Gliederung
Kapitel
1 Einleitung
2 Textentstehung
3 "Der Dichter und das Phantasieren"
4 Fortführungen
5 Literatur.
1 Einleitung
"Wertvolle Bundesgenossen sind aber die Dichter, und ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt." Sigmund Freud, "Der Wahn und die Träume in W. Jensens 'Gradiva'", 1907.
Eine Biographie über Sigmund Freud beginnt mit den Worten: "Trotz seiner literarischen Qualität gehört das Werk von Freud doch nicht in erster Linie zur Literatur; es visiert eine Wahrheit an." Die Kommentatoren eines solchen Werkes könnten zwischen verschiedenen Arten des Zugangs wählen, je nach ihrer eigenen Auffassung vom Wahren.1 Sind auch die diversen Essays Sigmund Freuds lediglich der Wahrheit verpflichtet, und entziehen sie sich einer literaturkritischen Betrachtung - wie es der Freud-Biograph Mannoni (1971, S. 96) fordert, der schreibt, Freuds Arbeiten auf dem Gebiet der psychoanalytischen Literaturbetrachtung dürften weder vom Standpunkt der Ästhetik noch von dem der Literaturkritik betrachtet werden? Diese Frage kann bezüglich des Freudschen Essays verneint werden. Schon Michel Eyquem, Seigneur de Montaigne (1533-1592), Schloßherr und Bürgermeister von Bordeaux, bezeichnete seine "Essais" als "bloße Versuche, die Wahrheit zu ergründen".
Von Interesse für die Philologie ist Freuds Essay "Der Dichter und das Phantasieren" (1907), steht doch in ihm eindeutig die Vorstellung im Vordergrund, Texte seien als Äußerungen des Seelenlebens ihrer Autoren aufzufassen - die Grundlage jeder Art von Interpretation. Man könnte es auch einfacher ausdrücken: Ist die Frage geklärt, woher der Dichter seine Phantasien bezieht, gelingt die vollständige Interpretation des Textes. Der Essay, sofern es sich um einen handelt, ermöglicht im Prinzip auch eine Anwendung seiner Inhalte auf den Autor wie auch den Verfasser dieser Hausarbeit.
Den Namen "Essay" prägte zuerst der bereits erwähnte Montaigne (1580), später dann in England 1597 Bacon, im 18. Jh. folgten die englischen "Essayisten", Addison, Steele und andere. Gemeinhin versteht man unter einem Essay, für den in Deutschland vor 1859 die Bezeichnung "Versuch" geläufig war, eine kürzere, bewußt subjektiv gehaltene Abhandlung über einen wissenschaftlichen Gegenstand. Auf eine erschöpfende, vollständige Analyse desselben wird im Essay bewußt verzichtet. In einem Bereich zwischen Wissen und Zweifel werden Zusammenhänge unverbindlich aufgezeigt; über das metaphorisch zu verstehende "Herumwandern" auf einem "Weg" gelangt der Autor des Essays zu einer gedanklichen Klärung.
Um eine Antwort auf die Frage zu finden, ob es sich also bei dem hierzu näher betrachteten Text "Der Dichter und das Phantasieren" überhaupt um einen Essay handelt, wird er nach einer Beschreibung seiner Entstehung auf diesbezügliche charakteristische Merkmale untersucht.
Als weitere Essays Freuds gelten u. a. "Zur Psychopathologie des Alltagslebens" (1901), "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" (1905)2, "Psychopathische Personen auf der Bühne" (1905-06), "Der Wahn und die Träume in W. Jensens 'Gradiva'" (1907), "Jenseits des Lustprinzips" (1920) und "Das Unbehagen in der Kultur" (1929). Der im folgenden als "Gradiva-Studie" bezeichnete Essay, dessen Inhalt als bekannt vorausgesetzt wird, korrespondiert mit dem untersuchten Text über "den Dichter und das Phantasieren" und findet deshalb besondere Berücksichtigung.
