"Das Hohle, das Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeois-Standpunkts zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint", so umschrieb Theodor Fontane in einem Brief an seinen Sohn die Intention seines 1892 erschienen Gesellschaftsromans "Frau Jenny Treibel". Doch nicht nur dem Besitzbürgertum der wilhelminischen Ära wird anhand der im Roman vorgestellten bourgeoisen Industriellenfamilie Treibel der Spiegel vorgehalten, auch in der Darstellung der Akademikerfamilie Schmidt, mit denen die Treibels kontrastiert werden, sind ironische Untertöne enthalten, die Fontanes Kritik am Bildungsbürgertum der damaligen Zeit zum Ausdruck bringen.
Nach einer kurzen Erläuterung des gesellschaftshistorischen Kontextes des Romans und einer Erörterung Fontanes gesellschaftskritischen Standpunktes anhand seiner brieflichen Korrespondenzen soll im Folgenden untersucht werden, wie sich Besitz- und Bildungsbürgertum in "Frau Jenny Treibel" profilieren, wobei ein besonderes Augenmerk auf die darin enthaltene Gesellschaftskritik des Autors gelegt werden soll.
1. Einleitung
"Das Hohle, das Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeois-Standpunkts zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint"1, so umschrieb Theodor Fontane in einem Brief an seinen Sohn die Intention seines 1892 erschienen Gesellschaftsromans Frau Jenny Treibel. Doch nicht nur dem Besitzbürgertum der wilhelminischen Ära wird anhand der im Roman vorgestellten bourgeoisen Industriellenfamilie Treibel der Spiegel vorgehalten, auch in der Darstellung der Akademikerfamilie Schmidt, mit denen die Treibels kontrastiert werden, sind ironische Untertöne enthalten, die Fontanes Kritik am Bildungsbürgertum der damaligen Zeit zum Ausdruck bringen.
Nach einer kurzen Erläuterung des gesellschaftshistorischen Kontextes des Romans und einer Erörterung Fontanes gesellschaftskritischen Standpunktes anhand seiner brieflichen Korrespondenzen soll im folgenden untersucht werden, wie sich Besitz- und Bildungsbürgertum in Frau Jenny Treibel profilieren, wobei ein besonderes Augenmerk auf die darin enthaltene Gesellschaftskritik des Autors gelegt werden soll.
1.1. Gesellschaftshistorischer Kontext
Das 19. Jahrhundert war gekennzeichnet von einem gesellschaftlichen Wandel, der, begünstigt durch Aufklärung und Industrielle Revolution, den Übergang von der adeligen Feudalgesellschaft zu einer durch das Bürgertum dominierten marktwirtschaftlich-orientierten Gesellschaft bedeutete.
Damit verbunden war zunächst ein Abbau der Adelsprivilegien auf politischer Ebene. So wurde bereits 1807 im Deutschen Reich die dreigeteilte Ständegesellschaft aufgelöst, womit es Bauern und Bürgern fortan möglich war, eigenen Grundbesitz zu erwerben und am politischen Leben teilzunehmen. Nach Gründung des Deutschen Bundes in den Jahren 1848/49 wurden dem Adel die patrimoniale Gerichtsbarkeit2 und die Befreiung von der Grundsteuer entzogen, des weiteren wurde es nun auch Bürgerlichen ermöglicht, im Militär höhere Positionen zu beziehen, die bis dahin nur ausschließlich dem Adel offen standen.3
Verbunden mit der Deprivilegierung des Adels war ein Emanzipationsstreben des Bürgertums, dass über Besitz oder Bildung seinen gesellschaftlichen Einfluss gegenüber dem auf politischer Ebene weiterhin dominanten Adel auszubauen versuchte. Der industrielle Aufschwung der fünfziger Jahre sowie die wirtschaftliche Prosperität in der Gründerzeit nach dem deutsch-französischen Krieg in den siebziger Jahren wirkten sich dabei besonders günstig für die besitzenden Bürger aus, die sich hauptsächlich im Bereich der Konsumgüterproduktion - Textil- und Lederindustrie, Lebensmittelverarbeitung, Holzindustrie - betätigten, während der Landadel weiterhin die Landwirtschaft dominierte.4 Durch die verbesserte materielle Situation stieg zum einen die politische Relevanz des Besitzbürgers, zum anderen auch sein gesellschaftliches Ansehen: galten materieller Besitz und humanistische Bildung zunächst noch als gleichermaßen erstrebenswert, so wurde zum Ende des Jahrhunderts Besitz mehr und mehr zum obersten Ziel, der Bildung als Mittel zum Zweck, zur persönlichen Bereicherung, zu dienen hatte und nicht mehr zur kritischen Selbsterkenntnis und -genügsamkeit.5
Das Bildungsbürgertum, das sich aus der höheren Beamtenschaft, den Hochschul- und Gymnasiallehrern, Richtern, evangelische Geistlichen, sowie freien akademischen Berufen wie Künstler, Schriftsteller, Journalist, Arzt und Rechtsanwalt zusammensetzte6, stand zwar diesem auf materiellen Gewinn ausgerichteten kapitalistischen Lebensstil größtenteils kritisch gegenüber, jedoch reagierte es aufgrund seines ausgeprägten Standesbewusstseins auf den dadurch resultierenden steigenden Einfluss des Besitzbürgertums, dem es materiell nichts entgegenhalte konnte, nicht und arrangierte sich stattdessen mit den neuen Verhältnissen, sowie es auch den bismarckschen Autoritätsstaat ohne Kritik hinnahm. Es verlor damit an gesellschaftlichem und politischem Einfluss, dem es fortan dem Besitzbürgertum überließ, das Besitzbürgertum wiederum honorierte dieses politische Desengagement durch Aufwertung des gesellschaftlichen Ansehens der Bildungsschicht in ihren Kreisen.7
Trotz politischer Gleichstellung und wirtschaftlichem Liberalismus gelang es dem deutschen Bürgertum jedoch nicht, eine eigenständige bürgerliche Kultur zu entwickeln. Dies lag in erster Linie daran, dass trotz aller Entprivilegierungen Adelige weiterhin Schlüsselpositionen in Militär und Politik besetzten und in Verteidigung ihrer ursprünglichen Standesprivilegien akribisch darauf achteten, dass nur Gesinnungsgenossen in höhere Positionen aufstiegen. Politischer und gesellschaftlicher Aufstieg war dem besitzenden und gebildeten Bürger daher nur möglich, indem er sich an der adligen Lebensweise und Kultur orientierte und sein eigenes Standesbewusstsein vernachlässigte, was zu einer allgemeinen Feudalisierung des Bürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert führte.
