Inhaltsübersicht
1. Einleitung
2. Quellenlage und Editionen
3. Übersetzung
4. Zum Versmaß
5. Aufbau des Gedichtes
5. 1. Strophe 1-4
5. 2. Strophe 5-7
5. 3. Strophe 8-10
5. 4. Strophe 11-12
5. 5. Strophe 13-14
6. Zu Topik und Vorlagen des Gedichtes
6. 1. Topische Element
6. 2. Vergil-Belege
6. 3. Spezifisch christliche Elemente und biblische Vorlagen
1. Einleitung
Der Vita Karoli Magni Einhards entnehmen wir im 13. Kapitel, daß im Feldzug gegen Awaren und Hunnen am Ende des achten Jahrhunderts Pannonien entvölkert, der gesamte hunnische Adel ausgerottet, alle Schätze von den Franken in Beschlag genommen, ja jede Spur menschlichen Lebens getilgt worden war. Angesichts der Länge der Kämpfe und der verheerenden Verluste der Gegenseite kann der Biograph von „nur“ zwei Opfern auf fränkischer Seite sprechen:
Duo tantum ex proceribus Francorum eo bello perierunt: Ericus dux Foroiulanus in Liburnia iuxta Tharsaticam maritimam civitatem insidiis interceptus, et Geroldus Baioariae praefectus in Pannonia [...] interfectus est.1
Für unsere Arbeit ist dux Ericus von Belang: Wir wollen ein Gedicht interpretieren, das sich ebenfalls mit seinem Tod beschäftigt, freilich in anderer Weise als der historische Anspruch seines Werkes es Einhard gebot.
Schon die freundschaftliche Nähe, die Paulinus, Patriarch von Aquilea2 mit dem heimtückisch Er- mordeten verband, läßt vermuten, daß er persönlicher und unmittelbarer auf die schreckliche Nach- richt reagierte. In den wenigen Jahren, in denen sich beide die Leitung des ihnen anvertrauten Gebie- tes teilten, wirkten sie gemeinsam an der Festigung und Ausbreitung des christlichen Imperiums mit, der comes durch administratives und militärisches Handeln, Paulinus durch Missionierung unter Sla- wen und Awaren und durch die Romanisierung der Liturgie in seinem Patriarchat. Ein Denkmal der Verbundenheit stellt der 796/799 geschriebene Liber exhortationis - einer der ersten Fürstenspiegel - dar, den der Patriarch 796/799 Eric widmete.
2. Quellenlage und Editionen
Zweimal finden wir unser Gedicht vollständig überliefert: Die in der Pariser Bibliothèque Nationale aufbewahrte Handschrift cod. lat. 1154 aus dem neunten Jahrhundert, berühmt für ihre einmalige Sammlung karolingischer Lyrik3, enthält eine neumierte Fassung (fol 116r-118r). In Bern ist das Gedicht ohne musikalische Notation in cod. 455 (fol. 18v-20r, neuntes Jahrhundert) überliefert. Ebenfalls in Bern (cod. 394, fol. 1v) liegt eine dritte Aufzeichnung aus dem zehnten Jahrhundert, allerdings nur der ersten beiden Strophen, diese aber neumiert.
Unter den Editionen soll die verdienstvolle Histoire de l ´ harmonie au Moyen Age 4 de Coussema- kers genannt sein, die das Gedicht, versehen mit einem Faksimile und einer (heutigen musikwissen- schaftlichen Erkenntnissen freilich nicht mehr genügenden) Übertragung in moderne Notenschrift, in seinen geschichtlichen Zusammenhang stellt. Die Anmerkungen zum Text sind dabei den noch etwas älteren Po é sies populaires ant é rieures au XII si é cle 5 du Mérils entnommen.
