Mit der Übersetzung von Millers und Rollnicks „Motivational Interviewing. Preparing people to change addictive behavior“ und Kellers Einführung des Transtheoretischen Modell der intentionalen Verhaltensänderung in den deutschsprachigen Raum (beides 1999) bekam der in Deutschland schon von einigen Suchtexperten ab Mitte der 80er Jahre angeschobene Diskurs um den Stellenwert von Veränderungsmotivation und Motivationsförderung für eine möglichst früh einsetzende effektive Behandlung von Abhängigkeitskranken und –gefährdeten Auftrieb. Ohne an dieser Stelle die vielen Für und Wider des Diskurses um Krankheits-, Bewältigungs- und Motivationsmodelle, um Abstinenz als höchstes Ziel und Zieloffenheit, um weltanschauliche und wissenschaftliche Ansichten auszuführen, sei darauf hingewiesen, dass dieser Diskurs bei weitem noch nicht beendet ist. Trotzdem kann mittlerweile von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden. Moderne Suchtprävention und –behandlung nutzt ein verändertes Motivationskonzept: Motivation wird nicht als quantitativer Status, sondern interaktioneller Prozess und Motivation nicht Behandlungsvoraussetzung, sondern als (zentraler) Teil der Behandlung angesehen. Anstelle von Motivationsprüfungen und –hürden geht es darum, Veränderungsschritte früh zu fördern und so viel Unterstützung wie möglich anzubieten unter Wahrung der Autonomie und der Würde des Klienten. In den Blick der Suchthilfe kommen nun auch Personen mit riskantem Substanzkonsumverhalten, um hier früh die Auseinandersetzung mit dem Verhalten anzuregen, um letztlich möglichen (weiteren) Störungen vorzubeugen.
Zur Förderung von Veränderungsmotivation bietet sich insbesondere der Ansatz der „Motivierenden Gesprächsführung“ an. Dieser aus der Praxis heraus entstandene und als überwiegend wirksam erprobte Ansatz zieht sozialpsychologische Theorien und sozial-kognitive Lerntheorien heran, um zu verstehen, wie sich Verhalten und Einstellungen entwickeln und sich gegenseitig beeinflussen. Ebenso wie die theoretischen Grundlagen sind auch die methodischen Umsetzungen Kombinationen aus verschiedenen Therapie- und Beratungsrichtungen. Die theoretischen Erklärungen des Ansatzes scheinen entwicklungsbedürftig in Richtung einer klareren aus den verwendeten Theorien logisch folgenden Beschreibung; in der Praxis etabliert sich „Motivierende Gesprächsführung“ auch außerhalb der Suchthilfe in weiten Teilen der Früherkennung und Frühintervention bei gesundheitsgefährdendem Verhalten.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einführung
1 Theoretischer Kontext der „Motivierenden Gesprächsführung“
1.1 Motivationspsychologische Überlegungen
1.2 Kognitive Dissonanztheorie
1.3 Theorie der psychologischen Reaktanz
1.4 Selbstwirksamkeitstheorie
1.5 Selbstwahrnehmungstheorie
1.6 Selbstregulationstheorie
1.7 Transtheoretisches Modell der intentionalen Verhaltensänderung
1.8 Klientenzentrierte Therapie
1.9 Zusammenfassung der Grundannahmen und -haltung
1.9.1 Grundannahmen
1.9.2 Grundhaltung
2 Prinzipien, Methoden und Ablauf der „Motivierenden Gesprächsführung“
2.1 Der Ansatz im Überblick
2.2 Interventionsprinzipien
2.2.1 Empathie ausdrücken
2.2.2 Diskrepanzen entwickeln
2.2.3 Widerstand umlenken
2.2.4 Selbstwirksamkeit fördern
2.2.5 Ethische Leitlinien
2.3 Basismethoden
2.3.1 Aktives Zuhören
2.3.2 Offene Fragen
2.3.3 Bestätigung
2.3.4 Zusammenfassen
2.4 Spezielle Methoden
2.4.1 Brainstorming
2.4.2 Bilanz bzw. Vier-Felder-Entscheidungsmatrix
2.4.3 Skalierungen
2.4.4 Reframing
2.4.5 Zukunft imaginieren / hypothetische Veränderung
2.5 Ablauf / Phasen
2.5.1 Phase 1 - Aufbau von Änderungsbereitschaft
2.5.2 Phase 2 – Selbstverpflichtung für Veränderung stärken
2.6 Grenzen des Ansatzes
3 Anwendung und Wirksamkeit in der Suchthilfe
3.1 Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten (FRED)
3.2 Motivational Case Management (MOCA)
4 Schlussfolgerungen
4.1 Zur Theorie und Methode
4.2 Zur Praxis
Literatur
Vorwort
Die sich im Jahr 2003 bietende Möglichkeit der Aufnahme eines berufsbegleitenden Studiums der Sozialen Arbeit am Institut für Weiterbildung an der Hochschule Neubrandenburg bedeutete für mich die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches. Es waren viereinhalb Jahre voll mit neuen Erkenntnissen, Erfahrungen und Begegnungen. In dieser Zeit habe ich viel Zuspruch, Förderung und Zutrauen von Familie, Freunden, Kollegen und Dozenten erlebt, für die ich mich bedanken möchte. Einige wenige dieser wunderbaren Menschen möchte ich hier nennen und damit ein besonderes Danke! ausdrücken: Prof. Dr. Henning Trabandt und Helga Trabandt für die Chance zum Studium und die fürsorgliche Begleitung, meinen geduldigen Kommilitonen Dirk Felten, Dietmar Nagel und Michael Käckenmeister für intensive Diskussionen und persönliches Verständnis, meinem Kollegen Dr. Karl-Heinz Karusseit für kritisches konstruktives Hinterfragen und Unmengen von hilfreicher Literatur, Prof. Dr. Volker Kraft für die freundliche und Mut machende Unterstützung in der Prüfung und bei der Diplomarbeit und meinen Söhnen Mathias und Marcel, die nie über die zu wenige Zeit klagten, die ich neben Arbeit und Studium für sie hatte.
