung einnimmt. So weist Rogers darauf hin, „daß man dort, wo eine Inkonkruenz zwischen Erfahrung und Bewußtsein vorliegt, im allgemeinen von einer Abwehrhaltung oder einer Verdrängung aus dem Bewußtsein spricht“.31
Eine zweite Form der Inkonkruenz liegt nach Rogers vor, wenn Bewußtsein und Kommunikation nicht übereinstimmen. In diesem Fall spricht er von Falschheit oder Täuschung. Der Eindruck des Schülers von Falschheit im Lehrerverhalten kann zum Beispiel auf einen Vergleich zwischen einem aktuellen und einem frü- heren Lehrerverhalten beruhen. So wirkt ein Lehrer wenig echt, wenn er an einem Tag störendes Verhalten mit Nachsicht begegnet und an einem anderen Tag das gleiche Verhalten mit Strenge ahndet.32 Auch der Vergleich zwischen dem Leh- rerverhalten im und außerhalb des Unterrichtes kann dazu führen, daß ein Schü- ler seinen Lehrer als unecht erlebt. So zeigt sich ein Lehrer wenig durchschaubar und vertrauenswürdig, wenn er außerhalb des Unterrichtes nach anderen Lebensmaximen als denen seines pädagogischen Konzeptes lebt.
Für Rogers ist die Gesprächshaltung Echtheit jedoch kein Freibrief dafür, ohne Rücksicht auf das Gegenüber seine Empfindungen, insbesondere Feindseligkeiten, auszudrücken. Dieses Verhalten ist nach Rogers eher kommunikationshemmend, da sich der Lehrer selbst in den Mittelpunkt des Geschehens rückt und die Gefühle des Schülers vernachläßigt. Der Lehrer sollte sich vielmehr auf die Mitteilung von solchen Selbstwahrnehmungen beschränken, die für die Beziehung zum Schüler bedeutsam sind. Andererseits besteht immer dann die Gefahr eines „distanziertes, routinehaftes, berufsmäßiges Gehabe“33, wenn der Lehrer seine innere Beteiligung gar nicht zum Ausdruck bringt.
Über die positive Wirkung der Gesprächshaltung Echtheit in helfenden Gesprächssituationen weist Alterhoff hin:
„ Wir sind sicher, daßdieser Helfer uns nichts vormacht und sich so gibt, wie er sich in unserem Zusammensein tatsächlich fühlt. Wir können jeder seineräußerung trauen [...] Wir müssen nicht befürchten, daßer uns et- was vorspielt oder etwas für unsere Beziehung Wichtiges verheimlicht. In diesem Sinne erleben wir ihnäußerst zuverlässig [...] Wir können erleben, wie er mit seinen Gefühlen umgeht [...]; denn er spricht sie offen aus. Er verfolgt keine ‘ Strategie ’ , die er uns verheimlicht. Er stellt keine Rück- schlüsse oder Interpretationen an, die sich auf unser Verhalten beziehen. Er teilt sich selbst mit. “ 34
Der Schüler wird diese Eindrücke sicherlich nicht in der beschriebenen Art und Weise verbalisieren, doch stellt das Zitat eine begriffliche Übersetzung der kind- lichen Erfahrungen von Sicherheit, Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit, Offen- heit und Vorurteilslosigkeit des Lehrers dar - Bedingungen einer gelungenen Kommunikation, die die Tendenz des Schülers zur Selbstverwirklichung fördern statt blockieren.
3.1.1. Ich-Botschaften
Wenn der Lehrer einem Schüler über sich Auskunft gibt, tut er dies, indem er sein subjektives Erleben schildert und nicht den Eindruck vermittelt, er mache eine quasi-objektive Aussage. Der Schüler behält die Freiheit, demgegenüber sein eigenes subjektives Erleben dem Lehrer mitzuteilen. Eine solche Äußerung wird Ich-Botschaft genannt.35
Ich-Botschaften haben drei Komponenten: eine kurze Beschreibung des stören- des Verhaltens („Wenn Du unpünktlich bist,...“), ausgelöste, ehrliche Gefühle („... ärgere ich mich darüber,...“) und greifbare, konkrete Wirkung/logische Folgen („...da ich in erheblichen Zeitdruck mit meiner Arbeit komme.“). Die Ich-Botschaft zeigt gegenüber dem Schüler, daß der Lehrer ihm Wertschätzung und Respekt entgegenbringt, weil er sein eigenes situatives Empfinden über das Schüler Verhalten klar widerspiegelt, ohne den Schüler als Person herabzusetzen. Dadurch schafft der Lehrer einen Freiraum, damit der Schüler selbstgesteuert sein Verhalten ändern kann. Gordon weist darauf hin:
„ Unsere Erfahrung hat gezeigt, daßIch-Botschaften im allgemeinen keinen Einflußhaben, es sei denn, der behauptete Effekt auf den Lehrer erscheint in den Augen des Schülers wirklich stichhaltig [...] Wenn ein Schüler je- doch versteht (oder ‘ es abnimmt ’ ), daßsein Verhalten jetzt dem Lehrer ein wirkliches Problem verursacht (oder verursachen könnte), wird er mehr zu eineränderung motiviert. “ 36
Ich-Botschaften haben also nur dann einen Sinn, wenn eine gegenseitige Verstehensbereitschaft vorausgesetzt werden kann. Dies kann der Lehrer durch eine weitere grundlegende Gesprächshaltung fördern.
