Die Intention dieser Arbeit besteht darin, die Rezeptionsgeschichte von Shakespeares Leidensgestalt Ophelia und ihres Wassertodes anhand von ausgewählten Kunstwerken vom achtzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert nachzuvollziehen. Hierbei sollen Parallelen, Divergenzen, Akzentverschiebungen und bisweilen gar intertextuelle Bezugnahmen eruiert werden.
Aus diesem Anlass wird als Basis zunächst die Ophelia-Figur in ihren wesentlichen Grundzügen betrachtet, bevor sich dem Shakespeare-Enthusiasten Goethe zugewandt wird, der mit der Deuteragonistin seines Lebenswerks "Faust I" den Auftakt dieser Untersuchung von Ophelia-Fortschreibungen bildet. Im Anschluss wird mit Millais‘ "Ophelia" ein Seitenblick auf die bildmalerische Rezeption der 'femme fragile' geworfen und mit der Behandlung von Rimbauds "Ophélie" der Kulminationspunkt der Ophelia-Idealisierung erreicht.
Aus der Feder dieses Autors wird zum einen der Mythos der ewig (schönen) lebenden Wasserleiche geboren, zum anderen ist es dieses Werk, das den Folgegenerationen starke Impulse bietet und so den Ophelia-Kult in der Moderne einleitet. Ebendiesem wird im Rahmen der Hausarbeit größere Aufmerksamkeit gewidmet, da die expressionistische Wasserleichenpoesie eine Zäsur in der Bearbeitung des Ophelia-Motivs darstellt.
Neben Heyms "Ophelia I" und Benns "Schöne Jugend" werden deshalb auch die Variationen von Brecht in den Blick gefasst, welche an den expressionistischen Motivzirkel anknüpfen, aber differente Themenschwerpunkte setzen. Im Folgenden wird dann mit Huchels "Ophelia" die zunehmende Politisierung von Shakespeares Figur zum Millennium hin untersucht, bevor die Arbeit letztlich mit der Interpretation von Caves Mörderballade "Where the Wild Roses Grow" beschlossen wird.
Damit wird einerseits die Rezeption Ophelias in der (Pop-)Musik berührt, andererseits ein Beleg für die gegenwärtige Omnipräsenz und Renaissance ebenjenes literarischen Mythos geliefert. Schließlich hat die Kontrafaktur "Ophelia und kein Ende" mindestens genauso Gültigkeit wie der semantische (Prä-)Komplex, an den sie sich anlehnt.
Inhaltsverzeichnis
1. Der Rest ist Schweigen? – Der Mythos Ophelia
2. Lieben ist menschlich, nur müsst ihr menschlich lieben – Das (Liebes-)Leid der fragil-vulnerablen Ophelia
3. Es irrt der Mensch so lang‘ er strebt – Goethes Gretchen als Pendant zur Opferfigur Ophelia?
4. Millais‘ Ästhetisierung von Tod und Sexualität in Ophelia – Die Geburtsstunde des Mythos der ewig schönen Leiche
5. Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab – Die Rimbaud’sche Potenzierung Ophelias zur lebenden Toten
6. Der Expressionismus – Die Kunst, Wahrheit zu verbreiten
6.1 Der literaturgeschichtliche Hintergrund
6.2 Ophelia als hässlich-schöne Wasserleiche? – Heyms Ästhetisierung des Hässlichen in Ophelia I
6.3 Die Krone der Schöpfung, die Ratte, der Mensch? Benns Schöne Jugend – Das Schädlingsrequiem eines Medizynikers
6.4 Ich sprech zu Gott: Mein Fels, warum hast du mein vergessen? – Göttliche Ab- statt Zuwendung in Brechts anti-christlicher Lyrik
7. Ophelia im Dienste dissidenter Lyrik – Die (Wasser-)Leiche im Schatten der Mauer
8. Elisa, thy name is woman! Schönheit als Mordmotiv in Where the Wild Roses Grow
9. Ophelia – Requiescat in pace? Resümee und Nachbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Der Rest ist Schweigen? – Der Mythos Ophelia
Als Goethe im Jahre 1771 seine Rede Zum Schäkespears Tag verfasst, ahnt er bereits, dass das literarische Schaffen des britischen Nationaldichters eine alle Zeiten überdauernde Wirkmächtigkeit entfalten wird. Retrospektiv betrachtet hat der Stürmer und Dränger mit seinem Urteil tatsächlich Recht behalten. Dabei ist es vor allem eine Frauengestalt des englischen Dramatikers, die über viele Jahrhunderte hinweg gleichsam als Muse und Inspirationsquell für die Literatur, die Musik sowie die Bildende Kunst gedient hat. Das Einflussgebiet dieses Charakters erstreckt sich sogar weit über die Grenzen seines Geburtslandes hinaus, sodass sich nicht nur zahlreiche deutsche Dichter und Denker daran gemacht haben, ihn und seine Leidensgeschichte künstlerisch zu bearbeiten, sondern bspw. auch französische Schriftsteller und Maler. Bei ebendieser potenten Gestalt handelt es sich faktisch um niemand anderen als die junge und schöne Ophelia, die Geliebte des Dänenprinzen Hamlet. Obschon ihr beachtlicher Nachruhm wahrlich respektabel ist, verwundert es doch, dass er ausgerechnet der mitunter unscheinbarsten weiblichen Figur Shakespeares zukommt, denn dieser „lässt sich mit ihrer Präsenz im Originalstück nicht begründen, zumindest nicht mit der Anzahl der Zeilen, die Shakespeare ihr zugesteht“.1 Dennoch ist bei den unzähligen Variationen, Neugestaltungen und Umarbeitungen der femme fragile selbst zum Augenblick kein Ende in Sicht. Da sie und ihr lyrisch erlittener Wassertod schon längst in die (Literatur-)Geschichte eingegangen sind, prägen sie noch die gegenwärtige Populärkultur. Ophelia hat sich ca. 400 Jahre nach ihrer Entstehung tatsächlich derart im kulturellen Gedächtnis verankert, dass mit dem Titelhelden von Hamlet heute unweigerlich seine Geliebte samt ihrem nicht minder tragischen Schicksal evoziert wird.
Die Intention der vorliegenden Arbeit besteht darin, die Rezeptionsgeschichte von Shakespeares Leidensgestalt und ihres Wassertodes anhand von ausgewählten Kunstwerken vom 18. bis zum 20. Jahrhundert nachzuvollziehen. Hierbei sollen Parallelen, Divergenzen, Akzentverschiebungen und bisweilen gar intertextuelle Bezugnahmen eruiert werden. Aus diesem Anlass wird als Basis zunächst die Ophelia-Figur in ihren wesentlichen Grundzügen betrachtet, bevor sich dem Shakespeare-Enthusiast Goethe zugewandt wird, der mit der Deuteragonistin seines Lebenswerks Faust I den Auftakt dieser Untersuchung von Ophelia-Fortschreibungen bildet. Im Anschluss wird mit Millais‘ Ophelia ein Seitenblick auf die bildmalerische Rezeption der femme fragile geworfen und mit der Behandlung von Rimbauds Ophélie der Kulminationspunkt der Ophelia-Idealisierung erreicht. Aus der Feder dieses Autors wird zum einen der Mythos der ewig (schönen) lebenden Wasserleiche geboren, zum anderen ist es dieses Werk, das den Folgegenerationen starke Impulse bietet und so den Ophelia-Kult in der Moderne einleitet. Ebendiesem wird im Rahmen der Hausarbeit größere Aufmerksamkeit gewidmet, da die expressionistische Wasserleichenpoesie eine Zäsur in der Bearbeitung des Ophelia-Motivs darstellt. Neben Heyms Ophelia I und Benns Schöne Jugend werden deshalb auch die Variationen von Brecht in den Blick gefasst, welche an den expressionistischen Motivzirkel anknüpfen, aber differente Themenschwerpunkte setzen. Im Folgenden wird dann mit Huchels Ophelia die zunehmende Politisierung von Shakespeares Figur zum Millennium hin untersucht, bevor die Arbeit letztlich mit der Interpretation von Caves Mörderballade Where the Wild Roses Grow beschlossen wird. Damit wird einerseits die Rezeption Ophelias in der (Pop-)Musik berührt, andererseits ein Beleg für die gegenwärtige Omnipräsenz und Renaissance ebenjenes literarischen Mythos geliefert. Schließlich hat die Kontrafaktur „Ophelia und kein Ende“ mindestens genauso Gültigkeit wie der semantische (Prä-)Komplex, an den sie sich anlehnt.2
2. Lieben ist menschlich, nur müsst ihr menschlich lieben – Das (Liebes-)Leid der fragil-vulnerablen Ophelia
Shakespeares The Tragical History of Hamlet, Prince of Denmark (1604/05) ist zweifelsfrei das weltliterarische Werk, welches als Paradigma der Rachetragödie am häufigsten angeführt und zugleich bestritten worden ist.3 Der Umstand, dass schon viel Tinte in den zahlreichen literaturwissenschaftlichen Kontroversdiskussionen zur Gattungsfrage vergossen worden ist, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei Hamlet ebenso um eine Liebestragödie handelt, in deren Zentrum sowohl das Schicksal des im Titel erwähnten Prinzen als auch das seiner Geliebten steht. Dabei sind Rache- und Liebesdrama eng verwoben, denn Hamlet stößt in seinem Vergeltungswahn die Frau an seiner Seite ins Verderben, sodass der Lebensweg von Ophelia, welcher nicht minder tragisch anmutet als der des Protagonisten, in ihrem rätselhaften Tod mündet.
Im Mittelpunkt der Exposition von Shakespeares erster Great Tragedy steht eine zwielichtige Geistererscheinung zu nächtlicher Stunde, die weitreichende Folgen für den gesamten dramatischen Handlungsverlauf hat. Das Wesen stellt sich als der Geist von Prinz Hamlets kürzlich verstorbenem Vater vor. Der (un)tote König bekundet, dass er keineswegs wie angenommen an einem Schlangenbiss gestorben, sondern, kurz bevor er das Erbe mit dem nach Dänemark beschiedenen Spross hat regeln können, Opfer eines Meuchelmordes geworden sei.4 Von dieser kalten Winternacht an ist der junge Prinz mit dem Verlangen beseelt, den Kain’schen Mord an seinem Vater zu rächen und so die moralisch-politische Ordnung im Staat wiederherzustellen. Der Sohn entwickelt dabei ein pathologisches Hassgefühl gegenüber seinem Onkel Claudius, dem Brudermordenden, und ein Ekelempfinden gegenüber seiner blutschänderischen Mutter, Königin Gertrude, die den machtlüsternen Usurpator sehr rasch nach dem Tod ihres Gatten geehelicht hat. So malt sich Hamlet z. B. auf entsetzlich brutale Art in der prayer-scene aus, wie er Leib und Seele des Giftmörders, welcher ihn auch im Rahmen der Primogenitur in seinem Thronrecht beschnitten hat, auslöschen könnte: „When he is drunk, asleep or in his rage/[…] or about some act/That has no relish of salvation in’t./Then trip him that his heels may kick at heaven […]“ (III,3,89-94).5 Außerdem imaginiert er den Geschlechtsverkehr zwischen dem neu vermählten Königspaar auf widerwärtigste Weise, e. g.: „Nay but to live/In the rank sweat of an enseamed bed/Stewed in corruption, honeying and making love/Over the nasty sty –“ (III,4,89-92).