Mit der vorliegenden Diplomarbeit schließt sich der Kreis der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit meinem Arbeitsfeld - der ambulanten Beratung in einer Suchtberatungsstelle - im Besonderen mit dem Ansatz der „Motivierenden Gesprächsführung“.
Isa Rahn
Es geht [...] um das Leben [...] – mit seiner blinden Kraft
und seiner ungeheuren Fähigkeit zur Destruktion,
aber auch mit seinem noch stärkeren Drang zum Wachsen dort,
wo Gelegenheit zum Wachsen geschaffen wird.
Carl R. Rogers[1]
Einführung
Noch bis Ende der 70er Jahre wurden die drei „A’s“ (Abgeschiedenheit, Andacht und Arbeit) als entscheidende Wirkmechanismen der Suchtbehandlung angesehen. Damit ging ein meist strenger konfrontativer und für alle „Süchtigen“ uniformer Behandlungsstil einher. Um überhaupt in Behandlung zu kommen, wurde eine „hohe“ Motivation, die als stabile Eigenschaft aufgefasst wurde, als Voraussetzung angesehen. Aus dieser Sicht heraus waren Berater und Therapeuten nicht bzw. in geringem Maße verantwortlich für die Motivation von Suchtkranken. Nur hohe intrinsische Motivation, die auch an unangenehmen Prozeduren nicht scheiterte, ließ einen Behandlungsversuch als lohnend erscheinen. Das führte u. a. dazu, dass Menschen mit einem problematischen Substanzkonsum oder einer bereits bestehenden Abhängigkeitserkrankung und teilweise Folgestörungen mehrere Jahre zwischen Arzt- und Krankenhausbehandlungen pendelten, ohne suchtspezifische Hilfen zu bekommen. Die damals (und bisweilen noch heute) herrschende traditionelle Haltung von Suchtexperten, dass Suchtkranke erst „ganz am Boden“ (meist sind das körperliche, psychische und soziale Folgen, die kaum noch – selbst nicht durch Abstinenz – rückgängig gemacht werden können) sein müssen, um für eine Behandlung motiviert zu sein, ist aus medizinischer, therapeutischer und an erster Stelle aus ethischer Sicht abzulehnen (vgl. Lindenmeyer 2006, S. 18 ff.).
Mit der Übersetzung von Millers und Rollnicks „Motivational Interviewing. Preparing people to change addictive behavior“ und Kellers Einführung des Transtheoretischen Modell der intentionalen Verhaltensänderung in den deutschsprachigen Raum - beides 1999 - bekam der in Deutschland schon von einigen Suchtexperten ab Mitte der 80er Jahre angeschobene Diskurs um das Verständnis des Stellenwertes von Veränderungsmotivation und Motivationsförderung für eine möglichst früh einsetzende effektive Behandlung von Abhängigkeitskranken und –gefährdeten Auftrieb. Ohne an dieser Stelle die vielen Für und Wider des Diskurses um Krankheits-, Bewältigungs- und Motivationsmodelle, um Abstinenz als höchstes Ziel und Zieloffenheit, um weltanschauliche und wissenschaftliche Ansichten auszuführen, sei darauf hingewiesen, dass dieser Diskurs bei weitem noch nicht beendet ist.
Trotzdem kann mittlerweile von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden. Moderne Suchtprävention und –behandlung nutzt ein verändertes Motivationskonzept: Motivation wird nicht als quantitativer Status, sondern inter-aktioneller Prozess und Motivation nicht Behandlungsvoraussetzung, sondern als (zentraler) Teil der Behandlung angesehen. Anstelle von Motivationsprüfungen und –hürden geht es darum, Veränderungsschritte früh zu fördern und so viel Unterstützung wie möglich anzubieten unter Wahrung der Autonomie und der Würde des Klienten. In den Blick der Suchthilfe[2] kommen nun auch Personen mit riskantem Substanzkonsumverhalten, um hier früh die Auseinandersetzung mit dem Verhalten anzuregen, um letztlich möglichen (weiteren) Störungen vorzubeugen.
Zur Umsetzung der Förderung von Veränderungsmotivation bietet sich insbesondere der Ansatz der „Motivierenden Gesprächsführung“ an. Miller und Rollnick „... definieren motivierende Gesprächsführung als eine klientenzentrierte, direktive Methode zur Verbesserung der intrinsischen Motivation für eine Veränderung mittels der Erforschung und Auflösung von Ambivalenz“ (Miller und Rollnick 2004, S. 47).
Diesen Ansatz der „Motivierenden Gesprächsführung“ untersucht die vorliegende Arbeit genauer. Die Fragestellungen lauten: Welche theoretischen Quellen liegen den Postulaten über Motivation zur Veränderung und deren Förderung zugrunde? Welche Zusammenhänge, logischen Folgen oder auch Unklarheiten gibt es zwischen den einzelnen Theorien und „Motivierender Gesprächsführung“ und z. T. zwischen den Theorien untereinander? Wie werden die theoretischen Annahmen umgesetzt, welche Methoden sind dazu geeignet? Und wie wird der Ansatz aktuell in der Suchthilfe angenommen und umgesetzt?
An diesen Fragen entlang ergibt sich die Gliederung der vorliegenden Arbeit in einen theoretischen Teil im ersten Kapitel, einen methodischen Teil im zweiten und einen praktischen Teil im dritten Kapitel. Schlussfolgerungen, die sich aus der Beschäftigung mit Theorie, Methode und Praxis ergeben werden im vierten Kapitel ausgeführt.
