Referat vom 21.06.96 von Jutta Krockenberger
Victor Hugo (1802-1885) schrieb die Préface im Oktober 1827. Sie ist, wie der Name schon sagt, das Vorwort zu dem Drama "Cromwell". Wegen ihrer antiklassischen Stoßrichtung ist sie zum Manifest der jungen Romantikergeneration und damit zu einem der wichtigsten poetologischen Texte der französischen Literaturgeschichte geworden. Hugo ist außerdem Verfasser von Romanen (Les Misérables, Notre-Dame de Paris 1482, L´homme qui rit), Gedichtzyklen (Odes et Ballades, Les Orientales) und anderen Dramen (Hernani ou l´Honneur, Les Burgraves). Zu Beginn der Préface hebt Hugo deren Bedeutung hervor und gibt zu, daßsie ihm im Grunde wichtiger ist als das Drama selbst. Nach dieser kurzen Einleitung begründet er, wie er auf seine Grundidee, die Entwicklung der Literatur mit der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit zu vergleichen, kommt: Die Erde war nicht ständig von der gleichen Gesellschaft bevölkert, die menschliche Rasse hat sich weiterentwickelt, so auch ihre poetische Ausdrucksweise, denn diese ist stets die Widerspiegelung der Gesellschaft, die Darstellung jedes einzelnen Menschen in Bezug zu seinem Umfeld. So teilt Hugo die Geschichte in drei Epochen ein, der er jeweils einen Gattungsbegriff, also die poetische Ausdrucksweise, zuordnet:
I. Die primitive Ära (patriarchalische Gesellschaft):
In der Frühzeit der menschlichen Geschichte lebte der Mensch laut Hugo in Einklang mit der Natur; er war in keiner Gesellschaftsstruktur gefangen, ihm wurden von keinem staatlichen System Gesetze vorgeschrieben. Im Leben in Gemeinschaft mit der Familie oder dem Stamm gab es keine Sorge um Eigentum, keine Kriege mußten Machtstreitigkeiten regeln. Von der Schöpfung überwältigt beginnt er seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, faßt er sein Naturerleben in Worte und läßt die Poesie erwachen: In der Ode lobt er das Wunderwerk der Natur. Die Bibel ist das älteste Zeugnis dieses literarischen Ursprungs. Die Lyrik (die Ode entspricht bei Hugo der Lyrik) mit der Naivität des neugeborenen Menschen ist also der Gattungsbegriff, den er der Primitiven Ära zuordnet.
II. Die Antike (Theokratische Gesellschaft):
Doch nun entwickelt sich das menschliche Zusammenleben weiter. Die Famile entwickelt sich zum Stamm, der Stamm zur Nation. Der Mensch wird seßhaft, Siedlungen entstehen, Paläste, Tempel und Königreiche. Die Religion nimmt Gestalt an, Riten bestimmen das Gebet. Erste Machtstrukturen kommen auf, der uneingeschränkten Freiheit des Menschen werden Grenzen gesetzt, Rivalen prallen aufeinander, mit den ersten Kriegen beginnen die Völker-wanderungen. Die Literatur widerspiegelt erneut die großen Ereignisse. Mit Homer beginnt die Zeit der Heldensagen, des Epos, in dem von den wichtigen Geschehnissen, den Völkern und Königreichen erzählt, "gesungen" wird. Diese Form der Poesie benennt Hugo mit dem Stichwort Epik, gekennzeichnet von der Einfachheit, da ohne Ausschmückungen von den Ereignissen berichtet wurde. Die Poesie ist mit der Religion vermischt, Gebetszeremonien sind Theaterschauspiele, Priester die Darsteller. Gotteskult und Geschichte mischen sich in der Ausdrucksform des Epos. Die Epik, also die einfache, erzählende Darstellungsweise eines Ereignisses ist nach Hugo die der Antike zugehörige poetische Form, in der Berichterstattung von Homer sieht er deren Anfang.
