Das Ziel dieser Arbeit ist es, das EuGH-Urteil C-55/18 zu analysieren und seinen Einfluss auf die Arbeit deutscher Betriebsratsarbeit darzustellen. Die Forschungsfrage lautet also: Wie wirkt sich das EuGH-Urteil C-55/18 auf die Arbeit deutscher Betriebsräte aus?
Der Europäische Gerichtshof hat mit seinem Urteil C-55/18 am 14.05.2019 in ganz Europa für Aufmerksamkeit gesorgt. Im Rechtsstreit zwischen der Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) und der Deutschen Bank SAE sieht er bei der Frage nach der Möglichkeit, die Vorgaben zu Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten sicherzustellen, die Antwort in der verpflichtenden Einführung eines Systems zur Messung der täglich geleisteten Arbeitszeit. Auch in Deutschland gibt es keine grundsätzliche Pflicht, Arbeitszeiten vollumfänglich zu erfassen.
Um diese Frage zu beantworten, ist eine Urteilsanalyse durchgeführt worden. Diese beinhaltet eine Rechtsvergleichung zwi-schen europäischen Vorgaben und deutschem Recht zum Thema Arbeitszeit. Be-sonderes Augenmerk liegt dabei auf den Bereichen Ruhezeiten und Höchstarbeits-zeiten, sowie der Vorgaben zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Des Weiteren wird aufgezeigt, welche Einflussmöglichkeiten Betriebsräte bisher auf Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes auf die Arbeitszeiterfassung haben. Außerdem ist eine qualitative Inhaltsanalyse von 130 Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, die in den ersten Monaten nach Urteilsverkündung erschienen sind, durchgeführt worden.
Inhaltsverzeichnis
Kurzfassung / Abstract
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einführung
2 Methodischer Rahmen
3 Methodik der Urteilsanalyse
4 Einleitung der Urteilsanalyse
4.1 Darstellung des Rechtsproblems
4.2 Auswirkungen von EuGH-Fällen im Bereich Arbeitsrecht auf Deutschland
4.2.1 Beispiel Vorel, Rs. C-437/05
4.2.2 Beispiel Bollacke, Rs. C-118/13
5 Die Entscheidung
5.1 Angaben über das Urteil
5.2 Sachverhalt
5.3 Lösung des Gerichts
6 Analyse
6.1 Rechtsproblem
6.1.1 Exkurs: Methode der Rechtsvergleichung
6.1.2 Vergleich von EU-Richtlinien und deutschen Regelungen die Arbeitszeiterfassung betreffend
6.1.3 Übersicht der Gruppen von Betroffenen des EuGH-Urteils in Deutschland
6.1.4 Einflussmöglichkeiten deutscher Betriebsräte auf die Arbeitszeiterfassung in Unternehmen
6.2 Exkurs: Methode der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse
6.3 Lösungsansätze zum Problem
6.4 Analyse und Einordnung der Entscheidung
6.5 Bewertung und Kritik der Entscheidung
6.6 Ausblick
7 Fazit und Diskussion
Literaturverzeichnis
Rechtsquellenverzeichnis
Anhang 1: Methodischer Aufbau der Arbeit
Anhang 2: Übersicht der verwendeten Literatur zur Inhaltsanalyse
Anhang 3: Auswertungstabellen
Kurzfassung / Abstract
Der Europäische Gerichtshof hat mit seinem Urteil C-55/18 am 14.05.2019 in ganz Europa für Aufmerksamkeit gesorgt. Im Rechtsstreit zwischen der Federation de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) und der Deutschen Bank SAE sieht er bei der Frage nach der Möglichkeit, die Vorgaben zu Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten sicherzustellen, die Antwort in der verpflichtenden Einführung eines Systems zur Messung der täglich geleisteten Arbeitszeit. Auch in Deutschland gibt es keine grundsätzliche Pflicht, Arbeitszeiten vollumfänglich zu erfassen.
Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet: Wie wirkt sich das EuGH-Urteil C-55/18 auf die Arbeit deutscher Betriebsräte aus? Um diese Frage zu beantworten, ist eine Urteilsanalyse durchgeführt worden. Diese beinhaltet eine Rechtsvergleichung zwischen europäischen Vorgaben und deutschem Recht zum Thema Arbeitszeit. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Bereichen Ruhezeiten und Höchstarbeitszeiten, sowie der Vorgaben zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Des Weiteren wird aufgezeigt, welche Einflussmöglichkeiten Betriebsräte bisher auf Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes auf die Arbeitszeiterfassung haben. Außerdem ist eine qualitative Inhaltsanalyse von 130 Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, die in den ersten Monaten nach Urteilsverkündung erschienen sind, durchgeführt worden.
Es zeigt sich, dass sich an den Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Arbeitszeiterfassung für deutsche Betriebsräte in naher Zukunft durch das Urteil nicht viel ändern wird, wenn nicht der Gesetzgeber eine Regelung vorgibt, welche die Rechte auf Einflussnahme stärkt oder eine Arbeitszeiterfassung vorschreibt. Weiterhin wird festgestellt, dass eine Auseinandersetzung mit Arbeitgebern die Arbeitszeit betreffend häufig zeitliche Ressourcen und mentale Stärken voraussetzt, die von nicht freigestellten Betriebsräten im Arbeitsalltag normalerweise nicht erwartet werden können.