3.2.Einfühlendes Verstehen
Für Rogers ist einfühlendes Verstehen keine Gesprächs technik, sondern eine Gesprächs haltung, da sie den Zustand eines Menschen umfaßt. Sie basiert auf die Erkenntnis, daß es „ebenso viele Wirklichkeiten, wie es Menschen gibt“37. Die innere ‘private Logik’38 seines Gegenübers genau wahrzunehmen, definiert Ro- gers wie folgt:
„ Wenn der Therapeut die Gefühle und persönlichen Sinngebungen erfaßt, die der Klient in jedem Augenblick erfährt, wenn er diese von ‘ innen ’ , so wie sie den Klienten erscheinen, wahrnehmen kann, und wenn es ihm ge lingt, etwas von seinem Verständnis dem Klienten mitzuteilen “ , dann sei einfühlendes Verstehen verwirklicht. 39
Die Gesprächshaltung einfühlendes Verstehen verlangt vom Lehrer also zweierlei: das präzise Wahrnehmen der inneren Erlebniswelt des Schülers und dessen Rückmeldung in „einfacher verständlicher konkreter Form“, wie Tausch u.a. betonen.40 Alterhoff gibt eine genaue Charakterisierung zur Gesprächshaltung ein fühlendes Verstehen im Hinblick auf die Therapeut-Klient-Beziehung:
„ Die Konzentration des Beraters ist ausschließlich auf die Gefühle des Klienten gerichtet. [...] Die Formulierungen sind möglichst konkret und an- schaulich, kurz und exakt. [...] Dem Berater ist immer bewußt, daßseine Verbalisierung nur Hypothesen oder Annäherungen an das Gefühl des Klienten sein können. [...] Der Berater teilt dem Klienten so oft wie mög- lich das einfühlend Verstandene mit. [...] Der Berater drückt die von ihm nachempfundenen Gefühle möglichst direkt aus siert die augenblicklich erlebten oder sog. ‘ Hier-und-Jetzt-Gefühle ’ . Er versteht, wie der Klient sich jetzt fühlt. “ 41:
Die psychotherapeutische Forschung hat verschiedene positive Wirkungen nachgewiesen, weshalb auch ein einfühlend verstehender Lehrer bei einem Schüler davon ausgehen kann. So wird sich auch der Schüler einerseits verstanden und andererseits für sich selbst verantwortlich fühlen.
Verstanden fühlt sich der Schüler insofern, da die Gesprächshaltung des Thera- peuten gleich zu Beginn seine emotionale Nähe deutlich macht und einer Hiera- chiesierung der Lehrer-Schüler-Beziehung entgegenwirkt. Da der Lehrer nicht allein sagt „Ich verstehe Dich“, sondern sein Wahrnehmung von den Gefühlen des Schülers rückmeldet, gibt er ihm gleich die Indizien seines Verständnisses mit. Der Schüler bekommt das Gefühl, verstehbar zu sein, sich mitteilen zu kön- nen. Gleichzeitig erfährt er den Lehrer als jemanden, der ihn versteht, seine Ge- fühle nachvollziehen kann. So wird er den Lehrer als gleichwertigen (Gesprächs-) Partner erfahren und nicht als übergeordneten Repräsentant einer ansonsten e- her anonymen Institution ‘Schule’.