Bevor der zögernde Hamlet jedoch den intriganten Claudius richtet, will er sich davon überzeugen, dass er den Aussagen des Geists auch wirklich Glauben schenken kann. Dabei wählt der auf Rache sinnende Prinz als Mittel der Beweisführung die Kunst, genauer gesagt das Theater. Er beabsichtigt, den König zu überführen, indem er das Verbrechen vor den Augen des Mörders auf die Bühne bringt. Der Protagonist erweist sich dabei als überaus schauspielaffin; er geht ganz im Inszenieren auf und agiert das gesamte Stück über hinter Masken, die sein wahres Ich verbergen und es so den übrigen Figuren (sowie dem Leser) unzugänglich machen. Selbst Ophelia, die junge Geliebte des Dänenprinzen, erkennt ihn nicht mehr wieder, sie hält dessen vorgetäuschten Wahnsinn, die „antic disposition“ (I,5,170), für eine wahrhafte Psychose. Sie, der einzig weitere weibliche Charakter neben Gertrude, ist es, die am meisten darunter leidet, dass Hamlet sein „noble mind“ (III,1,149) verloren zu haben scheint. Die Tragweite von dessen innerem Wandel erkennt die empathische Geliebte zwar genau, die Ursachen bleiben ihr aber völlig unerklärlich. Schließlich wird Hamlets Verstellung aber zu einem Beweggrund dafür, dass sich das sensible Geschöpf am Tragödienende verzweifelt gegen das Sein und für das Nicht-Sein entscheidet.
Der psychische Verfall der jungen Dänin, welcher sie letztlich in den Tod treibt, wird in einem eigenen (kurzen) Seitenstrang der Handlung dramatisch dargeboten. Der Ophelia-Tragödie kann die Interpretationshypothese zugrunde gelegt werden, dass die Figur einen Prozess der Depersonalisierung durchläuft und so alsbald als ein hohler, ästhetischer Körper endet, in dem zwar ein Herz, aber kein Ich (mehr) agiert. Die devote Frau entsagt unter dem patriarchalisch-bürgerlichen Druck ihrer anfänglich wenigstens noch in Ansätzen vorhandenen Autonomie, allen voran der körperlichen Selbstbestimmung. „Im Vergleich zu Hamlet ist sie ein Geschöpf des Mangels, schon lange vor ihrem Wassertod zerfließen ihre Konturen.“6 So ordnet sie sich, obwohl sie Hamlet aufrichtig liebt, Vater Polonius und Bruder Laertes unter, die ihr eine (heimliche) Liebesbeziehung zu dem Prinzen strikt untersagen.
Der realistische Laertes rückt seiner naiven Schwester ins Bewusstsein, dass ein Aristokrat wie Hamlet nicht einfach frei eine Ehegattin wählen könne: „[…] but you must fear,/His greatness weighed, his will is not his own“ (I,3,16f.). Die Annäherungsversuche des unreifen Prinzen könnten deshalb ausschließlich durch sexuelle Handlungsabsichten motiviert sein. Er warnt Ophelia, dass sie leichtsinnig ihre durch Jungfräulichkeit konstituierte Ehre gefährde: „Then weigh what loss your honour may sustain/If with too credent ear you list his songs/Or lose your heart, or your chaste treasure open/To his unmastered importunity” (I,3,28-31).7 Die verwendete Schatzmetapher macht dabei deutlich, dass der materialistische Bruder der Virginität seiner Schwester größten Wert beimisst; libidinöse Regungen würden drohen, edle Tugenden wie Keuschheit zu unterminieren. Laertes, der dem männlichen Teilungsschema von „Heilige“ und „Hure“ verfallen ist, stilisiert die unschuldige Ophelia zu einer Idealpersonifikation der bürgerlichen Moralrigidität. Diese Potenzierung zieht jedoch eine Denaturierung des adoleszenten Wesens nach sich, denn seine junge Schwester steht an der Schwelle von kindlicher Unschuld zu sexueller Reife, wie auch die Blumen als das ihr zugeordnete Leitmotiv implizieren. Das aufkommende Begehren zu stillen, wird ihr aber verboten; die unnachgiebigen, steifen Konventionen führen bei Ophelia zu einem intrapersonalen Konflikt zwischen Es (Lustprinzip) und Über-Ich (Instanz des Gewissens), der sie nach ihrer Defloration in den Wahnsinn treibt. Allerdings gilt es zu pointieren, dass das geistreiche Mädchen zu Beginn des Werkes ihrem penetrant moralisierenden Bruder noch etwas zu entgegnen weiß:
Ophelia ist aber nicht ganz so passiv […]. Immerhin revanchiert sie sich ihrerseits beim Bruder für seine Moralpredigt mit sehr deutlichen […] Worten: […] Und in der unvergleichlich belastenderen Situation in der Mousetrap -Szene in 3.2 steht sie im sexuellen Wortspiel […] durchaus ihren Mann, allerdings defensiv.8
In der Tat lässt Ophelia (wie Yorick) z. B. gesellschafts- und kirchenkritische Töne anklingen, wenn sie mit einer Reminiszenz an Matthäus auf die Scheinmoral der Pfarrer, die den Gotteswillen selbst nicht erfüllten, zu sprechen kommt: […] But, good my brother,/Do not as some ungracious pastors do/Show me the steep and thorny way to heaven/Whiles, a puffed and reckless libertine,/Himself the primrose path of dalliance treads/And recks not his own rede. (I,3,45-49)
Im weiteren Verlauf des Stückes wächst der patriarchalische Druck auf die junge Frau jedoch immer weiter, da Laertes nicht die einzige Figur in ihrem Umfeld ist, welcher die strenge öffentliche Moral inkorporiert ist; auch Hausvater Polonius vertritt diese. Ihm ist bekannt, dass bereits über das norminkongruente Verhalten des Prinzen, Ophelia „private time“ (I,3,91) zu gewähren, geredet wird. Er befürchtet, dass die schwache und unerfahrene Tochter wie eine einfältige Waldschnepfe schnell in dessen Falle gerät: „Ay, springes to catch woodcocks […]“ (I,3,114). Polonius ist nämlich der Auffassung, dass Schwüre, die aus libidinösen Gelüsten erwachsen, niemals aufrichtig seien: „When the blood burns how prodigal the soul/Lends the tongue vows“ (I,3,115f.). Er appelliert daher mit militanter Metaphorik an Ophelia, unter allen Umständen ihre sexuelle Unberührtheit vor dem sich ungestüm nähernden Wollüstling zu verteidigen und tunlichst darauf zu achten, dass das Röslein von keinem begehrenden Knaben gebrochen wird: „Set your entreatments at a higher rate/Than a command to parle“ (I,3,121f.). Ophelia, zur Unmündigkeit erzogen, unterwirft sich schließlich dem strengen Paternalismus; dem väterlichen Verbotsverdikt folgend, weist sie tatsächlich die aufdringlichen Kontaktversuche Hamlets ab, der den Beistand der Geliebten nach der aufwühlenden Geistererscheinung wohl am meisten gebraucht hätte:9 „No, my good lord, but as you did command/I did repel his letters and denied/His access to me“ (II,1,105-107).10
Inwieweit der Gehorsam der disziplinierten Tochter wirklich reicht, wird aber erst vollends erkennbar, als sie Polonius‘ Weisung befolgt, Hamlet für den väterlichen Dienstgeber auszukundschaften. Ob der junge Prinz von dieser perfiden Intrige, in welche die Geliebte von dem König und dessen Ratgeber verstrickt wird, Kenntnis besitzt, lässt sich zwar nicht gewiss sagen, dieser Vertrauensbruch würde aber Hamlets verbale Aggressionen ihr gegenüber plausibilisieren.11 So entzieht er Ophelia nämlich nicht nur sein Vertrauen und stellt plötzlich ihre Keuschheit infrage; er weist sie sogar gefühllos zurück und kränkt sie dabei heftig mit Verbalinjurien. Gesetzt den Fall, Hamlet weiß nicht um den Verrat der Geliebten, dann lässt sich das verletzende Verhalten des Prinzen aber auch psychologisch erklären: Hamlet, welcher in seinem rücksichtslosen Vergeltungswahn mehr mit sich selbst als mit seiner Ophelia beschäftigt ist, hat die Aversion gegen die als intrigante Witwe verteufelte Mutter12 und deren (Sexual-)Verhalten generalisiert. Er bildet eine grundsätzliche Misogynie sowie eine allgemeine Abscheu vor jedweder körperlichen Intimität aus. Besonders im dritten Dramenakt wird dies ersichtlich: [H]ier […] schleudert Hamlet dem Feind seine Wahrheit entgegen, die für ihn darin besteht, dass durch diese Heirat nicht nur das heilige Band der Ehe entweiht ist, sondern alle menschlichen Beziehungen schlechthin beschmutzt worden sind. Die Wörter Frau, Ehefrau und Mutter sind für ihn entwertet, und er nimmt Ophelia als Geisel seines Ekels […]. Die Entwertung der Signifikanten für familiäre Beziehungen signalisiert den Zusammenbruch menschlicher Beziehungen überhaupt.13