Abkürzungsverzeichnis
Abs Absatz
AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
ArbSchG Arbeitsschutzgesetz
ArbZG Arbeitszeitgesetz
Art Artikel
BetrVG Betriebsverfassungsgesetz
CCOO Federacion de Servicios de Comisiones Obreras
EU Europäische Union
EuGH Europäischer Gerichtshof
EUGrdRCh Europäische Grundrechtecharta
EUV Vertrag über die Europäische Union
GG Grundgesetz
GRCh Grundrechtecharta
LAG Landesarbeitsgericht
MiLoG Mindestlohngesetz
RL Richtlinie
Rs Rechtssache
SchwArbG Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Zusammenhang zwischen Fall, Regel und Topos
Abbildung 2: Gruppenübersicht
Abbildung 3: Angepasstes Ablaufmodell Inhaltsanalyse
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Gegenüberstellung der rechtlichen Regelungen
Tabelle 2: Unterkategorien
1 Einführung
Am 14.05.2019 erließ der EuGH ein Urteil, welches Arbeitgeber verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.1 Mitgliedsstaaten der EU, in denen es keine generelle Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeiten gibt, haben nun die Aufgabe, Erfassungssysteme auszugestalten. Zu jenen Mitgliedern gehört auch Deutschland. Rechtliche Änderungen im Bereich der Arbeitszeiterfassung betrifft die Arbeit verschiedener Akteure, auch die von Betriebsräten.
Die Reaktionen in Zeitschriften, Zeitungen und Internetbeiträgen sind geprägt von unterschiedlichen Meinungen und Sichtweisen. Eine intensive Beschäftigung mit den möglichen Auswirkungen des Urteils auf die Betriebsratsarbeit in Deutschland hat bisher nicht stattgefunden. Oft sind gerade die Interessenvertreter im Betriebsrat keine geschulten Rechtsexperten und gehen ihrer meist ehrenamtlichen Tätigkeit in knapp bemessenen Zeitparametern nach. Gerade sie sind auf konkrete Hinweise und aufgearbeitetes Hintergrundwissen angewiesen.
Das Ziel dieser Bachelorarbeit ist es, das EuGH-Urteil C-55/18 zu analysieren und seinen Einfluss auf die Arbeit deutscher Betriebsratsarbeit darzustellen. Die Forschungsfrage lautet also: Wie wirkt sich das EuGH-Urteil C-55/18 auf die Arbeit deutscher Betriebsräte aus?
Bei der Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, auch die folgenden Aspekte zu betrachten:
1. Welche Auswirkungen hatten Urteile des EuGH im Bereich Arbeitsrecht auf Deutschland bisher?
2. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten weisen EU-Richtlinien und deutsche Regelungen zum Thema Arbeitszeiterfassung auf?
3. Wer ist vom Urteil C-55/18 in Deutschland betroffen?
4. Welchen Einfluss hat ein Betriebsrat auf die Arbeitszeiterfassung im Unternehmen?
Es wird angestrebt, dass die Ergebnisse der Analyse aufzeigen, an welchen Stellen der Betriebsratsarbeit Veränderungen zu erwarten sind.
Aufgrund der Aktualität des Urteils existieren zum jetzigen Zeitpunkt ausschließlich Besprechungen, Kommentare und Analysen in Zeitschriften, Zeitungsartikeln und Internetauftritten. Die Bezüge in diesen Veröffentlichungen gestalten sich sehr unterschiedlich. Betroffene Interessen von z. B. Arbeitgebern oder Arbeitnehmern werden von unterschiedlichen Seiten beleuchtet und eingeschätzt. Eine umfassende Darstellung für Betriebsräte konnte bisher nicht gefunden werden.
2 Methodischer Rahmen
Den methodischen Rahmen der gesamten Arbeit bildet eine Urteilsanalyse nach dem Aufbauschema II von Grünberger.2 Innerhalb dieses Rahmens wird eine Rechtsvergleichung und eine strukturierende qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt. Alle drei Methoden werden in gesonderten Kapiteln näher erläutert.
Die Tabelle im Anhang 1 zeigt die verwendeten Analyseschritte und die dazugehörigen Kapitel in der Ausarbeitung. Des Weiteren kann man erkennen, an welcher Stelle die immanenten Methoden zum Einsatz kommen und die aufgeworfenen Fragen beantwortet werden sollen.
Die Frage nach den Auswirkungen von Urteilen des EuGH im Bereich Arbeitsrecht auf Deutschland soll beispielhaft im Abschnitt I. der Urteilsanalyse beantwortet werden.