Da der Lehrer es vermeidet, auf vom Schüler genannten Personen oder Sachverhalte, die sich außerhalb der eigenen Erlebniswelt des Schülers befinden, einzugehen, verhilft er ihm, seine Äußerungen ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Alterhoff referiert den Prozeß der Selbstkonzentration, wie sie die psychotherapeutische Forschung ermittelt hat:
„ Er [der Klient] verliert die Neigung, die Lösung seiner Schwierigkeiten bei anderen oder durch andere zu suchen. Er fragt nicht nach Ratschlägen; denn er ist zu derüberzeugung gelangt, bei sich selbst den effektivsten Ansatz zur Behebung seiner Probleme suchen zu müssen. “ 42
Die Wirkung des einfühlenden Verstehens auf die Selbstkonzentration des Schülers ist entscheidend, da das Ausmaß der Hinwendung zu sich selbst mit einer selbständigen Änderung des Erlebens und Verhaltens zusammenhängt.
3.2.1. Aktives Zuhören
Wohl die wenigsten Schüler werden aber dem Lehrer gegenüber offen ihre Gefühle darlegen. Wenn sie es dennoch tun, ist anzunehmen, daß sie ihre Gefühle verschlüsselt mitteilen. So wird zum Beispiel ein Schüler fragen: „Werden wir schon bald eine Klassenarbeit schreiben?“43 Ein einfühlend verstehender Lehrer wird diese Frage entschlüsseln können und sein Verständnis von den Gefühlen des Schülers rückmelden: „Es macht Dir sorgen, bald geprüft zu werden.“ War bisher nur von der Gesprächs haltung die Rede, wird jetzt die konkrete Gesprächs technik deutlich: das aktive Zuhören.
Mucchielli unterscheidet dabei drei Arten der Rückmeldung: das Spiegeln (Verba- lisierung als Wiedergabe), die Hervorhebung latent vorhandener Gefühle (Verba- lisierung als umkehrbare Beziehung) oder die Verbalisierung solche Gefühle, die dem Gesprächspartner selbst noch gar nicht bewußt sind bzw. er noch nicht in der Lage ist, diese auszudrücken (klärende Verbalisierung).44 Letzteres ge- schieht, wenn dem Gesprächspartner der „zentrale Sinne oder die für ihn rich- tungsgebende emotionale Bedeutung seiner Äußerung“45 nachempfunden und mitgeteilt wird. Es liegt auf der Hand, daß diese Art der Verbalisierung der Pro- fession des Therapeuten näherkommt als der des Lehrers und eine Überforde- rung rasch gegeben sein würde. Eine zu gewagte Interpretation seiner Äußerung würde der Schüler außerdem nicht als einfühlendes Verstehen, sondern eher als eine Bewertung oder Beurteilung erleben.
Gordon weist auf die Bedingungen hin, die ein Lehrer erfüllen sollte, wenn er aktives Zuhören gegenüber einem Schüler einsetzt46:
- So sollte der Lehrers ein hohes Maßan Vertrauen haben, daßder Schü- ler selbst fähig ist, für seine Probleme Lösungen zu finden, soweit es sein ‘ Tempo ’ bestimmt.
- Der Lehrer sollte in der Lage sein, dieäußerungen des Schülers ehrlich anzunehmen, wie ‘ lächerlich ’ , ‘ unbegründet ’ etc. diese auch immer aus Sicht seiner eigenen Erlebniswelt sein sollten.
- Auch mußer begreifen, daßdie von dem Schüler geäußerten Gefühle immer nur aktuelle Gefühle sind und sich schnelländern können.
- Schließlich mußer sich Zeit nehmen.
- Er sollte sich außerdem von den Gefühlen des Schülers distanzieren können, sie also erleben ‘ als ob ’ es seine eigenen wären. L äß t er es zu, daßes wirklich seine Gefühle werden, beunruhigt er den Schüler nur.
- Der Lehrer mußdarüber hinaus die Prozeßhaftigkeit der inneren Ausei- nandersetzung bei dem Schülern erkennen und begreifen, daßnicht so- fort andere Menschen wie Schulpsychologen oder Eltern an den Proble- men beteiligt werden können.
- Der Lehrer mußschließlich die Aussagen der Schüler vertraulich behan- deln.
