Michel Foucault beschreibt in „Überwachen und Strafen“ eine Genealogie der Diszip-linen und Einschließungsmilieus, an deren Ende der Panoptismus als Gesellschafts-modell steht. Der Panoptismus, basierend auf dem von Jeremy Bentham entwickel-ten architektonischen Modell des Panopticons, beschreibt einen allumfassenden Ü-berwachungsstaat. Eine unsichtbare Macht sammelt ein Wissen über den kompletten Gesellschaftskörper an. In den 1980er Jahren entsteht jedoch eine Gegentheorie, welche die Krise aller Einschließungsmilieus proklamiert. Der den Disziplinen nach-folgende Gesellschaftsentwurf ist einer der Kontrollgesellschaften. Techniken des Selbst treten in den Vordergrund. Primär ist nicht mehr die Orientierung an einer sta-tischen Norm, sondern vielmehr an einer dynamischen. Produktivität wird nicht mehr durch Arbeitsteilung, sondern durch Wettbewerb gefördert.
Michel Foucault describes a genealogy of disciplines and milieus of inclusion in his book “ Supervise and Punish”. The end of this development is marked by the panop-tism as a model of society. The panoptism based on the architectural model of the panopticon, developed by Jeremy Bentham, describes an all-round supervising state. An invisible power accumulates knowledge about the whole body of society. But in the 1980s an anti-theory came up which called out the crisis of all milieus of inclu-sion. The following model is called controlling society. Self-technologies are coming up. Primal is not longer the orientation to a static norm but to a dynamic one. Produc-tivity is now intensified by competition and rivalry, not longer by division of labour.
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Disziplinargesellschaft Michel Foucaults
2.1. Überwachung und Normierung
2.2. Das Panopticon
2.2.1. Der Panoptismus
3. Kritik an der Disziplinargesellschaft
3.1. Die Theorie der Gouvernementalität
4. Schluss
5. Literaturliste
6. Abstract / Zusammenfassung
1. Einleitung
In seinem erstmals 1975 erschienenen Werk „Überwachen und Strafen“ schreibt Michel Foucault eine Genealogie der Bestrafung und Disziplinierung. Ausgehend von den Martern des 16. Jahrhunderts entwickelt er eine Theorie der Disziplinen und insbesondere eine der Disziplinargesellschaft.
Doch stellt sich dreißig Jahre nach dem Erscheinen von „Überwachen und Strafen“ die Frage, ob die These der Disziplinargesellschaft noch zutrifft. So hat sich vor allem in den 1980er Jahren die Theorie der Gouvernementalität entwickelt. Die Disziplinargesellschaft und ihre allgegenwärtigen Normierungs- und Überwachungsinstitutionen sind größtenteils verschwunden. Der Begriff der „Führung der Führungen“ etabliert sich. „Techniken des Selbst“ rücken verstärkt in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Analyse.
Diese Arbeit widmet sich dem Thema, inwieweit der Begriff der Disziplinargesellschaft überholt und vom Modell der Kontrollgesellschaft und Gouvernementalität abgelöst worden ist.
Im Folgenden wird Foucaults Darstellung der Disziplinargesellschaft erläutert ( 2) und dieser die Theorie der Gouvernementalität gegenübergestellt ( 3).
Die Theorie der Gouvernementalität wird in erster Linie an Texten von Bröckling, Krasmann und Lemke dargestellt und erläutert. Dieses Vorgehen erscheint sinnvoll, werden diese Autoren in der einschlägigen Literatur doch überwiegend zitiert.
Die Quellenlage zu dem Thema dieser Arbeit ist recht gut. So war es möglich, neben den eben aufgeführten Autoren auch andere Meinungen leicht einzuholen. Dennoch fiel es nicht immer leicht den Überblick zu behalten, da das Thema der Gouvernementalität nicht nur in der Politikwissenschaft bearbeitet wird, sondern auch in anderen Bereichen, wie etwa der Sozialphilosophie.