1 Theoretischer Kontext der „Motivierenden Gesprächsführung“
Miller betont, den Ansatz der „Motivierenden Gesprächsführung“ nicht auf theoretischem Weg entwickelt zu haben, sondern aus der Praxis heraus. Sozusagen nachträglich setzte er das Modell in einen theoretischen Kontext, der nach und nach erweitert wurde (vgl. Miller 1999, S. 2). „Motivierende Gesprächsführung“ nutzt Erkenntnisse aus sozial-, motivationspsychologischen und lerntheoretischen Ansätzen (vgl. Miller und Rollnick 1999, S. 14). Das daraus abgeleitete Interventionsmodell und die Haltungen von Beratern/Therapeuten[3] folgen Ansätzen aus der humanistischen und kognitiven Psychotherapie. „Motivierende Gesprächsführung“ folgt demnach keinem bestimmten theoretischen Konzept, sondern ist als eklektischer[4] Ansatz zu verstehen. Den wesentlichen theoretischen Quellen, die Miller und Rollnick in ihren Publikationen erwähnen, wird im Folgenden zum tieferen Verständnis nachgegangen und die relevanten Aspekte kurz mit ihrem jeweiligen Bezug zur „Motivierenden Gesprächsführung“ dargestellt. Die im Punkt 1.1 angeführten Überlegungen zur Motivation fallen insofern aus der Rolle, das hier keine von Miller und Rollnick explizit angeführten theoretischen Grundlagen beschrieben werden. Es wird vielmehr versucht, ein Grundverständnis von Motivation und Motivationsmodellen vor allem im Suchthilfebereich zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu skizzieren und dabei die Parallelen zur „Motivierenden Gesprächsführung“ zu zeigen. Zum Schluss des Kapitels werden Grundannahmen und -haltungen der „Motivierenden Gesprächsführung“ noch einmal zusammengefasst.
1.1 Motivationspsychologische Überlegungen
Dem Ansatz der „Motivierenden Gesprächsführung“ liegt die zunächst von Miller formulierte Annahme zu Grunde, dass Suchtverhalten vorwiegend ein Motivationsproblem ist. Systematische Studien der Zusammenhänge von Suchtverhalten und volitionalen Prozessen ließen am Diagnosemerkmal „Kontrollverlust“ bzw. „verminderte Kontrolle“, welches das kognitive Leitkonstrukt der medizinischen Diagnose von Abhängigkeit[5] darstellt, zweifeln und damit auch an den daraus abgeleiteten Interventionsstrategien (vgl. Miller 1998, S. 2 f.). Miller und Rollnick sehen die Förderung von Motivation für eine Veränderung als „... in sich selbst [...] angemessene Aufgabe, zeitweise sogar die wichtigste und notwendigste Aufgabe, innerhalb einer ‚helfenden’ Beziehung...“ (Miller und Rollnick 2004, S. 42).
Petry unterstützt die Annahme der Priorität der Motivationsproblematik u. a. mit seinem „Erwartungs-Wert-Modell zur Entstehung und Überwindung süchtigen Verhaltens“, wonach verkürzt die Suchttendenz das Ergebnis einer Subtraktion der Veränderungsmotivation von der Konsummotivation ist (vgl. Petry 1993, S. 93 f.).
John et al. kommen nach Vergleich von relevanten Studien zu Motivierungsmaßnahmen bei Alkoholproblemen ebenfalls zu der plausiblen Hypothese, dass die persönliche Entscheidung, das Problemverhalten zu ändern, prädikativ für die spätere Aufrechterhaltung des veränderten Verhaltens ist und dass damit die Wahl der Wege dahin (z. B. Therapie oder auch Selbsthilfegruppe) eher zweitrangig ist (vgl. John et al. 2000, S. 42).
Wenn Suchtverhalten (bzw. später weiter gefasst gesundheitsschädigendes bzw. -gefährdendes Verhalten) vorwiegend als ein Problem fehlender Motivation (für ein gesünderes Alternativverhalten) aufgefasst wird und das gesundheitspolitische Ziel in der Vermeidung von möglichen Folgeerkrankungen besteht, stellt sich die Frage, wie kann die Motivation für eine Veränderung gefördert werden? Speziell dafür braucht es weniger Erkenntnisse über Suchtursachen- bzw. Störungsmodelle, sondern genauere Kenntnisse über die Zusammenhänge von Motivation, Entscheidungen und Verhalten.
Motivation ist ein viel gebrauchter und in zahlreichen Varianten interpretierter Begriff. Zimbardo definiert Motivation allgemein als: „umfassenden Begriff, der sich auf das Ingangsetzen, Steuern und Aufrechterhalten von körperlichen und psychischen Aktivitäten bezieht“ und „auf interne Variablen und Prozesse verweist“ sowie „zur Erklärung beobachteter Verhaltensänderung beiträgt“. Dazu gehörig beschreibt er ein Motiv als „interne Bedingung für das Ingangsetzen, Steuern und Aufrechterhalten einer spezifischen Klasse von Verhaltensweisen [...]. Ein Motiv ist wenigstens teilweise erlernt und das Ergebnis sozialer Einflüsse“ (Zimbardo 1992, S. 618).
