INHALTSVERZEICHNIS
I. Einleitung
II. Gruppenentstehung im KZ: Das grundlegende soziale System
1. SS- Klassifikation: Das Kategoriensystem seit 1936
2. Der soziale Trichter
III. Häftlingszahlen KZ Sachsenhausen
1. Ein Phasenmodell für Sachsenhausen
a) Gesamtzahl der Häftlinge
b) Die deutsche Phase: 1936- 1938
c) Zwischenphase 1938 / 1939
d) Die Frühphase im Weltkrieg: 1939- 1941
e) Die Endphase: 1942- 1945
2. Die Entwicklung der Gruppe der politischen Häftlinge
IV. Die politischen Häftlinge zwischen Teilhabe an der Macht und Widerstand
1. Zugang zur Macht?
a) Zur Bedeutung der Häftlingsverwaltung
b) Der Kampf Rot gegen Grün in Sachsenhausen
2. Widerstand im KZ Sachsenhausen
a) Formen und Ausmaßdes Widerstandes
b) Struktur der Widerstandsgruppe
V. KZ- Geschichtsschreibung nach 1945
VI. Zusammenfassung
VII. Quellen- und Literaturverzeichnis
Anhang: Bildliche Darstellung des Sozialen Trichters nach Wolfgang Sofsky
I. Einleitung
Dieser Hausarbeit wird eine dreifache Zuspitzung der Fragestellung zugrundeliegen, inwieweit und warum die Gruppe der politischen Häftlinge im KZ Sachsenhausen eine besondere Stellung unter den Häftlingen einnahmen.
In einem ersten Schritt werden die strukturellen Gründe für diese Entwicklung gezeigt, nämlich das SS- Klassifikationssystem und der soziale Trichter als grundlegende soziale Struktur in der Häftlingsgesellschaft. Diese Struktur bezieht sich zunächst auf ein idealtypisches, abstrahiertes KZ.
Der zweite Schritt stellt die Entwicklung der Häftlingszahlen in Sachsenhau- sen anhand eines Phasenmodells dar. Diese Darstellung des Umfeldes der politischen Häftlinge wird ihre Stellung deutlicher werden lassen. Nachdem die Gruppe der politischen Häftlinge sowohl strukturell als auch quantitativ verortet wurde, wird im nächsten Schritt die Bedeutung der politischen Häftlinge anhand der Häftlingsverwaltung und des Widerstandes erläutert.
Im Appendix zu dieser Analyse erscheint die Reflexion darüber, von welchen Faktoren die Forschung nach 1945 in ihrem Bild über das KZ und die Bedeutung der politischen Häftlinge beeinflußt worden ist.
Das KZ Sachsenhausen wurde 1936 gegründet. Mit dem „wilden“ KZ in Oranienburg hatte es allerdings nur die räumliche Nähe gemeinsam. Es gehört dem Typus nach zu den KZ, die vor Kriegsbeginn im Reichsgebiet gegründet wurden. Ein Vergleich Sachsenhausens mit Buchenwald und Dachau wird also analytisch schärfere Ergebnisse liefern können als der mit Massenvernichtungslagern in den eroberten Gebieten im Osten. So waren in Sachsenhausen insgesamt ca. 200 000 Häftlinge eingesperrt- damit war Sachsenhausen nach Auschwitz in dieser Hinsicht das zweitgrößte Lager überhaupt. Dennoch ist ein Vergleich der beiden Lager nur bedingt möglich, da sie einer unterschiedlichen Generation und Form der KZ angehörten.
Innerhalb der Gruppe der „alten“ Lager erlangte Sachsenhausen schon früh eine zentrale Bedeutung- es war nicht nur privilegiert durch die Stellung als „KZ der Reichshauptstadt“, sondern auch durch die Sonderrolle, die ihm die Nazis als Experimentierlage zukommen ließen.
II. Gruppenentstehung im KZ: Das grundlegende soziale System
1. SS- Klassifikation: Das Kategoriensystem seit 1936
Wer sich mit den Häftlingsgruppen im KZ beschäftigt, mußsich zwangsläufig der Einteilung der SS bedienen. Die farbigen Dreiecke1 auf der Häftlingskleidung gaben nicht nur den Einlieferungsgrund an, sondern waren bis zum Ende der KZ auch das Magnetfeld, in dem sich die Häftlinge bewegten. Selbstverständlich sind wichtige Ausnahmen zu beachten. Dennoch gelang es der SS, ihr System zu dem System der Häftlinge werden zu lassen. Die Methoden und Gründe für diese Entwicklung werden vorrangig im Kapitel über den „sozialen Trichter“ erläutert.
Zentral für die Durchsetzung des SS- Systems war die differenzierte Behandlung der Häftlinge. Der SS stand eben nicht eine geschlossene Gruppe der Häftlinge gegenüber- eine wichtige Strategie der SS bestand darin, die Gemeinschaft der Häftlinge zu teilen und zu vermengen.2
Da das Konzentrationslager die sozialen Unterschiede der Außenwelt nivellierte, bedeutete die SS- Klassifikation gleichzeitig die zentrale Sozialstruktur des KZ:
Die soziale Stellung hing keineswegs nur vom Überlebenswillen, der Widerstandsfähigkeit und der Skrupellosigkeit ab. Das Lager war kein durchlässiges soziales Feld. (...) Die Sozialstruktur verteilte Güter, Macht und Prestige, stiftete und zerstörte soziale Ver- bindungen, steuerte Leben und Tod.3
Die Zugehörigkeit zu einer Häftlingsgruppe war zwar nicht das einzige Kriterium, das über Leben und Tod entschied, aber in vielen Fällen die Voraussetzung zum Überleben: Zugang zur Häftlingsverwaltung, Zugehörigkeit zu Arbeitskommandos und ökonomische Kontakte zur SS waren bestimmten Häftlingsgruppen vorbehalten. Wie später noch erläutert werden wird, waren besonders die Kriminellen (gekennzeichnet durch ein grünes Dreieck) und die politischen Häftlinge (seit 1937 rotes Dreieck) aktiv.
Homosexuelle wurden rosa gekennzeichnet, Asoziale schwarz, Emigranten blau, Zigeuner braun. Juden erhielten zwei Dreiecke, die übereinander genäht den Davidstern ergaben. Die ausländischen Gefangenen wurden meist als politische Häftlinge geführt, erhielten aber zusätzlich eine Markierung durch den Anfangsbuchstaben ihrer Nationalität. Daneben gab es noch diverse Sonderzeichen für Strafkompanien und Fluchtverdächtige. Wie auch alle anderen Versuche, die Konzentrationslager klassifikatorisch in den Griff zu bekommen, scheiterte auch dieser Versuch der SS gelegentlich an der Reali- tät:
Farben, Markierungen und Sonderbezeichnungen- in dieser Hinsicht war das ganze KL ein Narrenhaus. Gelegentlich entstanden wahre Regenbogen- Ausstattungen: so gab es einmal einen jüdischen Bibelforscher als Rassenschänder mit Strafkompaniepunkt und Fluchtzielscheibe.4
Schon dieses Beispiel zeigt, daßdie Zuordnung zu einer Farbe nicht starr war. Doch diese Durchlässigkeit konnte keineswegs die grundsätzliche Bedeutung der farbigen Dreiecke brechen.
2. Der soziale Trichter
Wie schon angedeutet, gaben die Zeichen auf der Häftlingskleidung mehr an, als nur den Verhaftungsgrund. Die farbigen Dreiecke- und damit die Zugehörigkeit zu einer Häftlingsgruppe- wären nicht so bedeutend geworden, wenn sie nicht ein Machtinstrument der SS gewesen wären. Neben der bürokratischen Klassifizierung diente es vor allem der „Diskriminierung und Dissoziation“5.
Wolfgang Sofsky definiert den tieferen Sinn der Klassifikation wiefolgt:
Die soziale Distanz- und Rangskala bezeichnete den Abstand der Häftlingsklassen zum Zentrum absoluter Macht. Je weiter eine Kategorie von der SS entfernt war, desto geringer ihre soziale Stellung und desto höher der Vernichtungsdruck.6
Wie sah nun die Entfernung einer Kategorie zum Machtzentrum im einzelnen aus? Um alleine die Häftlingsgruppen gegeneinander auszuspielen, hätte es keiner Abstufung bedurft.
Die Antwort liegt hauptsächlich in der SS- Ideologie. Diese ging von einer verschiedenen „Wertigkeit“ der Häftlinge aus und unterschied auf verschiedenen Stufen deren Recht zu überleben. Dieser „soziale Trichter“ geht auf Wolfgang Sofsky zurück und soll im folgenden dargestellt werden.7 Es ist selbstverständlich, daßdieses Idealmodell der KZ- Gesellschaft abstrahiert- gewichtige Ausnahmen und Sonderentwicklungen widersprechen dem Entwurf als ganzem also nicht unbedingt. Es ist besonders darauf hinzuweisen, daßdas System nicht „zeitlos“ war. In der letzten Kriegsphase nivellierte die Überfüllung und Güterknappheit viele Unterschiede und damit die Bedeutung des Systems.8 So ist spätestens seit 1944 von einer Auflösung der von der SS geplanten KZ- Ordnung zu sprechen.
Die erste Stufe der Differenzierung basierte nach Sofsky auf der Unterscheidung zwischen „Mensch“ und „Untermensch“. Dieser rassistische Gegensatz trennte zunächst die „Ostvölker“, Zigeuner und Juden von den anderen Häftlingen ab. Die Verfolgung schlug in dieser Häftlingsgruppe am ehesten in systematische Ausrottung um. Wenn man also eine Gruppe benennen sollte, deren Überlebenschancen tendenziell am niedrigsten war, dann waren es Juden, Zigeuner und „Ostmenschen“.9
Die zweite Stufe der Differenzierung war ebenfalls rassistisch motiviert und setzte mit Kriegsbeginn ein. In der Konfrontation mit anderen Nationalitäten unterschied das SS- System zwischen den als Ariern geltenden Nordeuropäern (Skandinavier und Dänen) und den „anderen“. Franzosen und Italiener standen tendenziell schlechter.