Während Coussemaker nur die Pariser Handschrift ediert, berücksichtigt Dümmler in seiner Ausgabe für die Monumenta Germaniae Historica 6 auch die beiden Berner Manuskripte. Das Verdienst der Edition critique Dag Norbergs7 besteht - neben einer ausführlichen Kommentierung - in dem Ein- grenzen der wirklich Paulin zuzuschreibenden Gedichte. Vorliegende Arbeit nimmt Norbergs Fas- sung zur Grundlage.
3. Übersetzung
VERSUS PAULINI DE HERICO DUCE
1. Mit mir weint, ihr neun Ströme des Timavus, die ihr überströmt aus neun Quellen, die die salzige Welle des Ionischen Meeres hinunterschlürft, Istris und Saus, Tissa, Culpa, Marua, Natissa, Corca, Strudel des Isoncius.
2. Beweint [mit] mir den süßen Namen Heric, Sirmium, Pola, Boden Aquileias, Iulii Forus, Fluren von Cormo, Felsen Osops, Bergrücken von Centensium, die Erde von Asti klage und Albenganus.
3. Auch du, reiche Stadt Argentea, säume nicht, in dessen Gebiet er geboren ist, mit vielem und schwerem Seufzen zu trauern. Einen ruhmvollen Bürger hast du verloren, aus edlem Stamm geboren und von berühmtem Blut.
4. In der barbarischen Sprache wirst du Stratiburgus genannt. Einst hast du diesen allbekannten Namen verloren, ich habe dir diesen süß wie Honig klingenden zurückgegeben aus Zuneigung zu meinem lieben Freund, der von Milch genährt wurde neben dem Fluß Quirnea.
5. Dieser war bei Kirchenschenkungen freigiebig, ein Vater der Armen, den Elenden Hilfe, höchster Trost den Witwen. Wie gütig [war er], teuer den Priestern, mächtig in Waffen, fein an Verstand.
6. Er zähmte wildeste barbarische Völker, die die Drauva umgibt, die die Donau abschließt, die die Meotidischen Sümpfe mit ihrem Schilf verstecken, die die Flut des salzwässrigen Meeres einengt, denen die Grenze der dalmatischen Gebiete entgegensteht,
7. Turris Stratonis, Beginn des Limes, der Scythiens Grenzen, den Anfang Thraciens von einander trennt, und beide Gebiete, dieses dem Norden, jenes dem Süden zurückgibt und erstattet, der sich hinzieht bis zu den Zugängen, die man die Kaspischen nennt.
8. Küste, wohin die libischen Meere zurückfließen, feindlicher Berg, der du Laurentus genannt wirst, über euch sollen niemals Regen, Tau oder Nässe herabgehen, der Boden keine purpurnen Blumen hervorbringen, die Erde keine Weizenfrüchte.
9. Die Ulme halte nicht den Weinstock mit dem edelsteinbesetzten Weinlaub empor, sie halte die Trauben nicht in den Zweigen, der Feigenbaum sei mit immer trockenem Zweig belaubt, der Brombeerstrauch trage nicht Granatäpfel mit seinen Beeren, die stachlige Kugel bringe keine Kastanien hervor,
10. wo der tapfere Mann im Kampf fiel durch das blutige Schwert, als sein Rundschild zerbrochen war. Nachdem der vorderste Spieß der Lanze nämlich abgestumpft war, hätten starke Steinbrocken, die geworfen wurden, den Körper, von Pfeilen und Schleudergeschoßen durchbohrt, aufgerieben, so sagt man.
11. Oh, welch harte und traurige Nachricht erscholl an jenem zu beweinenden Tag. Denn durch die Straßen ertönte eher ein schaudervolles und der Tränen würdiges Geschrei als daß durch traurige Worte sein Tod mitgeteilt wurde.
12. Mütter, Ehemänner, Buben, Mädchen, Herren, Sklaven, jedes Geschlecht, zartes Alter zumal, der Priester berühmte Schar, schlagen mit den Fäusten auf die Brust, reißen sich die Haare aus und heulen gleichermaßen.