III.Moderne:
Die Entstehung des Christentums bezeichnet Hugo als große Revolution, Ereignisse überhäufen sich, "il se faisait tant de bruit sur la terre...", so daßsich dieser Wirbel auch in den Herzen der Menschen niederschlägt. Das Christentum lehrt dem Menschen, daßer aus zwei Wesen besteht: einem Vergänglichen und einem Unsterblichen. Es reißt eine Kluft zwischen Körper und Seele, zwischen Mensch und Gott. Diese neue Weltauffassung hebt sich, so Hugo, deutlich vom Bild der Antike ab. Während diese alles sichtbar gemacht und offen dargelegt hat, läßt das Christliche Weltbild Platz für Phantasie und die Geheimnisse Gottes. Mit dem dualistischen Menschenbild erfährt der Mensch nun eine innere Zweiteilung, er ist gespalten zwischen Gut und Böse. Ein neues Gefühl breitet sich aus: Die Melancholie. Die Literatur hält wieder Schritt mit der Entwicklung der Gesellschaft und langsam entsteht eine neue Gattung: das Drama. Der Mensch erkennt nun das Häßliche neben dem Schönen und will auch in der Literatur nichts beschönigen. Nun zählt die Wahrheit, die Wirklichkeit und diese ist in der Literatur nur enthalten, wenn das Gute wie das Böse zur Sprache kommt: "Le christianisme amène la poésie à la vérité. Comme lui, la muse moderne verra les choses d`un coup d´oeil plus haut et plus large. Elle sentira que tout dans la création n´est pas humainement beau, que le laid y existe à coté du beau, le difforme près du gracieux, le grotesque au revers du sublime, le mal avec le bien, l´ombre avec la lumière." Das Drama ist Tragödie und Komödie zugleich. Hier führt Hugo nun den Begriff der littérature romantique ein, denn hierin sieht er den Hauptunterschied zur littérature classique. Dennoch streitet er nicht ab, daßsich auch schon das Komödienhafte in der antiken Literatur befunden hat, oder daßder Epos auch das Häßliche zur Sprache gebracht hat. Doch steckte dies seiner Auffassung nach damals in den Kinderschuhen und fand seine Vollendung erst im Drama. So wie die geschichtlichen Epochen die Darauffolgenden bewirkt haben, so entwickelte sich das Drama aus Lyrik und Epik, hängt es eng mit ihnen zusammen und kann beide enthalten. Durch die Vereinigung von Komischem und Tragischem (Bsp. Sganarelle-Don Juan, Mephisto-Faust) erhält das Drama seinen spezifischen Charakter, hinter dem das Epos weit zurück bleibt. "Le drame peint la vie"; das Drama packt die gesamte Wirklichkeit und spiegelt sie wieder.
In Shakespeare sieht er den Verfasser von Dramen, wie er sie sich vorstellt. Hugo nimmt Abstand von den Einheitsregeln Ort, Zeit und Handlung, wie sie in der doctrine classique gefordert waren, denn für ihn ist ja die neue Kunst der Ausdruck des Natürlichen, und diese Einheitsregeln stehen im Widerspruch zur Natur und der künstlerischen Freiheit. Als Versmaßim Drama fordert er allerdings den Alexandriner, was für uns eigentlich als Einschränkung der eben verlangten Freiheit erscheinen mag. Hugo sieht in ihm jedoch ein Versmaß, das frei und offen ist, das genügend Raum zur Entfaltung des "génies" läßt: "Cette suprème grace de notre poésie, ce générateur de notre mètre; inépuisable dans la variété de ses tours, insaisissable dans ses sécrets d´élégance et de facture: prenant, comme Protée, mille formes sans changer de type et de caractère...".
Nach seiner ausführlichen Darstellung, was Drama sein soll und was nicht, geht Hugo im letzten Teil seiner Préface nun direkt auf sein Drama, Cromwell, ein, in dem er all diese Ideen zu verwirklichen versuchte. Er beschreibt den Charakter des Oliver Cromwell und erläutert, wie er ihm sein "Modelldrama" zugeschneidert hat. So entstand ein fünfaktiges Versdrama aus 75 Szenen und 6000 Versen. Mit 76 unterschiedlich zu besetzenden Rollen, zahlreichen Statisten und verschiedenen Schauplätzen ist es zu einem so aufwendigen Stück geworden, daßes erst 1956, also 71 Jahre nach seinem Tode in Paris uraufgeführt und auch später sehr selten inszeniert wurde. Seine eigentliche Berühmtheit erlangte das Drama nur durch die Préface. Sie formulierte die Richtlinien der Romantiker und galt seinerzeit als revolutionäres Schriftstück. Bis heute sind ihre Hauptaspekte zum Thema literarischer Gattungen von großer Bedeutung:
* Hugo teilt die Literatur in drei Gattungen ein: Lyrik, Epos, Drama.
* Er zieht den Vergleich mit der geschichtlichen Entwicklung und erklärt so die Abhängigkeit der Gattungsbezeichnungen voneinander.
* Er ordnet jedem Gattungsbegriff ein Hauptmerkmal zu und beschreibt so deren Bezug zur Realität. Literaturverzeichnis:
- Kindlers Literaturlexikon
- Victor Hugo: "Oeuvres complètes", Band 11
- Quote paper
- Jutta Krockenberger (Author), 1996, Victor Hugo - La Préface de Cromwell, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94766