An diesem Punkt wird deutlich, daßdie reichsdeutschen Häftlinge- solange sie keine Juden oder Zigeuner waren- schon aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit privilegiert waren.10 Die Unterscheidung des Systems zwischen den aus politischer Feindschaft einsitzenden Häftlingen (Politische und Bibelforscher) sowie den wegen sozialer Abweichung Verhafteten (Kriminelle, Asoziale, Homosexuelle) ist somit weniger trennscharf und wurde weit weniger bedeutend.
Diese Kategorien und die daraus resultierende Behandlung der Häftlinge ist keineswegs unabhängig von der konkreten Situation im Lager zu sehen: Verschiebungen der Kategorien fanden hauptsächlich durch die ständigen Einlieferungen von neuen Häftlingsgruppen statt. Die SS wandte sich mit besonderer Grausamkeit den Neuankömmlingen zu: „So stiegen die Asozialen bei Kriegsbeginn, als die ersten Polen und Tschechen eingeliefert wurde, in der Rangskala auf.“11
Die Bedeutung des Trichters für die Lagergesellschaft ist nicht zu unterschätzen. Seine Funktion beschränkte sich keineswegs nur auf die Stufe der Grau- samkeit in der Behandlung. Er bildete das soziale Grundgerüst.
Das Kategoriensystem wirkte als Mechanismus der Differenzierung. Er setzte Abstände, schürte Gegensätze und zog soziale Grenzlinien, die keiner überschreiten konnte.12
Mit dem Durchschreiten durch das KZ- Tor setzte die Nivellierung aller sozialen Unterschiede ein, die in der Außenwelt bestanden hatten. Im KZ fand sich der vermögende jüdische Anwalt auf der untersten Stufe des Trichters ausgesondert! Obwohl das Klassifikationssystem durch die SS aufgezwungen war, wurde es von den Häftlingen übernommen. An dieser Stelle wurde das SS- System zum psychologischen Käfig des Häftlings:
Wie jede kategoriale Differenzierung steuerte das Farbsystem das soziale Urteil, indem es die Wahrnehmung der Unterschiede verstärkte (...) Jeder Häftling mit dem schwarzen Winkel galt nun tatsächlich als asozial, arbeitsscheu, feige und verdreckt (...), jeder Bibelforscher als arbeitsam, ordentlich und unbeugsam in seinen religiösen Grundsätzen.13
Das Klassifikationssystem der SS schloßso an die Vorurteile an, die auch außerhalb der KZ- Gesellschaft existierten. Selbstverständlich versuchten die jeweiligen Häftlingsgruppen, gegen ihren eigenen Status anzukämpfen oder aber ihn zu verteidigen. Diese Aktionen waren jedoch systemimmanent und waren keineswegs auf die Abschwächung der Bedeutung der Kategorien gerichtet. Die Gruppenkonkurrenz bestimmte so zu einem gewichtigen Anteil der Lageralltag.14
Auf der anderen Seite sei darauf hingewiesen, daßdie Differenzierung zwischen den Gruppen keineswegs eine Integration innerhalb der Klasse bedeuten mußte, denn die Gruppenangehörigkeit war erzwungen. Besonders deutlich wird dies an der Gruppe der Juden oder der Asozialen, die sich ja oft nur wegen ihrer Geburt oder soziale Deklassierung in ihrer Gruppe wiederfanden. Zum Teil anders sah es bei den politischen Häftlingen und sowjetischen Gefangenen aus: hier bestanden oft schon Verbindungen, bevor sie ins KZ eingeliefert wurden.
Aber selbst bei den Kommunisten, der geschlossensten Gruppe neben den Bibelforschern und spanischen Republikanern,15 spaltete das SS- System. Entgegen ihrem eigenen Ideal bestand zwischen den ausländischen und deutschen Kommunisten eine tiefe Kluft. Für die Ausländer gehörten alle reichsdeutschen Häftlinge zum Lager der Feindnation: „Für sie waren wir erst mal Deutsche, und sie konnten nach allem, was Deutsche ihnen angetan hatten, kein Vertrauen zu uns haben.“16
Auf der anderen Seite übernahmen die deutschen Häftlinge oft zu gerne die von der SS angelegte Überlegenheit der Deutschen über die Ausländer in ihr Verhalten.
Eine weitere Funktion des Trichters war die Macht- und Arbeitsverteilung und damit die Möglichkeit der Partizipation am System der Lagermacht durch Funktionsstellen.
Sozialer Aufstieg und Abstieg waren strikt an der Hierarchie des sozialen Filters orientiert. So konnte es niemals geschehen, daßein Ausländer Deutsche befehligte. Das SS- System gewährte nur den Gruppen Zugang, die an der Spitze der durch den sozialen Filter differenzierten Gesellschaft standen: zunächst Kriminelle (BVer), dann die Politischen.
Vorzugsweise versorgte die SS die BVer mit Funktionsstellen, da diese keiner relativ geschlossenen Gruppe wie die Kommunisten angehörten und gleichzeitig oftmals der SS in ihrer Brutalität nacheiferten.17 Andere Gruppen hat- ten keine Chance, Funktionsstellen zu erlangen:
Letztlich entscheidend für die Funktionsmacht war die Stellung im System der Klassifikation: kriminelle Häftlinge verdanken ihre Privilegierung der Protektion durch die SS.18
Die Funktionsstellen waren also in den Rahmen des sozialen Trichters eingebunden- sie dienten nicht der Auflockerung oder Sprengung, sondern der Vertiefung der Gegensätze zwischen den Häftlingsgruppen. Die Gruppenverbindungen sind diesem Muster eindeutig nachzuordnen. Gerade die schlagkräftigen Gruppen versuchten ja, Funktionsstellen zu erlangen, weil dies die einzige Möglichkeit war, die eigene Position zu sichern. Nur wenn die SS sich aus der Stellenbesetzung heraushielt, gewannen Gruppenverbindungen an Gewicht.
III. Häftlingszahlen des KZ Sachsenhausen
Wie oben schon angedeutet, hing die Entwicklung des Lagers- auch in seinen inneren Strukturen- stark von der Entwicklung der Häftlingszahlen ab. Wenn die Bedeutung der Politischen Häftlinge im KZ Sachsenhausen dargestellt werden soll, so ist die zentrale Bezugsgröße die Häftlingszahl. Dies insofern unproblematisch, da dieses Phasenmodell nicht den Anspruch allgemeiner Gültigkeit erhebt. Es dient lediglich als Arbeitsmittel und hat keinen Anspruch, das Phänomen des Konzentrationslagers zu erklären: ob nun wirtschaftliche Gründe oder Vernichtungswillen entscheidend waren oder beide vertreten waren, ist für unsere Aufgabenstellung nicht entscheidend. Das KZ Sachsenhausen ähnelt in seiner Entwicklung einigen anderen KZ, anderen nicht. Es wird ausdrücklich darauf verwiesen, daßdas hier verwandte Phasenmodell nur begrenzte Gültigkeit beansprucht.
Das Phasenmodell für das KZ Sachsenhausen versucht also, die Rahmenbedingungen festzustellen, in denen sich die Gruppe der Politischen bewegte.
1. Ein Phasenmodell für Sachsenhausen
a) Gesamtzahl der Häftlinge
Die Quellenlage zur quantitativen Entwicklung Sachsenhausens ist schwierig. Die SS vernichtete ab Anfang März 1945 einen Großteil der Akten, in den Jahren 1944 und 1945 wurden ein großer Teil der Häftlingsbewegungen überhaupt nicht mehr registriert.19 Die hier vorgestellten Tabellen spiegeln hauptsächlich den Forschungsstand der 60er- Jahre. Diese Zahlen suggerieren eine Genauigkeit, deren Zweifelhaftigkeit von der modernen Forschung festgestellt worden ist. Viele Zahlen gelten mittlerweile als falsch, die modernere Forschung hat es aber bisher nicht geschafft, ein neues Zahlengerüst zu erstellen- im Gegenteil: Die Unmöglichkeit einer genauen Erforschung wird immer deutlicher.
Betrachtet man alleine die Zugänge und die Anzahl der Gefangenen, dann sind einige Charakteristika der Lagerentwicklung ablesbar.
Grafik 1: Häftlingszahlen und Zugänge 1938 bis März 194520
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Anhand von Grafik 1 wird zunächst einmal deutlich, daßdas KZ bis 1938 eine eher ruhige Entwicklung durchmachte. Die Fluktuation und die Gesamtzahl der Häftlinge war eher gering. Ein massiver Anstieg setzt kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs ein. Die Jahre 1938 und 1939 sind von einem ständigen Zustrom gekennzeichnet. Dramatische Anstiege sind dann erste wieder 1942 zu verzeichnen, die sich bis 1945 potenzierten. Wichtig für den Charakter der Lagergesellschaft war die hohe Fluktuation seit 1944. Eine Lagergesellschaft mit einer Stammbelegung war also spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vorhanden. Leider hat die Forschung bisher nicht feststellen können, mit welcher Dynamik sich das Rad von Zu- und Abgängen drehte. Die Auswirkungen auf das Lagerleben sind jedoch abzuschätzen: ohne eine Stammbelegschaft lösten sich die Bindungen der Gruppen schneller auf als sie gebildet werden konnten.21 Der Rückgang der Fluktuation fällt dann in eine Phase der Masseneinlieferungen. Auch diese Entwicklung legt die Vermutung nahe, daßdie Lagergesellschaft, wie sie Wolfgang Sofsky im Auge hat, zu dieser Zeit nur noch stark eingeschränkt funktionieren konnte.