Neben den bereits genannten Wirkungen ‘Schaffung einer gleichwertigen Kommunikationssituation’ und ‘Konzentration auf das eigene Erleben und Verhalten’ weist Gordon aber auch auf einen anderen, für das eigentliche Unterrichtsgeschehen wesentlichen Punkt hin:
„ Außerdem, wenn Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler auf gegensei- tiger Zuneigung, Respekt und Liebe beruhen, nehmen Probleme der Diszip- lin ab. Kinder stören nicht mehr und machen dem Lehrer, den sie respek- tieren keine Schwierigkeiten. So kann die Zeit, die früher damit verbracht wurde, Disziplin herzustellen, zum Lehren und Lernen verwendet werden. “ 47
‘Aktives Zuhören’ vermeidet außerdem Tips oder Ratschläge, sondern läßt die Verantwortung für Lösungen bei dem Schüler. Er selbst muß und kann mit schwierigen Situationen und mit seinen Gefühlen ‘fertig werden’. Der Lehrer vermittelt dem Schüler allerdings, daß diese Gefühle ‘nichts Schlimmes’ sind, der Schüler keine Angst vor ihnen haben braucht.48
Erfährt der Schüler durch den Lehrer außerdem emotionale Wärme und positive Wertschätzung, wird die Selbstauseinandersetzung und schließlich eine Änderung seines Erlebens und Verhaltens beim Schüler zusätzlich gefördert.
3.3 Emotionale Wärme/Wertschätzung
Damit liegt die unmittelbare Nähe zwischen der Gesprächshaltung einfühlendes Verstehen und der dritten von Rogers geforderten Haltung emotionale Wär me/Wertschätzung auf der Hand: Die Wertschätzung eines Lehrers seinem Schüler gegenüber wird erst in einer verständnisvollen, empathischen Äußerung zum Ausdruck kommen. Die Wechselwirkung zwischen Verständnis und Akzeptierung im Sinne von Wertschätzung betont Schmid:
„ Akzeptieren, ohne zu verstehen, ist zu wenig - Verständnis, ohne zu ak - zeptieren, ist entmutigend. “ 49
Trotzdem lassen sich beide Gesprächshaltungen voneinander abgrenzen, da ein fühlendes Verstehen immer mit einer verbalen Rückmeldung vollzogen wird, e- motionale Wärme/ Wertschätzung jedoch eher durch non-verbales Lehrerverhalten ausgedrückt wird.50 So läßt sich emotionale Wärme nicht oder nur sehr selten mit Worten ausdrücken lassen wie „Ich finde Dich sympathisch, Julia“, wenn diese Worte nicht durch entsprechende Verhaltensweisen wie einem freundlichen Blick und einer freundlichen Stimme untermauert werden. Rogers schreibt über diese Gesprächshaltung in der Gesprächspsychotherapie:
„ Es bedeutet eine Art Liebe zu dem Klienten, so wie er ist; vorausgesetzt, daßwir das Wort Liebe entsprechend dem theologischen Begriff Agape [im Sinne der Nächstenliebe, P.A.] verstehen und nicht in seiner romantischen oder besitzergreifenden Bedeutung. Das Gefühl, das ich beschreibe, ... achtet den anderen Menschen als eigenständiges Individuum und ergreift nicht Besitz von ihm. Es ist eine Art der Zuneigung, die Kraft hat und die nicht fordert. “ 51
Damit stellt sich emotionale Wärme/Wertschätzung als eine Gesprächshaltung des Lehrers dar, mit der dieser nichts beim Schüler einfordern möchte; sie ist an keine Bedingungen geknüpft. Einen Schüler so annehmen, wie er ist, hat weitrei- chende Konsequenzen für das Lehrerverhalten: auf alle bewertende Äußerungen wie moralische Werturteile, Belehrungen und Kritik, aber auch auf Lob und Aner- kennung sollte verzichtet werden. Dadurch wird dem Schüler die Möglichkeit ein- geräumt, von sich aus eigene Wertvorstellungen zu entwickeln. Eine besondere Wirkung dieser Gesprächshaltung nennt darüber hinaus Alterhoff mit dem Begriff des „reziproken Affektes“.52 Dieser besagt, daß unter bestimmten Umständen die Äußerung und Darstellung von bestimmten Gefühlen eines Menschen bei seinem Gegenüber ähnliche Gefühle auslöst. So wird ein Schüler, der Wärme und Wert- schätzung vom Lehrer erfährt, auch mit Wärme und Wertschätzung für den Leh- rer reagieren.
Rogers betont außerdem, daß neben einer Verbesserung der Beziehung, emotio- nale Wärme/Wertschätzung einen förderlichen Einfluß auf die Veränderungsbe- reitschaft des Gegenüber hat. In einer angstfreien Atmosphäre wird sich der Schüler sicher genug fühlen, sich seinem eigenen Erleben und Verhalten zuzu- wenden.53 Nach Alterhoff wird häufig die Wirkung mit dem Prinzip der „Gegen- konditionierung“ lerntheoretisch begründet: so verlieren angstauslösende Reize ihre Wirkung, wenn sie häufig in Gegenwart angsthemmender Bedingungen auf- treten.