13. Ewiger Gott, der du aus Erdenstaub zu deinem Ebenbild unsere ersten Eltern geschaffen hast, durch die wir alle sterben, der du aber deinen geliebten Sohn gesandt hast, durch den wir alle wunderbarerweise leben,
14. durch dessen pupurfarbnes Blut wir losgekauft sind, durch dessen geheiligtes Fleisch wir genährt werden, gewähre deinem Diener Heric die honigträufenden Freuden des Paradieses, so bitte ich, sowohl jetzt wie auch darüber hinaus durch die unermeßliche Zeit.
4. Zum Versmaß
Die 14 Strophen dieses Gedichtes enthalten je fünf Zeilen, die regelmäßig aus zwölf Silben bestehen. Eine Zäsur findet sich jeweils nach der fünften Silbe und gliedert die Zeile in zwei Hemistichen; die Kadenz nach der Penthemimeris und am Versende steht dabei fest: Der erste Halbvers schließt paroxyton, der zweite proparoxyton. Die übrigen Akzente sind frei gesetzt.
Von der Struktur her (nach Norbergscher Nomenklatur 5p+7pp) entspricht dieser Bau am ehesten dem iambischen Trimeter8, freilich mit fester Silbenzahl und nicht quantitierend. Auffällig ist der zweimalige Hiat in 8, 3 und 12, 3; im ersten Fall ist er durch die Stellung in caesuram, im zweiten durch den m-Auslaut etwas gemildert.
Die rhythmische Freiheit wird bei einer Untersuchung der dreisilbigen Worte, die am Beginn eines Halbverses stehen, deutlich: Die „iambische korrekte“ Form lug é re findet sich vierzehnmal, die Form g é rmine dagegen siebzehnmal; Entsprechendes gilt für den Beginn des zweiten Halbverses9. Für den ersten Zeilenteil sind also die folgenden beiden Ausprägungen möglich:
[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] bzw.
im zweiten Teil kann es heißen
[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] oder
Die daraus möglichen Kombinationen der beiden Halbverse schenken dem Dichter eine gewisse Freiheit innerhalb der strengen Observanz der starren Silbenzahl 5+7.
5. Aufbau des Gedichtes
Das Gedicht arbeitet mit zwei verschiedenen Darstellungsformen: Zwischen drei anredende Partien (behandelt im folgenden unter 5. 1., 5. 3. und 5. 4.) sind zwei darstellende Teile geschoben (5. 2. und 5. 4.)
5. 1. Strophen 1-4
Zunächst fordert der Dichter in einem Katalog neun Flüsse zum Mittrauern auf. An erster Stelle der Timavus, der sich aus wiederum neun Quellen speist und häufig bei Vergil belegt ist. Die zweite Strophe nennt zunächst den Namen des zu Betrauernden und zählt neun (!) Städte und Gebiete auf, die in die Klage einstimmen sollen. Gemeinsam mit den Flüssen aus Vers 1 geben sie einen guten Eindruck über die Weitläufigkeit des von Eric verwalteten Gebietes, freilich liegt ihre Mehrzahl im Umkreis von Cividale del Friuli (Iulii Forus).
Neben den unter Erics Verwaltung stehenden und den zu seinem Besitz gehörenden Landstrichen wird schließlich auch seine Geburtsstadt Straßburg aufgerufen, das Trauern um ihren berühmten Sohn nicht zu unterlassen. Zum zweitenmal (nach 2,1) schimmert in Paulins Ausdrucksweise etwas von seiner Zuneigung zum Ermordeten durch, wenn er Straßburg ihren altehrwürdigen Namen zu- rückgeben will amici dulcis ob amorem (4, 4). Sehr einfühlsam scheint auch die detaillierte Ausnut- zung der Wörter des Bedeutungsfeldes „Klagen“ in den ersten drei Strophen: flete, plangite, ploret, lugere, gemitu.
