Zum Text des ,,Stirps Jesse"
Im elften Kapitel des Buches Jesaja findet sich die Verheißung eines zukünftigen Erlösers, der aus dem Stamm Jesse hervortritt wie eine Blüte:
Et egredietur virga de radice Jesse, et flos de radice ejus ascendet.
Et requiescit super eum spiritus Domini.
(Jes 11, 1f.)
(Aus der Wurzel Jesse wird ein Zweig hervorgehen, und eine Blüte wird aus seiner Wurzel emporsteigen. Und der Geist des Herrn ruht auf ihm.)
Das Responsorium Fulberts von Chartres für das Fest Mariae Geburt gießt diese Aussage in hexa-metrische Form:
Stirps Jesse virgam produxit virgaque florem: Et super hunc florem requiescit Spiritus almus.
V. Virgo Dei Genitrix virga est, flos Filius eius.
(Fulbert von Chartres nach dem Liber Responsorialis)
(Die Wurzel Jesse brachte einen Zweig hervor und der Zweig eine Blüte: Und über dieser Blüte ruht der Heilige Geist. Die Jungfrau und Gottesgebärerin ist der Zweig, die Blüte ist ihr Sohn.)
Da nach christlichem Verständnis diese Verheißung in Jesus bereits erfüllt ist, spricht Fulbert im Tempus des Perfekt vom Hervortreten des Sprosses.
Daneben beschreibt er präziser als der Bibeltext das Geschehen des Wachstumsprozesses: Aus der Wurzel kommt der Sproß, aus dem Sproß die Blüte. Auf diese Reihenfolge, überhaupt auf die Unterscheidung von virga und radix scheint es im Text der Vorlage gar nicht anzukommen, wichtig ist nur die Tatsache, daß der Erlöser aus dem Stamm Jesse kommt. Durch das je zweimalige Nennen von virga und flos fokusiert der Dichter nun den Aussageschwerpunkt des Responsoriums auf diese beiden Begriffe; den zweiten Aspekt, das Ruhen des Geistes Gottes auf der Blüte, übernimmt er dagegen so wörtlich wie möglich von Jesaja.
Der Text des Versus gibt nun eine Deutung der zwei Begriffe, die durch Fulberts Formulierung in den Blickpunkt geraten sind, wobei er sich klanglicher Verwandtschaften bedient: virga wird zu virgo, flos zu filius. Der Jungfrau wird noch der alte Ehrentitel der Gottesgebärerin beigefügt, so daß kein Zweifel mehr bestehen kann, daß die Verheißung Jesajas in Christi Geburt erfüllt ist; zum andern wird dadurch aber auch das widersprüchliche Glaubensgeheimnis der Jungfrau und Mutter angesprochen.
Diese poetische Neuformulierung paßt die Aussagen des ursprünglichen Textes an das zu feiernde Marienfest an; für das St.-Martial-Repertoire, das sich stark mit der thematischen Gruppe Weihnachten/ Maria beschäftigt, erscheint sie geradezu prädestiniert.