Auf den ersten Blick erscheint es wenig realistisch, auch in der Lehrer-Schüler- Beziehung emotionale Wärme und Wertschätzung in diesem angstfreien, gleich- wertigen Sinne als Gesprächshaltung handhaben zu können. So ist es ist doch gerade das Wesen des derzeitigen Schulsystems, lernwillige Schüler für ‘gut’ und lernunwillige Schüler für ‘schlecht’ zu bewerten. Zensuren sind noch heute ein typisches System von Belohnung und Bestrafung. Obwohl auch Dreikurs u.a. befürworten, man sollte sich ein realistisches Bild von Schulregeln und Verwal- tungsvorschriften machen, obgleich sie falsch oder unangemessen sein können, geben sie doch dem Lehrer eine Handreichung, wie er die entmutigende Wirkung von Zensuren ausgleichen kann.
„ Er kann es unterlassen, sie [die Zensuren, P.A.] als seinen ‘ Urteilsspruch ’ zu vergeben. Er kann aus der Notengebung, die so unerfreulich und demü- tigend ist, eine gemeinsame Aufgabe machen. Alle können nicht nur gemeinsam daran arbeiten, welche Zensuren jedes Kind bekommen soll, denn der Lehrer ist ja zur Notengebung verpflichtet, sondern auch, wie sie den schwachen helfen können, schlechte Zensuren zu vermeiden. [...] In einer kooperativen Atmosphäre bringt es keinen ‘ Ruhm ’ ein, ein guter Schüler, sehr klug und allen voraus zu sein, sondern es bringt die Verant- wortung mit sich, anderen zu helfen und sich nützlich zu machen. “ 54
Ein kooperativer, auf emotionaler Wärme und Wertschätzung aufbauender Unterricht ist - wie das Zitat deutlich macht - weit davon entfernt, einem Laissez-faire- Stil dem Mund zu reden. Disziplin und Ordnung wird nur nicht als Kontrolle und Besserung durch Strafmaßnahmen verstanden, sondern als Verhaltensregeln, die sich die Klasse selbst auferlegt:
„ Im demokratischen Klassenzimmer sind Schüler und Lehrer gemeinsam an der Planung, Organisation und Ausführung ihrer gemeinsamen Aktivitäten beteiligt. “ 55
Die Vermittlung von Disziplin wird zu einem fortlaufenden Prozeß, an dem alle beteiligt sind, und wird nicht nur dann relevant, wenn störendes Verhalten das Unterrichtsgeschehen beeinträchtigt. Drohungen sind keine wirksame Methode zur Disziplinierung. Zwar werden manche Kinder für den Augenblick einge- schüchtert, eine Änderung ihrer Grundeinstellung, d.h. ihrer fehlgeleitete Ziele, erfolgt aber nicht.
3.3.1. Ermutigung
Dreikurs u.a. betonen, daß störendes Verhalten in der Regel eng mit einem unrealistischem, von Minderwertigkeitsgefühlen geprägtes Selbstkonzept des Schülers zusammenhängt, das ihn in bezug auf seine Wertigkeit, seine soziale Stellung und der Vorstellung, wie es sich dementsprechend verhalten muß, hat, um in der Klassengemeinschaft seinen Platz zu finden. So sehen sie in der Ermutigung des Schülers durch eine Stärkung des Positiven in ihm und eine Bagatellisierung des Negativen, eine konstruktive Möglichkeiten, Disziplin im Unterricht zu erreichen. Emotionale Wärme / Wertschätzung als Gesprächshaltung dient in diesem Sinne auch der Ermutigung des Schülers.