Ähnlich - speziell für die Suchthilfe - sieht Schwoon Motivation als ein prozesshaftes Geschehen an, welches durch Wechselwirkungen zwischen individuellen und strukturellen Bedingungen bestimmt wird. Er versteht Motivation (eingrenzend auf den Bereich der Interventionen) als Bereitschaft, einen Veränderungsprozess zu beginnen, ihn fortzusetzen und die erreichten Veränderungen aufrechtzuerhalten. Er unterscheidet drei Konzepte:
- Behandlungsmotivation als Motivation, eine störungsspezifische Behandlung aufzunehmen
- Abstinenzmotivation als Motivation, ein suchtmittelfreies Leben führen zu wollen und
- Änderungsmotivation als Bereitschaft, störungsspezifische und störungs-unspezifische Verhaltensweisen zu ändern (vgl. Schwoon 1998, S. 1 ff.).
Behandlungsmotivation kann Abstinenz- und Veränderungsmotivation enthalten, muss aber nicht logisch enthalten sein; Abstinenzmotivation kann Behandlungs- und muss Veränderungsmotivation enthalten; Veränderungsmotivation muss weder (aber kann) Behandlungs- noch Abstinenzmotivation enthalten.
Problematisch sind die Konstrukte Abstinenz- und Behandlungsmotivation vor allem bei Klienten, die keine Abhängigkeit aufweisen, da hier weiterführende Behandlungsmaßnahmen meist keine Rolle spielen und Abstinenz kein angemessenes Veränderungsziel darstellt. Hier kann z. B. bei Risikoverhalten im Sinne einer Früherkennung und –intervention nur die Änderungsmotivation thematisiert werden. Bei Klienten mit einer Abhängigkeitsproblematik ist die Änderungsmotivation nach einer Untersuchung von DiClemente für den Behandlungserfolg entscheidender als die Behandlungsmotivation (vgl. Freyer 2006, S. 47) .
Miller und Rollnick schließen sich der lerntheoretisch begründeten Definition an von Motivation als „... Wahrscheinlichkeit [...], mit der eine Person eine spezifische Veränderungsstrategie ergreift und daran festhält“ (Miller und Rollnick 1999, S. 35). Im Zusammenhang mit „Motivierender Gesprächsführung“ ist ausdrücklich die Änderungsmotivation gemeint, da nur hier die dem Modell inhärente Zieloffenheit vorliegt.
Im Ansatz der „Motivierenden Gesprächsführung“ ist nach Ansicht von Miller ein motivationales Modell der Verhaltensänderung schon enthalten, muss aber seiner Ansicht nach noch differenzierter entwickelt werden (vgl. Miller 1998, S. 6). Motivationsmodelle zur Suchtentwicklung bedeuten nach Kremer (vgl. 2001, S. 166) einen wesentlichen Fortschritt im Bereich der Suchterkrankungen u. a. mit dem Effekt einer Normalisierung und Entdramatisierung, so dass Suchtverhalten vergleichbar wird mit anderen psychisch beeinflussbaren Verhaltensweisen.
1.2 Kognitive Dissonanztheorie
Der kognitiven Dissonanztheorie nach Leon Festinger liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen nach Harmonie, Konsistenz oder Übereinstimmung zwischen ihren Kognitionen[6] streben. Paare von Kognitionen können in einer irrelevanten (füreinander ohne Bedeutung) oder einer relevanten konsonanten (eine Kognition folgt aus der anderen) oder relevanten dissonanten (das Gegenteil der einen Kognition folgt aus der anderen) Beziehung zueinander stehen. Letzteres ist ein unausgewogener Zustand, der einen Druck zur Reduktion dieses Spannungszustandes erzeugt. Die Stärke der Dissonanz ist u. a. direkt abhängig von der wahrgenommenen Wichtigkeit der beiden Kognitionen. Eine große Dissonanz erhöht die Stärke des Drucks zur Reduktion der Dissonanz (vgl. Festinger 1978, S. 253 ff.) Es wird davon ausgegangen, dass Dissonanz „... ein eigenständiger motivierender Faktor ist“ (Festinger 1987, S.17).
Dissonanzreduktion ist möglich, indem
- die Kognition des Verhaltens geändert wird, also die Ursache der Dissonanz beseitigt wird (vgl. ebd., S. 31)
- neue konsonante Kognitionen hinzugefügt werden
- die Relevanz der dissonanten Kognitionen heruntergestuft werden
- die Relevanz der konsonanten Kognitionen heraufgesetzt werden (vgl. ebd., S. 256).
Ein typisches Beispiel zur Dissonanzreduktion beschreibt Festinger anhand eines Gewohnheitsrauchers, welcher durch die Information, dass Rauchen schädlich für die Gesundheit sei, eine kognitive Dissonanz empfindet, da diese Information seiner an sich gesundheitsbewussten Einstellung widerspricht. Der ersten Strategie entspräche, die Ursache zu beseitigen, also mit dem Rauchen aufzuhören. Mittels der zweiten Strategie würde er seinem Wissen neue Kognitionen hinzufügen, die mit dem Rauchen konsonant sind: z. B. aktiv nach Informationen zu suchen, die bestätigen, dass Rauchen die Konzentration erhöht. Die dritte Strategie würde z. B. die Überlegung beinhalten, dass die Wahrscheinlichkeit von Folgeerkrankungen durch das Rauchen sehr viel geringer sei im Vergleich zu Folgen von Übergewicht und Bewegungsmangel, also die Wichtigkeit der dissonanten Kognition herunterstuft. Der vierten Strategie, die Relevanz der konsonanten Kognitionen heraufzusetzen, entspräche, die positiven Aspekte des Rauchens, wie z. B. subjektiv empfundene Entspannung und Gewichtskontrolle höher zu bewerten und für sich persönlich als sehr wichtig einzuschätzen (vgl. Festinger 1978, S. 31 ff.).