So versuchten sowohl Besitz- als auch Bildungsbürgertum durch eine dem Adel nachempfundene Ranghierarchie nichterblicher Titel ihren sozialen Status zu erhöhen. Waren bei den Besitzbürgern Titel wie "Kommerzienrat" und "Baurat"8 begehrt, so galten unter Bildungsbürgern staatliche Amts- und Ehrentitel wie "Regierungsrat", "Medizinalrat" oder "Studienprofessor" als erstrebenswert.9 Des weiteren wurde versucht, durch Mitgliedschaft in einer Burschenschaft oder durch Einheirat in eine arme Adelsfamilie Zugehörigkeit zur elitären Adelsschicht zu signalisieren. Das neureiche Besitzbürgertum richtete seine Stadthäuser und neu erworbenen Landgüter nach adligem Vorbild ein, um auf diesem Wege seinen Reichtum äußerlich zu repräsentieren. Oberstes Ziel und Hoffnung all dieser Bestrebungen war stets eine Erhöhung in den Adelsstand, die aber nur den wenigsten Bürgern zuteil wurde.10
In Frau Jenny Treibel, dessen Handlungszeit ungefähr um das Erscheinungsjahr des Romans anzusiedeln ist, spiegelt sich die oben geschilderte Situation des Besitz- und Bildungsbürgertums des späten 19. Jahrhunderts wider.
1.2. Fontanes Einstellung zum Bürgertum
Die Einstellung Fontanes zum Besitz- und Bildungsbürgertum seiner Zeit ist von Renate Zenth anhand seiner brieflichen Korrespondenzen untersucht worden. Dabei äußert sich Fontane nicht nur kritisch gegenüber dem Besitzbürgertum, sondern auch gegenüber seiner eigenen Schicht, dem Bildungsbürgertum.
Renate Zenth betont, dass Fontane nicht grundsätzlich den besitzenden und herrschenden Schichten misstraut. Sowie er stets bereit ist, die historischen Leistungen und gesellschaftlichen Vorzüge des Adels, sofern sie vorhanden sind, anzuerkennen11, so steht er auch dem ehrlichen und innovativen Unternehmer, der durch sein Engagement zum geistigen und wirtschaftlichen Fortschritt der Menschheit beitragen kann, mit Bewunderung gegenüber.
Zunächst freue ich mich immer, wenn ich Namen lese wie Lisco, Lucä, Gropius, Persius, Hensel, Thaer, Körte, Diterici, Virchow, Siemens, weil ich mir dabei bewußt werde, daß in diesen, nun in zweiter und dritter Generation blühenden Familien ein neuer Adel, wenn auch ohne »von« heranwächst, von dem die Welt wirklich was hat, neuzeitliche Vorbilder [...], die, moralisch und intellektuell, die Welt fördern und ihre Lebensaufgabe nicht in egoistischer Einpökelung abgestorbener Dinge suchen.12
Kritisch dagegen ist er gegenüber dem, wie er es nennt, "wohlhabend gewordenen Speckhökertum", das ursprünglich aus kleinen Verhältnissen stammt und während der Gründerjahre zu Reichtum gekommen ist. An jenen Neureichen stört ihn insbesondere die protzige Zurschaustellung ihres neuerworbenen Reichtums sowie der durch Überheblichkeit und Geltungsbedürfnis gekennzeichnete "Bourgeoiston":13
Vater Bourgeois hat sich für 1000 Tlr. malen lassen und verlangt, daß ich das Geschmiere für einen Velázquez halte, Mutter Bourgeoise hat sich eine Spitzenmantille gekauft und behandelt diesen Kauf als Ereignis, alles, was angeschafft oder wohl gar »vorgesetzt« wird, wird mit einem Blick begleitet, der etwa ausdrückt: »Beglückter du, der du von diesem Kuchen essen, von diesem Weine trinken durftest« alles ist kindische Überschätzung einer Wirtschafts- und Lebensform [...] Der Bourgeois versteht nicht zu geben, weil er von der Nichtigkeit seiner Gabe keine Vorstellung hat. Er »rettet« immer, und man verschreibt sich ihm auf eine Schrippe hin für Zeit und Ewigkeit.14
Nach Fontanes Ansicht ist der Bourgeois zu einer wirklich vornehmen, seigneurialen Haltung, wie sie ihn der Adel auszeichnet, nicht fähig. Stattdessen herrscht Überbewertung materieller Güter vor, was für ihn die niedrigste Form menschlichen Daseins darstellt, sowie ein unechtes Zurschaustellen von Gefühlen.15
Diese bourgeoise Geltungssucht sieht Fontane jedoch nicht nur auf das Besitzbürgertum beschränkt. Auch im materiell unterlegenen Bildungsbürgertum vermutet Fontane eine unterschwellige "Geldsackgesinnung":
Denn der Bourgeios, wie ich ihn auffasse, wurzelt nicht eigentlich oder wenigstens nicht ausschließlich im Geldsack; viele Leute, darunter Geheimräte, Professoren und geistliche Leute, die keinen Geldsack haben, oder einen sehr kleinen, haben trotzdem eine Geldsackgesinnung [...] . Alle geben sie vor, Ideale zu haben; in einem fort quasseln sie vom »Schönen, Guten, Wahren« und knixen doch nur vor dem goldenen Kalb, entweder indem sie tatsächlich alles was Geld und Besitz heißt, umcouren oder sich innerlich in Sehnsucht danach verzehren.16
Neben dieser Materialisierung des bildungsbürgerlichen Denkens beklagt Fontane eine zunehmende Entleerung des Bildungsbegriffes, der mehr und mehr zum Gradmesser gesellschaftlichen Prestiges verkommt, und vom Bürger als Mittel zum Erlangen gesellschaftlichen Ansehens angesehen wird, aber mit wirklicher Bildung nicht mehr viel zu tun hat.