Da Freuds Ansätze zur psychoanalytischen Literaturbetrachtung Fortführungen erfahren haben, wird gegen Ende der Arbeit auch diesem Aspekt Aufmerksamkeit geschenkt. Auf eine präzise Erläuterung oder Definition der psychoanalytischen Fachbegriffe (Verleugnung, Verdrängung, Regression etc.) verzichte ich, da dies umfangreich erfolgen müßte und eine vollständige Darlegung wissenschaftlicher Hintergründe auch nicht Sinn einer Hausarbeit zum Thema "Essayismus" sein kann.
2 Textentstehung
Freud fand viele, in seiner psychoanalytischen Praxis gewonnenen Erkenntnisse in literarischen Texten bestätigt. Sich auf die Biographie Heinrich Heines beziehend, analysierte er beispielsweise ein Wortspiel in einem Witz3. Psychische Phänomene belegte er mit Namen aus antiken Tragödien (Ödipus-Komplex u. ä.), die häufig zu beobachtenden Parallelen motivierten ihn zu dem späteren, folgenrichtigen Schluß, Dichter und Psychologe seien aufs engste miteinander verbunden; in der Gradiva-Studie (S. 43) heißt es: "So kann der Dichter dem Psychiater, der Psychiater dem Dichter nicht ausweichen (...)".
Die literarische Phantasie zeichnet sich gegenüber der freien Assoziation durch den Zwang zur Darstellung, zur ästhetischen Form aus. Bewußte und unbewußte Erlebnisgehalte werden in der Dichtung wie auch in der Psychoanalyse mit und in Sprache verstehbar.
Nachdem Freud in der "Traumdeutung" 1900 ausgeführt hatte, daß Traumgedanken durch Verschiebung und Verdichtung von Erlebnismomenten zustande kämen und daß durch die Methode der freien Assoziation die Bedeutung der Träume entschlüsselt werden könne, stellt er dann 1907 die Analogie zu den sog. Tagträumen her.
Sein Weg führt ihn über die Analyse der Novelle von Wilhelm Jensen (1837-1911), "La Gradiva", im Untertitel auch als "pompejanisches Phantasiestück" bezeichnet, in der Freud Wahn und Träume der fiktiven Charaktere und deren bewußte oder unbewußte Schöpfung durch den Autor untersucht. Im zweiten Essay nähert sich Freud der Fragestellung (vgl. Kap. 3) über die Deutung des Phänomens der "Tagträume".
Im Jahr 1905 (unsicher, evtl. 1906) widmet sich Freud in dem Essay "Psychopathische Personen auf der Bühne" ausführlicher den Dramen, die er in religiöse, soziale und CharakterDramen unterteilt. In einem Falle handelten sie vom Kampf des Menschen gegen die göttliche Ordnung (antike Tragödie), im anderen gegen die menschliche (bürgerliche Tragödie), im letzten Fall schließlich gehe es um den Kampf zwischen den Menschen selbst (Charaktertragödie). Der Bedeutung des Helden wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt, als Beispiele werden Ajax, Philoktet und Hamlet genannt. Auch in diesem kurzen Essay wird das Interesse Freuds an den Schöpfern der Dramen, den Dichtern, spürbar. Lust und Leid als Grundmotive sowie erotische Tagträume werden thematisiert.
Die Essays "Psychopathische Personen auf der Bühne", "Der Dichter und das Phantasieren" und die zuvor verfaßte Gradiva-Studie fallen zeitlich eng zusammen. Der an zweiter Stelle genannte ist kürzer und komprimierter angelegt, bedingt durch die Konzeption als Vortrag, den Freud am 6. Dezember des Jahres 1907 in den Räumlichkeiten des Wiener Verlagsbuchhändlers Hugo Heller, Mitglied der Psychoanalytischen Vereinigung, hielt und dessen Wortlaut recht genau am folgenden Tag in der Wiener Tageszeitung "Die Zeit" wiedergegeben wurde. Für den Abdruck in einer neugegründeten Berliner Zeitschrift Anfang 1908 besorgte dann Freud den vollständigen Text.