Dieses seit der Geistererscheinung gestörte Verhältnis zu Weiblichkeit und Sexualität ist der Grund, weshalb Ophelia keine melodischen Liebesschwüre, „the honey of his musicked vows“ (III,1,155), mehr vernimmt; der schnöde Hamlet geht schließlich sogar so weit, dass er leugnet, das Mädchen je aufrichtig geliebt zu haben und paraphrasiert dabei unbewusst Polonius: „You should not have believed me“ (III,1,116).14 Er rät der sittsamen Frau, ihre Unschuld nicht dadurch zu gefährden, dass sie jemandem Verkehr mit ihrer Schönheit gewähre: „That if you be honest and fair you should admit no discourse to your beauty“ (III,1,106f.). Die Moralpredigt (samt der darin verwendeten insolenten Wortspiele)15 erreicht schließlich ihren Höhepunkt in der Repetition des direktiven Sprechakts: „Get thee to a nunnery!“ (III,1,120). Mit dem mehrdeutigen Ausdruck nunnery eröffnet Hamlet Ophelia zwei Lebenswege, denn entweder bewahre seine Geliebte – anders als seine Mutter – ihre Reinheit durch den Beitritt in ein Kloster oder kehre ihrer Tugendhaftigkeit den Rücken zu und ende in einem Bordell als Prostituierte, die Sünder wie ihn gebäre: „Why wouldst thou be a breeder of sinners? I am myself indifferent honest […]“ (III,1,120f.). Der misogyne Prinz macht überdies deutlich, dass es ihn ekle, wenn Frauen ihre natürliche Schönheit mit Schminke übertünchen oder verführerisch mit ihren körperlich-sinnlichen Reizen spielen: „I have heard of your paintings well enough. God hath given you one face and you make yourselves another. You jig and amble and you lisp, you […] make your wantonness ignorance“ (III,1,141-145). Durch die subtilen Verweise auf die rasche Wiederheirat der Mutter wird die psychologische Ursache für dieses frauen- und körperfeindliche Verhalten manifest: „For the power of Beauty will sooner transform Honesty from what it is to a bawd than the force of Honesty can translate Beauty into his likeness. This was sometime a paradox, but now the time gives it proof“ (III,1,110-114).16 Ophelia ist nun fest davon überzeugt, ihren Geliebten an den Wahnsinn verloren zu haben. Sie fleht in einer emotionalen Exklamation zum Himmel: „O help him, you sweet heavens!“ (III,1,133). Vor dem Hintergrund von Ophelias inferiorer Rolle in ihrem hybrid-narziss-tischen und machtgierigen Sozialumfeld erschließt sich auch ihre Aussage: „I think nothing, my lord“ (III,2,111):
Sie erscheint als nichts als diese schizophrenen Projektionen ihrer Männer […] und hat ihnen nichts entgegenzusetzen als ‚nichts‘ – ein ‚nichts‘, das ihr Hamlet mit dem alten elisabethanischen Kalauer, der ‚nothing‘ als Abwesenheit des einzig bedeutsamen Dings, des Phallus, auf die Scheidenöffnung bezieht, anzüglich im Mund verkehrt: […]. Sie deren griechischer Name soviel wie ‚Beistand‘ oder ‚Hilfe‘ bedeutet, weiß sich nicht einmal selbst zu helfen, und ihr Wahnsinn, lyrisch erlitten […], ist der Ausdruck dieser Hilflosigkeit angesichts der widersprüchlichen Projektionen und Zumutungen.17
In der Tat verfällt Ophelia – im Vergleich zu Hamlet – letztlich wirklich dem Wahnsinn. Die „akute Verwirrungspsychose“18 spiegelt sich primär in ihrem Verhalten und in ihrer Sprache wider. Die emotional Instabile weist nämlich einerseits einen hohen Neurotizismuswert auf, da sie sich in einem inadäquaten Maß über Quisquilien echauffiert; andererseits weicht der elaborierte Code dem Delirieren: „She […]/Spurns enviously at straws, speaks things in doubt/That carry but half sense“ (IV,5,4-7). Zuvor hat sich die gebildete Ophelia noch selbstbeherrscht in rhetorisch gefeilter Verssprache artikuliert, z. B. als sie eine Charakterisierung ihres Geliebten vor der Geistererscheinung durchgeführt hat: „The courtier’s, soldier’s, scholar’s eye, tongue, sword,/Th’expectation and rose of the fair state,/The glass of fashion and the mould of form,/Th’observed of all observers, quite, quite down“ (III,1,150-153). Dieser hohe Grad an Rhetorizität in Ophelias Rede, welcher sich bspw. in der asyndetischen Koordination von Lexemen, dem Hendiadyoin, der Anapher, dem Polyptoton oder der Geminatio manifestiert, findet sich gegen Ende der Tragödie aber nicht mehr. Hier ist sie nicht einmal in der Lage, ihre Gedanken in Verse zu kleiden und verfällt dem prosaischen Sprechen. Überdies nimmt die geistig Niedergegangene die Rolle einer Ingenue ein und singt unbeirrt (Volks-)Lieder, deren Metrum aber auf disharmonische Weise zerrüttet wird, z. B. qua Negation: „Which bewept to the ground did not go“ (IV,5,39).
Die Inhalte ihrer fragmentarisch vorgetragenen Lieder, der „document[s] in madness“ (IV,5,172), sind aufschlussreich, insofern als dass sie eine Erklärung ihrer geistigen Umnachtung bieten, schließlich haben sie die zentralen Leidensthemen der jungen Frau zum Gegenstand: Liebe, Sexualität und Tod. Indem sie, wie das obige Zitat verdeutlicht, mehrfach von der würdelosen Grablegung ihres Vaters singt, zeigt sich, dass Ophelia einen schmerzlichen Verlust zu bewältigen hat, nachdem das Familienoberhaupt durch den hyperaktiv-impulsiven Hamlet aus Versehen erdolcht worden ist. Dass dies aber nicht der einzige Wegfall ist, den sie zu verkraften hat, offenbart sich, als Ophelia die Walsingham ballad anstimmt, in der eine Frau ihres Liebhabers beraubt wird.19 Hamlet hat Ophelia nämlich nicht nur zurückgewiesen, sondern ist auch auf dem Weg nach England und somit unnahbar für sie. Wenn sie darüber hinaus das anrüchige Valentinslied rezitiert, kann entweder angenommen werden, dass die sexuell Frustrierte eine Pseudo-Erfüllung ihrer sinnlich-sexuellen Sehnsüchte durch die Flucht in eine imaginierte Traumwelt zu erreichen sucht20 oder von den Sorgen einer unehelich Schwangeren geplagt wird.21 Wie dem auch sei: Ophelias Ich ist es offenbar nicht gelungen, die Forderungen von Es, Über-Ich und der sozialen Wirklichkeit zu amalgamieren; das Realitätsprinzip ist gescheitert. Dieser erfolglose Ausgleich zwischen allen Interessen bedingt eine geistige Erkrankung; die konträren Impulse im psychischen Apparat lassen sich nicht mehr miteinander in Einklang bringen. Zu ihrer seelischen Belastung kommen gewiss auch noch die quälenden Gewissensbisse wegen der Spionageaktion erschwerend hinzu. Obendrein ist signifikant, dass die subalterne Tochter beim Singen der Volkslieder von einer Individualsprache absteht, wodurch ebenso ihr Leiden an der repressiven Superiorität des Patriarchats und ihre Subjektregression suggeriert werden.
Schließlich mündet das Schicksal der hilflosen Ophelia in ihrem tragischen Tod, der schon vorausgedeutet worden ist, als sie in der mad-scene Vergissmeinnichte verteilt hat, welche die Bitte des Ihr-Gedenkens hermeneutisch codieren. Das Ableben der femme fragile wird in der Folgeszene nicht auf der Bühne dargestellt, sondern die andere weibliche Figur des Werkes, Gertrude, berichtet von diesem. Die Königin malt eine idyllisch verklärte Waldlandschaft aus, durch die sich ein kleiner Bach schlängelt, dessen Ufer ein üppig blühendes Florenreich, bestehend aus „crowflowers, nettles, daisies and long purples“ (IV,7,167), besitzt.22 Dabei ist es gerade dieser locus amoenus, der zu Ophelias Todesort wird, denn als sie auf eine Trauerweide geklettert sei, sei einer der dünnen Äste, die sich über den Bach neigen, abgebrochen und mitsamt dem Mädchen ins Wasser gefallen. Ihr Hingang wird von Gertrude jedoch in einem solchen Maß ästhetisiert, dass er zwar völlig friedlich, zugleich aber auch völlig surreal wirkt. Die naturverbundene Ophelia sei nämlich laut der Königin sanft von dem Strom getragen worden, wobei sie angstfrei gesungen habe,23 „[a]s one incapable of her own distress“ (IV,7,176). Einige Momente sei sie noch über Wasser gehalten worden, da sich ihre Krinoline mit Wasser vollgesaugt habe. An dieser Stelle potenziert Gertrude Ophelia zu einer halbanthropomorphen Meerjungfrau, da die Dahinscheidende mit ihrem „element“ (IV,7,178), dem Wasser, eins geworden sei. Lange noch habe die betrübte personifizierte Natur, z. B. der „weeping brook“ (IV,7,173), an dem Schicksal der jungen Frau Anteil genommen, bis mit einem Adversativsatz allmählich der Wendepunkt eingeleitet wird. Die Singende sei, kathartisch reingewaschen wie nach einem Bad im Ganges, langsam im Bach untergegangen. Die (ansonsten recht emotionsneutrale) Totenklage endet mit Gertrudes mitfühlenden Worten: „Pulled the poor wretch from her melodious lay/To muddy death” (IV,7,180f.).24 Ophelia ist nun mit den Urelementen Wasser und Erde vereint.
Wenn Gertrudes Botenbericht zugrunde gelegt wird, entsteht der Eindruck, als sei der Tod der geistig zerrütteten Ophelia ein tragischer Unfall gewesen, der sich ereignet habe, als sie auf die Weide geklettert sei, um deren Äste mit den eigens geflochtenen (Trauer-)Kränzen zu zieren oder die gewundenen Blumen dort zum Trocknen aufzuhängen.25 Selbst wenn die gekränkte Geliebte aber nicht in den Fluss hineingesprungen, sondern -gefallen sein sollte, kann dennoch von einem Suizid gesprochen werden. Wird die Interpretation, dass die nervlich Angeschlagene in ihrem Zustand die Todesgefahr einfach nicht realisiert hat, ausgespart, liegt es nahe, dass die Frau im Gewässer nicht um ihr Leben gekämpft hat, weil sie ihr Schicksal angenommen hat. Allerdings darf nicht unbeachtet bleiben, dass die Darstellung der Königin doch kritisch zu hinterfragen ist. Da sie sich Ophelia stets gewogen gezeigt hat, wie auch das Bedauern zum Ende ihrer Totenklage hin spiegelt, könnte vermutet werden, dass Gertrude die Geliebte ihres Sohnes vor den Folgen eines Suizids, wie sie z. B. der Selbstmörder Werther erfährt, hat bewahren wollen. Außerdem erwächst ein Glaubwürdigkeitsproblem nicht nur aus dem Surrealismus der königlichen Schilderung, sondern auch aus der Tatsache, dass der Bericht wohl nur schwerlich auf Aussagen von Augenzeugen basieren kann, hätte doch sonst gewiss jemand versucht, Ophelia aus dem Strom zu retten.26 Demnach bleibt opak, ob es sich bei dem tragischen Unglück um einen Unfall (womöglich bei einem Abtreibungsversuch), einen Mord, einen vorgetäuschten Tod oder einen intendierten Selbsttötungsakt handelt, wie z. B. die Totengräber beim Ausheben des Grabes annehmen oder der Priester bei der Beisetzung suggeriert, z. B.: „Her death was doubtful“ (V,1,216).