Unser Lebens- und namentlich unser Gesellschaftsweg ist ja mit Quatschköpfen gepflastert. Die meisten - unglaubliches Resultat unserer höheren Geheimratsbildung - wissen gar nichts, wissen nicht, wo der Tanganjika-See liegt (dafür verzapfen sie ein paar alte Hegelsche Phrasen), wissen zwischen Scheffel und Wolff nicht zu unterscheiden und halten Stinde für einen bedeutenden Schriftsteller, weil ihm der Fürst... einen schmeichelhaften Brief geschrieben hat.17
Verantwortlich macht Fontane dafür die Tendenz innerhalb der Gesellschaft, Bildung nicht mehr nach ihrem Inhalt zu hinterfragen und als ideellen Wert zu betrachten, sondern sich äußerlich an staatlichen Auszeichnungen zu orientieren. So bemerkt er, als ihm 1888 der Hohenzoller’sche Hausorden verliehen wird:
Angesichts der Thatsache aber, daß man in Deutschland und speziell in Preußen nur dann etwas gilt, wenn man »staatlich approbirt« ist, hat solch Orden einen wirklichen praktischen Werth; man wird respektvoller angekuckt und besser behandelt.18
Da für derartige staatlichen Auszeichnungen nicht allein die tatsächliche künstlerische Leistung ausschlaggebend ist, sondern auch der Grad der Loyalität zum preußischen Staat mitberücksichtigt wird, erscheint Fontane der Wert solcher Auszeichnungen Zeit seines Lebens fraglich. Stattdessen macht er dieses "Approbationsdenken" verantwortlich für die Aushöhlung des klassischen Bildungsbegriffes.
Die rasch wachsende Verlederung der Menschen datirt von den Examinas und wir sind deshalb das langweiligste Volk, weil wir das Examensvolk sind.19
Inwieweit sich diese hier dargestellten Einstellungen Fontanes gegenüber dem Besitz- und Bildungsbürgertum in der Darstellung der Industriellenfamilie Treibel und der Professorenfamilie Schmidt im Roman Frau Jenny Treibel widerspiegeln, soll nun im folgenden untersucht werden.
2. Profilierung des Besitzbürgertums
In Frau Jenny Treibel wird das Besitzbürgertum vertreten durch die Familie Treibel, die in einem vornehmen Villa an der Spree wohnen und dort in der dritten Generation eine Berliner-Blau-Fabrik betreiben. Familienvorstand ist Kommerzienrat Treibel, der zusammen mit seiner Frau Jenny, ursprünglich Tochter eines Materialwarenhändlers, zwei Söhne namens Otto und Leopold hat, wobei der ältere Sohn, Otto, bereits verheiratet ist und eine Tochter hat.
2.1. Repräsentation und Äußerlichkeit
Der Lebensstil der Treibels zeigt einen deutlichen Hang zur Äußerlichkeit. Dies gilt nicht nur für die harmonischen Ehe, die die Familie auf den Gesellschaften vorspielt, sondern zeigt sich auch auf materieller Ebene. Sowohl die Einrichtung und Ausstattung der Treibel’schen Villa sind auf die Repräsentation des Vermögens angelegt, im Baustil wie auch in den Umgangsformen spiegelt sich eine Orientierung am Adel wider.So ist vor sechzehn Jahren die Treibel’sche Villa, ähnlich einem adligen Gutsherrenhof, auf dem Fabrikgelände gebaut worden, und zwar als "modische Villa mit kleinem Vorder- und parkartigem Hintergarten"20. Diese Nähe zur Fabrik ist zwar bei Nordwind von Nachteil, erfüllt aber dafür den Zweck, den Besitz der Treibels zu repräsentieren, genauso wie die Innen- und Außeneinrichtung der Villa.
Das Eßzimmer entsprach genau dem vorgelegenen Empfangszimmer und hatte den Blick auf den großen, parkartigen Hintergarten mit plätscherndem Springbrunnen, ganz in der Nähe des Hauses; eine kleine Kugel stieg auf dem Wasserstrahl auf und ab, und auf dem Querholz einer zur Seite stehenden Stange saß ein Kakadu [...] . Der Speisesaal selber war von schöner Einfachheit: gelber Stuck, in denen einige Reliefs eingelegt waren, reizende Arbeiten von Professor Franz. Seitens der Kommerzienrätin war [...] Reinhold Begas in Vorschlag gebracht worden, aber von Treibel, als seinen Etat überschreitend, abgelehnt worden. »Das ist für die Zeit, wo wir Generalkonsuls sein werden...« (S. 23/24)
Die Ausrichtung des Esszimmers soll die Besucher der Treibel’schen Gesellschaften auf den großen Hintergarten und seine parkartige Einrichtung aufmerksam machen. Und auch die Wahl der Esszimmergemälde geschieht im Hause Treibel nicht nach künstlerischen Geschmack, sondern ist eine reine Frage des Budgets. Es wird hier also deutlich, dass Kunst bei Treibels insofern nur nach ihrem materiellen, vermögensrepräsentativen Wert beurteilt wird.Auch die Einladung der Gäste zu den Treibel’schen Gesellschaften dient repräsentativen Zwecken. Die regelmäßige Einladung der Majorin von Ziegenhals und des Hoffräulein von Bomst, die beide Verbindung zum Hofe halten, sollen so den Gesellschaften adeligen Glanz verleihen, die Anwesenheit des Opernsängers Adolar Krola und den Mitgliedern der Gelehrtenfamilie Schmidt sollen die Verbindungen der Treibels zu Bildung und Kunst unterstreichen.
2.2. Autoritäre Kindeserziehung
Die Kindeserziehung der Besitzbürger Treibel orientiert sich ebenfalls an Äußerlichkeiten und ist durch einen autoritären Erziehungsstil geprägt, der den Kinder wenig Freiheiten lässt. So beklagt der 25jährige Leopold, zweiter Sohn des Kommerzienrates Treibel, bei seinem täglichen Ausritt während der Kaffeepause in einem Berliner Café die Dominanz seiner Mutter Jenny.