2. Die Disziplinargesellschaft Michel Foucaults
Mit der Abschaffung der Martern im 18. Jahrhundert beginnt in Europa eine Wandlung der Strafsysteme und der Strafen an sich[1]. Das Ziel der neuen Strafen ist nicht mehr der Körper, sondern vielmehr die Seele. Eine öffentliche Hinrichtung, wie sie von Michel Foucault zu Beginn von „Überwachen und Strafen“ geschildert wird[2], stellt keine Strafe dar, sondern ein Schauspiel. Es besteht die Gefahr der Umkehrung der Rollen im Moment der Hinrichtung. In den Augen des Volkes können die Richter und Henker selbst zu Mördern und Verbrechern werden, während der Verurteilte im Moment des Todes zum „Gegenstand von Mitleid und Bewunderung“ (Foucault 1994: 16) avanciert. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich das Strafsystem seiner Strafen schämt: „Es ist hässlich, straffällig zu sein – und wenig ruhmvoll, strafen zu müssen“ (Foucault 1994: 17). Als Folge dessen verschwindet die öffentliche Hinrichtung aus der Rechtsprechung. Die Todesstrafe tritt zurück in ein „abstraktes Bewusstsein“ (Foucault 1994: 16). Das Volk soll sich zwar bewusst sein, dass sie durchaus noch praktiziert wird, es soll die Hinrichtungen aber nicht mehr direkt erleben können. Diese „Humanisierung“ der Strafen wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch forciert, als der Schutz der Menschlichkeit in den Mittelpunkt der Strafjustiz rückt. Die Todesstrafe wird seltener verhängt und die Martern werden vollständig abgeschafft.
Stattdessen entstehen neue Formen von Strafinstitutionen. Das Gefängnis, welches im absolutistischen Frankreich nur für Sonderbestrafungen gedacht war und von den Straftheoretikern nur am Rande erwähnt wurde, entwickelt sich zum festen Bestandteil der Rechtsprechung. Wie Foucault feststellt, kommt dem Gefängnis vor allem eine Alibirolle zu. Eine seiner Hauptfunktionen ist es, den übrigen Institutionen, wie etwa der Schule oder auch den Fabriken, den Vorwurf der Einschließung und Disziplin abzunehmen. In umgekehrter Richtung rechtfertigt das Gefängnis seine Existenz jedoch mit Hilfe der Ähnlichkeit zu den übrigen Institutionen[3]. Das Gefängnis als eine „sonderbare Strafe“ (Foucault 2002: 82), bekommt dadurch eine indirekte Legitimation. Die Straftheorie spielt eine weitere, sehr wichtige Rolle bei der Etablierung der Disziplinargesellschaft. Ein Umbruch im Denken der Straftheoretiker in der Mitte des 18. Jahrhunderts führt dazu, dass der Fokus des Rechts sich wegbewegt von der eigentlichen Tat, hin zum Täter. Dies bedeutet, dass das Strafrecht nicht mehr auf die Nützlichkeit der Strafe eines Vergehens (wie etwa den gemeinnützigen Aspekt der Strafarbeit), sondern auf die Erziehung der Täter ausgerichtet wird. Foucault spricht in diesem Fall von einer „soziale[n] Orthopädie“ (Foucault 2002: 85). Das Wissen wird nicht mehr in Strafverfahren über eigentliche Taten gesammelt, sondern es wird von der potentiellen Gefahr eines jeden Menschen ausgegangen. Dies führt dazu, dass die Gesellschaft systematisch erfasst wird und die Menschen im Voraus wie Verurteilte behandelt werden. Diese Erfassung der potentiellen Straftäter lässt sich am einfachsten mit Hilfe der Disziplinen erreichen.