Grafik 2: Belegstärke und Todeszahlen 1936 bis 194522
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Um die Rolle der deutschen Häftlinge deutlich zu machen, ist die Aufschlüsselung der Häftlingszahlen im Krieg wichtig. Sie zeigt, auch wenn die Zahlen nur fragmentarisch sind, daßdie deutschen Häftlinge schon relativ früh in die Minderheit geraten, obwohl Sachsenhausen im Reichsgebiet lag. Da die Gesamthäftlingszahlen 1941 bei ca. 10 000 lagen, ist die Bedeutung der Zugänge anderer Nationalität abschätzbar:
Grafik 3: Nationalitäten in Sachsenhausen23
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
b) Die deutsche Phase: 1936-Ende 1937
Der Hauptgrund für das stetige Anwachsen der Häftlingszahlen ist zunächst in der Ausweitung der Haft auf weitere Gruppen in Deutschland zurückzuführen. Dabei befanden sich die Häftlingszahlen 1936 in ganz Deutschland auf einem niedrigen Niveau, denn Häftlingswelle von 1933 war längst abgeflaut.
In den Jahren 1936 / 37 wurden hauptsächlich politische Häftlinge aus Nord- und Westdeutschland nach Sachsenhausen gebracht. Diese stellten die „rote Gründergeneration“ der Sachsenhausener Häftlinge.24 Die Gesamtzahl der politischen Häftlinge in ganz Preußen lag 1936 allerdings bei unter 900.
1937 hatten die etwa 1000 Kommunisten die Mehrheit in Sachsenhausen.25
c) Zwischenphase 1938 / 39
Die Zwischenphase in Sachsenhausen ist geprägt durch ein stetiges Anwachsen der Häftlingszahlen und das Ende der alleinigen Dominanz der Roten. Die Häftlingszusammensetzung 1937/38 zeigt, daßdie Nationalsozialisten zu diesem Zeitpunkt den Kreis der KZ- Häftlinge über den der politischen Häftlinge hinaus ausweiteten. Dies geschah vor allem durch den Schutzhafterlaßdes RMdI vom 25.1.193826, sowie in der Einrichtung des Reichskriminalhauptamtes 1937 und dem Runderlaßdes RFSSuChdDtPol vom 26.1.1938.
Immer mehr „volksschädliche Elemente“ wurden in Sachsenhausen eingewiesen: Asoziale, Homosexuelle, Bibelforscher und Gewohnheitsverbrecher stellten wohl die Hälfte der Häftlinge.27 Im Juni 1938 erreichten ca. 6000 Menschen das Lager Sachsenhausen aufgrund des „Asozialenerlasses“- hauptsächlich Sinti und Roma sowie „Arbeitsscheue“.28 Die Entwicklung des KZ Sachsenhausen unterscheidet sich somit schon sehr früh von der in Dachau, denn Dachau war von Anfang an von politischen Häftlingen dominiert.29
In das Jahr 1938 fällt auch die Einlieferung der „Progromnachtjuden“. Die Angaben zur Zahl der im November Eingelieferten schwanken zwischen 6000 und 10 000 Juden.30 Die meisten Juden blieben jedoch zum großen Teil nur kurz im Lager. Insofern blieben die Verhaftung der Juden 1938 vorerst ein Einzelfall.
1938 machte sich zum ersten Mal die Expansion des Deutschen Reiches bemerkbar. Die politischen Gegner aus Österreich und dem Sudetenland stellten die ersten politischen Häftlinge aus dem Ausland, blieben aber zahlenmäßig auf eher geringem Niveau.
Die Häftlingszahlen stiegen in den Monaten April bis August 1939 um durchschnittlich 200 bis 300 Häftlinge pro Monat.31
d) Die Frühphase des Weltkrieges: 1939- 1941/42
Der Beginn der zweiten Phase fällt mit dem Anfang des 2. Weltkrieges zusammen. Die Auswirkungen waren in Sachsenhausen unmittelbar und deut- lich spürbar:32
Das alles bezog sich auf die Jahre vor Kriegsbeginn. Nun aber kamen sie in ein Lager Sachsenhausen, das ganz anders aussah. Es hielt keinem Vergleich mit den Verhältnissen stand, in denen sie bisher in festen Anstalten gelebt hatten, und es entsprach auch nicht den Vorstellungen nach dem bisher Gehörten. Die Überbelegung des Lagers, der Hunger, die Kälte, Regen und Schnee, denen die vielen Tausende völlige entkräfteter Gefangener ausgesetzt waren, hatten eine deprimierende Wirkung auf sie.33
Der Wechsel betraf sowohl die Behandlung der Häftlinge im Lager als auch den Zuflußder ausländischen Häftlinge und die verstärkte Fluktuation der Häftlinge. Die deutschen Häftlinge stellten ab 1939 die Minderheit im Lager. Dies ist gerade im Hinsicht auf die politische Gruppe wichtig, da erst hier die für Sachsenhausen bis zum Ende typischen Mengenverhältnisse zwischen deutschen und ausländischen Flüchtlingen bildete:34 Der zahlenmäßig größte Teil der Häftlinge kam aus neu besetzten Ländern: hauptsächlich aus Polen und der UdSSR, aber auch Tschechen, Norweger, Franzosen, Belgier, Holländer und Serben.
Die Gesamtzahl der Häftlinge bei Kriegsbeginn lag in ganz Deutschland bei ca. 25 000, in Sachsenhausen ca. 6500.35 Am Ende des Jahres waren 12 000 Häftlinge interniert, unter ihnen mehr als 2000 Tschechen.36
Der Kriegsbeginn löste in Deutschland eine erneute Verhaftungswelle aus, abgesichert durch die Grundsätze der inneren Staatssicherung vom 3.9.1939 und der Runderlaßdes Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 24.10.1939 („Entlassungen von Häftlingen aus der Schutzhaft finden während des Krieges im allgemeinen nicht statt“).37
Verschärft wurde das Vorgehen erneut 1941. In Folge des Runderlasses an die Sicherheitspolizei vom 27.8. verhaftete die Gestapo im Oktober weitere 15160 Menschen auf dem Reichsgebiet.
Tabelle 1: Verhaftungswelle in Deutschland Oktober 194138
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Selbst innerhalb der in Deutschland Verhafteten bildeten die Politischen keineswegs die Mehrheit. Die in Deutschland nach November 1939 verbliebenen Juden wurden erneut eingewiesen, und schon im September fanden die ersten Exekutionen in Sachsenhausen statt.39
Der Zustrom der Franzosen ist hauptsächlich auf den „Nacht- und Nebelerlaß“ des OKW vom 7.12.1941 zurückzuführen.40
Den Höhepunkt dieser Phase bildete die Einlieferung der sowjetischen Kriegsgefangenen seit Juni 1941. Allein in Sachsenhausen wurden zwischen 13 000 und 20 000 Soldaten eingeliefert, die der SS- Systematik aber nicht als KZ- Häftlinge galten und deswegen abgetrennt von den anderen Häftlingen eingesperrt wurden. Im Spätsommer 1941 erfolgten die ersten Massen-erschießungen in allen großen KZ in Deutschland. In Sachsenhausen wurden ca. 10 000 Sowjets erschossen.
In den zweieinhalb Jahren zwischen Kriegsbeginn und Übernahme der KL durch das WVHA (März 1942) stieg Zahl der KZ- Häftlinge von 25 000 auf 100 000. Diese Überbelegung führte auch in Sachsenhausen zu einem starken Anstieg der Sterblichkeit.41
Auch auf der Seite der Täter setzten nun Veränderungen ein. Die aktiven Totenkopfstandarten wurden schon vor dem Polenfeldzug, aber in unmittelbarem Kontext, von Ersatzformationen abgelöst. Auch Theodor Eicke schied aus der KZ- Organisation aus.
Die Verdopplung der Häftlingszahlen setzte die Erweiterung des Lagers in Gang: von ursprünglich 36 Hektar auf über 400 Hektar im Jahre 1944.
e) Die Endphase: 1942-1945
Die Unterstellung des KZ- Systems unter das Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) im März 1942 leitete die nächste Phase in Sachsenhausen ein. Der wirtschaftliche Aspekt der KZ ist schon viel früher präsent- Heydrich begründete 1938 die Einweisung der Asozialen mit der Notwendigkeit, den 4- Jahres- Plan einhalten zu müssen42, und im Frühjahr 1938 erfolgte die Gründung der DEST in Sachsenhausen- aber erst jetzt zeichnet sich in der KZ- Organisation eine tiefgehendere Neuausrichtung ab. So gewann das WVHA mit steigender Bedeutung auch zunehmend an Gewicht gegenüber dem RSHA.
Himmler selbst ließunfreiwillig erkennen, daßein solches Zwangssystem, das primär wirtschaftlichen Zielen diente, eine völlige Ver- schiebung der Grundlagen der KL bedeutete.43
Die Heranziehung der Häftlinge zur Arbeit erfolgte nun unter systematischeren Gesichtspunkten und bestimmte von nun an zumindest in den meisten Lagern im Reichsgebiet (darunter Sachsenhausen) die Entwicklung der Häftlingszahlen. So sanken die Sterblichkeitszahlen in Sachsenhausen relativ schnell ab44, zumindest ein Teil der Schikanen des Alltagslebens und einige dem „Erziehungsgedanken“ verpflichteten Quälereien entfielen. Von Januar bis August 1943 starben immer noch über 60 000 Häftlinge, die relative Sterblichkeit ging aber zurück.