Es gibt bestimmte Verhaltensweisen, die es wahrscheinlicher machen als ande- re, daß emotionale Wärme und Wertschätzung vom Schüler aufgenommen wer- den und ermutigend wirken. Schoenaker hat folgende Fähigkeiten beschrieben: anlächeln, freundliche Geste, freundlicher Blick, sich dem Kind zuwenden, „dan- ke schön“, „das klappt schon“, Interesse zeigen, kleine Fortschritte anerkennen, Unterstützung und Begleitung in schwierigen Situationen, Freude haben und Spaß machen, zuhören und mitfühlen, das Kind akzeptieren, so wie es ist, Ge- danken des Kindes ernstnehmen, das Kind fragen, ob es Lösungen hat, in den Arm nehmen.56
Die Aufzählung macht deutlich, daß nicht allein die letzte der beschriebenen Ge- sprächshaltungen ermutigend wirkt, sondern alle drei Haltungen: Echt- heit/Selbstkonkruenz, einfühlendes Verstehen und emotionale Wär- me/Wertschätzung ineinandergreifen und in ihrer Summe positiv auf das Erleben und Verhalten des Schülers Einfluß nehmen. Schoenaker weist außerdem darauf hin, daß jeder diese Haltungen und Fähigkeiten lernen könne:
„ Das Erlernen von neuen Verhaltensweisen geschieht durchübung.üben erfolgt durch Tun.[...] Das, was Du tust, ist das, was Du willst. “ 57
Alterhoff warnt hingegen vor zu viel Optimismus und meint, daß emotionale Wärme und Wertschätzung nur als „ idealtypische Formulierungen, als anzustrebende Zielvorstellung oder als Verhaltensideal “ zu verstehen sind, „ denen man sich zwar nähern, die man aber nie erreichen kann. “ 58
Wer positive Wertschätzung in einem perfekten Sinne verstehe, entmutige sich letztlich selber, so Alterhoff, da er dem angestrebten Ideal nicht nachkommen könne.
4. Schlußbetrachtung
Auf den vorherigen Seiten wurde deutlich, daß die drei Haltungen der personen- zentrierten Gesprächsführung nach Carl R. Rogers eine grundlegende Änderung des Selbstverständnisses von Lehrern, Schülern und ihrer Interaktion im Unter- richt nach sich ziehen: der Lehrer ist Partner der Schüler und hat seine Macht über sie verloren; die Schüler sind gleichwertig und haben genausoviel Verant- wortung wie der Lehrer; gemeinsam schaffen Lehrer und Schüler Regeln der Zu- sammenarbeit und suchen Lösungen bei Disziplin- oder anderen Problemen.
Sind die Gesprächshaltungen einfühlendes Verstehen und emotionale Wär me/Wertschätzung durch verbale und non-verbale Verhaltensweisen des Lehrers dem Schüler direkt erfahrbar, so ist die Gesprächshaltung Echt heit/Selbstkonkruenz eher ein innerpsychischer Vorgang des Lehrers, der sich nicht unmittelbar dem Schüler offenbart. Sperber betont die Notwendigkeit dieser innerpsychischen Auseinandersetzung, wenn er schreibt:
„ Die erste goldene Regel - die Beseitigung des autoritären Prinzips der Er- ziehung - hat bestimmte charakterologische Voraussetzungen. Man mußes sich sozusagen charakterlich leisten können, in Situationen nicht auto- ritär zu sein, in denen man es besonders leicht hätte, mit autoritären Mit- teln vorzugehen. Die Voraussetzungen sind: das Gefühl der Selbstsicher- heit, Kontaktfähigkeit, die Fähigkeit, selbst Subjekt zu sein und zugleich den anderen als Subjekt anzuerkennen - und zu verstehen, daßman dem andern nur Objekt ist. “ 59
Soll die Kommunikation zwischen dem Lehrer und seinen Schüler gefördert wer- den, hat also der Lehrer in einer „vertieften Selbstkenntnis und einer aktiven Selbsterkenntnis“60 eine Bringschuld zu leisten. Er muß erkennen, daß seine Profession nicht nur die Vermittlung von kognitiven und methodischen (im schlechtesten Fall unter Lobausschüttung oder Strafandrohung), sondern auch von sozialen und affektiven Fähigkeiten ist. Damit löst er sich vom Dasein eines bloßen Unterrichtsbeamten und wird zum Erzieher seiner Schüler. Nimmt er die- se Rolle an, wird er unweigerlich zum Erzieher seiner selbst. Erziehung wird so zur „Charakterprobe“ eines Lehrers und erst in zweiter Linie eine Probe seiner Intelligenz und Bildung.61
Daß die Lehrerausbildung auf pädagogische wie auch auf psychologische Grundlagen wenig wert legt, erweckt den Eindruck, ‘gute’ Lehrer wären Naturtalente, ‘schlechte’ hätten ihren Beruf verfehlt. Diese Auffassung verkennt, daß eine ermutigende Haltung und ein entsprechendes Verhalten erlernbar ist. Die drei Gesprächshaltungen der personenzentrierten Gesprächsführung nach Carl R. Rogers und die genannten individualpsychologische Erkenntnisse der Adler-Schüler Manès Sperber und Rudolf Dreikurs sowie dem Dreikurs-Schüler Theo Schoenaker haben gezeigt, daß dies nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich ist. Sowohl die personenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers als auch eine ermutigte Haltung und entsprechende ermutigende Fähigkeiten können von jedem Lehrer und Lehramtsanwärter eingeübt werden. Entsprechende Fortbildungsmaßnahmen stehen jedem offen.62
Bleibt die Frage, ob die Elemente der personenzentrierten Gesprächsführung ständiges Verhaltensmerkmal des Lehrers sein können, schließlich geht Rogers von der Therapeut-Klient-Beziehung aus und nicht von einer Gruppensituation. Auf den ersten Blick ist eine Übertragung nur im Einzelgespräch außerhalb des Unterrichtes oder im Elterngespräch des Lehrers möglich. Dreikurs u.a. und Gordon gehen aber wie selbstverständlich davon aus, daß sich verschiedene E- lemente auch in der Klasse einsetzen lassen, indem sie Klassendiskussionen (Gordon) bzw. Gruppengespräche, Klassenversammlungen und Klassenräte (Dreikurs u.a.) anführen. Schoenaker gibt einen Eindruck darüber, wie ein ermu- tigendes Zusammensein in einer Gemeinschaft aussehen könnte:
„ 1. Jeder hat das Recht zu sprechen und zuzuhören (Niemand mußspre- chen).