Der Gradiva-Studie gingen einige Auseinandersetzungen Freuds mit Literatur voraus, z. B. die kurze Analyse der Novelle "Die Richterin" von C. F. Meyer (Brief vom 20. Juni 1898 an Fließ) und die Betrachtungen zu König Ödipus oder Hamlet in der "Traumdeutung" (1900) sowie die bereits angesprochenen Helden im Essay "Psychopathische Personen auf der Bühne" (1905/06?).
Bevor sich C. G. Jung und Freud persönlich kennenlernten, machte jener diesen auf Wilhelm Jensens Buch "La Gradiva" aufmerksam. Freud schrieb seinen Essay vor allem Jung zuliebe, und man kann sagen, daß der Zeitpunkt des Entstehens der Freundschaft beider Männer, die einige Jahre dauerte, mit dem Erscheinen der Gradiva-Studie (Mai 1907) zusammenfällt. Im übrigen eine der frühen psychoanalytischen Arbeiten Freuds, wird diese auch als "Vorbote" ihrer Freundschaft bezeichnet (Freud 1907, S. 11). Mannoni (1971, S. 98) weist darauf hin, daß es der wachsenden Freundschaft beider Männer zuzuschreiben sei, daß Freud die Analyse "mit viel Eleganz" verfaßte. Die Naivität des Werkes erleichtere dessen Interpretation. Der Roman selbst (richtiger: die Novelle, Anm.) verdanke es ausschließlich Freud, daß er nicht längst vergessen sei.
In seiner Selbstdarstellung (1925) spricht Freud zwar etwas abschätzig von einer "an sich nicht besonders wertvollen Novelle", er schickte jedoch ein Exemplar seiner Analyse an Jensen, der sich offenbar geschmeichelt fühlte und mit Freud eine Zeitlang korrespondierte. Es ist interessant, daß Jensen die Interpretationen Freuds zu billigen schien. Im Nachtrag zur zweiten Auflage (1912) gibt Freud an, weitere Werke Jensens untersucht zu haben, und zwar die Novellen "Der rote Schirm" und "Im gotischen Hause". Es sei "leicht zu ersehen", daß alle drei Erzählungen das gleiche Thema behandelten, "die Entwicklung einer Liebe (...) aus der Nachwirkung einer intimen, geschwisterähnlichen Gemeinschaft der Kinderjahre". Auch Jensens letzter Roman, der viel von dessen eigener Jugend enthalte, schildere das Schicksal eines Mannes, der "in der Geliebten eine Schwester erkennt".4
Oft wird darauf hingewiesen, daß Freud in der Archäologie eine Analogie zu seinen eigenen psychoanalytischen Forschungen (Verschüttung als Verdrängung, Analyse als Ausgrabung) gesehen hat, auf die ihn auch Jensen in beider Korrespondenz aufmerksam machte. Neben der später entstandenen Geschichte des "Rattenmannes" (1909) findet sich bereits in der Gradiva- Studie das Beispiel der im Jahre 79 verschütteten römischen Stadt Pompeji als Gleichnis für die Verdrängung:
"Es gibt wirklich keine bessere Analogie für die Verdrängung, die etwas seelisches zugleich unzugänglich macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji zum Schicksal geworden ist und aus der die Stadt durch die Arbeit des Spatens wieder erstehen konnte."5
Freud war von Kindheit an von archäologischen Vorhaben und Fundstücken fasziniert gewesen; neben Italien interessierte ihn vor allem das alte Ägypten. Seine eigene Antikensammlung umfaßte zuletzt rund 3000 Objekte. Er unterhielt beispielsweise Kontakte zu dem Sammler, Archäologen und Kunsthändler Pollack, zu dem Antiquar Lustig sowie zu dem Wiener Archäologen Loewy, mit dem ihn eine Freundschaft verband.