Der Benedicamus-Tropus erscheint in zwei Textgestalten, die sich in einigen Details unterscheiden und daher beide im folgenden zitiert werden. Die beigefügten Ziffern und Buchstaben informieren über Silbenzahl und Reimschema der einzelnen Verse (nach Wulf Arlt, Nova Cantica, in: Forum Musicologicum X):
Stirps iesse florigeram 1 7a
ierminavit virgulam 2 7a
et in flore spiritus 3 7b
quiescit paraclitus 4 7b
fructum profert virgula m 5 7c
per quem vivunt saecula 6 7c
stirpis ex davitice 7 7d
virga dicta mistice 8 7d
que sic que sic floruit 9 7e
et que florem protulit 10 7e
virga iesse virgo est 11 7f
dei mater 12 4g
flos filius eius est 13 7f
cuius Pater 14 4g
huic flori 15 4h
preter morem edito 16 7i
canunt cori 17 4h
sanctorum e debito 18 7i
laus et iubilatio 19 8j
potestas cum imperio 20 8j
sit sine termino 21 6k
celorum domino 22 6k
(nach Paris, Bibl. Nat., lat. 3549, 166´)
STIRPS JESSE florigeram
g erminavit virgulam
et in flore m spiritus
quiescit paraclitus
fructum profert virgula
per quem vivunt saecula
S tirpis ex davitice
virga dicta mistice
que sic et sic floruit
et que florem protulit
V irga iesse virgo est
dei mater
flos filius eius est
C uius Pater
huic flori
preter morem edito
canunt c h ori
sanctorum e x debito
L aus laus et iubilatio
potestas cum imperio
si c ine termino
celorum domino
(nach Paris, Bibl. Nat., lat. 1139, 60´)
(Die Wurzel Jesse ließ ein blütentragendes Zweiglein sprossen und in der Blüte ruht der Geist, der Tröster. Der Zweig bringt eine Frucht hervor, durch die die Zeitalter leben. Von dem Zweig aus Davids Wurzel her, der weiter und weiter blühte und eine Blüte hervorbrachte, ist der Zweig Jesse geheimnisvoll bezeichnet als die Jungfrau und Gottesmutter, die Blüte ist ihr Sohn und [gleichzeitig] deren [der Jungfrau] Vater.
Dieser Blüte, hervorgebracht auf außerordentlicheArt, singen die Chöre der Heiligen schuldigerweise: Lob und Preis, Macht und Herrschaft sei ohne Ende dem Herrn der Himmel.)
Im Gegensatz zur Fulbertschen Vorlage ist dieser Text reimend und rhythmisierend verfaßt, die sieben-silbigen Verse (also 14 von insgesamt 22) stehen in katalektischen trochäischen Dimetern. Die Reime sind paarig, im Mittelteil kreuzweise angelegt, dort wechselt auch die Silbenzahl zwischen sieben und vier ab. Die letzten vier Zeilen bestehen aus je zwei Achtund Sechssilblern. Insgesamt entsteht also - trotz Reim- und Rhythmusbindung - ein vielfältiges und abwechslungsreiches formales Versbild.
Die Zeilen 1-4 referieren getreu den Inhalt des eigentlichen Responsoriums, Z. 5-6 stellen in gewisser Weise eine Wiederholung dar und eröffnen die Gelegenheit, diesen ersten Teil mit einem secula abzuschließen.
Im mittleren Abschnitt (Z. 7-14) werden - analog zum versus des Responsoriums - Zweig und Blüte aus Jesses Stamm aus christlicher Sicht gedeutet; dabei bleibt die Grundaussage virga = virgo, flos = filius erhalten, die äußerste Dichtheit der Vorlage wird aber zugunsten einer erneuten Erzählung des Keimens (que...floruit et ...protulit) aufgegeben. Weiter fällt auf, daß das weihnachtliche Geheimnis explizit als solches bezeichnet wird (mistice) und neben dem Aspekt der gleichzeitigen Jungfrau- und Mutterschaft Mariens durch ihre doppelte Bedeutung als Mutter und Tochter Gottes (filius eius - cuius pater) ergänzt wird. Schließlich ist zu konstatieren, daß der Schwerpunkt der Aussage (dem Fest gemäß) Maria betrifft, die Bedeutung Christi aber nur knapp erwähnt und wörtlich übernommen ist (flos filius eius). Der Schlußteil (Z. 15-22) ist durch die Reimanordnung mit dem vorangehenden verknüpft und läßt die Heiligen im Himmel der göttlichen Blüte den schuldigen Dank singen. Der Inhalt ist damit auf das Gloria Patri des Responsoriums, aber auch auf den Text des Benedicamus Domino selbst beziehbar. Die Zeilenenden weisen in sechs von acht Fällen das für ein Benedicamus typische reimende o auf.
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