Faktisch wäre es jedoch ein Affront gegen die Tiefe von Shakespeares Werk, Ophelias Tod bloß als Folge einer situativen Verzweiflung zu sehen. Die emblematische Funktion von Gertrudes Rede regt vielmehr dazu an, Ophelias Ableben als Sinnbild zu lesen, schließlich gilt es doch zu fragen, was Ophelia an ebenjenem Flussufer überhaupt zu suchen gehabt hat. Tatsächlich ist es nämlich nicht ausschließlich das Leiden an einer Erotomanie oder Hysterie,27 das Ophelia in die Nähe des Wassers getrieben hat. Die junge Frau hat sich am „glassy stream“ (IV,7,165) auf eine gefährliche Suche begeben, die ihr letztlich zum Verhängnis geworden ist. Sie hat etwas vermisst, das ihr abhandengekommen ist, und sie ist von der verzweifelten Hoffnung erfüllt gewesen, es im Bach wiederzufinden. Ophelias Gang zum Fluss kann als Versinnbildlichung einer Ich-Suche begriffen werden, die ihr Ende findet, als sie partout nicht fündig wird und bei einer noch so genauen Betrachtung der Wasseroberfläche kein Spiegelbild zu erblicken vermag; sie hat höchstens einen verzerrten, gar zerrissenen Schatten ihres ehemaligen Selbsts erkennen können, keineswegs aber ein scharf konturiertes Ich. Wird diese an Lacan28 orientierte Deutung zugrunde gelegt, lässt sich Ophelia nicht mehr nur mit Ovids Nymphe Chloris in Verbindung bringen, sondern auch mit einer weiteren mythologischen Gestalt. Die femme fragile wird zu einer Komplementärfigur des selbstverliebten Narziss, der zugrunde geht, als er sich nicht von seinem Spiegelbild lösen kann. Die selbstlose Ophelia hingegen stürzt bei dem Versuch, überhaupt irgendetwas von sich im glasklaren Wasser zu erblicken, in den schlammigen Tod. Ihre Konturen lösen sich endgültig im Bach auf.
Noch über ihr Lebensende hinaus bleibt die „fair“ (V,1,232) Ophelia für die Männerwelt lediglich ein ästhetisch-erotisches Ideal, wie sich bei ihrer Beerdigung, die (gleichsam der des Vater) mit eingeschränkter Weihe29 durchgeführt wird, zeigt. Wenn es in dem gerade ausgehobenen Grab, das die innere Leere der Verstorbenen widerspiegelt, zwischen Hamlet und Laertes zu einer Auseinandersetzung kommt, wird selbst noch „ihre letzte Ruhestätte zum Schauplatz und Austragungsort männlicher Machtspiele“.30 Allerdings ist Ophelias Tod für den dramatischen Handlungsverlauf von großer Importanz, denn er stellt einen entscheidenden Wendepunkt in Hamlets Identitätssuche dar. Bei der Bestattung wird dem gereiften Prinzen, der sich nicht mehr wie wahnsinnig gebärdet, (zu spät) seine Schuld bewusst. Er bezeugt aufrichtig seine Liebe zu Ophelia und erkennt in ihrem Grab zum ersten Mal im gesamten Stück, wer er eigentlich ist. Ausgehend von dieser Anagnorisis kann er nun selbstbewusst seinen präsumptiven Anspruch auf das dänische Thronerbe erheben: „This is I,/Hamlet the Dane“ (V,1,246f.). Auf diese Weise wird das blutige Tragödienende durch den Vollzug der Rache eingeleitet.
3. Es irrt der Mensch so lang‘ er strebt – Goethes Gretchen als Pendant zur Opferfigur Ophelia?
Der große Einfluss, den Shakespeare mit seinem Œuvre auf Goethe ausgeübt hat, manifestiert sich nicht nur in dessen Rede Zum Schäkespears Tag, sondern bspw. auch in der Rezeption von Hamlet in Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es ist ebendieses Werk, so sei angemerkt, mit dem Goethe das deutsche Hamletbild „über das ganze 19. Jahrhundert hinweg“31 nachhaltig geprägt hat. Neben Goethes Bildungsroman weist jedoch auch sein Lebenswerk Faust (I) signifikante Parallelen zu Hamlet auf. Dabei ist es nicht nur die Titelfigur, die als Wahrheitssuchender dem Dänenprinzen ähnelt, sondern auch die junge Geliebte Fausts kommt der Hamlets sehr nahe. In der Tat sind die Berührungspunkte zwischen der Deuteragonistin von Faust I und Ophelia so zahlreich, dass angenommen werden kann, dass die femme fragile Goethe als Inspirationsquelle gedient hat. Brown geht sogar so weit, das Folgende zu behaupten: „The Gretchen tragedy is, in a sense, Hamlet [Hervorhebung im Original] rewritten from Ophelia’s point of view […].“32 Diese These gilt es zu prüfen, da die Wirkungsmächtigkeit Ophelias in einem besonderen Licht erscheinen würde, wenn einer Hauptfigur des Werkes, das als das bedeutendste der deutschen Literatur angesehen wird, tatsächlich Shakespeares Leidensgestalt zugrunde liegt.
Wenn nach drei Prologen die Gelehrtentragödie eröffnet wird, findet der Leser den Titelhelden von Faust I in seinem düsteren Studierzimmer in einer tiefen Existenzkrise vor: Das Universalgenie Dr. Heinrich Faust hat zwar schon die höchste Stufe der Gelehrsamkeit erreicht, ist damit aber (anders als der Buchgelehrte Wagner) immer noch nicht zufrieden, denn er strebt keineswegs danach, bloß deklaratives Wissen anzuhäufen, sondern mit Ratio und Emotio Erkenntnisse über das innerste Wesen der Natur zu erlangen: „Daß [sic!] ich erkenne was die Welt/im Innersten zusammenhält“ (V. 382f.).33 Da es dem verzweifelten Magister jedoch nicht gelingt, die menschlich-naturwissenschaftlichen, gottgegebenen Grenzen zu überschreiten und Einblicke in die Gesamtheit aller Lebenszusammenhänge zu erhalten, wendet er sich im Bild des Renaissance-Wissenschaftlers zunächst der weißen, dann der schwarzen Magie zu. So führt Faust seine Erkenntniskrise letztlich zu dem Teufelsbündnis mit Mephistopheles.34 In nuce resümiert: Von Sorgen um das Seelenheil unbekümmert, ist Faust bereit, sich als Diener des Teufels im Jenseits zu verpflichten, wenn dieser ihm im Gegenzug dafür auf Erden Lebensgenuss, Ruhe und Selbstzufriedenheit bietet: „Werd‘ ich zum Augenblicke sagen:/Verweile doch! du bist so schön!/Dann magst du mich in Fesseln schlagen,/Dann will ich gern zu Grunde gehen!“ (V. 1699-1702).35
Da Mephisto aber genau weiß, dass er dem sinnsuchenden Wissensskeptiker nicht die ersehnte allumfassende Transzendentalerleuchtung bieten kann (dies vermag allein der Herr), beabsichtigt er, Faust von sich selbst zu entfremden und ihn in einem Lebensglück aufgehen zu lassen, das nicht auf den letzten Geheimnissen über den Makrokosmos, über das Innerste und die Gänze der Natur, basiert.36 Daher verabreicht der manipulative Teufel dem hybriden Doktor einen Verjüngungs- und Liebestrank, der ihn das Idealbild der Schönheit, Helena von Troja, „in jedem Weibe“ (V. 2604) sehen lässt. Nach diesen vorbereitenden Maßnahmen führt er den Genius in „die kleine, dann die große Welt“ (V. 2052) der Sinnesvergnügungen und so beginnt, ausgehend von diesem erregenden Moment, die Margaretenhandlung,37 in der sich Faust, nun ein jugendlicher Liebhaber mit entfachten Begierden, in schwere Schuld verstrickt.
Goethe setzt zeitlich früher als Shakespeare ein, denn er lässt in einer Art „Exposition“38 auf der Bühne zunächst szenisch darstellen, wie das Liebespaar zueinander findet: Kaum hat der aphrodisierte Faust die Straße betreten, trifft er auf das aus der Kirche kommende Gretchen, welches der von Trieben Geleitete auch sogleich als seine Helena erwählt. Der lüsterne Doktor nähert sich dem „schöne[n]“ (V. 2605) Objekt seiner Begierde aber auf derart ungebührlich-plumpe Weise, dass das etwa „vierzehn Jahr“ (V. 2627) alte Mädchen auf seine Zudringlichkeiten abweisend reagiert. Durch ihre „schnippisch[e]“ (V. 2612) Replik auf Fausts schmeichelnde Worte: „Bin weder Fräulein, weder schön,/Kann ungeleitet nach Hause gehen“ (V.2607f.) wird en passant deutlich, dass die junge Frau genauso wenig wie Ophelia eine Adelige ist.
Der Doktor, von Gretchens Versagung nicht entmutigt, sondern von ihrer Tugendhaftigkeit tief beeindruckt, verfolgt nun mit aller Insistenz das Ziel, mit der Schönheit intim zu werden. Indem der libidinös erfüllte Gelehrte seinem teuflischen Begleiter androht, die Wette zu brechen, legitimiert er diesen, alles in seiner Macht Stehende nutzen zu dürfen, um dem rücksichtslosen faustischen Willen gleichzukommen: „Wenn nicht das süße junge Blut/Heut‘ Nacht in meinen Armen ruht:/So sind wir um Mitternacht geschieden“ (V. 2636-2638). Wenn er in einem gewalttätig-rohen Ton fordert: „Hör, du mußt [sic!] mir die Dirne schaffen!“ (V. 2619), kommt dies Mephisto sehr gelegen, um den Genius von seinem Streben nach Allwissen mit „flache[n] Unbedeutendheit[en]“ (V. 1861) abzubringen. Er müsse jedoch gestehen, dass er „keine Gewalt“ (V. 2626) über die Strenggläubige habe und ermahnt den erregten Faust daher zu Geduld und einem planvollen Vorgehen. Er bezeichnet seinen Bündnispartner dabei als „Hans Liederlich“ (V. 2628), der unehrenhaft „jede liebe Blum‘ für sich“ (V. 2629) begehre.