Der Hinweis auf Erics Vaterstadt leitet zum zweiten Teil über, entsprechend wechseln auch die Verbformen. Werden die Flüsse und Städte direkt und mit Imperativ bzw. Hortativ angeredet10, so stehen die folgenden drei Strophen im Indikativ. Auch in dieser Hinsicht stellt die Strophe 4 einen Übergang dar, indem sie indikativisch zweite und dritte Person verwendet.
5. 2. Strophen 5-7
Das nun sich anschließende Lob des Helden zeigt deutlich getrennt die beiden Eigenschaften, die vom mittelalterlichen Herrscher erwartet werden: Christliche Gesinnung und Kampfesmut oder auch sapientia et fortitudo, wie Curtius den etwa entsprechenden Topos bezeichnet11, und zwar in e- bendieser Reihenfolge.
Strophe 5 ist der Darstellung von Erics Charakter gewidmet. Bezeichnenderweise steht als erste Adressat für seine Milde die Kirche, die er reich beschenkte, sodann werden die auf seine Milde Angewiesenen bedacht. In 5,4 hebt Paulin erneut an, rühmt noch einmal die Güte gegenüber den Priestern (die hervorzuheben man von einem Bischof freilich erwarten kann), und leitet über zum Ruhm der militärischen Eigenschaften des Verstorbenen.
Diese Seite zeigt sich vor allem in der ungeheuren geographischen Ausdehnung seiner kriegerischen Unternehmungen. Dag Norberg hat darauf hingewiesen12, daß es sich bei den Angaben in den Stro- phen 6 und 7 teilweise um Übertreibungen handelt; so ist zwar historisch korrekt, daß Eric die Be- wohner zwischen Donau und Drave unterworfen hat, bis zu den Meotidischen Sümpfen ist er freilich nicht vorgedrungen. Die Annahme scheint plausibel - wenn man von einer rhetorischen Hyperbel absehen will -, daß der Dichter nur den groben Rahmen für die militärischen Aktionen des Helden geben wollte.
5. 3. Strophen 8-10
Dem Preis des Verstorbenen folgt die Verwünschung des Gebietes, wo der Mord geschah. Durch die Namen Libica litus und mons inimice Laurentus, die direkt mit vos angeredet werden, ist eine gewisse Verzahnung mit den geographischen Ausführungen des vorherigen Teiles gelungen. Das Mo- tiv der Regenlosigkeit findet sich im zweiten Buch Samuel 1, 21: montes Gelboe nec ros nec pluvi- ae veniant super vos. Die Folgen der Fruchtlosigkeit werden detailliert ausgemalt, Paulinus verwendet dazu auch Vergil entlehnte Worte13: Es gibt weder Blumen noch Getreide, keine Trauben, keine Belaubung, keine Granatäpfel oder Kastanienfrüchte.
Strophe 10 läßt nach dieser Aufzählung wieder die Totenklage Davids über Saul und Jonathan im zweiten Buch der Könige anklingen. 10, 1 erinnert an quomodo ceciderunt fortes in proelio (2 Reg 1, 25), 10, 2 läßt an quia ibi abietus est clypeus fortium clypeus Saul (2 Reg 1, 21) denken. Auffällig ist daneben die große Anzahl der genannten Kriegsgeräte: clipeus, rom phea, lancea, iaculum, sagitte, funda, auch die saxa sind dazuzurechnen.
Gibt diese Strophe also inhaltlich zwar eine Darstellung (und benutzt daher den Indikativ), eben die genaueren Umstände der Mordtat, wider, so ist sie doch syntaktisch an den Verwünschungsteil (dessen Flüche den Konjunktiv verwenden) gekoppelt und stellt auf diese Weise ein Verbindungsstück zum nächsten Abschnitt dar.