Die zweite Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten von EU-Richtlinien und deutschen Regelungen zum Thema Arbeitszeiterfassung wird mit Hilfe der Methode der Rechtsvergleichung von Zweigert und Kötz3 beantwortet. Dabei werden die Regelungen der EU und Deutschlands in die Gedankenführung einer rechtsvergleichenden Arbeit von Hepting4 übernommen: Einleitung, Länderberichte, Vergleich der Einzelaspekte, Schluss. Die Abschnitte Einleitung und Schluss gehen auch in der Urteilsanalyse auf. Die Länderberichte und der Vergleich der Einzelaspekte fügen sich in Abschnitt III Punkt 1 der Urteilsanalyse ein. An dieser Stelle im Ablauf sollen ebenfalls die Frage nach den in Deutschland betroffenen Akteuren und dem Einfluss von Betriebsräten auf die Arbeitszeiterfassung in Betrieben geklärt werden.
Die Frage nach den Auswirkungen des EuGH-Urteils auf die Arbeit deutscher Betriebsräte findet ihre prädiktive Erörterung im Abschnitt III bei den Punkten 2, 3 und 4. Wichtiger Aspekt der Erkenntnisgewinnung wird hierbei eine strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring5 sein. Dabei sollen Artikel aus Zeitschriften und Zeitungen sowie Internetbeiträge unter Zuhilfenahme der deduktiven Kategorienanwendung geordnet und ausgewertet werden. Die Ergebnisse werden dann mit Abschnitt III Punkt 5 der Urteilsanalyse verknüpft.
3 Methodik der Urteilsanalyse
„Fall, Regel, Topos - das sind drei Grundbegriffe, mit denen jedes Urteil untersucht werden kann.“6
Der Fall ist der zu lösende Sachverhalt und wird vom Urteil geschaffen. Das Urteil ist ein geordnetes Paar aus Daten und Schlussfolgerungen. Die Falllösungen können wechseln, der Fall nicht. Wichtige Fragen lauten: wer?, was?, wann?, auf welche Art und Weise?. Der Fall formuliert Rechtszeichen in verschlüsselter Weise und dadurch wird das Gesetz präsent.7
Laut Toulmin besteht eine Regel aus zwei Bestandteilen, nämlich aus der Rechtfertigung und der Absicherung. Beide stehen in einem gestuften Verhältnis zueinander. Rechtfertigungen werden danach als Wenn-/dann-Sätze formuliert, Absicherungen bleiben stichwortartig.8 Der Übergang von Daten/Sachverhalten zu Schluss folgerungen - oder der Übergang von Tatbeständen zu Rechtsfolgen9 - kann durch Regeln legitimiert werden.10
Der Topos - der Gesichtspunkt - macht die jeweils verwendete Regel plausibel.11 Die Topik gründet auf Namen wie Zurechenbarkeit, Anstößigkeit oder Erfahrungen. Hier kommt erneut der Begriff der Absicherung ins Spiel. "Eine Absicherung kombiniert mehrere Arten von Aussagen, wobei immer ein Ort im Gesetz, eine Norm, aufgerufen werden sollte. [...] Sie ist das Ergebnis praktischer Urteilskraft, und durch praktische Urteilskraft erhält der Topos seine Gestalt."12
Folgende Darstellung verdeutlicht angelehnt an Siebert und Toulmin den Zusam- menhang zwischen Fall, Regel und Topos in seinen Grundzügen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Zusammenhang zwischen Fall, Regel und Topos
Die Arbeit orientiert sich am Ablaufschema II einer Urteilsanalyse nach Grünber- ger.13 Hierbei werden vier Analyseschritte verwendet. Die Analyse beginnt mit einer Einleitung, beschäftigt sich dann mit der Entscheidung im Urteil, geht in den eigentlichen Analyseteil über und endet mit abschließenden Bemerkungen zum Urteil.
4 Einleitung der Urteilsanalyse
4.1 Darstellung des Rechtsproblems
Die Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 (C-55/18)14 beschäftigt sich mit der Auslegung von Artikel 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta), der Artikel 4, 5, 6, 16 und 22 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie von Artikel 4 Abs. 1, Artikel 11 Abs.3 und Artikel 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates der Europäischen Union. Ausgangspunkt ist ein Rechtstreit zwischen der Federation de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) und der Deutschen Bank SAE.
Der grundlegende Streitpunkt liegt im Fehlen eines betriebsinternen Systems, um die täglich geleistete Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Hierzu sei die Deutsche Bank SAE nach Sicht der CCOO verpflichtet. Ausgangspunkt dieser Sichtweise stellen das spanische Arbeitnehmerstatut des Art. 31 Abs. 2 EUGrdRCh und verschiedene Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation über die Arbeitszeit dar. „Nach der Auslegung des Obersten Gerichts Spaniens verpflichtete das spanische Arbeitnehmerstatut Arbeitgeber lediglich, die von Arbeitnehmern geleisteten Überstunden aufzuzeichnen und die Aufstellung am jeweiligen Monatsende an die Arbeitnehmer und ihre Vertreter zu übermitteln.“15 Der spanische Nationale Gerichtshof bewertete die Unionsrechtskonformität der Auslegung des spanischen Arbeitnehmerstatuts durch das Oberste Gericht hingegen anders. Der EuGH hatte nun die Frage zu klären, ob die Rechte der Richtlinie eingehalten werden können, wenn die Arbeitszeit nicht flächendeckend erfasst wird. Die zu klärende Auslegungsfrage betrifft nicht nur Spanien, sondern alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU).