Bei (Verhaltens-)Veränderungen, die einen erheblichen Verlust oder erhebliche Schmerzen auf einer Seite bedeuten, ergibt sich ein gewisser Änderungswiderstand, dessen Stärke sich durch das Ausmaß des erwarteten Verlustes bzw. durch das Ausmaß der Befriedigung, die aus dem gegenwärtigen Verhalten gezogen wird, bestimmt (vgl. ebd., S. 37). Am obigen Beispiel ergäbe sich ein hoher Änderungswiderstand, wenn z. B. schwer auszuhaltende Entzugserscheinungen, wie Nervosität und Unkonzentriertheit (Verlust, Schmerzen) erwartet werden oder die empfundenen Vorteile des Rauchens wie entspannende Pausen oder die schlanke Figur einen hohen Stellenwert (Befriedigung) haben.
Ein weiterer wichtiger Aspekt zum Verstehen von Verhalten sind die Aussagen der kognitiven Dissonanztheorie zu getroffenen Entscheidungen, bei denen mindestens zwei Alternativen mit jeweiligen Vor- und Nachteilen zur Auswahl standen. Hier entsteht fast immer Dissonanz. Die Vorteile der verworfenen Alternative stehen zusammen mit den Nachteilen der gewählten Alternative der durchgeführten Handlung dissonant gegenüber. Möglich ist auch eine konsonante Beziehung der durchgeführten Handlung zu den Nachteilen der verworfenen und den Vorteilen der gewählten Alternative. Die Stärke der Dissonanz nach Entscheidungen ist u. a. abhängig von der allgemeinen Wichtigkeit der Entscheidung, von der Stärke der wahrgenommenen Vorteile der nicht gewählten Alternative und ob die Entscheidung freiwillig getroffen wurde oder durch Belohnung oder Drohung beeinflusst wurde (vgl. Festinger 1978, S. 253 ff.).
Wichtig zu erwähnen und für aus den Erkenntnissen der Theorie abgeleiteten Interventionsansätze sind die teils erheblichen individuellen Unterschiede bei der Wahrnehmung der Intensität der Dissonanz (Dissonanztoleranz) und entsprechend die verschiedenen Möglichkeiten der Reduktion bzw. auch Vermeidung von Dissonanz (vgl. ebd., S. 261 f.). Auf weitere – für das behandelte Thema nicht relevante - Anwendungsgebiete der Theorie der kognitiven Dissonanz wird nicht eingegangen.
Für den Ansatz der „Motivierenden Gesprächsführung“ ist die Annahme wesentlich, dass kognitive Dissonanzen einen hauptsächlichen Motivationsfaktor darstellen. Kognitive Dissonanzen bezeichnen Miller und Rollnick vereinfachend als Diskrepanzen zwischen dem gegenwärtigen Zustand und dem idealen Selbstbild. Diskrepanz also zwischen gegenwärtigem Verhalten und persönlichen Werten und Zielen wird als eine zentrale Voraussetzung für Veränderung angesehen und entwickelt (vgl. Miller und Rollnick 2004, S. 60). Sehr verkürzt heißt es entsprechend: „...keine Diskrepanz, keine Motivation“ (ebd., S. 43). Diese Diskrepanzen herauszuarbeiten, indem der Klient zur Selbstexploration angeregt wird, sie dann zu nutzen und in Richtung Veränderung zu verstärken ist eines der Interventionsprinzipien.
Zur anschaulichen Darstellung der Ambivalenz führen Miller und Rollnick die Metapher einer Waage oder Wippe ein (siehe Abb. 1) mit zwei Arten von Gewichten: der wahrgenommene Nutzen des aktuellen Verhaltens und entsprechend befürchtete Nachteile einer Veränderung auf der einen Seite und die wahrgenommenen Kosten des aktuellen Verhaltens und der erhoffte Nutzen einer Veränderung auf der anderen Seite. Diese Kosten-Nutzen-Rechnung ist nicht zu vereinfachen im Sinne einer mathematischen Gleichung; die Gewichtung im Sinne der besonderen Bedeutung der einzelnen Vor- und Nachteile für den jeweiligen Klienten zeigt ein komplexes sehr persönliches Bild der Ambivalenz und den damit verbundenen Annäherungs-Vermeidungskonflikt[7] (vgl. Miller und Rollnick 2004, S. 33 f.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Wippe-Modell (nach Miller und Rollnick 2004, S. 34)
Anhand der Wippemetapher wird vorstellbar, wie rasch die Motivation zumindest zu Beginn des Prozesses in die andere Richtung umschlagen kann.
Der erschwerenden Situation einer erneuten Dissonanz nach einer möglichen Entscheidung für Veränderung (was z. B. im Bereich von problematischem Substanzkonsum sehr häufig auftritt und u. a. Rückfälle auslösen kann) soll u. a. durch die sehr gründliche Exploration der Vor- und Nachteile mit jeweiligem Vorausdenken möglicher Konsequenzen, detaillierter Planung und Betonung der Autonomie vorgebeugt werden (vgl. Miller und Rollnick 2004, S. 177 ff.).
Die Möglichkeiten der Dissonanzreduktion, die nicht zur Einstellungs- und Verhaltensänderung führen, sind aus Blickwinkel von Beratung/Therapie Widerstandsreaktionen wie z. B. bagatellisieren, leugnen etc. Solcher Widerstand wird in der „Motivierenden Gesprächsführung“ als Ausdruck der einen Seite der Ambivalenz ausdrücklich akzeptiert und benannt, aber nicht verstärkt (vgl. Miller und Rollnick 2004, S. 62 f).