5. 4. Strophen 11-12
Deutlich wird dieses Zusammenhängen auch aus dem dicitur (10, 5), von dem die Erzählung des Mordgeschehens abhängig ist; dieses „man sagt“ korrespondiert offensichtlich mit dem nuntium (11, 1), und diese Nachricht löst das jetzt beschriebene Klagegeschrei aus, das durch alle Straßen der Stadt (sicher ist die Hauptstadt, Iulii Forus, gemeint) erschallt.
Strophe 12 stellt die Verzweiflung der Cividaler in neun Bevölkerungsgruppen mit zwei absoluten Konstruktionen - interessanterweise einem accusativus (!) und einem ablativus absolutus - auf sehr drastische Weise dar: Sie schlagen sich auf die Brust und reißen sich die Haare aus. Die Aufzäh- lung der Trauernden geschieht in jeweils aufeinander bezogenen Paaren: Mütter - Ehemänner, Buben - Mädchen, Herren - Diener, beiderlei Geschlecht verbunden mit dem „zarten“ vorpubertären Alter. Zu der Achtzahl tritt sozusagen als Krönung die Priesterschar, die als einzige Gruppe kein Gegenüber hat und als inclita zusätzlich erhöht wird.
Die nach Fluß- und Stadtkatalogen dritte Neunzahl schafft eine Klammer und rundet das Gedicht an dieser Stelle ab. Zum abschließenden Gebetsteil hin entsteht erstmals eine Kluft, die Paulin an den anderen Nahtstellen - wie oben dargelegt - geschickt kaschiert hat.
5. 5. Strophen 13-14
Die Bitte an Gott stellt die dritte Anrede dar und ist aufgebaut wie ein Kollekten- (bzw. Tages-)gebet der Messe: Anrede - Lob der Taten Gottes - eigentliche Bitte - allgemeiner Abschluß mit Blick auf die Ewigkeit.
In unserem Gedicht ist allerdings der zweite Teil, der sonst nur kurz das göttliche Tun im Hinblick auf das gerade zu feiernde Fest darstellt und mitunter ganz wegfällt, zu einer knappen Erzählung der Schöpfungs- und Heilsgeschichte erweitert. Die Erschaffung der ersten Menschen ist dabei mit dem Erlösungsgeschehen durch einen Gedanken verknüpft, den Paulus im ersten Korintherbrief (15, 22) formuliert: et sicut in Adam omnes moriuntur, ita et in Christo omnes vivificabuntur. Diesem Teil folgt die abschließende Bitte um ewige Seelenruhe für Eric und ein eher konventioneller Ausblick auf die Ewigkeit.
6. Zu Topik und Vorlagen des Gedichtes
6.1. Topische Elemente
Es bleibt die Frage, wie das Gedicht zu werten ist. Stellt es eine eher topisch angelegte Trauerrede dar oder haben wir es mit einer sehr persönlich gefärbten Totenklage zu tun? Daß eine solche Frage- stellung, weil unentscheidbar, prinzipiell in eine Sackgasse führen kann, ist unmittelbar einsichtig; daß aber durch gezielte Beobachtungen am Text gewisse tendenzielle Erkenntnisse - sei es von Abhän- gigkeiten von Vorlagen oder von bewußten Veränderungen oder Neuansätzen - gewonnen werden können, darf als ebenso einleuchtend gelten. Von dieser Seite kann man einigen Aufschluß erwarten zu dem Problem, daß Paul Klopsch einmal so formuliert hat: “Die Schwierigkeit der Interpretation besteht darin, über die Barriere des lateinischen Ausdrucks hinweg die Gefühlslage des Gedichtes zu erfassen.“14
Gerade im Planctus hat sich, wie Hereswitha Hengstl feststellte, ein festes Motivrepertoire über Jahr- hunderte erhalten, ohne daß man dem Dichter, wenn er diese topoi benutzt, Einfallslosigkeit oder persönliche Unbeteiligtheit unterstellen darf: „`Plagiat` im modernen Sinn kennt das Mittelalter nicht. Die gleichen Gedanken und Wendungen kehren in leichten Variationen immer wieder [...] Die lateini- schen Totenklagen und Nachrufe vom Ausgang der Antike bis zum Humanismus stellen ihrem Wesen nach eine Einheit dar.“15