Weitere Maßnahmen zu Aufstockung der Häftlingszahlen sind vor allem die Überführung der Asozialenhäftlinge der Justiz in die KZ (ca. 12 000) und die Überstellung aller polnischen Häftlinge aus den Gefängnissen des Generalgouvernements.45 Die Steigerung der Häftlingszahlen 1942 / 43 ist enorm. Waren es im Dezember 1942 noch 88 000 Häftlinge insgesamt, so stieg die Zahl bis August 1943 auf ca. 224 000 Häftlinge. Für Sachsenhausen sind im August 1943 ca. 26 000 Häftlinge zu vermerken.
Eine zweite grundsätzliche Entwicklung war gekennzeichnet durch das Auflösen der ursprünglich im KZ angelegten Systematik. Dies ist vor allem durch die Kriegsereignisse zu erklären und die zunehmende Personalnot der SS. 1944 wurden alle übrigen Wehrmachts- und Justizgefangene in Konzentrationslager überstellt, zu diesem Zeitpunkt beträgt der Anteil der deutschen Gefangenen 5-10%.
Der Höhepunkt der Häftlingszahlen wurde in Sachsenhausen erst kurz vor Kriegsende erreicht. Nach dem Rückzug im Osten wurden nochmals einige Tausend Juden und Kriegsgefangene in Konzentrationslager im Reich überstellt. Befanden sich am 15.8.1944 noch 524 286 Häftlinge in Konzentrationslagern, so waren es am 15.1.1945 schon 714 211 Häftlinge im Reichsgebiet.
2. Die Entwicklung der Gruppe der politischen Häftlinge
Wie schon angedeutet, ist eine Differenzierung innerhalb der politischen Häftlinge notwendig. Fast alle ausländischen Gefangenen wurden unter der Bezeichnung „politisch“ eingeliefert. Daßunter dieser Kategorie keine einheitliche Gruppe entstehen konnte, ist klar. Die Überlagerung des Nationalitätenfaktor über die Kategorie der Politischen war von der SS ja durch die Kennzeichnung der Nationalität durch Buchstaben schon angelegt. Im Grunde kann man von einem deutschen Kern unter den Politischen sprechen, die das Bild der gesamten Gruppe der Politischen prägten, denn spanische, französische oder polnische Politische sahen sich in erster Linie als Spanier, Franzosen oder Polen. Selbst innerhalb der Gruppe der deutschen Politischen mußstark differenziert werden:
Was trug in den KL nicht alles die Bezeichnung „Politisch“! (...) Daneben gab es aber auch immer wieder eine gewissen Anzahl von Leuten, die der NSDAP angehört hatten und wegen irgendwelcher Parteivergehen eingeliefert worden waren.46
Die Frage nach der Bedeutung der politischen Häftlinge mußalso differenziert ausfallen. Wenn die Untersuchung besonders die deutschen politischen Häftlinge behandelt, dann ist dies einerseits legitim wegen der oben beschriebene Selbsteinschätzung der Häftlinge. Auf der anderen Seite spiegelt die Fokussierung die strukturell begründete Privilegierung der deutschen politischen Häftlinge im KZ.
Wie erwähnt, bildeten in Sachsenhausen zunächst nord- und westdeutsche Politische des Stamm. Deren Dominanz wurde in den Folgejahren 1937 und 1928 durch die massive Einlieferung von Kriminellen und Asozialen gebrochen. Ein Anwachsen der politischen Häftlinge setzte im März und April 1938 nach dem „Anschluß“ Österreichs ein. Hier mußten die Säuberungsaktionen gegen politische Gegner, die in Deutschland schon 1933 und 1934 durchgeführt wurden, nachgeholt werden. Das gleiche gilt in kleinerem Umfang für Verhaftungsaktionen im Oktober / November im Sudetenland. Eine größere Ausweitung der Aktionen ist wohl auch deswegen unterblieben, weil die Überbelegung der KZ im Winter 1938 zur Einschränkung des Kreises der politischen Gegner führte. Die nächste Welle der Politischen kam aus Tschechien. Im Herbst 1939 wurden 2000 Tschechen nach Sachsenhausen gebracht, dazu weitere 1700 Polen bis Frühjahr 1940.47
Der Krieg führte zwar zu einem überproportionalen Zuflußvon ausländischen Politischen, aber im Zuge der verschärften polizeilichen Maßnahmen setzte zum Teil schon kurz vor Kriegsbeginn eine Einlieferungswelle von reichsdeutschen Häftlingen ein. Dies waren zum großen Teil Kommunisten und Sozialdemokraten, die schon vor 1939 in einem KZ eingesessen hatten. Diese wurden nun abermals in Schutzhaft genommen. Betrachten man die Häftlingszahlen im August 1940, so stellen die Politischen (ohne die ausländischen Gefangenen) nur 1/12 der Belegschaft.
Grafik 4: Anteile der Häftlingsgruppen48
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
IV. Die politischen Häftlinge zwischen Teilhabe an der Macht und Widerstand
In Kapitel III wurden die quantitativen Verhältnisse in Sachsenhausen nachgezeichnet. Wie festgestellt, befanden sich die deutschen politischen Häftlinge in der Minderzahl. Warum die ausländischen politischen Häftlinge unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten sind, wurde insbesondere durch den sozialen Filter begründet. Dieser zeigt gleichzeitig den strukturellen Vorteil, den deutsche Politische hatten (neben den BVern). Nur so läßt sich die bedeutende Rolle der Politischen sowohl innerhalb der Häftlingsverwaltung als auch im Widerstand erklären.
1. Zugang zur Macht?
a) Zur Bedeutung der Häftlingsverwaltung
Der Kampf zwischen Rot und Grün, also Politischen und Kriminellen, ist nur verständlich, wenn man sich die große Bedeutung der Häftlingsverwaltung vor Augen führt.
Zunächst existierte diese Häftlingsverwaltung, weil es der SS ganz unmöglich war, das Personal zu stellen, um die Menschenmassen kontrollieren und organisieren zu können. Die SS betrieb das System der Konzentrationslager mit relativ geringem personellen Einsatz. Neben der Entlastung des SS- Personals ist die Häftlingsverwaltung aber auch als Teil einer perfiden Taktik, denn es wurde „geschaffen, um als verlängerter Arm der SS deren Terror auch in den letzten Winkel des Lagers zu tragen.“49
Die Verwaltung der Häftlinge durch Häftlinge war ungleich effektiver, da die SS so zwar Aufgaben abwälzte, ihre strukturell begründete Macht aber nicht abgab. Das Häftlingsverwaltungssystem machte einen Teil der Häftlinge zu Mittätern, es „verwischte (...) die Trennlinie zwischen Personal und Insassen.“50
Das macht deutlich, warum die Häftlingsverwaltung für die Häftlinge eine zentrale Bedeutung hatte: Denn als intermediäre Instanz zwischen SS und Häftlingsgesellschaft waren die Gestaltungsmöglichkeiten erheblich, der „gewöhnliche Häftling war seinem Capo oder Blockältesten völlig ausgeliefert.“51
Die Position der Funktionshäftlinge war schwierig. Einerseits war die Kollaboration mit der absoluten Macht durchaus rational, andererseits war aber folgendes klar:
Wer sich einmal mit der Gegenseite eingelassen hatte und ihr als Spitzel oder Henkersknecht gedient hatte, der hatte unter den Mitgefangenen sein Leben verwirkt.52
Dem Funktionshäftling blieben also, in den Vokabeln der Bündnispolitik, grundsätzlich die Möglichkeiten des „bandwagoning“ und des „balancing“. Für welche Strategie er sich entschied, hatte direkten Einflußauf die Überlebenschancen der Häftlinge und prägte den Charakter des Lagers.53 Die Reichweite der Funktionen, die Häftlinge ausfüllten, gab ihnen die Macht, über Tod und Leben der Mitgefangenen zu entscheiden. Es ist also selbstverständlich, daßdie im Lager aktiven Gruppen versuchten, die Funktionsstellen mit „ihren“ Leuten zu besetzen. Dieser Kampf um die „Teilhabe an der Macht“ (wobei klar ist, daßes sich um abgeleitete Macht handelte, die einer grundsätzlichen Asymmetrie unterlag) wurden hauptsächlich zwischen den Machtblöcken der Roten und Grünen ausgetragen. Die Politischen Häftlinge, unter ihnen besonders die Kommunisten, zögerten zunächst und zweifelten, ob das Übernehmen von Funktionsstellen mit dem Widerstand gegen das nationalsozialistische System vereinbar sei. Schließlich zwang sie das Machtpotential der Stellen dazu, die Posten anzunehmen. Wie im Kapitel über den Widerstand deutlich werden wird, waren gerade die Funktionsstellen die Ansatzpunkte für effektiv organisierten Widerstand.
b) Der Kampf zwischen Rot und Grün in Sachsenhausen
Die Lage in Sachsenhausen war, wie in Kapitel III.2 und III.3 gezeigt, nicht eindeutig. Schon früh wurde die Dominanz der Politischen gebrochen. Im weiteren Verlauf konnte sich keine Partei durchsetzen:
In Sachsenhausen stellten grüne Cliquen trotz der roten Schreibstube viele Kapos und Blockälteste. Eine geschlossene Selbstverwaltung in politischer Hand wie in Dachau war hier nicht mehr möglich.54
Durch die ständig wechselnden Zahlenverhältnisse wegen der ständigen Fluktuation kam dieser Kampf nie zur Ruhe. Wenn von einem Kampf zwischen Rot und Grün gesprochen wird, so mußdieser Begriff relativiert werden, was den Fall Sachsenhausen angeht: Harry Naujoks beschreibt die Differenzen und Reibungen zwischen beiden Machtblöcken, betont aber auch das grundsätzliche Interesse beider Gruppen, einen Bruch zu vermeiden.55
Die SS war besonders darauf bedacht, die Dominanz der Politischen auszubalancieren und wenn möglich zu brechen. Dies gelang nicht immer. Das lag vor allem daran, daßdie Politischen oft die Fähigkeiten mitbrachten, die notwendig waren, um die anspruchsvolle Verwaltungstätigkeit in der Arbeitsstube leisten zu können: Erfahrung in der Buchhaltung, Organisationstalent und Sprachkenntnisse.56 Diese Fähigkeiten fehlten den BVern meist. Hinzu kam die Anfälligkeit der BVer für Bestechung und Korruption. Da dies über kurz oder lang zum Chaos im Lager führte, war die SS öfters gezwungen, die Führungsriege der Häftlingsverwaltung auszuwechseln.