Ach, es ist zum Ärgern, alles zum Ärgern. Bevormundung, wohin ich sehe. schlimmer als ob ich meinen Einsegnungstag gehabt hätte. Helene weiß alles besser, Otto weiß alles besser und nun gar erst die Mama. Sie möchte mir am liebsten vorschreiben, ob ich einen blauen oder grünen Schlips oder einen geraden oder schrägen Scheitel tragen soll. (S. 108)
Nicht die persönliche Entfaltung des Kindes steht im Vordergrund, sondern seine repräsentative Funktion zur Mehrung des Treibel’schen Reichtums und Einflusses. Dies wird besonders deutlich bei Leopolds Heiratsantrag an Corinna Schmidt, der Tochter des Bildungsbürgers und Busenfreund Jennys, Professor Willibald Schmidt. Ungeachtet Leopolds persönlicher Gefühle lehnt Jenny eine Verbindung zwischen ihrem Sohn und Corinna ab, da die Verbindung nicht dem Aufstiegsstreben und Ansehen der Treibels nützlich ist.Besonders krass wird die Erziehung von Otto Treibels Tochter Lizzi dargestellt. Durch einen äußerst restriktiven Erziehungsstil, der ihrer Neugier und kindlichem Spielverhalten zuwider ist, wird Lizzi schon im Vorschulalter zu peinlichster Ordnung und Sauberkeit angehalten (vgl. S. 97). Diese "Mustererziehung"(S. 96), die hauptsächlich von ihrer Mutter Helene motiviert wird, erscheint selbst Treibels als übertrieben, und so vergleicht Kommerzienrat Treibel die Erziehung Lizzis in Gegenwart ihrer Erzieherin, Frl. Honig, mit der Behandlungsweise eines Hundes.
Sehen Sie, Fräulein Honig, so wird auch das Lizzichen erzogen. Immer an einer Strippe, die die Mutter in Händen hält, und wenn mal ein Perlhuhn kommt und das Lizzichen fort will, dann gibt es auch einen Klaps... (S. 120)
2.3. Widerspruch zwischen Schein und Sein
Jenny Treibel, die als Tochter eines Materialwarenhändlers ursprünglich aus einfachen Verhältnissen stammte und durch Heirat des Kommerzienrates Treibel ins Besitzbürgertum aufgestiegen ist, ist die widersprüchlichste Figur im Personengefüge des nach ihr benannten Romans. Gerne gibt sie vor, den Wert materiellen Besitzes zu verneinen. Gegenüber Corinna erklärt sie, "daß Geld eine Last ist und daß das Glück ganz woanders liegt"(S. 9), nämlich "kleine Verhältnisse, das ist das, was allein glücklich macht."(S. 9) Ähnlich äußert sie sich gegenüber dem Opernsänger Adolar Krola: "Alles ist nichtig; am nichtigsten aber ist das, wonach alle Welt so begehrlich drängt: äußerlicher Besitz, Vermögen, Gold."(S.29)
Stattdessen hebt sie vor, dem Ideal der Poesie, das sie vor allem im gesungenen Lied sieht, verschrieben zu sein (vgl. S. 29) und wünscht sich für ihren Sohn eine gebildete und kluge Frau: "Wissen und Klugheit und überhaupt das Höhere - darauf kommt es an. Alles andere wiegt keinen Pfifferling. Es ist ein Elend mit den Äußerlichkeiten."(S. 138)
Leopolds Heiratsantrag an Corinna macht jedoch deutlich, dass all diese Bekundungen Jennys gegen die bourgeoise Lebenshaltung aufgesetzt sind. Erfüllt Corinna auf intellektueller Ebene prinzipiell die Ansprüche Jenny, so ist sie doch letzten Endes als Ehefrau für Leopold ungeeignet, da sie aufgrund ihres materiellen Status nicht in der Lage ist, "das Treibelsche Vermögen zu verdoppeln"(S. 186).
Lilo Grevel erklärt diese Widersprüchlichkeit zwischen ideellem Schein und materiellem Sein damit, dass für Jenny Treibel Wissenschaft und Kunst letztendlich nur äußere Werte darstellen, die bei ihr einzig und allein dem Erwerb von Besitz untergeordnet werden. In diesem Zusammenhang weist sie auf die instrumentelle Bedeutung hin, die die Sprache für Jenny hat, und mit der sie sich ihrer Umwelt gegenüber schmückt: "Ihr widersprüchlich wirkender, schillender und vager Sprachgebrauch ist für sie so wichtig wie das diamantene Ohrgehänge"21, verleiht sie doch Jenny eine Bescheidenheit und Sentimentalität, die zwar im Kontrast zu ihren wirklichen Wertvorstellungen steht, ihr es aber ermöglicht, ihr Streben nach höheren materiellen Werten hinter dem Mantel des poetisch Bescheidenen zu verstecken.
Dementsprechend hart fällt daher auch Professor Schmidts Urteil über seine Busenfreundin Jenny aus, die er an anderer Stelle als "Musterstück einer Bourgeoise"(S. 13) bezeichnet.
[...] es ist eine gefährliche Person und um so gefährlicher, als sie’s selber nicht recht weiß und sich aufrichtig einbildet, ein gefühlvolles Herz und vor allem ein Herz »für das Höhere« zu haben. Aber sie hat nur ein Herz für das Ponderable, für alles, was ins Gewicht fällt und Zins trägt, und für viel weniger als eine halbe Million gibt sie den Leopold nicht fort [...] . (S. 87)
2.4. Opportunismus
Kommerzienrat Treibel wird im Roman nicht grundsätzlich negativ gezeichnet. Im Kontrast zu seiner Ehefrau Jenny ist er zu Selbstkritik und Selbstironie fähig und verfügt über eine "große Höflichkeit und mehr noch große Herzensgüte"(S. 119). Dennoch wird an zwei Stellen im Roman deutlich, dass Treibel für Zwecke, die der Steigerung seines Ansehens dienlich sind, trotz aller guten Charakteranlagen dazu bereit ist, hinter seine Überzeugungen zurückzutreten.
Um gesellschaftlich aufzusteigen, kandidiert Treibel im Wahlkreis Teupitz-Zossen für die Konservativen, jedoch nicht aufgrund persönlicher Überzeugung - Treibel selbst steht den Linksliberalen nahe - sondern in der Hoffnung seinen Absatz an Preußenblau an das preußische Militär sicherzustellen: "Im Berlinerblau haben Sie das symbolisch Preußische sozusagen in höchster Potenz, und je sicherer das ist, desto unerläßlicher ist auch mein Verbleiben auf dem Boden des Konservatismus."(S. 32) Das linksliberale "Berliner Tageblatt", das er vor dem Gespräch mit dem konservativen Vertreter, dem Reserveleutnant Vogelsang, unter dem nationalkonservativen "Deutschen Tageblatt" versteckt (vgl. S. 16), deutet dabei symbolisch auf Treibels Bereitschaft, seine äußere Geisteshaltung den jeweiligen Umständen anzupassen und seine persönliche Meinung für lukrative Zwecke aufzugeben.