1.3 Theorie der psychologischen Reaktanz
Die Theorie der psychologischen Reaktanz nach Brehm postuliert einen "Reaktanz"[8] genannten motivationalen Zustand, in den ein Mensch gerät, wenn sein Entscheidungsspielraum in irgendeiner Weise eingeengt oder mit Einengung bedroht wird. Erlebt ein Mensch eine Bedrohung oder tatsächliche Einschränkung bisheriger Freiheitsräume, so wird er mehr oder weniger Energie darauf verwenden, seine Freiheit[9] wieder herzustellen bzw. die Bedrohung seiner Freiheit abzuwenden. Hierbei wird vorausgesetzt, das der betroffene Mensch das Gefühl hat, in der fraglichen Sache überhaupt entscheiden zu können und zu wollen. Die Stärke der Reaktanz hängt ab von:
- der Wichtigkeit der eingeengten Freiheit
- dem Umfang des (subjektiven) Freiheitsverlustes
- der Stärke der Einengung (vgl. Dickenberger 2006, S. 96 f.).
Reaktanz zeigt sich in (mindestens) einem der folgenden Effekte:
- Die Person, deren Freiheit bedroht ist (etwa durch ein Verbot), tut genau das, was sie nicht tun soll. (direkte Wiederherstellung der Freiheit)
- Die Person demonstriert ihre Freiheit, indem sie ein anderes, aber vergleichbares Verhalten zeigt oder indem sie einer nächsten Aufforderung zu einem bestimmten Verhalten nicht nachkommt. (indirekte Wiederherstellung der Freiheit)
- Die Person greift diejenigen, die ihre Freiheit bedrohen, körperlich oder psychisch an. Auch empfundene Wut als Möglichkeit der Erregungsabfuhr ist Effekt von Reaktanz. (Aggressionen)
- Die Person findet genau die Alternative attraktiv, die ihr genommen werden soll und entwickelt zunehmend mehr das Gefühl, selbst entscheiden zu wollen und zu können (Attraktivitätsveränderung) (vgl. Dickenberger 2006, S. 98).
Wenn die Freiheitseinengung von außen vermindert oder abgebaut wird, sinkt die Stärke der Reaktanz. Dieses wird erreicht, indem eine andere (als die einengende) Person bzw. auch die einengende Person (oder auch Instanz), der Person, die sich in ihrer Freiheit bedroht fühlt, vorher ausgeschlossene Alternativen (wieder) zur Verfügung stellt (vgl. Dickenberger 2006, S. 99). In Beratungs- und Therapieprozessen in der Suchthilfe tritt wie oben beschriebene Reaktanz (oder mit dem üblichen Begriff Widerstand) häufig auf. Ursachen solchen Verhaltens u. a. der Wahrnehmung des Klienten von Freiheitseinschränkung zuzuschreiben, wird plausibel angesichts der Tatsache, dass nur ein geringer Anteil der Klienten ohne äußeren sozialen Druck eine Beratung/Behandlung beginnt und in Vorwegnahme des Prozesses kaum Alternativen und Entscheidungsmöglichkeiten erwartet. Ebenso denkbar ist auch die hohe Nichtantrittsquote eines Teils der Klienten in stationäre Drogentherapien, die mit einer (angekündigten) zeitlich begrenzten starken Einschränkung persönlicher Entscheidungsfreiheit (die in der Vorstellung sehr bedrohlich erscheinen kann) einhergehen, mit dieser Theorie in Verbindung zu sehen. Hier ist häufig eine hohe Änderungs- und Behandlungsmotivation erkennbar, aber diese Hilfeform ist dann nicht akzeptabel.
Ob ein Klient angesichts der Konfrontation mit für ihn bedrohlich wahrgenommenen Informationen kognitive Dissonanz erlebt oder Reaktanz entwickelt ist abhängig von der Attribution (Ursachenzuschreibung), z. B. kann die Aussage eines Arztes: „Sie sind schwer alkoholabhängig und müssen sofort aufhören Alkohol zu trinken!“ einerseits bei internaler Attribution eher eine Dissonanzreduktion durch die bekannten Möglichkeiten (neue Kognitionen, Herunterstufung der Relevanz der dissonanten Kognitionen oder Heraufsetzen der Relevanz der konsonanten Kognitionen) angestrebt werden, bei externaler Attribution wird eher Reaktanz mit dem Ziel der Freiheitswiederherstellung mit o. g. Effekten auftreten.
Völlig fehlende Reaktanzreaktionen bei freiheitseinschränkenden Interventionen sind eher ein Zeichen für Apathie im Sinne der Theorie der erlernten Hilflosigkeit[10] und weniger Zeichen für Veränderungsmotivation. In Zusammenschau dieser entgegengesetzten Reaktionen besteht die Annahme, dass Freiheitseinschränkung (auch im Sinne von fehlender Kontrollerwartung) von geringem Ausmaß und kurzer Dauer zu Reaktanzreaktionen und begleitendem Ärger führt; bei länger andauernder Freiheitseinschränkung und bei Aufgabe von Kontrollerwartungen werden Reaktanzreaktionen eher geringer und können bis hin zum gänzlichen Motivationsverlust führen und damit in Hilflosigkeit übergehen (vgl. Fritsche, Jonas und Frey 2006, S. 90).
Miller und Rollnick beziehen die Theorie in ihr Ambivalenzkonzept als Erklärung für die von ihnen genannten „paradoxen Reaktionen“ mit ein: trotz des Wissens und Wahrnehmens von erheblichen Nachteilen eines Verhaltens (z. B. gesundheitlicher Störungen) wird bei erheblichem Druck von außen und damit empfundener Freiheitseinschränkung das Verhalten fortgesetzt bzw. noch verstärkt (vgl. Miller und Rollnick 2004, S. 36 ff.). Für den Beratungs- bzw. Therapieprozess wird dementsprechend angenommen, dass so gemeinter Widerstand auch Folge von unangemessenen Interventionen des Beraters/Therapeuten ist. Werden vor allem die scheinbar so augenscheinlichen Nachteile des Klientenverhaltens vermittelt mit der scheinbar ebenso logischen Konsequenz einer Forderung der Änderung, wird der Klient eher mit den Vorteilen des Status quo argumentieren. Der „Vorteil“ dieser Reaktionen ist, dass sie für den Berater/Therapeuten wahrnehmbare Achtungszeichen sind und weitere Interventionen danach ausgerichtet werden können.