Kann man, wie gesagt, hinsichtlich der Bewertung der Topoi nur Tendenzen für Paulins Intention ausmachen, ist dennoch festzustellen, daß auch auf dieser Ebene unterschiedliche Ergebnisse erarbei- tet wurden und damit auch die Würdigung unseres Gedichtes verschieden ausfällt. So betont Bittner v. a. das Überkommene von Anlage und Ausgestaltung in „de Herico duce“: „Der Aufbau ist nach dem überlieferten Schema durchgeführt: Aufforderung zur Klage, edle Abkunft, Tugenden, Taten, Verfluchung des Todesortes, abermalige Aufforderung zur Trauer, Gebet. Der Planctus ist ein Bei- spiel für die Beibehaltung rhetorischer Stilmittel wie Häufung oder Hyperbel, trotz rhythmischer Form.“16 Norbergs Interpretation dagegen schließt mit den überzeugten Worten: „Il le fait avec un réalisme et un sentiment personnel qui éveillent nos sympathies beaucoup plus que les declamations rhétoriques du Bas-Empire et leurs imitations médiévales.“17 Plausibel wirkt dieser zweite Ansatz, wenn man ihn mit der Materialsammlung in Hengstls genanntem Buch vergleicht: Es wird deutlich, daß in Paulins Gedicht neben Aspekten, die der Tradition verpflichtet sind ebenso muster- und vor- bildhaft Wirkendes zu finden ist. Norberg nennt etwa den Planctus Lotharii 18. Bei Hengstl steht unser Gedicht als das älteste einer Reihe mit der Aufforderung zur Klage an Orte oder Landschaf- ten19.
Insgesamt gesehen verbindet unser Gedicht also für den Planctus typische Elemente - und zwar sowohl antike wie der Preis des Helden als auch christliche wie das Gebet um Seelenruhe - mit neuen Nuancen (genannt wurde die Anrede der Flüsse und Städte).
6. 2. Vergil-Belege
In den bisherigen Editionen (siehe S. 3f.) konzentrieren sich die Belegstellen für Vorlagen zum Gedicht vor allem auf Vergil. Während Dümmler außerdem Übereinstimmungen mit Passagen Einhards verzeichnet, ist Norberg mit seinem Verweis auf das zweite Buch der Könige auf einer interessanten Spur, die er aber zu seiner Interpretation nicht heranzieht.
Wie bereits im fünften Teil dieser Arbeit an den entsprechenden Stellen festgestellt, sind für die Ver- gil-Belege allerdings keine inhaltlichen Korrespondenzen zu Paulins Gedicht zu erkennen, der mittel- alterliche Dichter benutzte die Vorlage nur sozusagen zur Bereicherung des Wortschatzes, etwa bei den castaneae hirsutae (Ecl. VII, 53) die er in 9, 5 umwandelt in promat irsutus nec globus castaneas.
Das gilt in gewisser Weise auch für den charakteristischen Anfang mit der Anrede an den Timavus, für den regelmäßig zwei vergilische Vorlagen genannt werden20. Dabei muß aber bedacht werden, daß Vergil den Fluß nicht direkt angeredet hat und der Name auch nicht im Zusammenhang mit Toten(-klage) auftaucht. Es scheint vielmehr sehr einleuchtend, ja notwendig, daß Paulin diesen für die Gegend um seine Hauptstadt so charakteristischen Fluß nennt, zumal die geographischen Aufzählungen - wie oben S. 6 notiert - sich auf dieses Kerngebiet konzentrieren. Geradezu auffällig wäre also ein Fehlen des Timavus, der durch die Neunzahl seiner Quellen den Autor dann vielleicht zu den drei neunfachen Auflistungen in den Strophen 1, 2 und 12 inspiriert haben mag.