Ähnliches gilt für seine Einstellung zur beabsichtigten Heirat zwischen Leopold und Corinna. Zeigt er sich zunächst noch entzückt von Leopolds mutigem Antrag ("Und schlankweg verlobt und ohne die Mama zu fragen. Teufelsjunge.", S. 164) und weist Jennys Einwände vorerst als überheblich zurück, so weiß Jenny allerdings auch, dass es sich Treibel bei beidseitiger Betrachtung der Dinge noch überlegen wird (vgl. S.165-167), denn, wie der Erzähler an dieser Stelle betont, "der Bourgeios steckte ihm wie seiner sentimentalen Frau tief im Geblüt."(S. 167)
An Treibel wird hier exemplarisch also eine opportunistische Grundhaltung des Besitzbürgertums deutlich gemacht, die materielle Interessen vor persönliche Gefühle - sowohl der eigenen als auch der anderen - setzt. Wie schon bei Jenny deutlich wurde, dient auch hier die äußerliche Fassade dazu, die wirklichen Absichten zu vertuschen.
3. Profilierung des Bildungsbürgertums
Das Bildungsbürgertum in Frau Jenny Treibel wird vertreten durch den alleinstehenden Professor Willibald Schmidt und seiner Tochter Corinna, die offenbar ohne Mutter aufwächst und von der Haushälterin Frau Schmolke miterzogen wird, sowie ihrem Vetter Marcell, den sie am Ende des Romans heiratet. Die Darstellung des Gymnasiallehrers Schmidt und seiner Familie dient zwar in erster Linie zur Kontrastierung der Treibel’schen Lebensverhältnisse, jedoch wird auch eine unterschwellige Kritik Fontanes am Bildungsbürgertum deutlich.
3.1. Vernachlässigung von Äußerlichkeiten
Bei der Beschreibung der Schmidt’schen Wohnung wird zunächst eine gewisse Nachlässigkeit bezüglich des äußeren Erscheinungsbildes deutlich, was zum einen auf die Bequemlichkeit Professor Schmidts zurückzuführen ist, zum anderen aber auch erkennen lässt, dass Äußerlichkeiten bei Professor Schmidt im Gegensatz zu Treibels nicht von Bedeutung sind. So könnte zum Beispiel die Hausfassade einen neuen Anstrich vertragen, das knittrige, unleserliche grüne Namensschild neben der Entreetür erneuert werden, sowie die Klingelzug repariert werden (vgl. S. 3/4)..Die Inneneinrichtung von Schmidts Wohnung erscheint als schlicht und funktional. Ein gesondertes Eßzimmer für geladene Gäste gibt es im Schmidt’schen Hause nicht, stattdessen werden Abendessen im sonst als Gesellschaftszimmer benutzten Vorderzimmer hergerichtet (vgl. S. 72).
Dies [das Vorderzimmer] war ein hübscher, hoher Raum, die Jalousien herabgelassen, die Fenster nach innen auf, vor deren einem eine Blumenstrade mit Goldlack und Hyazinthen stand. Auf dem Sofatische präsentierte sich gleichzeitig eine Glasschale mit Apfelsinen, und die Porträts der Eltern des Professors [...] sahen auf die Glasschale hernieder [...] . (S. 5)
Auf die Repräsentation materieller Werte wird im Schmidt’schen Hause verzichtet, sie ist aufgrund der schlechten materiellen Stellung des preußischen Beamtentums zu Fontanes Zeiten auch gar nicht möglich. Allerdings wird seitens des Professors auch kein Wert darauf gelegt: "Er unterschätzt alles Äußerliche, Besitz und Geld, und überhaupt alles, was schmückt und schön macht,"(S. 9) wie seine Tochter Corinna feststellt. Ein paar auf dem Bazar gewonnene Porzellanvasen (S. 72), sowie eine altmodische, vom Großvater vererbte Standuhr (S. 62), die im Vorderzimmer stehen, bestätigen diesen Eindruck.
3.2. Hierarchisches Denken und Examensgelehrsamkeit
Willibald Schmidt selber erscheint im Roman als ein von Standesdünkel und Prestigestreben befreiter Mensch. Sein Professorenkränzchen "Die sieben Waisen Griechenlands"(S. 61), in dem er sich mit sechs weiteren Professorenkollegen aus der gebildeten Schicht regelmäßig trifft, deutet jedoch an, dass es auch hier ein Hierarchiedenken gibt.
So spiegelt die Aufzählung der Mitglieder nach Titeln durch den Erzähler offenbar eine dem Denken des Kränzchens entsprechende hierarchische Ordnung wider, mit dem emeritierten Schuldirektor Distelkamp an erster und dem Zeichenlehrer Friedeberg an letzter Stelle. Letzterem ist sogar aufgrund seiner wissenschaftlichen Nichtzugehörigkeit die Mitgliedschaft im Kränzchen in Frage gestellt worden, wovor ihn unter anderem Professor Schmidts Fürsprache bewahrte (vgl S. 60/61).
Die Unfähigkeit, wissenschaftliche Leistungen unabhängig vom Gelehrtentitel anzuerkennen, wird in einem Gespräch zwischen Professor Schmidt und einem weiterem Mitglied des Professorenkränzchens, Distelkamp, über die Funde des Hobbyarchäologen Schliemann deutlich. Während Professor Schmidt trotz fehlenden Titels Schliemanns Leistungen anerkennen kann, zeigt sich Distelkamp skeptisch gegenüber einem Forscher, der "in seinen Schuljahren über Strelitz und Fürstenberg nicht rausgekommen ist"(S. 70). In Distelkamp spiegelt sich jene von Fontane in seinen Briefen kritisierte Examensgelehrsamkeit wider, die nur denjenigen akzeptieren kann, der staatlich approbiert ist.