Zu Mephistos „List“ (V. 2658) gehört es, „[d]as Püppchen“ (V. 2651) durch materielle Aufmerksamkeiten zu gewinnen. So verschaffen sich die beiden an einem Abend Zugang zu Margaretes Kämmerchen, um dort ein Schmuckkästchen für sie zu hinterlegen. Obwohl der Verjüngte erkennt, dass er damit das geordnete Leben der Kleinbürgerin ins Wanken bringen könnte, entschließt sich der Narzisst, egoistisch diesen Schritt zu gehen: „Armsel’ger Faust! ich kenne dich nicht mehr“ (V. 2720). Der unerlaubte Zutritt spiegelt das Eindringen von Mephisto und Faust in Gretchens geschützten und behüteten Lebensraum, womit das tragische Ende der Handlung vorausgedeutet wird.39 Ihm misslingt es nämlich, die Herrschaft über seine sexuelle Gier, die „überallmächt’ge[n] Triebe“ (V. 3057), zu gewinnen.
Noch bevor Margarete den Schmuck findet, dessen goldene Farbe für die unwiderstehliche Macht der Sexualität steht,40 lässt sie ihr Aufeinandertreffen mit Faust Revue passieren. Sie ist davon überzeugt, dass er ein Herr „aus [...] edle[m] Haus“ (V. 2681) ist, denn anderenfalls hätte er sich sein „keck[es]“ (V. 2683) Verhalten niemals erlaubt. Indem der Mann durch sein junkerhaftes Gebaren ihr Interesse weckt, wird bei Gretchen ein materieller Opportunismus offenbar, der sich bei Ophelia nicht finden lässt. Als die Mittellose schließlich auf den Schmuck stößt, zeigt sich noch deutlicher, dass sie gerne Teil der Oberschicht wäre. Die kindlich-naive Frau beginnt zu schwärmen, vor dem Spiegel zu posieren und vom sozialen Aufstieg zu träumen: „Wenn nur die Ohrring‘ meine wären!/Man siegt doch gleich ganz anders drein./[…] Ach wir Armen!“ (V. 2796-2804). Gretchens Sprache zeichnet sich schon hier durch den restringierten Code, eine profane Ausdrucksweise und Solözismen aus, z. B. die Aposiopese: „Es wird mir so, ich weiß nicht wie –“ (V. 2755), wodurch sie weniger gebildet und somit Ophelia intellektuell unterlegen wirkt. Die Grenzen ihrer Sprache bilden die Grenzen ihrer kleinen Welt und durch diese Bildungs- und Standeskluft wird sie letztlich zu Fausts foil. Die Beziehung zwischen Faust und Gretchen ist demnach genauso von einer Asymmetrie geprägt wie die von Hamlet und Ophelia; die Minderjährigen sind konfrontiert mit der Superiorität ihrer Männer.
Wenn sich die tugendhafte Margarete eingesteht, dass der Doktor durchaus das Potential besitzt, sie zu verführen, erkennt sie die von ihm ausgehende latente Gefahr, welche sie verängstigt: „Mir läuft ein Schauer über‘n ganzen Leib –“ (V. 2757). Die Außenwelt ist wohl um einiges machtvoller, als Gretchen bisher geglaubt hat. Das geschlechtsreife Mädchen fürchtet den Verlust ihrer Unschuld, da es bezweifelt, Fausts Verlockungen lange standhalten zu können. Um sich zu beruhigen, rezitiert die sittliche Grete in ihrer jugendlichen Naivität ein Volkslied, Der König in Thule, das auf idealistische Weise die wahre, reine Liebe sowie die damit verbundene unendliche Treue (noch über den Tod hinweg) thematisiert.
Nachdem sie den Schmuck gefunden hat, wendet sich die überforderte Margarete hilfesuchend an ihre bigotte Mutter: „Die Mutter kriegt das Ding zu schauen,/Gleich fängt’s ihr heimlich an zu grauen“ (V. 2815f.). Diese übergibt das „[ungerechte] Gut“ (V. 2823) unverzüglich dem Pfarrer, der es zu Gretchens Bedauern konfisziert: „Margretlein zog ein schiefes Maul,/Ist halt, dacht‘ sie, ein geschenkter Gaul“ (V. 2827f.). An diesem Punkt wird erkenntlich, dass Margarete gleichwie ihre Halbwaisenschwester Ophelia ihrem einzig verbleibenden Elternteil hörig ist.41 Da Gretes Über-Ich stark ausgeprägt und handlungsleitend ist, begegnet sie Mephisto, der alle kontrastiven Normen und Werte verkörpert, welche ihr von dem kleinbürgerlichen Milieu geformtes Denken ablehnt, mit Distanz. Dennoch gelingt es ihm, ihren intrapersonalen Konflikt zu verstärken, der mit dem Ophelias zu identifizieren ist. Das Ich, welches das persönliche Selbst darstellt, ist in der Psychoanalyse die Instanz, die zwischen den Impulsen des Es, dem Lustprinzip, und denen des Über-Ichs, dem Speicher aller im Sozialisationsprozess erworbenen Werte, vermittelt. Diese Intervention scheint Gretchen aber genauso zu misslingen wie ihrer adoleszenten Leidensgenossin Ophelia, die auch ihre aufkommende Sexualität mit dem gesellschaftlichen Normensystem zu verbinden sucht. Gretchen, die sich hat kaufen lassen, „[d]enkt an‘s Geschmeide Tag und Nacht,/Noch mehr an den der’s ihr gebracht“ (V. 2851f.), sodass sie, als sie ein weiteres kostbares Präsent findet, beschließt, es ihrer Mutter zu verheimlichen und sich sogar auf ein von Mephisto arrangiertes Treffen mit dem Liebeswerbenden im (Sünden-)Garten von Nachbarin Marthe einzulassen.42
Bei dieser Verabredung bedient sich die schüchtern-naive Margarete des klassischen Orakels mit Sternblumen,43 um Faust implizit zu fragen, ob er sie liebt. Sie macht Gebrauch von einem alternierenden Abzählreim in der dritten Person Singular: „Er liebt mich – liebt mich nicht“ (V. 3182), um durch diese unpersönliche Liebeserklärung ihr Gegenüber zu einer weitaus persönlicheren herauszufordern. Das Universalgenie behält jedoch die dritte Person bei und gesteht Margarete so bloß indirekt seine Liebe: „Er liebt dich“ (V. 3185). Mit der Frage: „Verstehst du, was das heißt?“ (V. 3186) hebt der intellektuelle Edelmann das Gespräch auf eine Metaebene und damit auf ein zu hohes Niveau für das einfache Gretchen.
Margarete, die Liebe ideell über Dauer und Wahrheit definiert, muss sich jedoch auch eingestehen, dass sie Faust nicht für immer an sich binden kann. Dies drückt sie mittels eines homogenen Vergleichs mit einem „Reisende[n]“ (V. 3075) aus, der sich nicht ewig an einen Ort bindet: „Ich weiß zu gut, daß solch‘ erfahrnen Mann/Mein arm Gespräch nicht unterhalten kann“ (V. 3077f.). Dem entgegnet der hypokritische Faust wegen seines sinnlichen Verlangens aber mit einer hyperbolischen Beschwichtigung: „Ein Blick von dir, Ein Wort mehr unterhält,/Als alle Weisheit dieser Welt“ (V. 3079f.). Insgeheim erkennt er seine Triebhaftigkeit als immer während an; Gefühle, welche die Aufmerksamkeit vorübergehend nicht auf den Trieb lenken, sind für ihn lediglich Selbsttäuschung: „Und diese Glut, von der ich brenne,/Unendlich, ewig, ewig nenne,/Ist das ein teuflisch Lügenspiel?“ (V. 3064-3066). Der in seinem Gelehrtendasein Gequälte reduziert Liebe nicht auf das Kleinbürgermädchen, sondern er beschreibt mit diesem Gefühl seinen sehnlichsten Wunsch, „[s]ich hinzugeben ganz und eine Wonne/Zu fühlen, die ewig sein muß [sic!]!“ (V. 3191f.).44
Im Gartenhäuschen wird anschließend durch die wenigen Worte das unbeschwerte Ausleben der Gefühle zweier Menschen dargestellt. Faust und Margarete sind zum ersten Mal gleichzeitig aktiv; bei dem ersten Kuss des Paares legt Gretchen ihr passives, zurückweisendes Verhalten zur Gänze ab. Der Konflikt zwischen hetärischer Natur, d. h. Sexualität, und paternalistischer Zivilisationskultur, i. e. Ehe, scheint sich zugunsten des Ersteren zu entscheiden.
Wenn sich Faust in der Szene Wald und Höhle in der wilden, ungezähmten Natur einer kontemplativen Phase hingibt, erkennt er sich als destruktives Element im „Frieden“ (V. 3360) von Gretchens geordneter Welt. Der Triebgesteuerte entscheidet sich dennoch nach einem längeren Dialog mit Mephisto dafür, mit Gretchen intim zu werden, ohne sie anschließend, wie die Konventionen es fordern, zu ehelichen: „Was muß [sic!] geschehen, mag’s gleich geschehen!/Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen/Und sie mit mir zu Grunde gehen“ (V. 3363-3365). Durch diese Peripetie wird schließlich die Katastrophe eingeleitet.
In der nachfolgenden Selbstreflexion Margaretes wird deutlich, dass die Verliebte inzwischen verhängnisvollerweise eine enge emotionale Bindung zu Faust aufgebaut hat. In ihrer Stube muss sich Gretchen, die offenbar wie Ophelia eine Affinität zum Singen hegt, in ihrem Spinnradlied den Verlust ihres inneren Gleichgewichts eingestehen: „Meine Ruh‘ ist hin,/Mein Herz ist schwer;/Ich finde sie nimmer/Und nimmermehr“ (V. 3374-3377). Ähnlich den Auf- und Abbewegungen eines Spinnrads, die an Goethes Philosophie von Systole und Diastole erinnern, fühlt sich Gretchen hier unter Druck gesetzt und getrieben, wie auch die kurzen Verse, die Hektik erzeugen, auf der formalen Ebene suggerieren. Mit diesem Lied transportiert Margarete, dass sie nur glücklich ist, wenn ihre große Liebe in ihrer Nähe ist. Deshalb evoziert sie das Bild Fausts ständig. Wenn die Kleinbürgerin am Spinnrad ihr Begehren ausdrückt, sich mit dem Doktor zu vereinen, wird manifest, dass sie sich ihres Handelns und der damit verknüpften Schuld bewusst ist. Sie kann nicht mehr aufhören, an Faust zu denken, möchte seine Nähe spüren, obwohl sie die gesellschaftliche Normenwelt, die von der Kirche regiert wird, im Blick hat: „Mein Busen drängt/Sich nach ihm hin./Ach dürft‘ ich fassen/Und halten ihn,//Und küssen ihn,/So wie ich wollt‘“ (V. 3406–3411). Die erotischen Nuancen dieser Verse offenbaren, dass das adoleszente Gretchen wie die gleichaltrige Ophelia von sexuellem Begehren erfüllt ist. Margarete beginnt aber allmählich, sich von einem naiven Mädchen zu einer realistischen Frau zu entwickeln. So kann ihr – im Gegensatz zu Ophelia – letztlich auch eine Teilschuld an ihrem tragischen Schicksal zugesprochen werden.