2. Jeder spricht von sich, macht keine Du-Aussagen, stellt keine Fragen, steigt nicht in Dialoge ein.
3. Pausen, bis der nächste anfängt zu sprechen, gehören dazu.
4. Die Zeitdauer der Sitzung soll - abhängig von der Gruppengr öß e - 90 Minuten nichtüberschreiten und nicht kürzer sein als 10 Minuten. “ 63
Der Lehrer selbst wird solange eine führende Rolle übernehmen und die Klasse einüben, bis er sich zurücknehmen kann und selbst Teil der Gruppe wird. Allerdings wird er auch dann noch lenkend durch Vorschläge und Fragen eingreifen. Denn Gruppengespräche in diesem Sinne sind keine Debattierclubs, die ohne Führung im Chaos enden würden, sondern sie zielen darauf ab, Schülerverhalten zu verändern und zudem ein positives Selbstbild zu fördern.
Es soll deutlich werden, daß die personenzentrierte Gesprächsführung im Unterricht sich nicht als Methode im eigentlichen Sinne versteht, sondern als grundlegende Haltung des Lehrers gegenüber seinen einzelnen Schülern bzw. der gesamten Klasse. Die Haltung und ihre Verhaltensweisen sind erlernbar; niemand muß aber meinen, sofort oder jemals ein perfekt einfühlender, echter und wertschätzender Lehrer zu sein oder zu werden. Auch für den sich bemühenden Lehrer gilt schließlich: „So wie ich bin, bin ich gut genug.“
Literaturverzeichnis
Altenthan, S. u.a.: Psychologie. Hg. von Hermann Hobmair. Köln und München 1991
Alterhoff, Gernot: Grundlagen klientenzentrierter Beratung. 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1994
Dreikurs, Rudolf u.a.: Lehrer und Schüler lösen Disziplinprobleme. Hg. von Hans Josef Tymister. Weinheim und Basel 1987
Dreikurs, Rudolf: Selbstbewußt. Die Psychologie eines Lebensgefühls. München 1995
Dreikurs, Rudolf/Soltz, Vicki: Kinder fordern uns heraus. Wie erziehen wir sie zeitgemäß? 2. Aufl., Stuttgart 1997
Gordon, Thomas: Lehrer-Schüler-Konferenz. Wie man Konflikte in der Schule löst. Hamburg 1977
GwG e.V. (Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie) u.a.: Antworten zu dem Schreiben des Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen
- Arbeitsausschuß „Psychotherapie-Richtlinien“ - vom 13.02.1996 zur Frage der Anerkennung der Gesprächspsychotherapie als Verfahren gemäß B I 3, der Psychotherapie-Richtlinien. o.O. Februar 1997 (Manuskript)
Metzger, W.: Psychologie. Darmstadt 1968.
Rogers, Carl R.: Die klientenzentrierte Gesprächsführung. München 1981 Rogers, Carl R.: Der neue Mensch. Stuttgart 1987
Rogers, Carl R.: Therapeut und Klient. Frankfurt/Main 1990
Rogers, Carl R.: Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart 1991
Schoenaker, Theo u.a.: Mit Kindern in Frieden leben. Sinntal 1997
Schoenaker, Theo: Mut tut gut. „Ich weiß, ich bin okay“. Das EncouragingSchoenaker-Training. 5. Aufl., Stuttgart 1996
Schulz von Thun, Friedemannn: Miteinander Reden 1. Störungen und Klärungen. Reinbeck bei Hamburg 1981
Sperber, Manès: Individuum und Gemeinschaft. Versuch einer sozialen Charakterologie. München 1987
[...]