3.3. Ich-Bezogenheit und Weltentfremdung
Nicht nur eine äußere Orientierung an Gelehrtentiteln zeichnet "Die sieben Waisen Griechenlands" aus, auch eine Ich-Bezogenheit der bildungsbürgerlichen Schicht wird hier deutlich. Man trifft sich nicht wirklich zum gegenseitiger Gedankenaustausch, stattdessen herrscht bei allen Mitgliedern die Überzeugung vor, "alles, was seitens der anderen gesagt wurde, viel besser oder [...] mindestens ebenso gut sagen zu können."(S. 60) Statt Diskussionen charakterisieren daher Monologe und die Freude am eigene Wort die Versammlungen.22
Wie sehr diese für das Bildungsbürgertum typische Ich-Bezogenheit mit einer Weltentfremdung der Gelehrten einhergeht, von der, wie bereits erläutert, unter anderem das aufsteigende Besitzbürgertum profitiert, wird im Roman anhand Professor Schmidt deutlich gemacht. Professor Schmidt ist sich zwar fähig, die Missstände in seiner Umgebung zu durchschauen, wie zum Beispiel Jennys vorgetäuschte Sentimentalität, jedoch bemüht er sich zu keiner Zeit, diese Missstände zu ändern. Stattdessen überlässt er die Dinge ihrer "historischen Entwicklung"(S. 179) und zieht sich zu seinen Archäologiestudien in seine "selbstgenügsame Gelehrtenidylle"23 zurück. Dieser Rückzug zeigt sich besonders deutlich in der Phase zwischen der Ver- und Entlobung Leopolds und Corinnas, wo er, selbstgenügsam mit seinen Studien beschäftigt, nicht die getrübte Stimmung seiner Tochter wahrnimmt (vgl S. 194) und sich somit gegenüber ihren Problemen als distanziert und desinteressiert erweist.
Ähnliches gilt auch für seinen Erziehungsstil. Während Professor Schmidt seine anti-autoritäre Erziehungshaltung gern damit begründet, dass das "Schmidtsche" sich selbst helfe (vgl. S. 153), bemerkt Corinna gegenüber der Haushälterin Schmolke: "Ich bin ja wie wild aufgewachsen, und es ist eigentlich zu verwundern, daß ich nicht noch schlimmer geworden bin, als ich bin."(S. 153) So weist Kafitz auch darauf hin, dass Frau Schmolke die einzige Vertrauensperson Corinnas ist und bei ihr die Elternstelle übernommen hat, während Professor Schmidt gegenüber seiner Tochter als distanziert und unfähig zur vertraulichen Aussprache erscheint.24
3.4. Hang zum Pathos
Deutet sich bereits im Erziehungsverhältnis Professor Schmidts zu seiner Tochter Corinna eine gewisse intellektuelle Schönrednerei des distanzierten Verhältnisses zwischen Vater und Tochter an, so sieht Kafitz Schmidts Gelehrtensprache dem Pathos nahe.
Diesem Vorwurf macht sich Schmidt vor allen Dingen durch sein häufiges Zitieren verdächtig, die ihn, wie Kafitz feststellt, "in die Nähe sinnentleerter »Geflügelte Worte«-Bildung" bringt, wo es nicht auf den Inhalt der Zitate ankommt, sondern, und das zum Verlust des Aussageinhalts, auf das geistreiche Garnieren der Rede mit Zitaten.25 Gerade im Kontrast zu Frau Schmolkes einfacher Umgangssprache wird diese Tendenz Schmidts zum "Schwadronieren" deutlich. Als er im sechzehnten Kapitel Corinna den Brief übergibt, in dem Marcell Corinna ihre Liason mit Leopold Treibel verzeiht, kommentiert er dies mit einem umfangreichen Monolog:
Du bist ein Glückskind. Sieh, das ist das, was man das Höhere nennt, das wirkliche Ideale, nicht das von meiner Freundin Jenny. Glaub mir, das Klassische, was sie jetzt verspotten, das ist das, was die Seele frei macht, das Kleinliche nicht kennt und das Christliche vorahnt und vergeben und vergessen lehrt, weil wir alle des Ruhmes mangeln. Ja Corinna, das Klassische, das hat Sprüche wie Bibelsprüche. Mitunter beinah noch etwas drüber. Da haben wir zum Beispiel den Spruch: »Werde, der du bist«, ein Wort, das nur ein Grieche sprechen konnte. [...] Diese Treibelei war ein Irrtum, ein »Schritt vom Wege«, wie jetzt, wie du wissen wirst, auch ein Lustspiel heißt, noch dazu von einem Kammergerichtsrat. Das Kammergericht, Gott sei Dank, war immer literarisch. Das Literarische macht frei ... Jetzt hast du das richtige wiedergefunden und dich selbst dazu ... »Werde, der du bist«, sagte der große Pindar, und deshalb muß auch Marcell, um der zu werden, der er ist, in die Welt hinaus, an die großen Stätten, und besonders an die ganz alten. (S. 202/203)
Die Reaktion Frau Schmolkes auf Marcell Brief, die sich inhaltlich an Schmidts Ausführungen orientiert, ist kurz und knapp gehalten und entlarvt, so Kafitz, Schmidts weitschweifende Gelehrtensprache als Gerede.26
Ja, Corinna, was soll ich sagen? Ich sage bloß, was Schmolke immer sagte: Manchen gibt es der liebe Gott im Schlaf. Du hast ganz unverantwortlich un beinahe schauderöse gehandelt un kriegst ihn nu doch. Du bist ein Glückskind. (S. 203)
3.5. Die Rolle der Ironie
Kennzeichnend für Schmidts Sprache und seinen Charakter ist sein Hang zur Ironie, die in Form der Selbstironie, wie er bezüglich der Namensgebung des Professorenkränzchens "Die sieben Waisen Griechenlands" hervorhebt, für ihn den "denkbar höchsten Standpunkt"(S. 61) darstellt. Verbunden mit dieser Eigenschaft, die ihn im Auge des Lesers positiv erscheinen lässt, da sie eine gewisse Aufgeschlossenheit für Kritik an seiner Person impliziert, sind jedoch auch andere Zwecke. So dient sie ihm bei Gesprächen mit Jenny, wie Kafitz hervorhebt, zur Konfliktvermeidung. Indem er nämlich die pathetische Gefühlssprache Jennys wörtlich nimmt, gibt er sie dem Außenstehenden zwar der Lächerlichkeit preis, jedoch vermeidet er damit aber auch eine Diskussion auf realistischer Basis.27
Lilo Grevel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Schmidts Ironie, obwohl sie ihn durch ihre lächerlich machende Kraft moralisch überlegen scheinen lässt, auch eine Anerkennung der ironisierten Person und ihrer Position impliziert. So weist sie darauf hin, das Professor Schmidt in seinen Gesprächen mit Jenny trotz aller ironisierenden und entlarvenden Bemerkungen immer wieder auf ihre Standpunkte eingeht, und sie somit letzten Endes billigt. Professor Schmidts Ironie besitzt nach Grevel somit eine Kraft der "stillschweigenden Verbindung von verschiedenartigen, ja gegensätzlichen Welten"28.