6. 3. Spezifisch christliche Elemente und biblische Anklänge
Der christliche Bezug ist vor allem durch das abschließende Gebet gegeben, das nicht nur allgemein religiösen Charakter hat, sondern in seiner Darstellung von Schöpfungs- und Heilsgeschehen theologisch nahe an der Bibel steht; der Bericht der Erschaffung des Menschen aus Staub21 wird sogleich aus Sicht der neutestamentlichen Erfüllung interpretiert (vgl. 5. 5.). Erwähnt wurde auch das Gewicht, das auf die christlichen Tugenden des Helden gelegt wurde, die noch vor seinen militärischen Fähigkeiten erwähnt wurden (s. 5. 2.) und die offensichtlich herausragende Stellung der sacerdotum inclita caterva innerhalb der Hauptstadt (s. 5. 4.).
Einer näheren Betrachtung wert ist nun vor allem noch die bereits erwähnte Klagerede Davids im ersten Kapitel des zweiten Buches der Könige. Bereits Davids Reaktion auf die Nachricht über den Tod Sauls und Johnatans erinnert an die Verzweiflung der Cividaler Bevölkerung, wie sie in Strophe 11 und 12 unseres Gedichts dargestellt sind: aprehendens autem David vestimenta sua scidit omnesque viri qui erant cum eo et planxerunt et fleverunt et ieiunaverunt usque ad vesperam (2Reg 1, 11f.).
Das Klagelied, das er dann anstimmt, beginnt mit einer Anrede an die Berge seines Landes: Incliti Israhel super montes tuos interfecti sunt. Die Parallele zu Paulins Anfang liegt auf der Hand und wird noch deutlicher wenn man den in manchen Handschriften vorgelagerten Vers considera israel pro his qui mortui sunt super excelsa tua vulnerati hinzunimmt. Den folgenden refrainartigen Vers quomodo ceciderunt fortes haben wir bereits in 5. 3. erwähnt.
Ihm folgt die Aufzählung einiger feindlicher Gebiete - man fühlt sich an Paulins Katalog der besiegten Gebiete erinnert, die die Nachricht des nicht erhalten sollen, da David ihren Spott fürchtet. Der Fluch über die montes Gelboe wurde teils wörtlich - nec ros nec pluviae veniant super vos - teils über- tragen - neque sint agri primitiarum - in unser Gedicht transportiert (Strophen 8 und 9).
Die Erwähnung des Verlustes von Sauls Schild (vgl. dazu oben 5. 3., S. 7) leitet über zum Preis der tapferen Helden, deren Waffen nie gefehlt hätten. Sie verfügten offensichtlich über außergewöhnliche Fähigkeiten und waren aquilis velociores leonibus fortiores.
Über Sauls Verhalten zu Hause erfahren wir etwas in dem folgenden Abschnitt, der die Töchter Isra- els zur Trauer auffordert: filiae Israhel super Saul flete. Zur Klage hätten sie Grund, da sie vom Gefallenen allzeit reichlich mit Kleidung und Schmuck bedacht wurden. Die charakterlichen Eigen- schaften sind bei Eric anders dargestellt und gewichtet; in unserem Gedicht wird ja in zum biblischen Vorbild umgekehrter Reihenfolge zunächst der karitativen Vorzüge gedacht und dann der militäri- schen (vgl. oben 5. 2., S. 7).Darüberhinaus äußert sich die Stelle nur über Sauls Verhalten gegenüber den Frauen an seinem Hof. Die Aussagen über die Tugenden eines Herrschers in Friedenszeiten konnten von Paulin also nicht aus dem hier behandelten altestamentlichen Text übernommen werden.