Da es hier in erster Linie um den Arbeitnehmerschutz geht und die Einhaltung von europäischen Arbeitssicherheitsstandards und Vorgaben zum Gesundheitsschutz gewährleistet werden soll, könnte die grundsätzlich zu klärende Frage auch lauten: Wie kann die Einhaltung von Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten sichergestellt werden?
4.2 Auswirkungen von EuGH-Fällen im Bereich Arbeitsrecht auf Deutschland
4.2.1 Beispiel Vorel, Rs. C-437/05
Vorel (V) arbeitete als Oberarzt im Krankenhaus von Cesky Krumlov (NCK).16
Im tschechischen Arbeitsgesetzbuch wird Arbeitszeit im Artikel 83 definiert als Zeitspanne, in der der Arbeitnehmer für den Arbeitgeber arbeitet. Ruhezeiten sind keine Arbeitszeit. Bereitschaftsdienst stellt die Zeitspanne dar, in welcher der Arbeitnehmer bereit ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen. Bereitschaftsdienste sind hiernach nur als Arbeitszeit zu werten, wenn tatsächlich Arbeit geleistet wird. Diese Bereitschaftszeit wird gesondert berechnet und niedriger als üblich vergütet.
Laut der Arbeitszeitrichtlinie RL 2003/88/EG Art. 2 Nr.1 ist Bereitschaftsdienst Arbeitszeit. Der EuGH stellte fest, dass es nicht relevant ist, ob V tatsächlich tätig war, da die Intensität der verrichteten Arbeit kein Merkmal von Arbeitszeit darstellt. Als Ausnahme ist die Rufbereitschaft zu werten. Diese gilt außerhalb der Zeiten der Tätigkeit als Ruhezeit. „Daraus folgt, dass Bereitschaftsdienst, den ein Arbeitnehmer in Form persönlicher Anwesenheit im Betrieb des Arbeitgebers leistet, in vollem Umfang als Arbeitszeit anzusehen ist, unabhängig davon, welche Arbeitsleistungen der Betroffene während dieses Bereitschaftsdienstes tatsächlich erbracht hat. Der Umstand, dass der Bereitschaftsdienst Zeiten der Inaktivität umfasst, ist daher unerheblich.“17 Daraus ergab sich eine Neubewertung des Bereitschaftsdienstes von Ärzten am Arbeitsplatz als Arbeitszeit. Der Beschluss hatte aber keinen Einfluss auf die Vergütung der Arbeitnehmer, sondern ausschließlich auf den Arbeitnehmerschutz.
In Deutschland wird der Begriff Arbeitszeit im § 2 Abs. 1 ArbZG definiert. Es handelt sich um die Zeit vom Beginn bis Ende der Arbeit ohne Ruhepausen. Daraus ergab sich die Auslegung, dass Bereitschaftsdienste ohne Einsatz Ruhezeiten darstellen.18 Nach der Entscheidung des EuGH traten verschiedene Rechtsfälle zum Bereitschaftsdienst auf.19 Dies führte letztendlich zu einer Neuauslegung des Begriffs Arbeitszeit nach § 2 Abs. 1 ArbZG. Bereitschaftsdienst wird nun als Arbeitszeit bewertet.20 Auch im Bereich von tarifvertraglichen Regelungen hatte der Fall Vorel Auswirkungen bei der Anerkennung des Bereitschaftsdienstes als Arbeits- zeit.21
4.2.2 Beispiel Bollacke, Rs. C-118/13
Bollacke (B) ist Alleinerbin ihres verstorbenen Ehemannes, welcher bis zu seinem Ableben bei der Firma K + K beschäftigt war. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte der Ehegatte noch Anspruch auf offene Tage seines Jahresurlaubs, auf welche B Abgeltungsansprüche gegenüber K + K machte. K + K lehnte die Forderung mit der Erläuterung ab, dass es sich nicht um einen vererbbaren Anspruch handele. Das LAG Hamm gab an den EuGH dazu folgende Frage weiter: Ist die deutsche Rechtsprechung diesbezüglich mit Art. 7 der RL 2003/88/EG vereinbar?22
Der EuGH befand folgendermaßen: Eine Rechtsprechung, bei der Urlaubsansprüche nicht vererbbar sind, sei nicht richtlinienkonform. Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub dürfe nicht ohne Begründung eines Abgeltungsanspruchs bei Tod des Arbeitnehmers verfallen. Im Art. 7 der RL 2003/88/EG bedeutet bezahlter Jahresurlaub, dass das Entgelt für den Arbeitnehmer im Urlaub weitergezahlt wird. Der Anspruch auf finanzielle Vergütung ergibt sich aus Art. 7 Abs. 2. Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein: das Arbeitsverhältnis ist beendet und der Arbeitnehmer hat nicht den gesamten zustehenden Jahresurlaub aufgebraucht. Beide Voraussetzungen sind auch beim Tod des Arbeitnehmers erfüllt. "Würde die Pflicht zur Auszahlung von Jahresurlaubsansprüchen mit der durch den Tod des Arbeitnehmers bedingten Beendigung des Arbeitsverhältnisses enden, hätte dies zur Folge, dass ein unwägbares, nicht beherrschbares Vorkommnis zum vollständigen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub selbst führen würde, was mit Art. 7 unvereinbar wäre."23
Die deutsche Rechtsprechung hat sich inzwischen dahingehend geändert. Erben haben nun Anspruch auf die Abgeltung des vom Verstorbenen nicht in Anspruch genommenen Urlaubs.24 Des Weiteren dürften nun Regelungen in Arbeitsverträgen, die diesen Anspruch anders handhaben, ihre Gültigkeit verlieren.
