Eine der Hauptaufgaben der Literaturwissenschaft besteht darin, mit vorhandenen Texten zu arbeiten, sie zu interpretieren. Allerdings haben sich die Auffassungen von einer „angemessenen“ Interpretation im Laufe der Zeit verändert. Dabei lässt sich den verschiedenen literaturtheoretischen Strömungen eine unterschiedliche Akzentuierung der Bedeutung der Größen Autor, Rezipient, Text zuordnen. Während es für die Hermeneutik vor allem um die Rekonstruktion einer Autorintention und die Konstitution eines möglichst eindeutigen Textsinns geht, verschiebt sich der Fokus zunächst - angeregt durch den New Criticism und den Strukturalismus - auf den Text, während in der Rezeptionsästhetik und der empirischen Literaturwissenschaft vor allem der Rezipient ins Zentrum des Interesses rückt. Beeinflusst durch die Naturwissenschaften wurde auch innerhalb der Geisteswissenschaften die Forderung nach einer verbindlichen Methodik laut, was darauf abzielte die „Wissenschaftlichkeit“ zu erhöhen.
Gerade an einem Autor wie Franz Kafka sind klassische, hermeneutische Verfahren an ihre Grenzen gestoßen.
In dieser Arbeit sollen anhand eines Beispieltextes von Kafka, seiner Türhüterlegende „Vor dem Gesetz“, die Veränderungen und der Wandel im interpretativen Denken nachgezeichnet werden. In einem zweiten Schritt sollen die Auswirkungen der Erneuerungen in der Literaturwissenschaft aus einer kognitionspsychologisch orientierten Sichtweise betrachtet werden, um Hinweise darauf zu finden, wie sich literaturtheoretische Positionen von Literaturwissenschaftlern auf ihre Interpretationen auswirken. Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, welche Möglichkeiten dem noch relativ jungen Ansatz der kognitionspsychologisch orientierten Literaturwissenschaft zukommen können.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Die Studie von Els Andringa
1.1 Zusammenfassung der Ergebnisse für die Analyse der Interpretationen von 1950-1967
1.2 Deutung der Befunde aus kognitionspsychologischer Perspektive
1.3 Entwicklungen ab 1967
1.4 Zwischenergebnisse
2 Beispielinterpretationen aus dem Sammelband von Bogdal
2.1 Die Interpretation von Bernd Witte
2.1.1 Aspekte der Interpretation
2.1.2 Zwischenergebnis aus kognitionspsychologischer Sicht
3 Möglichkeiten und Perspektiven einer kognitions-psychologisch orientierten Literaturwissenschaft
3.1 Möglichkeiten eines kognitiven Ansatzes in der Literaturwissenschaft
3.2 Neue Fragen an Vor dem Gesetz durch einen kognitiven Ansatz
4 Reflexion
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
Eine der Hauptaufgaben der Literaturwissenschaft besteht darin, mit vorhandenen Texten zu arbeiten, sie zu interpretieren. Allerdings haben sich die Auffassungen von einer „angemessenen“ Interpretation im Laufe der Zeit verändert. Dabei lässt sich den verschiedenen literaturtheoretischen Strömungen eine unterschiedliche Akzentuierung der Bedeutung der Größen Autor, Rezipient, Text zuordnen. Während es für die Hermeneutik vor allem um die Rekonstruktion einer Autorintention und die Konstitution eines möglichst eindeutigen Textsinns geht, verschiebt sich der Fokus zunächst - angeregt durch den New Criticism und den Strukturalismus - auf den Text, während in der Rezeptionsästhetik und der empirischen Literaturwissenschaft vor allem der Rezipient ins Zentrum des Interesses rückt. Beeinflusst durch die Naturwissenschaften wurde auch innerhalb der Geisteswissenschaften die Forderung nach einer verbindlichen Methodik laut, was darauf abzielte die „Wissenschaftlichkeit“ zu erhöhen. (vgl. Andringa, 1994, S. 9ff; Anz, 2007, S. 285ff.)