Mit der Zeit finden in den klassischen Einschließungsinstitutionen also bestimmte Funktionsveränderungen statt. Ziel wird mit der Zeit nicht mehr nur allein die Bestrafung, sondern auch die Normierung der Gesellschaft. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich sowohl mit der Entstehung als auch mit dem Wandel der Disziplinarinstitutionen. Am Ende dieser Entwicklung steht der Panoptismus ( 2.2.1.). Das von Jeremy Bentham entwickelte Panopticon steht bei Foucault sowohl für die Disziplinarinstitutionen an sich als auch für die perfekte Gesellschaft ( 2.2.).
2.1. Überwachung und Normierung
Charakteristisch für die Disziplinargesellschaft, wie sie Foucault beschreibt, ist die totale Überwachung der Bevölkerung. Sichergestellt wird diese durch eine Anzahl verschiedener Institutionen. Doch stellt sich die Frage, wie sich diese Überwachung entwickelte. Fest steht, dass alle diese Institutionen nicht auf einmal da waren, sondern mit der Zeit entstanden sind.
Zu Beginn dieser Entwicklung steht die Isolierung des zu disziplinierenden Raumes. Foucault nennt dies die Klausur. Wie im Kloster werden in den Disziplinarinstitutionen die Menschen räumlich vom Rest der Gesellschaft getrennt. Die Kasernen isolieren die Soldaten, die Spitäler die Kranken, und die Irrenanstalten die Verrückten. Der nächste Schritt ist die Zerlegung von Abläufen von scheinbar homogenen Massen oder ganz allgemein: der wahrnehmbaren Welt. Hier kann das Militär als Beispiel dienen. Die Masse des Heeres, das in die Schlacht zieht, wird in immer kleinere Einheiten unterteilt, bis die letzte Einheit, der Soldat als Einzelner, im Mittelpunkt steht. Der gleiche Vorgang ist in der Schule zu beobachten. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts werden die Schüler nach verschiedenen Kriterien in der Klasse auf einem festen Platz angeordnet, damit der Lehrer den Überblick hat. Diesen Vorgang nennt Foucault „Parzellierung“ (Foucault 1994: 183). Doch hat der Lehrer in diesem Falle nicht nur den Über blick, sondern auch den Durch blick. Denn hinter jedem Platz befindet sich eine spezifische Information wie z.B.: (soziale) Herkunft, Leistung oder auch Benehmen. Es entsteht das so genannte Tableau (Foucault 1994: 184-185). Die Schule hat demnach nicht nur die Funktion der Lehre und des Unterrichts, sondern auch die der Überwachung der Schüler und Eltern. Diesen Prozess beschreibt Foucault als die „Zuweisung von Funktionsstellen“. Dadurch nimmt auch das Tableau eine doppelte Funktion ein. Zum einen wird Macht über die auf ihm angeordneten Objekte ausgeübt, zum anderen wird Wissen über sie angesammelt. Der „Rang“, der den Schülern durch ihren Platz in der Klasse oder dem Soldaten im Regiment zugewiesen wird, macht die Elemente des Tableaus austauschbar. Denn in den Disziplinen unterscheiden sich die Elemente voneinander nicht durch ihre Einzigartigkeit, sondern vielmehr durch ihren Abstand zueinander und ihren Platz in der Reihe. Diese Klassifizierung macht die Elemente vergleichbar und somit austauschbar. Deleuze weist den Disziplinen folglich zwei Funktionen zu, die auf den ersten Blick inkompatibel erscheinen: „die Macht ist gleichzeitig vermassend und individuierend“ (Deleuze 1993: 257-258). Dies bedeutet also, dass die Individuen zum einen als solche erkannt und erfasst werden, dass sie auf dem o.g. Tableau aber auch nur eine Nummer bzw. ein Rang sind.