1 Sperber 1987, 320
2 ebd., 321
3 vgl. Anlage 1. „Der Kontext der klientenzentrierten Gesprächsführung. Beratung und Psychotherapie.“
4 vgl. den ZDF-Fernsehfilm über Carl R. Rogers „Die Kraft des Guten“ von Rainer und Annema - rie Tausch aus der Reihe „Wege zum Menschen“.
5 vgl. GwG 1997
6 zit. nach Alterhoff 1994, 40
7 e bd., 41
8 ebd., 44; vgl. dazu Altenthan u.a. 1991, 364ff.
9 Alterhoff 1994, 45
10 Rogers 1959, 224; zit. nach Alterhoff 1994, 56
11 zit. nach Alterhoff 1994, 49
12 Metzger 1968, 15, zit. nach Alterhoff 1994, 49
13 Watzlawik 1988, 137f., zit. nach Alterhoff 1994, 50f.
14 Alterhoff 1994, 51
15 ebd., 52
16 vgl Altenthan 1991, 415f.
17 Rogers 1990, 42; zit. nach Alterhoff 1994, 60
18 Altenthan 1991, 416
19 Rogers 1981, 430; zit. nach Alterhoff 1994, 64
20 e b d .
21 Zu den langfristigen Auswirkungen fremder Bewertungen vgl. Schulz von Thun 1996, 187
22 Rogers 1990, 141; zit. nach Alterhoff 1994, 70f
23 ebd., 39; zit. nach ebd., 72, vgl. auch Rogers 1991, 49ff. und 183ff.
24 Dreikurs 1997, 45
25 vgl. Schoenaker 1997, 12f. Die 20teilige Filmreihe „Die Rechte der Kinder“, die das ZDF in Zu - sammenarbeit mit der Kinderrechtsorganisation terre des hommes realisierte und zwischen dem 21.08. und 19.09.1997 ausgestrahlt wurde, legt darüber eindrucksvoll Zeugnis ab.
26 Dreikurs u.a. 1987, 64
27 e b d .
28 vgl. GwG 1997
29 Rogers 1980
30 vgl. auch Schulz von Thun 1996, 116
31 Rogers 1991, 331; zit. nach Alterhoff 1994, 109
32 vgl. dazu Dreikurs u.a. 1987, 73ff.; Dreikurs 1997, 100ff
33 Alterhoff 1994, 114
34 Alterhoff 1994, 115
35 vgl. Gordon 1977, 103ff.;
36 ebd., 118
37 vgl. Kapitel 2.1.3. zur Wahrnehmung
38 vgl. dazu Dreikurs 1995, 62ff.
39 Rogers 1991, 75; zit. nach Alterhoff 1994, 84
40 Tausch u.a. 1978, 1933; zit. nach Alterhoff 1994, 85 [...] Der Berater verbali-
41 Alterhoff 1994, 88ff.
42 Alterhoff 1994, 95
43 zit. nach Gordon 1977, 66f.
44 Mucchielli 1972, 43ff.; zit. nach Alterhoff 1994, 86f.
45 Alterhoff 1994, 87
46 vgl. Gordon 1977, 73f.
47 Gordon 1977, 76
48 vgl. ebd., 75
49 Schmid 1989, 139; zit. nach Alterhoff 1994, 127
50 vgl. Alterhoff 1994, 126
51 Rogers 1990, 218; zit. nach ebd., 125
52 Alterhoff 1994, 132
53 vgl. Rogers 1991, 75
54 Dreikurs u.a. 1987, 71f.
55 ebd., 65
56 vgl. Schoenaker 1997, 21
57 ebd., 158 und 57
58 Alterhoff 1994, 130
59 Sperber 1987, 320
60 e b d .
61 ebd., 321
62 Die Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) hat hierzu Ausbildungsrichtlinien erarbeitet.
63 Schoenaker 1996, 154; vgl. dazu Dreikurs u.a. 1987, 142ff. und Gordon 1977, 77ff.
- Quote paper
- Peter Amsler (Author), 1997, Das Lehrerverhalten auf Basis der klientenzentrierten Gesprächsführung nach Carl R. Rogers, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95834
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