1.4 Selbstwirksamkeitstheorie
Selbstwirksamkeit ist nach Albert Bandura die Erwartung bzw. die Überzeugung, ein bestimmtes Verhalten ausführen zu können bzw. eine bestimmte Situation bewältigen zu können. Selbstwirksamkeit (auch Selbstwirksamkeitserwartung, Kompetenzerwartung) hat sich als bedeutsamer Faktor in verschiedenen Theorien zur Erklärung von Verhalten und Verhaltensänderungen erwiesen. Das Konstrukt der Selbstwirksamkeit ist ursprünglich Bestandteil der sozial-kognitiven Theorie von Bandura, deren Ziel es ist, "...menschliches Verhalten unter der Annahme einer ständigen Wechselwirkung zwischen kognitiven Determinanten, Verhaltensdeterminanten und Umweltdeterminanten zu erklären" (Bandura 1979, S. 10). Nach Bandura ist nicht die tatsächliche Kompetenz entscheidend, ob Personen ein Verhalten ausüben oder nicht, sondern die Überzeugung der Kompetenz. Das heißt, wer nicht überzeugt ist, z. B. ein problematisches Verhalten ändern und ein anderes Verhalten zeigen zu können, obwohl er überzeugt ist, ein ernsthaftes Problem zu haben und klare Einsicht in Änderungsnotwendigkeiten zeigt, wird erst gar keinen Versuch unternehmen. Die Selbstwirksamkeit wird von vier verschiedenen Quellen bestimmt:
- direkte Erfahrung, z. B. erfolgreiches Meistern einer Anforderungssituation in der Vergangenheit führt zur Verstärkung, Misserfolg zur Schwächung der Selbstwirksamkeit
- indirekte, auch stellvertretende Erfahrung, z. B. erfolgreiches Meistern einer Anforderungssituation durch eine andere, möglichst ähnliche Person (Modellbeobachtung)
- symbolische Erfahrung, z. B. Zuspruch von vertrauenswürdigen Anderen (soziale Unterstützung)
- Ausmaß emotionaler Erregung, z. B. ein Zuviel oder Zuwenig von emotionaler Erregung ist nicht leistungsfördernd (vgl. Stalder 1985, S. 244 ff).
Zwischen Selbstwirksamkeit und Verhalten besteht eine wechselseitige Abhängigkeit: Personen entwickeln Ziele oder Standards als Grundlage für ihre Handlungen. Es werden verschiedene Handlungsalternativen in Betracht gezogen und eine Entscheidung für das konkrete Verhalten mit Blick auf die erwarteten Ergebnisse und die wahrgenommene Selbstwirksamkeit getroffen. Nach Ausführung der Handlung wird das Ergebnis anhand äußerer sozialer und innerer Auswertung überprüft. Wenn die Auswertung positiv ausfällt, werden entweder die Anstrengungen vermindert oder für künftige Handlungen höhere Standards gesetzt. Bei negativer Bewertung (Misserfolg, Versagen) entscheiden der Wert des Ergebnisses und die Selbstwirksamkeit bei früheren Bemühungen über Aufgabe oder neuen Versuch (vgl. Pervin 2000, S. 393).
In der „Motivierenden Gesprächsführung“ ist die Förderung der Selbstwirksamkeit eines der Interventionsprinzipien, welches mit bestimmten Methoden zur Förderung von Änderungszuversicht umgesetzt wird. Oben genannte Quellen werden systematisch erkundet und gestärkt, z. B. durch Erfragen und Verstärken vergangener Erfolge, dem Erforschen von Quellen sozialer Unterstützung, dem Zuspruch bzw. der Veränderung zutrauenden Haltung des Beraters und nicht zuletzt in einer ruhigen, förderlichen Atmosphäre (vgl. Miller und Rollnick 2004, S. 155 f).
Auch im Zusammenhang mit der für Veränderung notwendigen Selbstwirksamkeit ist noch einmal das in der Beratung und Therapie bei Suchtverhalten häufig auftretende Phänomen der erlernten Hilflosigkeit zu sehen. Miller und Rollnick bezeichnen diesen Zustand bei Klienten als fehlende Zuversicht, als Gefühl, dass eine Veränderung nicht erreichbar ist, obwohl möglicherweise die Dringlichkeit einer Veränderung wahrgenommen wird. Auch niedrige Zuversicht wird als ambivalenter Zustand gesehen mit der Annahme, dass eine 100%ige Nicht-Zuversicht nicht möglich ist, also die Möglichkeit der Verstärkung der - wenn auch sehr geringen - zuversichtlichen Anteile besteht (vgl. ebd., S. 156).
1.5 Selbstwahrnehmungstheorie
Der Selbstwahrnehmungstheorie nach Daryl Bem zufolge können Einstellungen, Meinungen und Gefühle, die nicht genau definierbar oder vieldeutig sind, durch Beobachtungen des eigenen Verhaltens und der Situation, in der sich das Verhalten abspielt, erschlossen werden. Anknüpfend an die in der Attributionstheorie[11] formulierten Annahme, dass Menschen versuchen das Verhalten anderer Menschen zu verstehen, um zu einem Kausalzusammenhang oder einer sinnvollen Erklärung zu kommen, geht die Theorie der Selbstwahrnehmung davon aus, dass Menschen die selben Attributionsprinzipien, die sie auf andere anwenden, auch auf sich selbst anwenden (vgl. Bem 1974, S. 74 ff.)