Die beiden abschließenden Verse - nach der eingeschobenen „Refrainzeile“- zeigen die stimmungs- mäßige Korrespondenz zwischen den beiden Trauerreden, die dem „offiziellen“ Klagen über ver- dienstvolle und hochrangige Persönlichkeiten den privaten Schmerz des Dichters über den Verlust eines Freundes beigesellen. Die Passagen aus Paulins Gedicht, die seine besondere Sympathie zu Eric verraten, wollten wir in 2, 1 Hericum michi dulce nomen plangite und in 4 (Paulin gibt Straß- burg seinen alten Namen amici dulcis ob amorem wieder) erkannt haben, nicht ohne festzustellen, daß der gesamte Text in seinem Ton - und geronnen eben nur an den beiden genannten Stellen - diese Freundschaft bezeugt. In einer direkteren Weise finden wir ein solches Verhältnis in der bibli- schen Vorlage: doleo super te frater mi Ionathan decore nimis et amabilis super amorem mu- lierum. Zumindest die Überlegung darf geäußert werden, daß vielleicht diese Übereinstimmung der persönlichen Gefühlslage Paulin bewogen hat, etliche Aspekte der Totenklage Davids in sein Kon- zept zu übernehmen.
[...]
1 Einhardus, Vita Karoli Magni, post G. H. Pertz recensuit G. Waitz, editio 6 curavit O. Holder-Egger, Hannover 1911, Neudruck 1927, 1947 (MGH, scriptores rerum Germanicarum 25)
2 Die biographischen Daten zu Paulin und zu Eric sollen bei dieser Arbeit ausgespart werden. Einen kurzen, alles hier Notwendige berührenden Überblick findet man in den Artikeln „Paulinus von Aquileia“ im Verfasserlexikon (Die deutsche Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 21978ff.) bzw. unter „Erich (9)“ im Lexikon des Mittelalters, München, Zürich 1980ff. (Bd. 3).
3 Der Inhalt dieses bedeutenden Manuskriptes, thematisch um Tod und Ewigkeit kreisend, und vor allem seine musikalischen Aspekte sind nachzulesen bei: Jaques Chailley, L´école musicale de saint Martial de Limoges, Paris 1960, S. 73ff sowie 165 ff.
4 Paris 1852, Nachdruck Hildesheim 1966, v.a. S. 87ff.
5 Paris 1843, S. 241f.
6 Poet. Lat., I, S. 131ff.
7 Dag Norberg, L´œuvre poétique de Paulin d´Aquilée, Stockholm 1979
8 Näheres zu diesem Versmaß bei Dag Norberg, Introduction à l´étude de la versification latine médiévale, Stockholm 1958, S. 111f.
9 siehe Norberg, L´œuvre poetique... aaO., S. 37.
10 Die imperative Bedeutung der Form cessare (3,1) erklärt Norberg, L´œuvre poetique... aaO., S. 34.
11 E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948,
12 Norberg, L´œuvre poetique... aaO., S. 36.
13 Die Nachweise bei Norberg, L´œuvre poetique... aaO., S. 101.
14 Paul Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 42, in: Lyrik des Mittelalters I - Probleme und Interpretationen, Hg. Heinz Bergner, Stuttgart 1983.
15 M. Hereswitha Hengstl, Totenklage und Nachruf in der mittellateinischen Literatur seit dem Ausgang der Antike, Würzburg 1936, S. 95f.
16 Zitiert nach: J. Szöverffy, Weltliche Dichtung, , S. 474.
17 Norberg, L´œuvre poetique... aaO., S. 38.
18 ebd.
19 Hengstl, Totenklage... aaO., S. 97ff. Bei den römischen Werken, die sie (S. 99) als eventuelle Vorbilder angibt, ist zu bedenken, daß sie nicht - wie die mittelalterlichen Beispiele - konkrete geographische Namen angeben.
20 Man könnte als dritten Beleg auch noch Georgica III, 475 angeben.
21 Gen 1, 7
- Arbeit zitieren
- Gerald Fink (Autor:in), 1996, Paulinus - De Herico Duce von Paulinus von Aquilea, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95580
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