3 "Der Dichter und das Phantasieren"
Ein Autor überlegt sich stets, auf welche Art und Weise er durch seinen Text den Leser oder Zuhörer am besten erreichen kann - und dies kann ganz im psychoanalytischen Sinne bewußt oder unbewußt geschehen. Er bezieht dabei die äußeren Umstände der Präsentation (Vortrag oder Druck) mit in seine Überlegungen ein. In dem vorliegenden Falle eines Essays über den Dichter und seine Phantasien müssen wir davon ausgehen, daß der Text als Redetext konzipiert war. Dem Leser der gedruckten Fassung eröffnen sich aber an manchen Stellen Möglichkeiten tieferer Interpretation, die hier nicht unberücksichtigt bleiben sollen.
Schon der erste Satz, mit dem Freud seinen Vortrag eröffnet, ist charakteristisch für seine gesamte Ausführung:
"Uns Laien hat es immer mächtig gereizt zu wissen, woher diese merkwürdige Persönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe nimmt (...)"6
Vom Publikum in den Räumen des Verlagsbuchhändlers Heller sicher nur kurz zur Kenntnis genommen, kommt der Äußerung doch tiefere Bedeutung zu:
Freud nimmt in diesem ersten Satz einige Implikationen vor, er bezeichnet sich und seine
Zuhörer als "Laien" auf dem Gebiete der Dichtkunst, eine feinsinnige Ironie, denn erstens ist belegt, daß er selbst gerne schriftstellerisch tätig war und sich durchaus ein gewisses Talent zugestand, und zweitens wird gerade am Gegenstand seiner Ausführungen wenig später klar, daß der Vortragende sich keineswegs als Laien zu betrachten hat, denn die Dichter selbst "versichern uns so häufig, daß in jedem Menschen ein Dichter stecke und daß der letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben werde."
Freud reflektierte früh seine literarischen Qualitäten, dies wird bereits in dem ältesten erhaltenen Brief an Emil Fluß, einen Kindheitsfreund, deutlich: "Mein Professor sagte mir zugleich - und er ist der erste Mensch, der sich untersteht, mir das zu sagen -, daß ich hätte, was Herder so schön einen idiotischen Stil nennt, das ist einen Stil, der zugleich korrekt und charakteristisch ist."7
Weiterhin behauptet der Redner im ersten Satz, der Dichter sei eine "merkwürdige Persönlichkeit". Bedenkt man, daß es sich bei dem Vortragenden immerhin um dem Begründer der Psychoanalyse handelt, wiegt die Äußerung schwerer, als wenn sie etwa von einem anderen Literaturkritiker getan worden wäre, denn der Begriff "Persönlichkeit" ist somit nicht im landläufigen Sinne zu verstehen, sondern als wissenschaftlicher Terminus, dem aber - ganz essayistisch - das betont unwissenschaftliche Attribut "merkwürdig" mit anheimgegeben wird, wodurch ein spannungsreicher Kontrast von Objektivität und Subjektivität erzeugt wird, der auf diese Weise die Neugier des Publikums zu wecken geeignet ist.
Ferner wird beim genaueren Betrachten deutlich, daß bereits im ersten Satz eine erschöpfene Analyse und eine Beantwortung der Frage, woher denn der Dichter nun seine Phantasien nehme, nicht in Aussicht gestellt wird. Handelte es sich um einen voll und ganz wissenschaftlich konzipierten Vortrag, hieße es vermutlich: "Sie haben sich sicher schon immer gefragt, woher der Dichter seine Phantasien nimmt" (Implikation: Ich, der Redner, habe die Antwort für Sie).
Der erste Satz kann so - unter Berücksichtigung der Kürze des Gesamttextes (gut neun Seiten) - als "Mikro-Exposition" bezeichnet werden.
Weiterhin führt Freud aus, der Dichter wisse selbst nicht genau, woher er seine Stoffe nehme, und wenn auf der anderen Seite der Redner und seine Zuhörerschaft Einsicht in das Wesen poetischer Gestaltungskunst nähmen, so machte sie dies noch lange nicht selbst zu Dichtern. Wie bereits erwähnt, wird dann aber scheinbar widersprüchlich hinzugefügt, in jedem Menschen stecke ein Dichter.