Über die Art und Weise, wie die Roten und die Grünen ihre Funktionsstellen ausführten, herrschte unter den Politischen Einigkeit:
Im wesentlichen handelte es sich um einen Kampf zwischen skrupellosen Egoisten, moralisch labilen Opportunisten und Demoralisierten auf der einen Seite- und diese rekrutierten sich mehrheitlich eben aus der Masse der Grünen und denjenigen Roten, die sich an sie akklimatisiert hatten- und politisch Bewußten und charakterlich Ungebrochenen auf der anderen Seite, denen die mit Funktionen verbundenen Privilegien eine Verpflichtung bedeuteten; und das waren vor allem politische Gegner, die ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus auch hinter dem elektrisch geladenen Stacheldraht fortsetzten und ihre Moral durch das Bewußtsein stärkten, selbst an diesem Ort noch etwas Nützliches leisten zu können.57
Diese Aussage mußeingeschränkt werden: allein schon die Farbenvergabe durch SS war oft willkürlich. Und unter den Roten fanden sich ebenso ehemalige SS- Angehörige, die wegen irgendwelchen Vergehen eingesperrt waren. Insofern bildete der Kampf „Rot gegen Grün“ in erster Linie keinen Kampf zwischen Gut und Böse, sondern ein Kampf zwischen zwei Machtblöcken.58 Daßeinige der schlimmsten Funktionshäftlinge das rote Dreieck trugen, ist also nicht verwunderlich.
Den Politischen, und hier insbesondere den Mitgliedern der KPD, kam bei dem Kampf um die Funktionsstellen ihre gute Organisation zu Hilfe. Anders als die BVer konnten sie sich auf über die KZ- Zeit hinausgehende gemeinsame Interessen stützen. Ihr hoher Organisationsgrad unterschied sie auch von den Mitgliedern der SPD. So ist es zu erklären, warum SPD- Mitglieder bei der Häftlingsverwaltung keine große Rolle spielten.59
Die Lagerältesten, die von der SS eingesetzt wurden, standen an der Spitze der Häftlingsverwaltung. Er war der SS gegenüber für das Geschehen im Lager verantwortlich und war die Ansprechperson des Lagerkommandanten. Die SS legte besonderen Wert auf eine ihr gefügige Lagerspitze.60 Für die Lagergemeinschaft war die Besetzung des Lagerältestenposten oft von überlebenswichtiger Bedeutung. Im KZ Sachsenhausen gab es 3 Lagerälteste. Folgende Tabelle zeigt, welcher Machtblock diese Spitzenposition besetzen konnte.
Tabelle 2: Die Lagerältesten in Sachsenhausen61
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Schreibstube in Sachsenhausen war seit Frühjahr 1938 rot dominiert. Dies war die zentrale Machtressource der Politischen. Die Bedeutung der Schreibstube und der Rapportführer kann kaum unterschätzt werden, denn ihr unterlag die gesamte innere Verwaltung des Lagers. Darunter fielen so überlebenswichtige Entscheidungen wie Verpflegungszuteilung und Einweisung in Arbeitskommandos oder Transporte in andere Konzentrationslager. Immer wieder wurde berichtet, daßdie Angehörigen der Schreibstube ihre „eigenen“ Leute vor der Verlegung in ein schwieriges Außenlager schützten und sie so vor dem sicheren Tod bewahrten.
Nirgendwo wird die Notwendigkeit für die Häftlinge, einer Gruppierung anzugehören, deutlicher als hier, denn die Entscheidung über Leben oder Tod lief hier kongruent zu den Gruppenzugehörigkeiten.
Ab Anfang 1943 wurde die Schreibstube zunehmend international besetzt. Dies lag vor allem daran, daßder Anteil der deutschen Häftlinge zu diesem Zeitpunkt schon so gering war, daßderen Anzahl nicht mehr ausreichte.
Einen Vorteil hatten die Politischen auch bei den Arbeitskommandos:
Die Stärke der Politischen lag zunächst darin, daßsie überwiegend aus der Arbeiterschaft kamen und große berufliche Erfahrungen hatten. Die meisten Handwerkskommandos waren mit Politischen als Vorarbeitern besetzt...62
Durch die Überbelegung Sachsenhausens ergaben sich zusätzliche Handlungsräume für die Häftlingsverwaltung und bevorteilte tendenziell die Politischen. Der Personalmangel zwang die SS dazu, eine effektive Häftlingsverwaltung zuzulassen- dies war vor allem mit den Politischen möglich.
2. Widerstand im KZ Sachsenhausen
a) Formen und Ausmaßdes Widerstandes
Widerstand im Konzentrationslager kann wiefolgt definiert werden:
Alle Aktivitäten, die darauf zielten, allgemeine Verschlechterungen für die Häftlinge abzuwehren und bessere Lebensbedingungen zu erreichen sowie den Vernichtungs- und Kriegsapparat des nationalsozialistischen Staates zu sabotieren, waren als Widerstand zu verstehen.63
Diese Definition macht deutlich, daßsich der Widerstand auf unterschiedlichen Ebenen vollzog, nämlich in einer unorganisierten, sich spontan ergebenden Form und auf einer organisierten, langfristiger planenden Ebene.
Beide Formen des Widerstandes war jedoch eines gemeinsam: bevor ein Häftling an den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime oder die Solidarität mit seinen Mitgefangenen denken konnte, mußte er sein eigenes Überleben sichern. Widerstand hatte also eine strukturell halbwegs gesicher- te Lebenssituation zur Voraussetzung!
Um überhaupt Widerstand leisten zu können, mußte der Häftling aus der breiten Masse in eine Funktion aufgestiegen sein, damit er sich nicht ständig mit dem Problem der mangelnden Ernährung oder der Angst vor Schlägen auseinandersetzen mußte.64
Schon diese Vorüberlegung macht deutlich, daßWiderstand vor allem unter den Häftlingsgruppen möglich war, die im KZ tendenziell besser gestellt waren als die anderen- zu dieser Gruppe gehörten vor allem die deutschen politischen Gefangenen. Zum Widerstand im Alltag mußinsbesondere das Schützen des Mitgefangenen gelten, sei es durch Einweisung der Neulinge in die Lagerregeln (was insbesondere für ausländischen Gefangenen enorm wichtig war), das Teilen von Essensrationen und Kleidung oder sonstige kleinen Handlungen, die oft über Leben oder Tod entschieden. Diese Widerstandsform ist in allen Häftlingsgruppen anzutreffen. Die Analyse konzentriert sich im Folgenden jedoch auf einen enger gefaßten Widerstandsbegriff, der hauptsächlich auf einen höheren Grad der Organisation und „Institutionalisierung“ rekuriert, da dieser engere Begriff die genuine Stellung der Politischen deutlich macht: so bauten die deutschen Kommunisten in Sachsenhausen bald die Alltagshilfe zu einem „Patensystem“ aus, welches einen starken, gesunden Häftling mit einem älteren oder schwächeren Häftling verband.65
Die strukturelle Prädestination66 der politischen Häftlinge wird ergänzt durch weitere Faktoren: zum einen hatten sie zum großen Teil ein politischen Bewußtsein, welches sie- wenn ihr eigenes Leben gesichert schien- weiter denken ließals nur an das Organisieren von Nahrung. Zum anderen spielte die angesprochene Rolle der politischen Häftlinge in der Häftlingsverwaltung eine große Rolle. Der Widerstand in Sachsenhausen war, wie auch in anderen KZ, eng mit der Häftlingsverwaltung verwoben. Die Häftlingsverwaltung schuf die Handlungsspielräume, welche der Widerstand benötigte, um über Gesten des Alltags hinaus wirken zu können. Insbesondere die Schreibstube und die Arbeitskommandos boten - wenn auch riskante - Möglichkeiten des Widerstandes.
Widerstandsformen mit erheblichem organisatorischem Aufwand und einem großen Risikopotential waren Sabotageakte, Informationsbeschaffung und - weitergabe sowie der Kontakt zu anderen Widerstandsgruppen.67
Der Kontakt zur Außenwelt war in Sachsenhausen durch die immer zahlreicher werdenden Außenkommandos in beschränktem Maße möglich, da dort Radioempfänger betrieben werden konnten und der Kontakt zu anderen Arbeitern in den Fabriken rund um Berlin die Gelegenheit bot, an unabhängige Informationen zu gelangen.68 Der Kontakt zum Berliner KPD- Widerstand konnte jedoch nur kurzzeitig aufgebaut werden.69
Zentral für viele Widerständler war dabei die Entwicklung der politischen Lage und der Frontverlauf. Das Bekanntwerden des Hitler- Stalin- Paktes versetzte insbesondere die Kommunisten in Sachsenhausen in tiefe Agonie, die Niederlage der deutschen Armee in Stalingrad motivierte den Widerstand zusätzlich.