5 Die Entscheidung
5.1 Angaben über das Urteil
Die große Kammer des EuGH erließ sein Urteil in der Rechtssache C-55/18 am 14.05.2019. Verfahrenssprache war spanisch. Das Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV wurde eingereicht vom Nationalen Gerichtshof Spaniens. Die Parteien des Verfahrens waren die CCOO und die Deutsche Bank SAE. Folgende Richter waren beteiligt: K. Lenaerts, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, E. Regan, T. von Danwitz, F. Biltgen, K. Jürimäe, C. Lycourgos, J. Malenovsky, E. Levits, L. Bay Larsen, M. Safjan, D. Svaby, C. Vajda und P. G. Xuereb. Die Schlussanträge stellte der Generalanwalt G. Pitruzzella, welche am 31.01.2019 angehört wurden. Kanzler war L. Carrasco Marco. Die mündliche Verhandlung fand am 12.11.2018 statt. Erklärungen wurden abgegeben von CCOO, der Deutschen Bank SAE, FES-UGT, der spanischen Regierung, der tschechischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Europäischen Kommission.
5.2 Sachverhalt
Die spanische Arbeitnehmervereinigung CCOO verlangte von der Deutschen Bank SAE über eine Verbandsklage am 26.07.2017, ein System zur Erfassung der geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten. Diese Pflicht schien sich aus Art. 35 V des spanischen Arbeitnehmerstatuts zu ergeben. Das Oberste Gericht Spaniens legte dieses Statut so aus, dass lediglich die geleisteten Überstunden aufzuzeichnen sind und eine Aufstellung am Monatsende an die Arbeitnehmer und ihre Vertreter zu übermitteln ist, da der Art. 35 ausschließlich Überstunden betrifft und im Art. 34 zum Thema Arbeitszeit keine Pflicht zum Führen einer Liste explizit benannt wird. Der spanische Nationale Gerichtshof sah dagegen Probleme in der Vereinbarkeit der Sichtweise des Obersten Gerichts mit der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88 und fragt, "ob ein gesetzliches System, das auf eine flächendeckende Erfassung der Arbeitszeit verzichtet, als geeignet angesehen werden kann, die Rechte aus der Richtlinie zu wahren."25 Der Nationale Gerichtshof bemerkt weiterhin, dass die vom Obersten Gericht an den Tag gelegte Auslegung dazu führen könnte, dass in der Praxis ein Nachweis über die Regelarbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit nicht vorhanden sei. Die Arbeitnehmervertreter hätten damit auch kein Mittel, um die Einhaltung von Arbeits- und Ruhezeiten zu überprüfen. Der Nationale Gerichtshof beschloss, das Verfahren auszusetzen und folgende Fragen an den EuGH für eine Vorabentscheidung zu richten (im Folgenden stark verkürzt dargestellt):26 27
1. Reichen die Art. 34 und 35 des spanischen Arbeitnehmerstatuts aus, um die Begrenzungen der Arbeits- und Ruhezeiten nach Art. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2003/88 zu gewährleisten?
2. Können Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Art. 3, 5, 6, 16 und 22 der Richtlinie 2003/88 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391 so ausgelegt werden, dass sie innerstaatlichen Regelungen entgegenstehen, aus denen nach gefestigter Rechtsprechung nicht abgeleitet werden kann, dass Unternehmen ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Vollzeitarbeitnehmer einzuführen haben?
3. Oder wird mit innerstaatlichen Regelungen wie Art. 34 und 35 des Arbeitnehmerstatuts den oben genannten europäischen Regelungen Genüge getan?