Aus diesem paradox anmutenden erneuten Verwirrspiel des Vortragenden entsteht auf seiten des Zuhörers mit Sicherheit eine zusätzliche Spannung, der Freud direkt im Anschluß dann eine zwar oberflächliche, aber doch wissenschaftlich erscheinende Gedankenführung folgen läßt. Die Kindheit müsse - wie meistens - zu Rate gezogen werden, um tiefere Einblicke in den Gegenstand der Untersuchung zu gewinnen. Das Kind ersetze sich die Wirklichkeit im Spiel durch eine Phantasie, in der es seine eigene Welt erschaffe. Beim erwachsenen
Menschen wie beim Dichter ersetze das Spiel gleichfalls die Wirklichkeit, Ziel sei in allen Fällen ein "Lustgewinn", was sich auch in der Sprache widerspiegele, die "Lust-", "Trauer-" und "Schauspiel" unterscheide. Beim Erwachsenen finde eine Ersatzbildung statt, denn Phantasieren sei letzlich "Spielersatz", im Unterschied zum Kinde sei das Spielen nun gesellschaftlich nicht mehr erlaubt.
Phantasie sei also Wunscherfüllung, beim Kranken (Nervösen) wie beim Gesunden - oder genauer: beim Unbefriedigten wie beim Befriedigten. An dieser Stelle wird offensichtlich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, die Unterscheidung erscheint dürftig - ein essayistisches Merkmal.
Von den Phantasien wird nun ein Bogen geschlagen zu den sogenannten Tagträumen. Solche schmiegten sich den Lebenseindrücken an, von Bedeutung sei eine Zeitmarke, für die Freud ein Beispiel anführt, das er selbst als "das banalste" relativiert und so abermals seine Subjektivität betont:
"Nehmen Sie den Fall eines armen und verwaisten Jünglings an, welchem Sie die Adresse eines Arbeitgebers genannt haben, bei dem er vielleicht eine Anstellung finden kann. Auf dem Wege dorthin mag er sich in einem Tagtraum ergehen, wie er angemessen aus seiner Situation entspringt. Der Inhalt dieser Phantasie wird etwa sein, daß er dort angenommen wird, seinem neuen Chef gefällt, sich im Geschäfte unentbehrlich macht, in die Familie des Herrn gezogen wird, das reizende Töchterchen des Hauses heiratet und dann selbst als Mitbesitzer wie später als Nachfolger das Geschäft leitet. Und dabei hat sich der Träumer ersetzt, was er in der glücklichen Kindheit besessen: das schützende Haus, die liebenden Eltern und die ersten Objekte seiner zärtlichen Neigung. Sie sehen an solchem Beispiele, wie der Wunsch einen Anlaß der Gegenwart benützt, um sich nach dem Muster der Vergangenheit ein Zukunftsbild zu entwerfen."8
Mit Träumen verhalte es sich ebenso, in beiden Fällen spielten vor allem verdrängte Wünsche eine Rolle. Hierbei nennt Freud im Prinzip ein alltäglicheres Beispiel, das seiner Zuhörerschaft näher steht, als die zuvor in der Gradiva-Studie analysierten Träume des Protagonisten Norbert Hanold. Gleichwohl hätte er einen beliebigen Traum aus der Novelle Jensens wählen können, um seine Ausführungen zu verdeutlichen. Ein Großteil der Studie handelt von nichts anderem als vom Nachweis verdrängter Wünsche, die sich in Hanolds Träumen manifestieren, es geht in dem Vortrag nicht um die Phantasien oder Tagträume einer fiktiven Person, sondern um die des Dichters.