Bevor die innerlich zerrissene Liebende jedoch mit Faust intim werden kann, vergewissert sie sich in einem Gespräch in Marthes Garten dessen zu erwartenden moralischen Verhaltens. Zu diesem Zweck stellt sie die bekannte Gretchenfrage: „Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?“ (V. 3415). Hiermit möchte das Mädchen Sicherheit darüber erlangen, dass der Liebhaber sich zum gleichen katholischen Glauben bekennt, der einerseits die sexuelle Zwangsmoral vorgibt, andererseits die Heirat als Konsequenz ihrer Liaison fordert. Für Margarete, die so handelt, wie es ihr seit Kindheitstagen vorgelebt worden ist, bietet die christliche Religion mit ihren Normen und Werten als übergeordnete Sinnzusammenhänge Orientierung und daher auch Selbstverständnis. Sie sieht Religiosität als Selbstverständlichkeit an, wie ihrem schwachen normativen Argument zu entnehmen ist: „Das ist nicht recht, man muß d‘ran glauben!“ (V. 3421).
Faust, der durchaus den Hauptmovens der Fragestellung versteht, weicht aus. Er erläutert in einer pan(en)theistisch gefärbten Schwadronade, dass Abstrakta wie „Glück“ (V. 3454), „Liebe“ (ebd.) oder „Gott“ (ebd.) nicht klar zu definieren seien: „Name ist Schall und Rauch“ (V. 3457). Er sei auch ohne Dogmatismus in der Lage, die gleichen positiven Emotionen wie Gretchen zu verspüren; Gott ist für ihn ein „Gefühl“ (V. 3456), bei dem es nicht wichtig sei, wie es genannt wird. Der Glaube ist dem Gelehrten suspekt, da Gott für ihn ein Teil der Erkenntnis ist, nach der er sucht. Fausts Auffassung von Religion als Gefühls- und Herzensbegriff ist das kleinbürgerliche Mädchen geistig jedoch nicht gewachsen, sodass es schließlich konstatiert: „[…] du hast kein Christentum“ (V. 3468).45 Damit wird erkennbar, dass die geistlich arme, intolerante Grete ihr internalisiertes Religionsverständnis apodiktisch hochhält und für das einzig vertretbare hält.
Ihr eigentliches Ziel, sich frei von ihren Ängsten zu machen, um sich Faust dann unbekümmert hingeben zu können, erreicht das gottesfürchtige Gretchen demnach nicht. Trotz des erwartungswidrigen Verlaufs des Religionsgesprächs verabredet sie sich aber für die Folgenacht mit dem Geliebten. Der vorbereitete Verführer gibt ihr einen Schlaftrunk, den er zuvor von Mephisto erhalten hat. Gretchen soll ihn ihrer Mutter verabreichen, um dem Liebespaar eine ungestörte Nacht zu ermöglichen. Der spätere Tod von Gretchens Mutter an ebendiesem Trank ist evident dafür, dass sich Fausts Es, personifiziert von dem teuflischen Mephisto, schonungslos den Weg zu Gretchen ebnen will und dabei ihr ausgeprägtes Über-Ich, repräsentiert von der strengen Mutter, zu überwinden sucht.
Wenn nun Margaretes innere Verfassung im engen Zwinger betrachtet wird, lässt sich annehmen, dass der Liebesakt der beiden tatsächlich stattgefunden hat. Nun beginnt allmählich die Demaskierung des zuvor noch idyllisch anmutenden Normensystems als gnadenloses, rigoroses Sittengericht des kleinbürgerlichen Milieus. Gretchens Gebet in der Stadtmauer ist ein Gespräch mit Freundin Lieschen über das moralische Verfehlen von Bärbelchen vorangegangen.46 Am Brunnen47 klatschend, berichtet Lieschen, wie sich die junge Frau von einem Mann habe bezirzen lassen. Als die Buhle von diesem schwanger geworden sei, habe der liederliche Herr sie verlassen. Dass das neidische Lieschen darauf mit Hohn, Spott und Schmach reagiert, ist für Gretchen tief beunruhigend, da sie für sich die gleichen Konsequenzen befürchtet: „Das Kränzel reißen die Buben ihr,/Und Häckerling streuen wir vor die Tür!“ (V. 3575f.). Margarete hat lange Zeit unhinterfragt an der gesellschaftlichen Disziplinarpraxis partizipiert, die sich nun gegen sie wendet: „Wie konnt‘ ich über andrer Sünden/Nicht Worte g’nug der Zunge finden!/[…] bin nun selbst der Sünde bloß!“ (V. 3579-3584). Fortan prolongiert in Gretchens Seele die Angst vor der sozialen Verdammung; die Ächtende wird ungewollt zur Leidensgenossin der Geächteten im altdeutschen Milieu, dessen Einfluss die jugendliche Frau bisher auf naive Weise unterschätzt hat.
Die Szene im Zwinger stellt demgegenüber eine Steigerung von Gretchens Verzweiflung dar. Von der Furcht vor gesellschaftlicher Isolation geplagt, sucht sie Hilfe bei ihrem Fixpunkt, der Kirche, und betet zur Schmerzensmutter, ihr beizustehen: „Hilf! rette mich von Schmach und Tod!“ (V. 3616). In der ichbezogenen Marienklage wird noch deutlicher als am Brunnen, dass Margarete bereit ist, ihr Schicksal anzunehmen, ohne sich in der Opferrolle zu sehen. Zu Schuld und Liebe stehend, bittet sie mit flehender Stimme um die Vergebung durch Gott, wobei sich erneut die Oberflächlichkeit von Gretchens Glauben widerspiegelt, da ihre Sünde sie nicht wahrhaftig reut; anstelle einer contritio, die Zeichen genuiner Frömmigkeit ist, zerknirscht lediglich die Straffurcht ihr junges Herz. Es ist die Sorge vor sozialer (und religiöser) Verdammung, die sie beim Gebet zur Gottesmutter quält.
Als sich die Sünde der Kleinbürgerin allmählich herumspricht, muss sie darüber hinaus auch eine innerfamiliäre Verstoßung erdulden. Gretchens gewissenloser Bruder Valentin, Goethes Pendant zum Rächer Laertes, hat stets die Tugendhaftigkeit seiner Schwester gelobt und beschuldigt nun den Verführer Faust, Schande über die Familie gebracht zu haben. Er stilisiert demnach wie Laertes seine Schwester zu einer makellosen Personifikation der von ihm vertretenen rigiden Moral. „Ebenso zeigen Valentins Äußerungen die starke Außenorientiertheit seiner Moralprinzipien: es sind ja vor allem die Stichelreden der Zechkumpane, die er fürchtet.“48 Dass Laertes und Valentin ein hohes Aggressionspotential besitzen, zeigt sich, wenn die beiden leicht reizbaren Soldaten rasch zum Schwert greifen, um interpersonale Konflikte auszufechten. Diese mangelnde Fähigkeit zur Affektregulation führt dazu, dass der Tatmensch Valentin nicht lange zögert und direkt (sowie unüberlegt) handelt, ungeachtet der Tatsache, dass er damit Gretchens Unglück intensiviert. Als Mephisto nämlich in Fausts Beisein versucht, das Mädchen mittels eines obszönen Liedes zu einer zweiten Liebesnacht zu bewegen, fordert Valentin in der tragikomisch gefärbten Szene Nacht den Liebhaber auf der Straße vor Gretchens Elternhaus zum Kampf auf. Durch Mephistos Hand geführt, sticht Faust schließlich zu und Valentin ringt mit dem Tod; wie in Hamlet stirbt die Bruderfigur und so die gesamte Familie der Liebenden durch die Hand des Geliebten. So wird „Ophelias Lied zum Sankt-Valentins-Tag […] als Serenade übernommen, die den Tod von Gretchens Bruder […] verursacht“. 49
Während Faust und Mephisto vor der Blutgerichtsbarkeit fliehen, eilt das verzweifelte Gretchen zu ihrem sterbenden Bruder. In seinen letzten Worten beschuldigt der mitleidslose, selbstgerechte Soldat als Vertreter der kleinbürgerlichen Moral seine Schwester auf offener Straße der Zuchtlosigkeit und wünscht ihr voller Verachtung das gesellschaftlich-soziale Schicksal „eine[r] Hur‘“ (V. 3730):
Ich seh‘ wahrhaftig schon die Zeit,/Daß [sic!] alle brave Bürgersleut‘,/Wie von einer angesteckten Leichen,/Von dir, du Metze! seitab weichen./[…] Unter Bettler und Krüppel [sollst du; D.R.] dich verstecken,/Und, wenn dir denn auch Gott verzeiht,/Auf Erden sein vermaledeit! (V. 3750–3763)
[...]
1 Ochsner, Andrea: Ophelia-Fortschreibungen. In: Peter W. Marx (Hrsg.): Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Stuttgart/Weimar 2014, S. 456-461, hier S. 456.
2 Gewiss ist die Zusammenstellung der Rezeptionstexte nicht gerade als innovativ zu bezeichnen. Durch eine eklektisch vorgenommene Verknüpfung diverser methodisch-theoretischer Elemente und Versatzstücke, die aus psychoanalytischer Literaturwissenschaft und Hermeneutik sowie aus Diskursanalyse und Literatursemiotik stammen, wird jedoch ein Mehrwert an Erkenntnissen durch Pointierung bislang vernachlässigter Verbindungs- und Entwicklungslinien angestrebt.
3 Vgl. hierzu Döring, Tobias: Hamlet im Horizont der Rachetragödie. In: Peter W. Marx (Hrsg.): Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Stuttgart/Weimar 2014, S. 77-86.
4 Aufgrund der fehlenden Nachkommenschaft von Elizabeth I., bekannt als The Virgin Queen, ist das Thema der Thronfolge im protestantischen England zur Entstehungszeit des Dramas von größter Brisanz gewesen (vgl. Krippendorff, Ekkehart: Das Politische. In: Peter W. Marx (Hrsg.): Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Stuttgart/Weimar 2014, S. 59-62, hier S. 61).
5 Shakespeare, William: Hamlet. Revised Edition. Edited by Ann Thompson and Neil Taylor. London/New York 2016, S. 362f. Fortan wird in der vorliegenden Hausarbeit stets nach der ersten Nennung der Ökonomie halber im Haupttext zitiert. Dies gilt für die verwendeten Dramen- und Gedichttexte gleichermaßen. Außerdem werden die editorischen Anmerkungen von Thompson und Taylor zu den zahlreichen Wortspielen Hamlets stets in die Interpretation miteinbezogen.