Es scheint sich hier zu verdeutlichen, dass die Ironie mit ihrer abwehrenden und anerkennenden Kraft Schmidt als Mittel dient, die Realität, und damit verbunden die Kluft zwischen dem Besitz- und Bildungsbürgertum, zu bewältigen. Sie ermöglicht es ihm, die gesellschaftspolitische Benachteiligung seiner Schicht in eine moralisch überlegene Position zu verkehren, gleichzeitig erlaubt sie ihm auch, sich nicht ernsthaft mit den Problemen seines Standes und den Konflikten mit dem Besitzbürgertum auseinander zu setzen und sich weiter in seine Gelehrtenidylle zurückzuziehen.
3.6. Corinnas Hang zum Höheren
Corinna nimmt im Personengefüge des Romans eine besondere Stellung ein, da sie der einzige Charakter ist, der eine Entwicklung durchmacht. Als Tochter Professor Schmidts dem Bildungsbürgertum zugehörig, und neben häuslichen Qualitäten auch über eine breitgefächerte Grundbildung verfügend (vgl. S. 36 u. S. 8), zeigt sie sich zunächst den Wertevorstellungen ihrer Schicht abgeneigt und bekennt gegenüber ihrem Vetter Marcell schon früh einen Jenny Treibel ähnlichen Sinn für das Materielle.
Aber ein Hang nach Wohlleben, der jetzt alle Welt beherrscht, hat mich auch in der Gewalt, ganz so wie alle anderen, und so lächerlich und verächtlich es auch in deinem Oberlehrersohre klingen mag, ich halt es mehr mit Bonwitt und Littauer als mit einer kleinen Schneiderin, die schon um acht Uhr früh kommt und eine merkwürdige Hof- und Hinterstubenatmosphäre mit ins Haus bringt [...] . Ich find es ungemein reizend, wenn so die kleinen Brillanten im Ohre blitzen, etwa wie bei meiner Schwiegermama in spe... (S. 58)
Leopold Treibel, dem sie bei der ersten Treibel’schen Gesellschaft des Romans eifersüchtig zu machen sucht, erscheint ihr als "Rettungsanker"(S. 59) aus ihren ärmlichen Verhältnissen.Ähnlich Jenny Treibel weist Corinna der Bildung ihres Standes eine dekorative Bedeutung zu, wenn sie die Bibliothek ihres Vaters als eine Ansammlung von "dicken Büchern, drin niemand hineinschaut"(S. 59) bezeichnet. Ebenso wenig sind ihre Bemühungen um Leopold durch Liebe motiviert (vgl. S. 193), sondern basieren auf der Aussicht auf ein Leben in gehobenen Verhältnissen.
Der aus ihren Heiratsbemühungen entstehende Konflikt mit Jenny Treibel macht ihr jedoch klar, mit welchem Preis eine solche Aufstiegsehe in das Besitzbürgertum verbunden ist.
Aber diese Mama, diese furchtbare Frau! Gewiß, Besitz und Geld haben einen Zauber, wäre es nicht so, so wäre mir meine Verirrung erspart geblieben. Aber wenn Geld alles ist und Herz und Sinn verengt und zum Überfluß Hand in Hand geht mit Sentimentalität und Tränen, dann empört sichs hier, und das hinzunehmen wäre mir hart angekommen, wenn ich’s auch vielleicht ertragen hätte. (S. 205/206)
Die falschen, zur Schau gestellten Gefühle Jennys sind Corinnas offenen, rationalen Wesen zuwider, insbesondere die Tatsache, nur aufgrund eines fehlenden Vermögens abgelehnt worden zu sein, verletzen ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein.29 Freimütig bekennt Corinna denn auch ihren Fehler gegenüber Marcell: "Ich habe von früh an den Sinn für Äußerlichkeiten gehabt und hab ihn vielleicht noch, aber seine Befriedigung kann doch zu teuer erkauft werden, das hab ich jetzt einsehen gelernt." (S. 205) Damit artikuliert sie gleichzeitig die Lehre, die Fontane mit diesem Roman verbindet.
4. Schlusbetrachtung
Die eingangs erläuterten gesellschaftspolitischen Verhältnisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts werden von Fontane in Frau Jenny Treibel dargestellt. Die Orientierung des Bürgertums am Adel wird im Hierarchiedenken des Professorenzirkels und insbesondere im Lebensstil der Treibels verdeutlicht. Der Rückzug des Bürgertums aus dem gesellschaftlichen Leben wird anhand Professor Schmidts Ich-Bezogenheit exemplarisch angedeutet.
Auch die gesellschaftskritischen Einstellungen Fontanes, wie sie eingangs anhand seiner Privatbriefe untersucht wurden, lassen sich im Roman wiederfinden. An Corinna wird deutlich, dass auch das Bildungsbürgertum dem Glanz des Geldes erliegt und sich am "Tanz um das goldene Kalb" beteiligt. Die zunehmende Entleerung des Bildungsbegriffes, in seinen Briefen dem Bildungsbürgertum vorgeworfen, wird hier am krassesten von Jenny Treibel betrieben.
In der Kontrastierung von Besitz- und Bildungsbürgertum anhand der Familien Treibel und Schmidt werden sowohl Gegensätze, wie auch Gemeinsamkeiten deutlich. Herrschen bei den Treibels materielle Werte und die Repräsentation des Besitzes vor, wird bei den Schmidts die äußerliche Seite vernachlässigt, stattdessen orientiert man sich an ideellen Werten, bzw. der humanistischen Bildung. Ähnliches gilt für den Erziehungsstil: während die Kinder in der Treibel’schen Familien unter starkem autoritären Einfluss stehen und zum materiellen Nutzen der Familie hin erzogen werden, hat Corinna im Falle der Schmidt’schen Familie eine Erziehung genossen, die ihrer freien Persönlichkeitsentfaltung nicht im Wege stand, wenngleich es, wie oben angedeutet wurde, fraglich ist, inwieweit Professor Schmidt seine Tochter tatsächlich erzieht.Jedoch werden auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Schichten deutlich: in beiden Gesellschaftskreisen ist eine Tendenz zum Hierarchiedenken, in dem das Ansehen des Menschen auf seinen gesellschaftlichen Titel reduziert wird, deutlich, wobei bei Treibels jedoch der Aufstieg auf der Hierarchieleiter im Vordergrund zu stehen scheint. Auch macht sich in beiden Schichten eine Tendenz zum pathetischen Sprachgebrauch deutlich, die im Falle der Treibels durch falsche Sentimentalität, im Falle Schmidts durch Reden zum Selbstzweck dargelegt wird.