Als sei der Vortragende an dieser Stelle trotzdem an den Autor Jensen erinnert worden, nimmt er nun eine Unterscheidung der Dichter vor: Man müsse "die Dichter, die fertige Stoffe übernehmen wie die alten Epiker und Tragiker, sondern von jenen, die ihre Stoffe frei zu schaffen scheinen. Halten wir uns an die letzteren und suchen wir für unsere Vergleichung nicht gerade jene Dichter aus, die von der Kritik am höchsten geschätzt werden, sondern die anspruchsloseren Erzähler von Romanen, Novellen und Geschichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und Leserinnen finden."9
Es ist bereits an anderer Stelle (vgl. Kap. 2) darauf verwiesen worden, daß Freud Jensens Novelle keinen hohen literarischen Stellenwert einräumte, auch wenn er in der Studie die Erzählung als "nicht uninteressant" (S. 78) bezeichnet. Es drängt sich also die Deutung auf, Freud habe mit dieser Unterscheidung mehr bezweckt, als eine wissenschaftliche Aufarbeitung zweier Kategorien von Dichterphantasien, vermutlich liegt es nahe, anzunehmen, daß der Redner meint, seine Erkenntnisse aus dem eigenen Erfahrungsschatz einer ausführlicheren Untersuchung - der Gradiva-Studie nämlich - genauer artikulieren zu können.
Die Ausklammerung einer großen Gruppe von Dichtern, die doch eigentlich Gegenstand des Vortrages sind, bedeutet auf jeden Fall einen noch deutlicheren Verzicht auf umfassende und erschöpfende Darstellung als an anderen Stellen bisher erkennbar war.
Unter gleichzeitiger Bezugnahme auf das anfangs untersuchte Spiel des Kindes, formuliert Freud ferner:
"Der psychologische Roman verdankt im ganzen wohl seine Besonderheit der Neigung des modernen Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens in mehreren Helden zu personifizieren. [...] Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im Dichter die Erinnerung an ein frühes, meist der Kindheit angehöriges Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung seine Erfüllung schafft; die Dichtung selbst läßt sowohl Elemente des frischen Anlasses als auch der alten Erinnerung erkennen. [...] [Die] Dichtung wie der Tagtraum [sind] Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spieles [...]"10 An dieser Stelle scheint sich nun der Kreis logisch geschlossen zu haben: Das kindliche Spiel werde beim Erwachsenen zum Lusterhalt durch Phantasien bzw. Tagträume ersetzt, denen also ein Muster der Vergangenheit zugrunde liege, nach dem sie sich durch einen aktuellen Anlaß entwickelten, und genauso sei es auch beim Dichter: Die Dichtung sei folglich Kindheitserinnerung, gepaart mit einem "frischen Anlaß". Und noch ein weiterer Kreis schließt sich, bedenken wir die Aussagen Freuds im Nachwort zur 2. Auflage der Gradiva- Studie, in dem er auf weitere Novellen Jensens Bezug nimmt und andeutet, daß sich das Grundmotiv stark ähnele: Geschwisterähnliche Liebe in der Kindheit werde im Erwachsenenalter wiedererweckt.
Diese Stelle ist nun eigentlich sehr gut geeignet, um eine Theorie über die Phantasien des Autors Jensen zu formulieren, die aber unterbleibt. Da die 2. Auflage erst 1912 entstand, hatte Freud bei seinem Vortrag möglicherweise noch keine Kenntnisse der weiteren Novellen, doch da auch in der "Gradiva" Kindheitsspiel und Erwachsenenphantasie sich am Schluß beim Protagonisten Hanold zur Klärung verdichten, ist anzunehmen, daß Freud an die Gradiva- Studie denken mußte.
Der Schluß seines Vortrages erfolgt dann beinahe abrupt nach einer sehr knapp gehaltenen Deutung der Volksmythen als "Wunschphantasien" ganzer Nationen. Es scheint, als habe der Redner hier einen Aspekt nur kurz tangieren wollen, dann aber den Gegenstand seiner Überlegungen doch als insoweit abgehandelt betrachtet, als daß eine hinreichende Klärung erfolgt sei, die es nun gebiete, neue, "interessante und verwickelte" Untersuchungen zu beginnen oder die "Erörterung" abzuschließen.
Wie der Anfang erscheint auch der Schluß des Textes essayistisch. Auf eine vollständige Klärung des Sachverhaltes wird bewußt verzichtet: "Wie der Dichter das zustande bringt, das ist sein eigenstes Geheimnis", und so soll es offenbar auch bleiben. Die Subjektivität der Ausführungen wird mehrfach betont: "Ich konnte Ihnen nur Anregungen und Aufforderungen bringen...", "Ich füge nun hinzu...", "Ich bin der Meinung..."