6 Stuby, Anna Maria: Liebe, Tod und Wasserfrau. Mythen des Weiblichen in der Literatur. Opladen 1992, S. 169.
7 Fraglich ist, ob Laertes hier vielleicht nicht eher von sich selbst als von Hamlet spricht.
8 Walch, Günter: Hamlet. Bochum 2004, S. 150.
9 Vgl. Aronson-Lehavi, Sharon: The Excess of Violence. In: Peter W. Marx (Hrsg.): Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Stuttgart/Weimar 2014, S. 72-75, hier S. 73. Hamlet und Ophelia scheinen tatsächlich wie füreinander geschaffen zu sein, da sie einiges miteinander verbindet, wie allein die diversen (Schicksals-)Spiegelungen zeigen. So sind bspw. beide Halbwaisen, trauern um den Verlust des Vaters und sind inzestuös auf ihr (leibliches) Elternteil fixiert.
10 Wenn Ophelia ihrem Vater davon berichtet, wie der leicht bekleidete Hamlet nachts ohne ein Wort zu verlieren in ihr Kämmerchen eingedrungen sei, lässt sich eine stattgefundene Vergewaltigung erahnen: „He took me by the wrist and held me hard/[…] He raised a sigh so piteous and profound/As it did seem to shatter all his bulk […]/That done, he lets me go” (II,1,84-93). Zugleich kann Hamlet mit seinem Besorgnis erregenden Besuch, bei dem der bleiche Prinz dem väterlichen Geist ähnelt, seinem fingierten Wahnsinn Authentizität verleihen, denn er weiß, dass die autoritätshörige Geliebte unverzüglich ihrem Vater von diesem bizarren Vorfall erzählen wird.
11 Hier könnte auch seine Enttäuschung über die Zurückweisung Ophelias eine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund könnte der nächtliche Besuch auch dahin gehend verstanden werden, dass er bei der genauen Betrachtung des Gesichts der Geliebten ein Zeichen ihrer Liebe in der Mimik zu finden gehofft hat (vgl. ebd., S. 73f.).
12 Hamlet nimmt schon in seinem ersten Monolog eine exorbitant negative Bewertung seiner Mutter vor, denn einerseits schläft die Ehebrecherin mit dem Bruder ihres verstorbenen Gatten, andererseits scheint es auch nicht ausgeschlossen zu sein, dass sie Beihilfe beim Meuchelmord geleistet und bereits vor dem Königstod eine Affäre mit Claudius gehabt hat. De facto erscheint Gertrude aber lediglich in Hamlets expliziter Charakterisierung derart negativ; auf den Leser wirkt sie vielmehr wie eine liebende Mutter, die sogar aus Wohlwollen die Vermählung ihres Sohnes mit Ophelia hat befördern wollen, wie sich bei deren Beerdigung zeigt: „I hoped thou shouldst have been my Hamlet’s wife“ (V,1,233).
13 Walch, Hamlet, S. 77.
14 Dem widerspricht Hamlet selbst am Grab: „I loved Ophelia“ (V,1,258). Ebenso der Liebesbrief, den Polonius verliest, widerlegt die Aussage, z. B.: „ I have not art to reckon my groans, but that I love thee best, O most best, believe it [Hervorhebung im Original]” (II,2,118-120).
15 Bei dem Spiel im Spiel lassen die Unanständigkeiten des unflätigen Hamlet nicht nach. So fragt er anzüglich: „Lady, shall I lie in your lap?“ (III,2,108), was Ophelia jedoch strikt untersagt. Er belästigt sie daraufhin mit weiteren unsittlichen Äußerungen: „That’s a fair thought to lie between maids‘ legs“ (III,2,112) und obszönen Wortspielen wie z. B. „country matters“ (III,2,110), ein Ausdruck, der auch für den Geschlechtsverkehr bzw. die Vagina stehen kann. Überdies fordert er Ophelia auf, etwas von ihrem Körper zu zeigen: „Be not you ashamed to show […]“ (III,2,137f.). Er imaginiert obendrein sogar ihr Stöhnen beim Verlust der Jungfräulichkeit: „It would cost you a groaning to take off mine edge” (III,2,250f.). Die Verweise auf Gertrudes Wiedervermählung und die kurzweilige „woman’s love“ (III,2,147) sprechen auch hier für Hamlets inneren Konflikt. Erst nachdem er sich in der closet-scene mit seiner Mutter versöhnt hat, ist er in der Lage, die (körperliche) Liebe Ophelias zu erwidern. Hierzu kommt es jedoch nicht mehr. Claudius schickt den Prinzen nach England, bevor er die Geliebte hat wiedersehen können.
16 Dieses Verhalten spricht aus psychoanalytischer Sicht für einen Ödipus-Komplex. Claudius würde demnach das ausleben, was der mit seiner Libido in Konflikt stehende Hamlet verdrängt: Ödipaler Vatermord und Inzest mit der Mutter (vgl. Walch, Hamlet, S. 157f.; Habermann, Ina: Hamlets Misogynie? In: Peter W. Marx (Hrsg.): Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Stuttgart/Weimar 2014, S. 62-66, hier S. 62). Bezeichnenderweise bezichtigt Hamlet auch nur seine Mutter und nicht Claudius des Inzests. Ebenso beabsichtigt er ausschließlich, an dem König Rache zu nehmen, nicht aber an Gertrude.
17 Pfister, Manfred: Hamlet und kein Ende. In: William Shakespeare: Hamlet. Zweisprachige Ausgabe. Neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Günther. Mit einem Essay und Literaturhinweisen von Manfred Pfister. 2. Auflage. Cadolzburg 2013, S. 361-388, hier S. 386.
18 Geyer, Horst: Dichter des Wahnsinns. Eine Untersuchung über die dichterische Darstellbarkeit seelischer Ausnahmezustände. Göttingen/Frankfurt/M./Berlin 1955, S. 83.
19 Vgl. zur Bedeutung der rezitierten Ballade: Waller, Gary: Walsingham and the English Imagination. London/New York 2011, S. 110-112.
20 Wegen der Verbindung von Sexualität und Wahnsinn in der Figur Ophelias verballhornt Lacan ihren Namen zu „O-phallus“, „die Phalluslose“ (vgl. Pfister, Hamlet und kein Ende, S. 387f.). Bachelard spricht von einem „Ophelia-Komplex“ und bezeichnet damit „den auf eine Frauengestalt projizierten regressiven Wunsch, sich im Tod mit dem tröstenden Element des Wassers zu vereinigen“ (Schwarzer, Bert: Hamlet liest Hamlet. Produktive Rezeptionen eines weltliterarischen Schlüsseltextes in der Moderne. Frankfurt/M. 1992, S. 136).
21 Das Valentinslied thematisiert genau das, wovor Ophelia (womöglich zu spät) gewarnt worden ist, nämlich sich einem Wollüstling hinzugeben, der das deflorierte Mädchen nicht heiratet, sondern zurücklässt. In diesem Kontext ist auch das Wort „Cock“ (IV,5,61) für „Penis“, welches an einer recht blasphemischen Stelle verwendet wird, aufschlussreich gleichwie der Ausdruck „baker’s daughter“ (IV,5,43), der umgangssprachlich auch „Prostituierte“ bedeutet. Die Hinweise auf eine uneheliche Schwangerschaft Ophelias sind inzwischen nicht mehr von der Hand zu weisen.
22 Gemäß der elisabethanischen Blumensprache kommt jeder Pflanze, die innerhalb dieser asyndetischen Reihung genannt wird, eine Bedeutung zu. Ebenjene florale Symbolik ist zuvor bereits von Ophelia selbst verwendet worden, als sie in der mad-scene diverse Blumen an die Anwesenden verteilt hat. Deren Aussagekraft wird in den Ausführungen zu Millais‘ Ölgemälde näher erörtert. Des Weiteren ist anzumerken, dass die Verse: „That liberal shepherds give a grosser name/But our cold maids do dead men’s fingers call them“ (IV,7,168f.) auf die Verschränkung von Sexualität und Tod verweisen, denn anders als keusche Mädchen (wie Ophelia) geben Hirten den Blumen unflätige Namen, da sie mit den Knollen oder Kolben Testikel und Phalli assoziieren (vgl. Bloom, Harold: Key Passages in Hamlet. In: Ders. (Hrsg.): Bloom’s Shakespeare Through the Ages. Hamlet. Edited and with an Introduction by Harold Bloom. Sterling Professor of the Humanities Yale University. Volume Editor Brett Foster. New York 2008, S. 19-34, hier S. 33). Obendrein ist die erwähnte Trauerweide ein populäres Symbol der unerfüllten, verlorenen Liebe; ihre grau-weißen Blätter deuten die (Gefühls-)Kälte des Liebhabers an.
23 Welche hymnischen Klänge Ophelia exakt anstimmt, bleibt trotz des Adjektivs „old“ (IV,7, 175) unklar und bietet Spekulationen großen Raum, so könnten es die Lieder aus der vorangegangenen Szene sein, Trauerlieder, Lobpreisungen Gottes u. v. m.
24 Wenn der Bach zu einem Wildwasserstrom wird, zeigt dies besonders dessen ambivalente Bedeutung, denn er steht mit Leben und Tod in Verbindung, wodurch er zu einem Symbol für die Ewigkeit wird. Die Einswerdung mit dem Wasser, das auch für Fertilität steht, meint die Rückkehr zum Ursprünglichen, das Urelement wird das Urweibliche; innerhalb dieses (Schöpfungs-)Kreislaufs kann dann wieder etwas Neues entstehen. Zugleich verweist das Treiben auf dem Wasser ebenso auf das Unterbewusste, das Strömen auf die Libido.
25 „‘Flowers‘ was the common term for menstrual blood and seed in early modern England, as the menses go ‘before Conception as flowers do before fruit’. Read within this context, the image of Ophelia sinking among her ‘weedy trophies’ suggests an internal landscape, in which her virginal body is awash with ‘flowers’ (trapped menstrual blood and seed).” (Dawson, Lesel: Lovesickness and Gender in Early Modern English Literature. Oxford 2008, S. 77) Das Winden von Blumenkränzen kann überdies als Versuch der Refloration gedeutet werden.