Gerade an einem Autor wie Franz Kafka sind klassische, hermeneutische Verfahren an ihre Grenzen gestoßen:
„Kafka hat nicht nur die wissenschaftliche Methodik ihrer Eindeutigkeit beraubt, er hat auch die Deutbarkeit von Dichtung überhaupt ins Zwielicht der Fragwürdigkeit gerückt.“ (Politzer, 1980; zit. nach Bogdal, 1993, S. 8)
In dieser Arbeit sollen anhand eines Beispieltextes von Kafka, seiner Türhüterlegende „Vor dem Gesetz“, die Veränderungen und der Wandel im interpretativen Denken nachgezeichnet werden. Dabei wird eine Studie von Els Andringa (1994) zugrunde gelegt. In einem zweiten Schritt sollen die Auswirkungen der Erneuerungen in der Literaturwissenschaft aus einer kognitionspsychologisch orientierten Sichtweise betrachtet werden, um Hinweise darauf zu finden, wie sich literaturtheoretische Positionen von Literaturwissenschaftlern auf ihre Interpretationen auswirken. Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, welche Möglichkeiten dem noch relativ jungen Ansatz der kognitionspsychologisch orientierten Literaturwissenschaft zukommen können.
1 Die Studie von Els Andringa
Els Andringa möchte mit ihrer Monographie Wandel der Interpretationen eine empirisch fundierte Studie vorlegen, die sich mit Interpretationen zu Kafkas „Vor dem Gesetz“ (VdG) auseinandersetzt. Am Beispiel der Interpretationen von VdG möchte sie der Frage nachgehen, wie Wissensfortschritt im Bereich der Literaturwissenschaft aussehen könnte und wie sich vor allem die verschiedenen Rahmentheorien auf den Erkenntnisfortschritt ausgewirkt haben. Dazu hat sie über vierzig Interpretationen aus dem Zeitraum von 1950 bis 1990 untersucht und sich bemüht, deren zentralen Fragestellungen herauszuarbeiten, um zu zeigen, wie sich das Forschungsinteresse und die Interpretationen zu Kafkas „Türhüterlegende“ entwickelt haben. Es geht ihr darum, „die interpretativen Züge und Ergebnisse professioneller Leser zu verfolgen und in ihren Bedingungen zu rekonstruieren und nicht darum, selbst eine ‚Interpretation’ zu entwerfen.“ (Andringa, 1994, S. 46). Ihr Hauptziel ist es, „ Verschiebungen, Veränderungen und Erneuerungen in den aufeinander folgenden Interpretationen zu finden.“ (Andringa, 1994, S. 82). Hier sind die Anknüpfungspunkte für eine kognitionspsychologisch orientierte Literaturwissenschaft zu erkennen. Andringa selbst hat ihren Forschungsschwerpunkt in der empirischen Literaturwissenschaft[1]. Doch genauso wie bei der kognitionspsychologisch orientierten Literaturwissenschaft stehen der Leser und die Wirkung eines Textes auf ihn (im Falle der Studie von Andringa der „professionelle Leser“) im Zentrum des Interesses.[2]
Während Andringas Studie eher darlegenden und beschreibenden Charakter hat, soll in dieser Arbeit der Frage nachgegangen werden, ob die kognitionspsychologisch orientierte Literaturwissenschaft helfen kann, Erklärungen für die von Andringa konstatierten „Verschiebungen, Veränderungen und Erneuerungen“ in den Interpretationen von VdG zu finden.
Andringa teilt den Interpretationskorpus in zwei Gruppen ein. Die erste umfasst die Interpretationen von 1950-1967, zur zweiten gehören alle verbleibenden. Sie begründet dieses Vorgehen damit, dass alle „Klassiker“, die immer wieder zitiert werden, im Zeitraum bis 1967 aufzufinden sind und so gewissermaßen einen eigenen Bezugsrahmen für spätere Interpreten darstellen. Außerdem konstatiert sie, dass die Umbrüche in den Rahmentheorien am Ende der 1960er Jahre deutlicher werden und sich stärker auf die Interpretationspraxis niederschlagen. Deshalb sollen zunächst die wichtigsten Ergebnisse aus der Studie zu den beiden Zeiträumen kurz zusammengefasst werden.