5.3 Lösung des Gerichts
Zuerst gibt das Gericht den Hinweis,28 dass das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche wie wöchentliche Ruhezeiten auch in Art. 31 Abs. 2 EUGrdRCh verbürgt sei und ihm damit der gleiche rechtliche Rang wie den EU-Verträgen zukommt. Konkretisiert würde dieses Grundrecht in der Richtlinie 2003/88, insbesondere in den Art. 3, 5 und 6 und diese wären daher auch in dessen Lichte auszulegen. Eine einschränkende Auslegung dieser Bestimmungen dürfte insbesondere nicht auf Kosten der Rechte, die Arbeitnehmern nach dieser Richtlinie zustehen, vorgenommen werden. Vielmehr solle eine Auslegung unter Beachtung der Bedeutung des Grundrechts eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten erfolgen. Das Gericht weist darauf hin, das Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 den Gebrauch der Möglichkeit vorsieht, Art. 6 benannter Richtlinie zur wöchentlichen Höchstarbeitszeit nicht anzuwenden, wenn dann alle erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, dass der Arbeitgeber aktuelle Listen über alle betroffenen Arbeitnehmer führt und diese den zuständigen Behörden zur Verfügung stellt. Spanien hätte von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht und daher sei Art. 22 der Richtlinie 2003/88 im Ausgangsverfahren nicht anzuwenden und auch nicht auszulegen. Des Weiteren stellt das Gericht klar, dass die Richtlinie 2003/88 Mindestvorschriften festlegen soll, die die innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften verbessern. Diese Angleichung der Arbeitszeitgestaltung auf Ebene der EU soll die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer durch die Gewährung von Mindestruhezeiten, angemessener Ruhepausen und einer Obergrenze der wöchentlichen Arbeitszeit schützen. Art. 3 und 5 der Richtlinie 2003/88 bestimmen folgende Maßnahmen: pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von 11 zusammenhängenden Stunden und pro Siebentageszeitraum eine Mindestruhezeit von 24 Stunden. Art. 6 der gleichen Richtlinie beschränkt die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden. Um die volle Wirkung der Richtlinie zu realisieren, müssten die Mitgliedstaaten jede Nichtbeachtung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit abwehren und die Befolgung der Mindestruhezeiten sicherstellen. Hierfür müssten die Mitgliedstaaten auch für die praktische Wirksamkeit die erforderlichen Maßnahmen treffen. Eine Aushöhlung dieser festgelegten Modalitäten dürfe nicht erfolgen. Der EuGH erläutert, dass der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrages zu betrachten sei, weswegen ausgeschlossen werden müsse, dass der Arbeitgeber ihm eine Begrenzung seiner Ansprüche verfügen könne. Aufgrund dieser schwächeren Stellung könne ein Arbeitnehmer davon abgehalten werden, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber geltend zu machen, um nicht in seinem Arbeitsverhältnis benachteiligt zu werden. Ohne ein System, das die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit erfasst, könne weder die Anzahl der vom Arbeitnehmer wirklich geleisteten Arbeitsstunden, noch die über die gewöhnliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit methodisch und sicher gemessen werden. Somit sei es auch für die Arbeitnehmer problematisch oder praktisch ausgeschlossen, die ihnen durch Art. 31 Abs. 2 EUGrdRCh und der RL 2003/88 verliehenen Rechte durchzusetzen. Die objektive und sichere Ermittlung der Anzahl der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden sei für die Einschätzung der Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit und der Mindestruhezeiten unerlässlich. Eine nationale Regelung, die keine Pflicht zur Initiierung eines solchen Systems vorsehe, sei daher nicht geeignet, die praktische Wirksamkeit der Arbeitnehmerrechte zu garantieren. Die Verpflichtung, nur die geleisteten Überstunden zu erfassen, biete den Arbeitnehmern keinen ausreichenden Schutz, da die Einordnung als „Überstunden“ voraussetze, dass die Dauer der von dem jeweiligen Arbeitnehmer geleisteten Arbeitszeit bekannt sei. Auch andere Beweismittel für die geleistete Arbeitszeit (z.B. Zeugenaussagen, E-Mails, Untersuchungen von Mobiltelefonen oder Computern) oder innerstaatliche Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse bei Verstößen gegen Arbeitszeitregelungen seien nicht ausreichend, um die Einhaltung der Höchstarbeitszeiten zu gewährleisten. Die Mitgliedstaaten müssten daher die Arbeitgeber verpflichten, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Es sei unbedeutend, dass die nach spanischem Recht geltende wöchentliche Höchstarbeitszeit für den Arbeitnehmer günstiger ist als die im Art. 6 Buchst. b der Richtlinie 2003/88 vorgesehene. Dass Arbeitgeber in Spanien nach Art. 35 des Arbeitnehmerstatuts ein System zur Erfassung der Überstunden einrichten müssen, heile die Schwierigkeit, ohne System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit die Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit sicherzustellen, nicht. Das Gericht räumt ein, dass ein Arbeitnehmer nach den spanischen Verfahrensvorschriften andere Beweismittel nutzen kann. So könne aber nicht objektiv und verlässlich die Zahl der von dem Arbeitnehmer täglich oder wöchentlich geleisteten Arbeitsstunden festgestellt werden. Es erfolgt ein erneuter Verweis auf die schwächere Position des Arbeitnehmers. Dagegen biete