Zwischen Widerstandsgruppe und Funktionären bestand eine Wechselbeziehung. Als Gegenleistung für den Handlungsspielraum verschaffte die Widerstandsgruppe dem Funktionär den nötigen Schutz vor Übergriffen anderer Interessengruppen.70 Neben diesen gleichlaufenden Gefangenen, sondern stellt lediglich die unterschiedlichen Ausgangspositionen fest. Der strukturellen Prädisposition stand auf der anderen Seite ein gewisse Loyalität gegenüber dem Vaterland entgegen, die einen radikalen Widerstand gegen alles „Deutsche“ ausschloß. Vgl. Langbein, H. (1985): S. 105 ff. Interessen war die Kontrolle der Funktionshäftlinge durch den Widerstand notwendig, denn die Gefahr des Bündnisses mit der SS war ständig gegeben.
Die Entwicklung des Widerstandes wurde ebenso durch die Veränderungen der Häftlingszusammensetzung geprägt wie die restliche Lagergesellschaft.71
Verlegungen oder die Ermordung von wichtigen Widerstandskämpfern konnte die Bewegung zurückwerfen. Zu Hitlers Geburtstag im April 1939 wurden 1200 Sachsenhausener Häftlinge freigelassen- unter ihnen 300 Politische, unter denen wichtige Funktionsträger waren, so daßdie Widerstandsbewegung ein Jahr lang de facto nicht existierte.
b) Die Struktur des Widerstandes der Politischen
Die Quellenlage ist schwierig, da der Widerstand notwendigerweise ohne schriftliche Aufzeichnungen agierte. Auch der Widerstand war durch die Struktur der Lagergesellschaft geprägt.
Sachsenhausen als „altes“ Lager auf dem Reichsgebiet war vom deutschen politischen Widerstand dominiert.72 Die strukturelle Begründung für diese herausragende Stellung ist erläutert worden. Die vorrangigen Organisations-ebenen für den Widerstand verlief nicht entlang der Gruppe der Politischen, sondern durchkreuzte sie. Dies lag vor allem daran, daßder Nationalitätenfaktor stärker war und vor allem den Deutschen mißtraut wurde.
Die unterschiedlichen Widerstandsgruppen agierten und organisierten unabhängig von einander. Dies lag vor allem daran, daßsich die Nationalitäten gegenseitig mißtrauten. So berichtet Harry Naujoks:
Vieles erfuhren wir erst nach der Befreiung, durch untere Tätigkeit im Internationalen Sachsenhausen- Komitee oder durch die europäische Forschung und Literatur. Aus Gründen der Sicherheit wurde damals über manche Widerstandsaktion nicht gesprochen, sondern sie wurden im engsten nationalen Kreis beraten und durchgeführt. So organisierten zum Beispiel polnische Antifaschisten einen eigenen Radioabhördienst und die Verbreitung von Informationen, illegale Schulungen, die Verlangsamung der Arbeit in der Rüstungsproduktion, gezielte Materialverschwendung und Sabotageakte. Sie unterstützten die schon erwähnten von uns initiierten internationalen Solidaritätsaktionen für die französischen Bergarbeiter und für die sowjetischen Kriegsgefangenen...73
Die nationalen Gruppen der politischen Häftlinge bildeten in Sachsenhausen also den zentralen Rahmen zur Organisation des Widerstandes. Dies galt auch für die kommunistischen Häftlinge. Nirgendwo wird die Heterogenität der Gruppe der Politischen so deutlich wie im Bereich des Widerstandes.
Eine Kernzelle des Widerstandes bildete in Sachsenhausen die „Illegale Politische Leitung“, welche sich direkt an die Strukturen der Häftlingsverwaltung anschloß. In der „Illegalen Politischen Leitung“ spielten wiederum die Kommunisten die Hauptrolle. In Sachsenhausen war die Zusammenarbeit zwischen KPD und SPD besser als in anderen Lagern.74
Wie schon bei der Häftlingsverwaltung fiel auch hier die schwächere Organisation und die kleinere Zahl der SPD- Kader gegenüber den Kommunisten ins Gewicht. Zudem waren die SPD- Mitglieder meist älter als die Funktionäre der KPD. Ein wichtiger Faktor bei der Bewertung des sozialdemokratischen Widerstandes ist jedoch auch die Einseitigkeit der DDR- Wissenschaft, die natürlich den Mitgliedern der KPD den Hauptteil des Widerstandes zuschrieb. Dennoch gibt es Nachrichten aus Sachsenhausen, die den Widerstand der Sozialdemokraten erwähnen.75
Neben dem deutschen Widerstand sind die ausländischen Widerstandsgruppen zu nennen. Diesen fehlte grundsätzlich der Zugang zu Funktionsstellen. Hauptschwerpunkte der Widerstandstätigkeit waren somit die alltägliche Hilfe und das Ausschöpfen der Handlungsspielräume in den Außenkommandos (Betreiben von Radioempfängern, Sabotageakte).
Die Gruppe der polnischen Politischen war zum großen Teil nationalistisch und antisemitisch, bildeten „ein eigenes Kapitel für sich“. Nach Odd Nansen stellten die Polen eine Reihe der schlimmsten Vorarbeiter und waren den Deutschen extrem feindlich gesinnt.76 Insofern ist die von Naujoks beschriebene Zusammenarbeit mit den polnischen Politischen differenziert zu betrachten. Auf jeden Fall waren die Polen im Widerstand aktiv, und das unter erschwerten Bedingungen, da sie einem höheren Vernichtungsdruck ausgesetzt waren als die deutschen politischen Häftlinge. Verbindungen zum deutschen Widerstand waren fast nicht vorhanden, da sowohl der Haßauf die Deutschen als auch die antikommunistische Einstellung der Polen die Zusammenarbeit erschwerte.
Die Verbindungen zwischen Tschechen und Deutschen verlief tendenziell besser, da Verbindungen zwischen deutschen und tschechischen Kommunisten aus der Vorkriegszeit bestanden. So konnten kommunistische Funktionäre innerhalb des Widerstandes in Sachsenhausen wichtige Positionen einnehmen77 - allerdings wurde dieses Verhältnis von der kommunistischen Literatur unverhältnismäßig breit ausgeschlachtet, um die internationale Solidarität der Arbeiterklasse zu demonstrieren.78
Ebenso unproblematisch war die Verbindung zu den Norwegern in Sachsenhausen, die durch ihren Status als „Arier“ wesentlich besser gestellt waren als der Großteil der Flüchtlinge. Ihr Privileg war es, Rot- KreuzLebensmittelpakete zu erhalten, die sie oft teilten- u.a. auch mit den unterprivilegierten Russen .79
Die Rolle der Russen ist vor allem deswegen strittig, da auch Ukrainer, die als Fremdarbeiter in Deutschland arbeiteten und wegen Vergehen eingesperrt wurden, als Russen geführt wurden. Nach Aussagen von Sachsenhausener Häftlingen waren diese Ukrainer zum großen Teil antisemitisch und stellten eine Reihe brutaler Vorarbeiter.80 Unter den Russen formierte sich eine kommunistische Widerstandsgruppe. Kontakte zum deutschen Widerstand bestanden allerdings kaum, da den Deutschen die Differenzierung in der Gruppe der „R´s“ schwer fiel und die Ukrainer eine Reihe von Spitzeln stellte, so daßKontakte zu den Russen / Ukrainern gefährlich waren. Hinzu kam die räumliche Trennung der russischen Gefangenen von den anderen Nationen. Die Russen, unter ihnen viele Kriegsgefangenen, drängten auf militärischen Widerstand, was sie zusätzlich von den Deutschen unterschied.81
V. KZ- Geschichtsschreibung nach 1945
Die Bedeutung der politischen Gefangenen ist vor allem deswegen so schwer zu bestimmen, weil erstens objektive Fakten zum großen Teil nicht mehr erhalten sind und informelle Strukturen so nicht dargestellt werden können; und andererseits, weil die Überlebenden, die an die Öffentlichkeit gingen und ihr Schicksal mitteilten, nur einer kleinen Gruppe angehörten. Im Grunde setzte sich die Wirkung des sozialen Filters - und damit die Dominanz der eigentlich verschwindend kleinen Gruppe der deutschen politischen Häftlinge- auch nach dem Krieg fort. Die Gründe dafür sind einleuchtend: von ihnen überlebten relativ viele. Die fast vollständige Ausrottung der sowjetischen Gefangenen, der Homosexuellen, Zigeuner und Zeugen Jehovas ist der Grund dafür, daßauch die Geschichtsschreibung nach 1945 sich zuerst auf die politischen Häftlinge konzentrierte.82 Auf der anderen Seite war aus der Gruppe der Kriminellen und Asozialen kaum eine schriftliche Aufarbeitung ihrer Zeit im KZ zu erwarten. Insbesondere unter den Politischen fanden sich die intellektuellen Köpfe, die sich dem KZ nach 1945 widmeten und die erste wissenschaftliche Beschäftigung einleiteten, auch wenn diese noch stark personenzentriert und autobiographisch waren. Zu dieser Generation gehören u.a. Odd Nansen, Eugen Kogon, Heinz Junge und Fritz Selbmann. Die Erinnerung dieser Leute mußte zwangsläufig eine andere sein als die der russischen Kriegsgefangenen oder der Homosexuellen.83
Eine weitere Einengung der Sichtweise zeichnete sich in der ostdeutschen Forschung ab.84 Insbesondere der Gründungsmythos der DDR, der sich eben auf den kommunistischen Widerstand im KZ berief, ist dafür verantwortlich zu zeichnen. Besonders fatal war die Unfähigkeit, den KZ- Alltag außerhalb der Begriffskategorie faschistisch- antifaschistisch zu begreifen:
Diejenigen Häftlingsgruppen jedoch, die sich in diese Interpretation des Konzentrationslagers als Ort der politischen Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Antifaschismus nicht einfügen ließen (...), kamen in dieser Erinnerungsform nicht oder nur am Rande vor- als Opfer vor allem und als Belege für die Unmenschlichkeit des politischen Gegners. Das betraf Juden ebenso wie „Zigeuner“, Häftlinge die aus „rassehygienischen“ Gründen eingesperrt worden waren, aber auch all jene Häftlinge aus den von Deutschland besetzten Ländern, die nicht zu den „Politischen“ zählten und die bald die weit überwiegende Mehrheit in den La- gern darstellten.85
In diesem Kontext ist besonders die Dokumentation „Sachsenhausen“ des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR zu sehen, Klaus Drobischs „Widerstand in Buchenwald“ sowie als Spätfolge Hrdlickas „Alltag im KZ“.