Die Zuweisung und Verteilung von Nummern, Rängen und Positionen wird in den einzelnen Disziplinen unterschiedlich aktualisiert bzw. kontrolliert. Eines haben jedoch alle Verfahren gemeinsam: Sie verwenden das Instrument der Prüfung. Auf der französischen „École militaire“ waren fünf Klassen vorgesehen, von der „Klasse der sehr Guten“ bis hin zur „Schandklasse“. „Die bestrafende Klassifizierung muss [jedoch] auf ihr eigenes Verschwinden hinarbeiten. Die Schandklasse existiert nur um sich aufzulösen.“ (Foucault 1994: 235). Auf- bzw. Abstieg in eine dieser Klassen wurde durch regelmäßige Prüfungen gewährt. Somit kommt der Anordnung nach Rängen eine zweifache Aufgabe zu: Sie soll einerseits die Abstände verdeutlichen andererseits aber auch gleichzeitig mit dem Instrument der Prüfung sanktionieren. Diese Sanktionen, die durch die Prüfung verteilt werden, sind vor allem normierender Natur. Sie zielen auf das Erlernen von Regeln, Abläufen und Verhaltensmustern und weniger auf Bestrafung ab.
Die reine Erfassung, Klassifizierung und Aufteilung der Elemente ist jedoch nicht der Endpunkt der Überwachung. Die Disziplinen gehen weiter und unterteilen die Zeit. Einzelne Abläufe und feste Zeitmuster werden so weit wie möglich parzelliert und organisiert. Das Militär plante im 18. Jahrhundert auf die Sekunde genau den Ablauf eines Schrittes. Dieses fast schon zwanghafte Verhalten, jeder Bewegung ein „Programm“ zu geben, dient nur einem Zweck: „Die Zeit durchdringt den Körper und mit der Zeit durchsetzen ihn alle minutiösen Kontrollen der Macht“ (Foucault 1994: 195). Selbst die Bewegungen der Soldaten werden also von der Macht diktiert und somit der Soldat seiner Eigenständigkeit beraubt. Die aufkommende Ökonomisierung, die von der industriellen Revolution noch vorangetrieben wird, verlangt nach einem „Prinzip des Nicht-Müßiggangs“ (Foucault 1994: 197). Zeit verschwendung wird durch die strikten, alles reglementierenden Hausordnungen der Manufakturen unmöglich gemacht. Bei Zuwiderhandlung drohen Strafen. Wenn Foucault schreibt: „[Der Disziplinarblick] musste die Disziplinaranlage so integrieren, dass er deren Leistung steigerte“ (Foucault 1994: 225), wird der produktive Charakter der Macht deutlich, den Foucault so oft betont ( 2.2.1.). Damit ist also gemeint, dass die Disziplinen nicht unterdrücken, sondern vor allem fördern sollen. Im 18. Jahrhundert werden in den Stoffmanufakturen Frankreichs beispielsweise die Arbeiter so angeordnet, dass mit einem Blick auf das so entstandene Tableau mehrere Dinge auf einmal deutlich werden. So saßen an einem Arbeitstisch ein Drucker und ein Abzieher. Am Ende des Tisches befand sich ein Gestell, über das die bearbeiteten Stoffe zum Trocknen gehängt wurden. „Vom Mittelgang der Werkstätte aus [ließ] sich eine allgemeine und zugleich individuelle Überwachung durchführen: Feststellung der Anwesenheit, [...] der Arbeitsqualität [...]; Vergleich der Arbeiter untereinander“ (Foucault 1994: 186). Der allgegenwärtige „Disziplinarblick“ des Werksaufsehers steigert somit den komparativen Charakter der Arbeit. Zusätzlich wird die allgemeine Leistung aufgrund der Arbeitsteilung gefördert.
[...]
[1] Aus Platzgründen wird in dieser Arbeit Abstand von einer detaillierten Darstellung der Strafsysteme, ihrer Entstehung sowie ihrer Wandlung genommen. Dennoch wird hier ein kurzer thematischer Überblick gegeben. Für detaillierte Darstellungen vgl. Foucault 1994: insbesondere Kapitel I, II und IV.
[2] Vgl. Foucault 1994: 9-12
[3] Vgl. Foucault 2002: 121
- Quote paper
- Politikwissenschaftler B.A. Sebastian Feyock (Author), 2005, Die Disziplinargesellschaft bei Michel Foucault, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94442
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