ein System zur Arbeitszeiterfassung den Arbeitnehmern ein wirksames Mittel, einfach zu objektiven und verlässlichen Daten über die von ihnen geleistete tatsächliche Arbeitszeit zu gelangen. Die Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse, die den Kontrollorganen wie der Arbeitsinspektion nach innerstaatlichem Recht verliehen werden, könnten ein fehlendes System zur Arbeitszeiterfassung nicht abmildern. Daraus folge, dass es ohne ein System zur Messung der täglichen Arbeitszeit keine Garantie dafür gibt, dass die Richtlinie 2003/88 vollständig gewährleistet wird, da sie dem Arbeitgeber einen Spielraum lässt. Die Regelung eines Mitgliedstaats, die nach ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte keine Pflicht des Arbeitgebers zur Messung der geleisteten Arbeitszeit begründet, könne die in dieser Richtlinie verankerten Rechte aushöhlen. Mitgliedstaaten müssten daher die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Dieses Ergebnis würde durch die Bestimmungen nach Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/391 bestätigt. Den Mitgliedsstaaten obliege es selbst, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems festzulegen, und zwar gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar der Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihrer Größe. Diese Erwägungen könnten nicht dadurch entkräftet werden, dass bestimmte Sondervorschriften des Unionsrechts im Transportbereich ausdrücklich die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit der diesen Vorschriften unterliegenden Arbeitnehmer vorsehen. Eine ähnliche Verpflichtung zur Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems sei allgemeiner für alle Arbeitnehmer erforderlich. Es sei darauf hinzuweisen, dass der wirksame Schutz der Sicherheit und der Arbeitnehmergesundheit nicht rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden darf. Weder die Deutsche Bank noch die spanische Regierung hätten genau und konkret angegeben, worin die praktischen Hindernisse für die Einrichtung dieses Systems im vorliegenden Fall bestünden. Die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, und ihre Pflicht nach Art. 4 Abs. 3 EUV, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, obliege allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedsstaaten und damit auch den Gerichten. Die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten Gerichte müssten bei dessen Anwendung sämtliche nationalen Rechtsnormen berücksichtigen und die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden anwenden, um seine Auslegung am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten. Das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung umfasse die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern.
Abschließend hat der Gerichtshof für Recht erkannt: "Die Art. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie von Art. 4 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die nach ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte die Arbeitgeber nicht verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann."29
Der Gerichtshof sieht also bei der Frage nach der Möglichkeit, die Vorgaben zu Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten sicherzustellen, die Antwort in der verpflichtenden Einführung eines Systems zur Messung der täglich geleisteten Arbeitszeit.
6 Analyse
6.1 Rechtsproblem
6.1.1 Exkurs: Methode der Rechtsvergleichung
„Die primäre Funktion der Rechtsvergleichung ist - wie die aller wissenschaftlichen Methoden - Erkenntnis.“30 Laut Zweigert und Kötz liegt für die Disziplin der Rechtsvergleichung noch kein gesicherter Methodenkanon vor. Die Methode würde sich von Fall zu Fall unterscheiden und müsse immer wieder neu angepasst und festgelegt werden.31 Auch in der Literatur nach 1996 lässt sich keine einheitliche Struktur mit festgelegten Maßnahmen zur Rechtsvergleichung finden. Eine rechtsvergleichende Grunderfahrung ist, "dass zwar jede Gesellschaft ihrem Recht im Wesentlichen die gleichen Probleme aufgibt, dass aber die verschiedenen Rechtsordnungen diese Probleme, selbst wenn am Ende die Ergebnisse gleich sind, auf sehr unterschiedliche Weise lösen"32.
Auf europäischer Ebene kann über diese Methode eine gemeinsame Lösung für einzelne Nationalstaaten erarbeitet werden, weil damit die verschiedenen Rechtsgrundlagen erfasst und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede erläutert werden können.33 Der EuGH stellte in seinem Urteil spanisches Recht den europäischen Regelungen gegenüber. In dieser Arbeit werden die vom Gericht bereits eingebrachten europäischen Vorgaben zum Thema Arbeitszeiterfassung mit deutschem Recht verglichen. Vorrangiges Ziel ist es, die Ausarbeitung des Rechtsproblems innerhalb der umspannenden Urteilsanalyse vorzubereiten.
Nach Zweigert und Kötz wird die funktionale Rechtsvergleichung als Vergleich in mehreren Arbeitsschritten behandelt.34 Als erstes wird das Sachproblem definiert, welches durch die Rechtsordnungen gelöst werden soll. Ausgangspunkt der Rechtsvergleichung ist somit eine eindeutig formulierte Ausgangsfrage.35 Danach folgt die Darstellung der Regelungen für diese Frage im jeweiligen nationalen bzw. europäischen Rechtskontext, der sogenannte Länderbericht. In einem dritten Schritt werden gemeinsame und unterschiedliche Regelungen gegenübergestellt. Es schließt sich die eigentliche Wertung an.