VI. Zusammenfassung
Ausgehend von einem strukturellen Ansatz ist die Bedeutung der politischen Häftlinge in der KZ- Gesellschaft und speziell in Sachsenhausen gezeigt worden. Wie jeder strukturelle Ansatz, kann das Modell Sofskys nur die Rahmenbedingungen erläutern und ist deswegen weder monokausal noch als Erklärungsmodell für einzelne Begebenheiten zu verstehen.
Die Bedeutung der politischen Häftlinge ist nur abzuschätzen, indem man differenziert zwischen den deutschen und den anderen politischen Häftlingen, da deren Stellung im SS- System eine gänzlich andere war. Die von außen durch die SS- Ideologie geformte Häftlingsgesellschaft setzte die deutschen politischen Häftlinge dem geringsten Vernichtungsdruck aus und schuf Bevorzugungen. Die deutschen Häftlinge waren, solange sie nicht Juden, Sinti, Roma oder Homosexuelle waren, privilegiert.
Diese Privilegierung ist als Ausgangspunkt für viele Phänomene der KZ- Gesellschaft zu sehen: sowohl in der Häftlingsverwaltung, dem Widerstand als auch der Geschichtsschreibung nach 1945 sind Tendenzen erkennbar, die sich mit dem Modell Sofskys erklären lassen.
Diese Privilegierung machte sich vor allem in der Fähigkeit bemerkbar, Funktionsstellen zu übernehmen. So erlangten die deutschen politischen Häftlinge, und unter ihnen wieder besonders die Kommunisten eine herausragende Stellung im KZ, was Organisationsmacht anging. Mit ihnen konkurrierte die Gruppe der BVer um die Funktionsstellen. In Sachsenhausen konnte sich keine Gruppe endgültig durchsetzen, was durchaus im Sinne der SS war. Die zentrale Machtressource der Politischen Häftlinge war die Schreibstube. Die kommunistische Gruppe konnte ihre Mitglieder relativ gut schützen, da sich ein Kreisel ergab: die SS- Ideologie entzog sie dem größten Vernichtungsdruck und verschaffte ihnen gewisse Freiräume, die sie wiederum nutzen konnten, um die eigenen Überlebenschancen zu vergrößern.
Die ausländischen politischen Gefangenen definierten sich hauptsächlich über ihre Nation. Kontakte zu den Deutschen bestanden zwar, aber von einer „kommunistischen Häftlingsinternationalen“ zu sprechen, ist falsch. . Die Kontakte zu ausländischen Häftlingen blieben während der gesamten Zeit problematisch- dies betraf auch den Widerstand.
Widerstand wurde unter allen Gruppen der Häftlinge geleistet. Dies trifft vor allem auf den alltäglichen Widerstand zu. Im Bereich des organisierten Widerstandes zeichnet sich wiederum eine Dominanz der deutschen politischen Häftlinge ab, da diese sowohl ein politisches Ziel vor Augen hatten als auch durch die Funktionsstellen Zugang zu wichtigen Ressourcen und Handlungsspielräumen hatten.
Die Bedeutung der politischen Häftlinge erfuhr eine weitere Aufwertung nach dem Ende des Krieges. Insbesondere die kommunistische Literatur sah durch ihr eingeschränktes Gesichtsfeld, welches durch die Begriffe Faschismus- Antifaschismus geprägt war, nur einen Ausschnitt des KZ- Lebens. Häftlingsgruppen, die nicht in das Begriffsschema paßten, wurden redundant. Ein weiterer Grund ist die überdurchschnittliche Reflexionsarbeit, die ehemalige politische Häflinge nach 1945 leisteten.
Wenn also von der Bedeutung der politischen Häftlinge im KZ gesprochen wird, so ist es notwendig, die strukturellen Vorraussetzungen für diese Bedeutung erkennen. Die strukturelle Erklärung beansprucht jedoch nicht, die einzige Erklärung zu sein. Monokausale Ansätze sind auch bei der Betrachtung der KZ- Gesellschaft abzulehnen. Das Zurückgehen der Bedeutung der politischen Häftlinge auf eine Privilegierung im System der SS schützt allerdings vor allem vor einem allzu romantischen Blick auf die Tätigkeiten der politischen Häftlinge, wie ihn insbesondere die DDR- Literatur vertrat. Leistungen einzelner Häftlinge können durch eine solche Feststellung nicht geschmälert werden. Es geht vielmehr um die generelle Einschränkung eines generellen Vorurteils.
VII. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Quellenverzeichnis
- Der Prozeßgegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMG) Nürnberg 14. November 1945 - 1. Oktober 1946. 42 Bde., München / Zürich 1984.
- Erlaßsammlung Vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Schriftensammlung des Reichskriminalpolizeiamtes / Berlin.
2. Literaturverzeichnis
- Broszat, Martin (1979): Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Hans Buchheim u.a. (Hrsg.): Anatomie des SS- Staates. Band 2, 2. Aufl. München, S. 11-234.
- Bericht Sachsenhausen: Hrsg. Von der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen. (Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen).
- Buber- Neumann, Margarete (1958): Als Gefangene bei Hitler und Stalin- eine Welt im Dunkel, Stuttgart.
- Höß, Rudolf (1958): Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen. Eingeleitet und kommentiert von Martin Broszat. Stuttgart (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Bd. 5).
- Hrdlicka, Manuela (1991): Alltag im KZ. Das Lager Sachsenhausen bei Berlin. Opladen.
- Kogon, Eugen (1974): Der SS- Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München.
- Kuß, Irmtraudt (1995): Funktionshäftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen. Möglichkeiten und Grenzen ihrer Tätigkeit. (Unveröff.) Bibliothek Gedenkstätte Sachsenhausen.
- Langbein, Hermann (1980): ... nicht wie die Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Frankfurt a.M.
- Levi, Primo (1990): Die Untergegangenen und die Geretteten. München u.a.
- Mallmann, Klaus- Michael (1994): Kommunistischer Widerstand 1933-1945. Anmerkungen zu Forschungsstand und Forschungsdefiziten. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Berlin. S. 113-125.
- Nansen, Odd (1949): Von Tag zu Tag. Ein Tagebuch. Hamburg 1949.
- Naujoks, Harry (1985): Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936-1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten. Köln.
- Niethammer, Lutz (1998): Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager. Kommentierende Bemerkungen. In: Herbert, Ulrich u.a. (Hrsg.). Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 2. S. 1046-1060.
- Herbert, Ulrich u.a. (1998): Geschichte, Erinnerung, Forschung. In: dies. (Hrsg.). Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 1. S. 17-40.
- Rogge- Gau, Sylvia (1994): Widerstand von Juden im Alltag und in nationalsozialistischen Lagern. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Berlin. S. 513-526. · Sofsky, Wolfgang (1993): Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M.
- Damals in Sachsenhausen (1974): Dokumente, Aussagen, Forschungsergebnisse und Erlebnisberichte über das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen. Hrsg. vom Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin (Ost).
[...]
1 Im einzelnen dazu: Vgl. Kogon, E. (1974): S. 50 ff.
2 Vgl. Sofsky, W. (1993): S. 137.
3 Sofsky, W. (1993): S. 137.
4 Kogon, E. (1974): S. 51.
5 Sofksy, W. (1993): S. 138. Im Grunde liegt genau hier der Grund, warum sich diese Haus-arbeit mit der Gruppe der politischen Häftlinge beschäftigt. Wäre die Klassifikation der SS nicht so zentral gewesen, würde die Fragestellung der Hausarbeit an Bedeutung verlieren.