Trotzdem das Bildungsbürgertum im Verlauf des Romans aufgrund seiner Selbstironie und Kritikfähigkeit insgesamt einen positiveren Eindruck beim Leser hinterlässt und dem Besitzbürgertum moralisch überlegen erscheint, wird es jedoch nicht von Fontane idealisiert, sondern durchaus in seinen negativen Zügen dargestellt. Dies liegt auch, wie Dieter Kafitz betont, ganz im Sinne von Fontanes "verklärtem Realismus"-Verständnis: "Verklären bedeutet nicht Glorifizierung, vielmehr ins rechte Licht rücken, aufklären, klar machen."30 Statt einer Negativzeichnung des Besitzbürgertums und einer Idealisierung der gebildeten Schicht wird, so Kafitz, "ein Bild beider Zweige des zeitgenössischen Bürgertums in ihrer stillschweigenden Komplicenschaft"31 gemalt. Und so wird in Frau Jenny Treibel dem Bildungsbürgertum der Spiegel vorgehalten, insbesondere der Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben in die ego-zentrische Bildungsidylle, mit der dem Besitzbürgertum das Feld überlassen wird, steht hier im Mittelpunkt. Deutlich wird allerdings auch an Corinnas Aufstiegsabsichten, dass sich humanistische Bildung mit einem materiellem Lebensstil nicht vereinbaren lassen, dass eine Kombination beider Geisteshaltungen nicht möglich und zum Scheitern verurteilt ist.32
Nur versteckt werden die Qualitäten der unteren Bürgerschicht angedeutet, die von Schmidts Haushälterin Frau Schmolke und ihrem verstorbenen Ehemann, der zu Lebzeiten als Polizist im Rotlichtviertel arbeitete, verkörpert werden. Die einfache Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft des Schmolk’schen Ehepaars, die sich in Frau Schmolkes Fürsorge für Corinna und Herrn Schmolkes Mitgefühl für seine Frau und die Mädchen vom Strich zeigt, erweist sich nicht nur gegenüber den humanistischen Erziehungsidealen Schmidts in der Praxis als überlegen33, sondern auch gegenüber den aufgesetzten Umgangsformen der Treibels. Und so relativiert auch Professor Schmidt ironisch den Wert von Besitz und Bildung auf der Hochzeit von Marcell und Corinna am Ende des Romans:
Für mich persönlich steht es fest, Natur ist Sittlichkeit und überhaupt die Hauptsache. Geld ist Unsinn, Wissenschaft ist Unsinn, alles ist Unsinn. Professor auch. Wer es bestreitet, ist ein pecus. (S. 212)
Mit dieser Absage an äußerliche Werte und die Selbstüberschätzung des eigenen Standes, wohl als Appell an seine Zeitgenossen zu verstehen, endet denn auch Fontanes gesellschaftskritische Darstellung am Bürgertum seiner Zeit.
Carsten Brettschneider Christian-Albrechts-Universität, Kiel 25. Juli 1997
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Fontane, Theodor: Frau Jenny Treibel. Stuttgart 1988.
Sekundärliteratur
Grevel, Lilo: Frau Jenny Treibel. Zum Dilemma des Bürgertums in der Wilhelminischen Ära. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 108, 1989, S. 179 -198.
Kafitz, Dieter: Die Kritik am Bildungsbürgertum in Fontanes Roman "Frau Jenny Treibel" In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92, 1973, Sonderheft, S. 101-126.
Müller-Seidel, Walter: Besitz und Bildung. Über Fontanes Roman "Frau Jenny Treibel". In: Fontanes Realismus, Ost-Berlin 1972, S. 129-141.
Zenth, Renate: Fontanes Darstellung und Kritik der Gesellschaft im Spiegels seiner Berliner Romane und Briefe der Jahre 1879 -1898. Kiel 1989.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
1 zitiert nach Dieter Kafitz: Die Kritik am Bildungsbürgertum in Fontanes Roman "Frau Jenny Treibel". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92, 1973, S. 74.
2 Das Recht des adeligen Gutsherren, über seine Untergebenen zu richten
3 vgl. Renate Zenth: Fontanes Darstellung und Kritik der Gesellschaft im Spiegel seiner Berliner Romane und Briefe der Jahre 1879 -1898, Kiel 1989, S. 20 - 22.
4 vgl. Zenth, S, 58/59.
5 vgl. Lilo Grevel: Frau Jenny Treibel. Zum Dilemma des Bürgertums in der Wilhelminischen Ära. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 108, 1989, S. 181.
6 vgl. Zenth, S. 62.
7 vgl. Kafitz, S. 94.
8 vgl. Zenth, S. 61.
9 vgl. Zenth, S. 63.
10 vgl. Zenth, S. 60/61.
11 So sah er zum Beispiel seine adlige Freundin Mathilde von Rohr als Vertreterin der idealen adligen Werte: "Gut, treu, praktisch, hilfsbereit, immer das Herz auf dem rechtem Fleck, immer voll gutem Menschenverstand, immer gerecht." Vgl. Zenth, S.26-27.
12 zitiert nach Zenth, S. 72/73.
13 vgl. Zenth, S. 64/65.
14 zitiert nach Zenth, S. 64.
15 vgl. Zenth, S. 67/68.
16 zitiert nach Zenth, S. 68/69.
17 zitiert nach Zenth, S. 74.
18 zitiert nach Zenth, S. 76.
19 zitiert nach Zenth, S.76/77.
20 Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. Stuttgart 1988, S. 14. Alle weiteren Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
21 Grevel, S. 190.
22 vgl. Kafitz, S. 80.
23 Kafitz, S. 95.
24 Was Corinna durch ihre Aussage "Papa ist ein guter Professor, aber kein guter Erzieher"(S. 153) erhärtet. Vgl. Kafitz, S. 86.
25 vgl. Kafitz, S. 79.
26 vgl. Kafitz, S. 78.
27 vgl. Kafitz, S. 84.
28 Grevel, S. 197.
29 vgl. Grevel, S. 191/92.
30 Kafitz, S. 79.
31 Kafitz, S. 99.
32 vgl. Kafitz, S.89/90.
33 vgl. Kafitz, S. 87.
- Arbeit zitieren
- Carsten Brettschneider (Autor:in), 1997, Die Profilierung des Besitz- und Bildungsbürgertums in Frau Jenny Treibel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94782
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