Fazit
Eine gewisse Faszination der eigentlichen Fragestellung Freuds, woher denn der Dichter seine Phantasien beziehe, entsteht durch die Übertragbarkeit auf alle Situationen, in denen ein Autor einen Leser findet, beispielweise als Jung und Freud die "Gradiva" von Jensen lasen, als ich die Gradiva-Studie Freuds las, aber auch in dem Moment, in dem diese Hausarbeit gelesen wird.
Deren Fragestellung lautete nun, inwieweit es sich bei dem Vortrag über "den Dichter und das Phantasieren" um einen Essay handele. Nach eingehender Betrachtung erscheint es plausibel, sowohl den als Vortrag konzipierten Text als auch die Abhandlung über "den Wahn und die Träume in W. Jensens 'Gradiva'" als Essay zu bezeichnen. In beiden Werken - besonders im Vortrag - wird der Verzicht auf umfassende Klärung des Sachverhaltes deutlich. Ein immer wieder vorgenommenes Herausstellen der Subjektivität der Untersuchung und eine Anlehnung an den metaphorisch beschrittenen "Weg" auch in der Gradiva-Studie ("Wie kam es denn, daß wir uns [...] fortreißen ließen?"; "Unser Vorgehen [erscheint]"11 "Ich will nun zum Traum zurückkehren"12 ; "[Es] würde uns viel zu weit weg [...] führen"13 ) unterstreichen eindeutig den essayistischen Charakter der Texte.
4 Fortführungen
Abschließend sei noch kurz auf die weitergehenden Untersuchungen von Literatur aus psychoanalytischem Blickwinkel verwiesen. Neben beispielsweise Peter von Matt (1972, 1994), der einen Überblick über das Verhältnis von "Literatur und Psychoanalyse" liefert und "das Schicksal der Phantasie" erforscht, erscheinen auch bis heute in großer Zahl Zeitschriftenartikel, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, von denen hier exemplarisch einige angeführt werden sollen:
- In seinem Artikel "Der Wahn und die Träume in 'Der Tod in Venedig'. Thomas Manns folgenreiche Freud-Lektüre im Jahr 1911" untersucht Manfred Dierks (1990) den Einfluß der Psychoanalyse auf den genannten Roman sowie den "Zauberberg" und weist nach, daß Thomas Mann insbesondere von Freuds Arbeit "Der Wahn und die Träume in W. Jensens 'Gradiva'" stark beeinflußt war, wie ja bereits der Titel des Artikels nahelegt.
- In der "Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis" wird von Falk Berger (1994) am Beispiel Rainer Maria Rilkes die psychoanalytische Deutung von literarischen Werken erörtert. Einleitend wird darauf hingewiesen, daß Kunstwerke für die Identität von Individuen oder großen Gruppen unterschiedliche Bedeutung haben könnten und daß die widersprüchliche Rezeption der Dichtung Rilkes auf deren vielschichtigen Charakter verweise. Sie sei einerseits Beispiel für differenzierte und individuelle Wahrnehmungsmöglichkeit, andererseits löse sie eine "ästhetische Regression" aus, in der an Stelle der Wahrnehmung der Realität der "Genuß" einer perversen Phantasie trete. Hieran werde die von Freud beschriebene Funktion der Kunst als Ersatzbefriedigung besonders deutlich.
Man findet in psychoanalytischen Literaturkritiken auch übertrieben anmutende Analysen, von denen exemplarisch eine erwähnt werden soll, da sie sich mit der "Gradiva" unter Berücksichtigung der Studie Freuds beschäftigt:
In ihrem Artikel "Verleugnung in Wilhelm Jensens 'Gradiva'" versucht Margret Fischer (1993), Freuds Untersuchungen um einige Aspekte zu erweitern. Das Geheimnis des "schönen Ganges", ein wesentliches Kennzeichen der Gradiva sei als Verleugnung und heimliche Verspottung "körperlicher Einstellungen durch Mißbildung oder Schwangerschaft" zu entschlüsseln. Die Abscheu als authentisches Gefühl angesichts körperlicher Behinderung werde duch das "idealisierte Gegenteil (schwärmerische Hingabe)" ersetzt. Sprach- und naturwissenschaftliche Exkurse sowie die Einbeziehung des gesellschaftlichen Umfeldes Jensens sollen die Beweisführung stützen.