26 „Dem elisabethanischen Zeitstil entsprechend, der an […] stilisierter Emblematik viel Geschmack fand, ist die Rede eher als sprachliches Inbild, als Emblem zu verstehen, in dem das tragische Schicksal des einzigen unschuldigen Opfers im Stück zu einer Art Ikone erhöht wird – als Gegenentwurf in genau dem Moment, in dem die miesen Machenschaften des Claudius und des Laertes ihren absoluten moralischen Tiefpunkt erreichen.“ (Günther, Frank: Anmerkungen zum Text. In: William Shakespeare: Hamlet. Zweisprachige Ausgabe. Neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Günther. Mit einem Essay und Literaturhinweisen von Manfred Pfister. 2. Auflage. Cadolzburg 2013, S. 318-360, hier S. 355f.)
27 „‚Melancholy‘ erscheint dabei als Erkrankung insbesondere der Oberklasse, der Gebildeten und von Männern. Anders lag der Fall bei Hysterie, genannt ‚the mother‘. Obwohl auch bei Männern gelegentlich ‚the mother‘ diagnostiziert wurde, galt sie dominant als Krankheit von Frauen, […] und übrigens auch von Hexen, verursacht durch die Pathologie des Uterus. Als Heilkur wurde das Heiraten empfohlen wegen seiner geregelten Sexualität.“ (Walch, Hamlet, S. 152) Hier sind natürlich auch Bezüge zur Vier-Säfte-Lehre möglich.
28 Vgl. Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949. In: Ders.: Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Olten 1973, S. 61-70.
29 Die Ursache hierfür bleibt opak. Es könnte dem königlichen Zutun geschuldet sein, dass die vermeintliche Selbstmörderin ein christliches Begräbnis und somit ein ewiges Leben nach dem Tod erhält. Entweder ist von Claudius und Gertrude auf den tragischen Unfall als Todesursache insistiert worden oder die Gesellschaft hat Milde walten lassen, weil Ophelia in einem Ausnahmezustand ihres Geistes Suizid begangen hat.
30 Ochsner, Ophelia-Fortschreibungen, S. 457.
31 Loquai, Franz: Hamlet und Deutschland. Zur literarischen Shakespeare-Rezeption im 20. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1993, S. 7f.
32 Brown, Jane K.: Goethe’s Faust. The German Tragedy. Ithaca/London 1986, S. 106.
33 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt/M. 1994, S. 34.
34 An dieser Stelle ließe sich der Deutungshorizont von Hamlet insofern erweitern, dass der Geist nicht als Produkt von Hamlets Phantasie oder als dessen im Purgatorium weilender Vater gesehen wird; die ominöse Entität könnte gleichwie Goethes Mephisto als Teufel betrachtet werden, dem „alles, was ihr Sünde,/Zerstörung, kurz das Böse nennt,/[…] [sein; D.R.] eigentliches Element“ (V. 1342-1344) ausmacht. Das in der Exposition des Dramas verwendete Teufelsvokabular, auf das Walch hinweist (vgl. Walch, Hamlet, S. 50), könnte diese These unterfüttern. Bezeichnenderweise endet obendrein auch Marlowes Doktor Faustus exakt in dem situativen Kontext, in dem die Handlung von Hamlet eröffnet wird, nämlich mit der mitternächtlichen Erscheinung jenseitiger Wesen. Hinzu kommt die Repetition von „swear“ (z. B. I,5,179), die auf ein mögliches Teufelsbündnis anspielen könnte. Fraglich ist aber, ob der Geist Hamlet tatsächlich zu einer Sünde verführt. Da die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist, bedeutet ihr zuwiderzuhandeln, dem Willen Gottes zuwiderzuhandeln. Dies betont schon Luther, welcher (samt seiner Teufelserscheinung) mit Marlowes und Shakespeares Verweis auf Wittenberg assoziiert wird, in seiner Obrigkeitsschrift. Wenn sich allerdings Claudius tatsächlich mit unlauteren Mitteln die Krone erschlichen hat, ist es aus elisabethanischer Sicht anzuzweifeln, ob Hamlet mit seinem Königsmord und seinem Rachewahn eine Sünde begeht oder eher dazu beiträgt, die gottgewollte Ordnung zu rehabilitieren. Dafür spricht z. B. die politisch instabile Lage in Dänemark, da eine solche (wie bspw. in Macbeth) Indiz für eine gewaltsame Machtergreifung ist, die gegen das Divine Right verstößt, und sich erst wieder bei einer rechtmäßigen Thronbesteigung beruhigt.
35 Auf eine exakte Differenzierung zwischen den Inhalten der Wette und des Pakts wird verzichtet, da dies für die folgenden Ausführungen nicht von Belang ist.
36 Darüber scheint sich auch der fluchende Faust im Klaren zu sein. Vielmehr sieht es so aus, als ob ihm bewusst sei, seinen Durst nach absoluter Erkenntnis nicht gestillt zu bekommen und er deshalb auf eine transitorische Betäubung durch aufregende Erlebnisse in einer Welt jenseits des quälenden Gelehrtendaseins hofft (vgl. Schmidt, Jochen: Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. 2., durchgesehene Auflage. München 2001, S. 128-137). Tatsächlich wird Faust aber ein tragischer Held, der die Wette nur verlieren kann, wenn er entweder Befriedigung erfährt und dann Mephisto (wie auch immer) in der Hölle dienen muss oder wenn er nicht von dem Teufel in eine Situation gebracht wird, in der er Muße und Erfüllung findet (vgl. Sudau, Ralf: Johann Wolfgang Goethe. Faust I und Faust II. 2., überarbeitete und korrigierte Auflage. München 1998, S. 128-131).
37 Den Terminus „Gretchentragödie“ gilt es zu problematisieren, da Margarete doch eher selten bei ihrem Kosenamen genannt wird und das im aristotelischen Sinne „Tragische“ nicht so einfach zu bestimmen ist. Dem tradierten Begriff ist allerdings zugutezuhalten, dass er zum Ausdruck bringt, dass Gretchen in Faust I eine tragendere Rolle zukommt als Ophelia in Hamlet. Die Margaretenhandlung, welche den Großteil von Goethes Werk ausmacht, stellt nämlich detailliert die Leidensgeschichte der Deuteragonistin dar, vom ersten Aufeinandertreffen über ihre Verführung bis hin zum Untergang und ihrer anschließenden Sühne. Außerdem ist es Gretchen, der als Verkörperung des Ewig-Weiblichen die Aufgabe zukommt, Fausts Himmel- statt Höllenfahrt einzuleiten, ihn damit in den Schöpfungskreislauf zu integrieren und ihm die ersehnten Erkenntnisse urgründiger Seinszusammenhänge zuzuführen. So ist Margaretes Tod in gewisser Weise auch ein Opfertod, da sie sich hinrichten lässt, um durch ihre Liebe Faust erretten zu können – es ist demnach die Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält.
38 In diesem Kontext wird sich von dem Terminus „Exposition“ distanziert, da er dem Dramenmodell Freytags entstammt, das sich auf den Aufbau eines geschlossenen, aristotelischen (Regel-)Dramas bezieht. Um ein solches handelt es sich bei der Gretchentragödie aber beileibe nicht.
39 Während Faust sich in Gretchens Zimmer befindet, scheint sein triebgesteuertes Sexualverhalten Platz für wahre Liebe zu machen: „Ergreif mein Herz, du süße Liebespein!“ (V. 2689); Margarte habe sich „in […] [sein; D.R.] Herz geprägt“ (V. 2616), wie Faust im Handlungsverlauf mehrfach betont. Der offenbar verliebte Doktor stilisiert sie sogar zum „Götterbild“ (V. 2716). Allerdings bringt schon Odoardo treffend auf den Punkt, dass ein Wollüstling, der bewundert, stets auch begehrt. So weichen Fausts Triebe letztlich nicht der aufflammenden Liebe; der Genius hindert seinen Bündnispartner nicht daran, den Schmuck für das Mädchen zu deponieren. Der Konflikt zwischen Liebe und Trieb bleibt weiterhin bestehen und durchzieht die gesamte Margaretenhandlung.
40 Vgl. Matussek, Peter: Faust I. In: Theo Buck (Hrsg.): Goethe Handbuch. Bd. 2: Dramen. Stuttgart/Weimar 1996, S. 352-390, hier S. 367. So wird in Hinblick auf das Tragödienende auch Gretchens Aussage, dass „alles […]/Am Golde hängt“ (V. 2800-2804), ambig.
41 Als Gretchen beim Schlendern durch den Garten intendiert, sich vor ihrem Liebhaber als heiratsfähig zu inszenieren, streicht sie primär ihre Eignung als Mutter und Hausfrau heraus. Dabei wird deutlich, dass die Halbwaise wie Ophelia der strengen Kontrolle und Obhut ihres verbleibenden Elternteils unterliegt: „Und meine Mutter ist in allen Stücken/So akkurat!“ (V. 3113f.).
42 Diese simultantechnisch angelegte Spiegelszene hat akzentuierenden Charakter, insbesondere da Marthe mit ihrem materialistisch-pragmatischen Denken um einiges autonomer und realistischer als Margarete erscheint und deshalb ihr Leben souverän zu meistern vermag. Darüber hinaus ist anzumerken, dass das „schändlich [kupplerische] Weib“ (V. 3767) dem „fishmonger“ (II,2,171) Polonius ähnelt, der mit seiner Tochter Handel treiben will.
43 Das Zerpflücken der Blumen könnte Gretchens bevorstehende Defloration andeuten.
44 Dies scheint auch Gretchen zu bemerken, wenn sie ihre Bedenken äußert: „Denkt ihr an mich ein Augenblickchen nur,/Ich werde Zeit genug an euch zu denken haben“ (V. 3106f.). Diese Aussage ist zweifelsfrei ein Vorverweis auf die fatalen Konsequenzen ihrer Liebe zu Faust.
45 Dass Gretchens dogmatischer Kirchenglaube ohne Tiefe und nicht nach der Definition des Herrn ist, wird an diesem Punkt sehr deutlich. Der Herr betont zwar einerseits, dass er die Menschen leite, aber die Leitung von dem „Urquell“ (V. 324) des Menschen ausgehe und nicht von außen, z. B. durch religiöses Gebot.
46 Es wird ersichtlich, dass die Namensgebung, welche verniedlichende Suffixe aufweist, ins Satirische verfällt, um die Doppelmoral der einfältigen Kleinbürgerfrauen zu desavouieren.
47 Der Brunnen, der vor allem durch Rebecca und Hagar als Symbol des Lebens, des Liebens und des Trostes bekannt ist, erfährt hier eine negative Umdeutung, nachdem Gretchen sich im Garten wie Eva hat verführen lassen.
48 Pilz, Georg: Deutsche Kindesmordtragödien. Wagner, Goethe, Hebbel, Hauptmann. München 1982, S. 49.
49 Brown, Jane K.: Ironie und Objektivität. Aufsätze zu Goethe. Würzburg 1999, S. 74.
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.