Wenn demnach Verhalten und dessen Bedingungen eine Grundlage für Meinungen und Einstellungen sind, dann ist die Veränderung individuellen Verhaltens eine Möglichkeit, eigene Meinungen und Einstellungen zu ändern – kurz gesagt: Einstellungen folgen (unter bestimmten Bedingungen) Verhalten. Das entspricht der Möglichkeit der Reduktion kognitiver Dissonanzen, bei welcher neue konsonante Kognitionen hinzugefügt werden, um z. B. das mit ursprünglichen Einstellungen dissonante Verhalten zu rechtfertigen und somit „richtig“ zu stellen; auch hier folgt dem Verhalten eine (neue) Einstellung (vgl. Bem 1974, S. 73).
In der „Motivierenden Gesprächsführung“ finden sich auf diesen Überlegungen aufbauende Komponenten. In Verbindung mit der Selbstwirksamkeitstheorie gehen Miller und Rollnick davon aus, dass die Aussagen, die eine Person bezüglich ihrer Änderungsbereitschaft und Selbstwirksamkeit macht, diese verstärken im Sinne von: „Wenn ich dem zuhöre, was ich sage, dann erfahre ich, was ich glaube“[12]. Dieses kann sich in Richtung Widerstand entwickeln z. B. bei konfrontierender Ansprache und reaktanter Gegenteilsbekundung; im Sinne „Motivierender Gesprächsführung“ werden änderungsbezogene, zuversichtliche Aussagen gefördert (vgl. Miller und Rollnick 2004, S. 41).
Ebenfalls wird auf den Annahmen der Selbstwahrnehmungstheorie in Verbindung mit der kognitiven Dissonanztheorie aufgebaut bei der Förderung von Problemerkenntnis, z. B. über das Führen eines Konsumtagebuches von Menschen mit problematischem Substanzkonsum, welches tatsächliches Verhalten widerspiegelt und häufig eigene Vorstellungen der Einstellungen zum Konsum revidiert und kognitive Diskrepanzen fördert.
[...]
[1] Das Zitat ist Carl R. Rogers’ Einleitung zu „Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie“ entnommen (Rogers 1992, S. 16).
[2] Spätestens hier wird deutlich, dass der frühere Begriff der „Suchtkrankenhilfe“ nicht mehr die Vielfalt der Leistungen des Suchthilfesystems beschreibt. Seit 2005 beschreibt der Begriff „Suchthilfe“ das differenzierte Hilfesystem (vgl. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2005).
[3] Motivierende Gesprächsführung versteht sich sowohl als Beratungs- und Therapiekonzept, daher wird im Folgenden meist die Kombination Berater/Therapeut verwendet. Zur vereinfachten Sprachregelung: Wenn im Weiteren von Beratern, Therapeuten, Klienten die Rede ist, sind genauso Beraterinnen, Therapeutinnen und Klientinnen gemeint.
[4] Grawe bezeichnet eine Therapieform als eklektisch, wenn die zur Anwendung kommenden Therapiemethoden aus verschiedenen Therapierichtungen stammen (vgl. Grawe 1994, S. 638).
[5] Die aktuell gültige Definition für ein Abhängigkeitssyndrom (psychoaktive Substanzen) nach ICD-10 GM, Version 2007: „Eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom“ (DIMDI 2006, S 157).
[6] Unter „Kognition“ oder „kognitivem Element“ ist nach Festinger „... irgendeine Kenntnis, Meinung oder Überzeugung von der Umwelt, von sich selbst oder von dem eigenen Verhalten“ zu verstehen (vgl. Festinger 1978, S. 17).
[7] Miller und Rollnick beschreiben Ambivalenz auch als Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt, bei dem Menschen vom gleichen Verhalten (Beziehung, Person, Sache etc.) sich sowohl angezogen als auch abgestoßen fühlen (vgl. Miller und Rollnick 2004, S. 33).
[8] Reaktanz ist ursprünglich ein Begriff aus der Physik und bezeichnet einen Blindwiderstand.
[9] Freiheit ist hier gemeint als Wahl zwischen Entscheidungsoptionen (ob, wann und wie gehandelt / sich verhalten wird) und wird auch als Erwartung von Kontrolle angesehen (vgl. Dickenberger 2006, S. 96 ff.).
[10] Schreibt sich eine Person ein negatives Ereignis selbst und zudem stabilen Ursachen zu, verringert dies ihr Selbstwertempfinden und sie erwartet eher auch in Zukunft negative Ereignisse. Kommt dazu, dass die Person glaubt, dass von ihr nicht zu beeinflussende (globale) Faktoren ursächlich für negative Ereignisse verantwortlich sind, generalisieren sich Misserfolgserwartungen und bewirken Hilflosigkeit (vgl. Försterling 1994, S. 237).
[11] Als Attributionstheorien werden theoretische Ansätze bezeichnet, die untersuchen, wie Menschen Ereignisse auf ihre zu Grunde liegenden Ursachen zurückführen, um sie zu verstehen, vorherzusagen und zu kontrollieren (vgl. Försterling 2006, S. 354).
[12] Bem und Kollegen haben in zahlreichen Untersuchungen festgestellt, dass Menschen für diesen „Selbstüberredungs-Effekt“ umso empfänglicher werden, je freier sie sich in der Situation fühlen und wenn sie solche Aussagen unter Bedingungen machen, von denen sie selbst annehmen, dass sie unter diesen Bedingungen die Wahrheit sagen (z. B. in Befragungen bei einem Anwalt) (vgl. Bem 1978, S. 82 f.).
- Quote paper
- Isa Rahn (Author), 2007, Grundlagen der "Motivierenden Gesprächsführung" und ihre Anwendung in der Suchthilfe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94435
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