An dieser Stelle kann die Arbeit - ganz essayistisch - mit einem Zitat Freuds beendet werden: "Jeder soll mit seinen Ansichten über die Entwicklung des Helden recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden."14
5 Literatur
Berger, F. (1994): "Eine lachende Wasserkunst". Ästhetisches Regression und psychoanalytische Deutung am Beispiel Rainer Maria Rilkes. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 9 (1), S. 25-42.
Bondy , F., et al. (Hrsg., 1989): Harenbergs Lexikon der Weltliteratur. Band 2. Dortmund. S. 1010 f.
Dierks, M. (1990): Der Wahn und die Träume in "Der Tod in Venedig". Thomas Manns folgenreiche Freud-Lektüre im Jahr 1911. Psyche, 44 (3), S. 240-268.
Fischer, M. (1993): Verleugnung in Wilhelm Jensens "Gradiva". System ubw, 11 (1), S. 86- 97.
Freud, S. (1907): Der Wahn und die Träume in W. Jensens "Gradiva". In: Freud, S.: Studienausgabe. Band 10 (Bildende Kunst und Literatur). S. 9-85.
Freud, S. (1908): Der Dichter und das Phantasieren. In: Freud, S.: Studienausgabe. Band 10 (Bildende Kunst und Literatur). S. 169-180.
Freud, S. (1940): Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud. Frankfurt a. M. 1940-1968. Freud, S. (1942): Psychopathische Personen auf der Bühne. In: Freud, S.: Studienausgabe. Band 10 (Bildende Kunst und Literatur). S. 161-168.
Freud, S. (1956): Totem und Tabu. Frankfurt a. M.
Freud, S. (1958): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Frankfurt a. M.
Freud, S. (1969): Studienausgabe. Band 10 (Bildende Kunst und Literatur). Hrsg. von Mitscherlich, A., Richards, A., und Strachey, J. Frankfurt a. M.
Mannoni, O. (1971): Sigmund Freud. Reinbek.
von Matt, P. (1972): Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. München.
von Matt, P. (1994): Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Lietratur. München.
[...]
1 Mannoni (1971), S. 7.
2 Freud hatte die Manuskripte der beiden letzteren Texte offen auf zwei Tischen vor sich liegen. Er arbeitete abwechselnd an ihnen und fand offensichtlich Entspannung darin (vgl. Mannoni 1971, S. 91).
3 Freud, "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten", S. 106.
4 Freud (1969), S. 85.
5 Freud (1907), S. 40.
6 Freud (1908), S. 171.
7 Freud, S.: Zur Psychologie des Gymnasiasten. Gesammelte Werke, Band 10 (204-207), S. 205.
8 Freud (1908), S. 175.
9 Freud (1908), S. 176.
10 Freud (1908), S. 177 f. In "Totem und Tabu findet sich zu diesem Thema eine Anmerkung: Den Projektionsschöpfungen der Primitiven stünden die Personifikationen nahe, durch welche der Dichter "die in ihm ringenden etgegengesetzten Triebregungen als gesonderte Individuen aus sich herausstellt." (Freud 1956, S. 71, Anm. 1.).
11 Freud (1907), S. 41.
12 Ebenda, S. 73.
13 Ebenda, S. 81.
14 Freud, S.: Brautbriefe. Briefe an Martha Bernays aus den Jahren 1882-1886. Hrsg. von Ernst L. Freud. Neuausg. Frankfurt a. M. 1988. Zit. in: Mannoni (1971), S. 9.
- Quote paper
- Reinhard Schinka (Author), 1995, Freud, Sigmund - Der Dichter und das Phantasieren - Ein Essay, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95640
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