6 Sofsky, W. (1993): S. 138 / 139.
7 Vgl. Sofsky, W. (1993) / Bildliche Darstellung im Anhang 1.
8 Vgl. dazu Kap. III 2.
9 Vgl. Naujoks, Harry (1987): S. 40.
10 Eine wichtige Ausnahme bilden hier die Homosexuellen: s.u.
11 Sofsky, W. (1993): S. 142 / vgl. Kap. III.2.
12 Sofsky, W. (1993): S. 143.
13 Ebd.
14 Vgl. Kap. IV.1-b.
15 Sofsky, W. (1993): S. 145.
16 Naujoks, H. (1985): S. 196.
17 Vgl. dazu Kap. IV.1.
18 Sofsky, W. (1993): S. 149.
19 Vgl. Damals in Sachsenhausen (1974): S. 28.
20 Vgl. Hrdlicka, Manuela (1990): S. 46.
21 Vgl. Naujoks, H. (1985): S. 67.
22 Vgl. Pingel, F. (1978): S. 259 und S. 301.
23 Vgl. Bericht Sachsenhausen: AS R 31 / 19.
24 Vgl. Hrdlicka, M. (1991): S. 37.
25 Vgl. Naujoks, H. (1985): S. 101.
26 Vgl. ebd. S. 75/76.
27 Vgl. ebd. S. 66. / S. 77-82.
28 Vgl. Hrdlicka, M. (1991): S. 45.
29 Vgl. Höß, R. (1958): S. 83.
30 Vgl. Naujoks, H. (1985): S. 91 / Hrdlicka, M. (1991).
31 Vgl. Naujoks, H. (1985): S. 135.
32 Vgl. Höß, R. (1958): S. 69.
33 Naujoks, H. (1985): S. 159.
34 Ebd. S. 196.
35 Vgl. Langbein, H. (1980).
36 Vgl. Naujoks (1985): S. 152 ff. / Damals in Sachsenhausen (1974): S. 30.
37 Allg. Erlaßsammlung (RSHA), 2FVIIIa / Vgl. Broszat, M. (1979): S. 8.
38 Vgl. Broszat, M. (1979): S. 95.
39 Vgl. ebd.: S. 89.
40 Vgl. Nürnberg- Dok. PS 1733.
41 Vgl. Statistik des Amtes D III Sanitätswesen (Nürnberg- Dok. NO 1010): 1942 starben 60% in 6 Monaten (bei durchschnittlicher Häftlingszahl von 95 000 starben 57 503) / Vgl. Broszat, M. (1979): S. 97.
42 Vgl. Erlaßsammlung Vorbeugende Verbrechensbekämpfung (1941): Bl. 711.
43 Broszat, M. (1979): S. 124.
44 Vgl. dazu Grafik 2, S. 11.
45 Vgl. Nürnberg- Dok. 1523.
46 Kogon, E. (1974): S. 48.
47 Vgl. Hrdlicka, M. (1991): S. 61 ff.
48 Vgl. Pingel, F. (1978): S. 257 und S. 266. Die aufgrund der Angaben von Falk Pingel zurückgehende Grafik 4 ist in ihrer Aufteilung der Häftlingsgruppen strittig, da die Polen generell ebenfalls als Politische Häftlinge eingeordnet waren und somit auch als Schutzhäftlinge. Für unseren Zweck ist dies allerdings sekundär. Vielmehr mußzusätzlich beachtet werden, daßdie restlichen politischen Häftlinge eben in der Mehrzahl nicht Deutsche waren.
49 Langbein, H. (1980): S. 43.
50 Sofsky, W. (1993): S. 152.
51 Langbein, H. (1980): S. 31. / Vgl.a. Naujoks, H. (1985): S. 229 ff.
52 Sofsky, W. (1993): S. 162.
53 Vgl. Naujoks, H. (1985): S. 117 ff.
54 Sofsky, W. (1993): S. 157.
55 Vgl. ebd.: S. 41 / Vgl.a. Langbein, H. (1985): S. 16.
56 Vgl. ebd.: S. 36.
57 Langbein, H. (1980): S. 46 / vgl. a. Naujoks, H. (1985): S. 54.
58 Vgl. die Flossenbrück- Episode bei Naujoks, H. (1985): S. 241.
59 Vgl. ebd.: S. 45.
60 Vgl. Kogon, E. (1974): S. 64.
61 Vgl. Kuß, I. (1995): S. 147.
62 Naujoks, H. (1985): S. 41.
63 Rogge- Gau, S. (1994): S. 520.
64 Ebd., S. 520.
65 Vgl. Langbein, H. (1985): S. 128 f.
66 Der Begriff des strukturellen Vorteils beinhaltet nicht die Vermutung, die deutschen Gefangenen seien im Widerstand stärker engagiert gewesen als die ausländischen
67 Vgl. Hrdlicka, M. (1991): S. 98 f.
68 Vgl. Langbein, H. (1985): S. 68.
69 Vgl. Bericht Sachsenhausen: S. 192 f.
70 Vgl. Sofsky, W. (1995): S. 164.
71 Vgl. Langbein, H. (1985): S. 15.
72 Vgl. ebd.: S. 86.
73 Naujoks, H. (1985): S. 320-321 / vgl. a. Bericht Sachsenhausen: S. 188 f.
74 Vgl. Langbein, H. (1985): S. 127.
75 Vgl. Langbein, H. (1985): S. 139 / vgl.a. Bericht Sachsenhausen: S. 126 f.
76 Vgl. Nansen, O. (1949): S. 264 und S. 159.
77 Vgl. Langbein, H. (1985): S. 112, S. 175 und S. 178.
78 Vgl. Damals in Sachsenhausen (1974): S. 118 ff.
79 Vgl. Hrdlicka, M. (1991): S. 93.
80 Vgl. Langbein, H.(1985): S. 167 ff.
81 Vgl. ebd.: S. 171.
82 Vgl. Herbert, U. u.a. (1998): S. 21.
83 Vgl. Levi, Primo (1990): S. 13 f.
84 Vgl. Mallmann, K.M. (1994): S. 113-125.
Häufig gestellte Fragen
Was ist der Inhalt dieser Hausarbeit über das KZ Sachsenhausen?
Diese Hausarbeit untersucht die besondere Stellung der Gruppe der politischen Häftlinge im KZ Sachsenhausen. Dabei werden die strukturellen Gründe, die Entwicklung der Häftlingszahlen, die Bedeutung der politischen Häftlinge in der Häftlingsverwaltung und im Widerstand sowie die KZ-Geschichtsschreibung nach 1945 beleuchtet.
Welche strukturellen Gründe werden für die besondere Stellung der politischen Häftlinge genannt?
Die Hausarbeit geht auf das SS-Klassifikationssystem und den sozialen Trichter als grundlegende soziale Struktur in der Häftlingsgesellschaft ein. Die SS-Klassifikation teilte die Häftlinge in Gruppen ein, die unterschiedlich behandelt wurden. Der soziale Trichter beschreibt eine Rangordnung, in der die Distanz zur SS über die soziale Stellung und den Vernichtungsdruck entschied.
Wie entwickelte sich die Häftlingszahl im KZ Sachsenhausen?
Die Hausarbeit stellt ein Phasenmodell für Sachsenhausen vor, das die Entwicklung der Häftlingszahlen von 1936 bis 1945 darstellt. Es werden die deutsche Phase, die Zwischenphase, die Frühphase im Weltkrieg und die Endphase unterschieden. Die Häftlingszahlen stiegen insbesondere kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und ab 1942 massiv an. Die meisten Häftlinge kamen aus den neu besetzten Ländern.
Welche Rolle spielten die politischen Häftlinge in der Häftlingsverwaltung?
Die politischen Häftlinge kämpften mit kriminellen Häftlingen (BVer) um die Macht in der Häftlingsverwaltung. Die Häftlingsverwaltung war von großer Bedeutung, da sie als verlängerter Arm der SS deren Terror in das Lager trug. Die politischen Häftlinge, insbesondere die Kommunisten, versuchten, Funktionsstellen zu besetzen, um die Lebensbedingungen der Häftlinge zu verbessern und Widerstand zu organisieren. Die Schreibstube, die seit Frühjahr 1938 rot dominiert war, bot eine zentrale Machtressource für die Politischen.
Welche Formen von Widerstand gab es im KZ Sachsenhausen?
Der Widerstand im KZ Sachsenhausen umfasste sowohl unorganisierte als auch organisierte Formen. Unorganisierter Widerstand umfasste das Schützen von Mitgefangenen und das Teilen von Ressourcen. Organisierter Widerstand umfasste Sabotageakte, Informationsbeschaffung und -weitergabe sowie den Kontakt zu anderen Widerstandsgruppen. Der Widerstand war eng mit der Häftlingsverwaltung verwoben. Die "Illegale Politische Leitung" war eine Kernzelle des Widerstandes, in der Kommunisten eine wichtige Rolle spielten.
Wie beeinflusste die Geschichtsschreibung nach 1945 das Bild des KZ Sachsenhausen?
Die Geschichtsschreibung nach 1945 konzentrierte sich zunächst auf die politischen Häftlinge, da von ihnen relativ viele überlebten und sie die ersten wissenschaftlichen Arbeiten über das KZ verfassten. Die ostdeutsche Forschung betonte den kommunistischen Widerstand und blendete andere Häftlingsgruppen aus. Dadurch entstand ein einseitiges Bild des KZ-Alltags.
Welche Quellen und Literatur werden in der Hausarbeit verwendet?
Die Hausarbeit verwendet sowohl Quellen wie den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof als auch Literatur von Autoren wie Martin Broszat, Eugen Kogon, Hermann Langbein und Wolfgang Sofsky.
Was ist der soziale Trichter?
Der soziale Trichter ist ein Konzept von Wolfgang Sofsky, das die soziale Hierarchie im Konzentrationslager beschreibt. Er besagt, dass der Abstand der Häftlingsgruppen zum Machtzentrum der SS ihre soziale Stellung und ihren Vernichtungsdruck bestimmte. Je weiter eine Gruppe von der SS entfernt war, desto geringer war ihre soziale Stellung und desto höher war der Vernichtungsdruck.
Welche Bedeutung hatten die Farben auf der Häftlingskleidung?
Die farbigen Dreiecke auf der Häftlingskleidung gaben den Einlieferungsgrund an und waren bis zum Ende der KZ das Magnetfeld, in dem sich die Häftlinge bewegten. Sie waren nicht nur eine bürokratische Klassifizierung, sondern dienten vor allem der Diskriminierung und Dissoziation. Die SS nutzte die Klassifikation, um die Häftlinge gegeneinander auszuspielen und ihre Gemeinschaft zu teilen.
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- Ansgar Baums (Author), 1999, Kategorisierung und Typologisierung der Häftlingsgruppen im KZ: Die Bedeutung der politischen Häftlinge, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95191