6.1.2 Vergleich von EU-Richtlinien und deutschen Regelungen die Arbeitszeiterfassung betreffend
6.1.2.1 Einleitung der Rechtsvergleichung
Ausgangspunkt dieser Rechtsvergleichung ist das EuGH-Urteil Rs. C-55/18. Das Urteil selbst ist bereits ausführlich vorgestellt worden. Der Gerichtshof begründete seine Lösung des Falls auf dem Vergleich von spanischem Recht und europäischen Regelungen, sowie auf der Bewertung der Stellungen der verschiedenen Rechtsnormen zueinander. Die folgende Rechtsvergleichung greift einige der vom Gericht eingebrachten europäischen Normen auf und setzt sie in Beziehung zum deutschen Recht.
Folgende Ausgangsfrage soll anschließend geklärt werden: Welche Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung und welche Arbeitszeitvorgaben gibt es in Deutschland im Vergleich zum gesteckten rechtlichen Rahmen des EuGH-Urteils C-55/18?
Dafür werden die relevanten Rechtsvorschriften kurz vorgestellt und im Anschluss die Einzelaspekte miteinander verglichen.
6.1.2.2 Länderberichte
Europäische Union
Die vom Gericht zugrunde gelegten Vorgaben zur Arbeitszeitgestaltung finden sich in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh), in den Richtlinien 89/391/EWGund 2003/88/EG.
"Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union geht auf das Mandat des Europäischen Rates von Köln vom 3./4. Juni 1999 zurück, eine Charta der Grundrechte, deren Wahrung ein Gründungsprinzip der EU und unerlässliche Voraussetzung für ihre Legitimität sei und deren Achtung der EuGH als Verpflichtung der EU in seiner Rechtsprechung bestätigt und ausgeformt habe, zu erstellen, um die überragende Bedeutung der Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu verankern."36 Nach Art. 6 Abs. 1 EUV steht der GRCh die gleiche Bedeutung zu wie den Europäischen Verträgen. Die GRCh gehört zum Primärrecht der EU. Rechte und Grundsätze werden in 50 Artikeln verankert. Präzise formulierte Bestimmungen können direkt auf nationaler Ebene wirken. Auf "Grundsätze" kann sich vor Gericht berufen werden, wenn sie bereits durch Rechtsakte oder Durchführungsvorschriften umgesetzt worden sind. Alle Mitgliedstaaten sind unmissverständlich dazu aufgerufen, für die Anwendung der Charta einzutreten.37 "Die Mitgliedstaaten sind dazu verpflichtet, bei all ihren Handlungen, die in den Anwendungsbereich verbindlicher EU-Rechtsvorschriften fallen, die in der Charta verankerten Rechte und Grundsätze zu wahren."38 Der EuGH beruft sich, wie im vorliegenden Fall, bei der Auslegung von Belangen des Arbeitnehmerschutzes auch auf diese Grundrechte. Arbeitsrechtliche Regelungen sind in den Artikeln 27 bis 32 verzeichnet.39
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1 EuGH (große Kammer) vom 14.05.2019 - C-55/18
2 Grünberger.
3 Zweigert und Kötz 1996.
4 Hepting.
5 Mayring 2010, 92-109.
6 Seibert (2000), S. 127.
7 Vgl. ebenda, 127 ff.
8 Vgl. Toulmin (1958), S. 111.
9 Vgl. MacCormick (1978), S. 45.
10 Vgl. Seibert (2000), S. 139.
11 Vgl. ebenda, S. 127.
12 Ebenda, S. 145.
13 Grünberger.
14 Europäischer Gerichtshof (14.05.2019).
15 Ulrich Sittard / Ilka Esser (2019), S. 284.
16 Europäischer Gerichtshof (11.01.2007).
17 Hantel (2019), S. 221.
18 Bundesarbeitsgericht (18.02.2003).
19 Vgl. Schlachter (2005), S. 317.
20 Boerner / Boerner (2003).
21 Abele (2004).
22 Europäischer Gerichtshof (12.06.2014).
23 Hantel (2019), S. 226.
24 Bundesarbeitsgericht (22.01.2019).
25 Ulrich Sittard / Ilka Esser (2019), S. 284.
26 Vgl. Europäischer Gerichtshof (14.05.2019), Rn. 19-28.
27 Vgl. Pitruzzella (2019), Rn. 15-25.
28 Vgl. Europäischer Gerichtshof (14.05.2019), Rn. 29-71.
29 Europäischer Gerichtshof (14.05.2019).
30 Zweigert / Kötz (1996), S. 14.
31 Vgl. ebenda, S. 32.
32 Ebenda, S. 33.
33 Vgl. ebenda, S. 23 f.
34 Vgl. ebenda, S. 31 ff.
35 Vgl. Hepting.
36 Bings / Burgi / Dannecker (2018), III, Vorbemerkungen, Rn. 1.
37 Vgl. Europäische Union, Agentur für Grundrechte (2019), S. 2.
38 Ebenda, S. 2.
39 Vgl. Pötters (2019), S. 118 ff.
- Quote paper
- Melanie Ducke (Author), 2020, Europäische Rechtsprechung in deutschen Betriebsräten. Eine Analyse des EuGH-Urteils C-55/18, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/947594
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