1.1 Zusammenfassung der Ergebnisse für die Analyse der Interpretationen von 1950-1967
In den frühen Interpretationen dominiert noch ein hermeneutisches Interpretationsparadigma, wobei sich die Einflüsse der werkimmanenten Interpretation und des New Critisism aus dem angloamerikanischen Sprachraum andeuten. Anhand der einzelnen Interpretationen hat Andringa einen Fragenkatalog zusammengestellt, um die Untersuchungsschwerpunkte zu ordnen und zu systematisieren (siehe Anhang). Der erste Fragenkomplex umfasst alle Fragen, die auf einen Erklärungsversuch der kausalen Zusammenhänge der Handlungen und Ereignisse, z.B. „Warum tritt der Mann nicht einfach ein?“, „Warum kommt der Mann überhaupt zum Gesetz?“ (I)[3] abzielen. In der Phase bis 1967 das Gros der Interpretationen zur Beantwortung dieser Fragen auf einen religiösen oder philosophischen Bezugsrahmen zurück. In einem weiteren Themenbereich, der eng mit dem ersten zusammenhängt, werden Fragen nach den Beziehungen zwischen den narrativen Hauptelementen der Geschichte (Mann vom Lande, Türhüter, Gesetz) zusammengefasst, z.B. „Welches Verhältnis haben der Mann vom Lande und der Türhüter zum Gesetz?“ „Wie gestaltet sich das (Macht)Verhältnis zwischen Mann vom Lande und Türhüter?“ (II). Ein dritter Fragenkomplex befasst sich mit dem Symbolwert der Elemente, z.B. „Was ist das Gesetz?“, „Was/Wer wird vom Mann vom Lande repräsentiert?“ (III).
Überlegungen zu dem Verhältnis zwischen der Legende und dem Roman stellt Andringa in eine weitere Kategorie (IV). Vor allem vor dem Hintergrund, dass VdG erstmals im Jahr 1915 in der unabhängigen jüdischen Wochenschrift „Selbstwehr“ veröffentlicht wurde und da es sich erst nach dem Tod Kafkas herausstellte, dass VdG auch im Domkapitel des Process -Romans eingearbeitet wurde, ist für viele Interpretationen die Frage richtungweisend, ob VdG als Einzeltext oder im Kontext des Romanes interpretiert wird.
Der letzte Fragekomplex, der vor 1967 behandelt wurde, befasst sich mit der Gattungszugehörigkeit von VdG. Es ist zu konstatieren, dass sehr viele Gattungsbezeichnungen für VdG benutzt wurden (tlw. unreflektiert und synonym). Kafka selbst hatte den Text als „Legende“ bezeichnet. In den Interpretationen wurde vor allem diskutiert, ob es sich um eine Parabel handelt.
Es zeigt sich deutlich, dass es sich bei den Interpretationsschwerpunkten um klassische Elemente einer hermeneutischen Deutungspraxis handelt.
1.2 Deutung der Befunde aus kognitionspsychologischer Perspektive
Andringa (1994, S. 103ff) fasst die Entwicklung der Interpretationen dieses Zeitraums folgendermaßen zusammen:
„Werden in den früheren Deutungen noch ‚das Gesetz’, ‚der Türhüter’ und ‚der Mann’ als relativ unabhängig voneinander präsentiert und in einen außerhalb des Textes liegenden Rahmen gestellt, so zeichnet sich allmählich eine Akzentverschiebung in Richtung der wechselseitigen Bedingtheit ab. Anfangs wird die Ursache des Nicht-Eintretens vor allem außerhalb der Handlung gesucht, in Form von Unwissen, religiösem Scheitern oder Erbsünde. Allmählich wird sie eher als handlungsinhärent, als in der Handlung entstehend gedeutet. […] In diesen Verschiebungen wird eine Entwicklung von der generalisierenden, auf die Symbolgehalte gerichteten zu einer eher textimmanenten Deutung sichtbar.“
In diesem Zitat wird eine Wirkung der Rahmentheorie auf die Interpretationspraxis angedeutet. Zusammen mit den weiteren Ergebnissen der Auswertung der Interpretationen bis 1967 kann man daraus den Schluss ziehen, dass schematisches Wissen, welches durch die literaturtheoretische Grundposition bestimmt wird, den möglichen Rahmen für eine Interpretation absteckt. Bis in die 1970er Jahre dominieren noch hermeneutische Ansätze des Textverstehens, die beispielsweise einen im Text angelegten Sinn implizieren. Dadurch, so könnte man vermuten, ist das Spektrum der Fragestellung festgelegt. Überlegungen, ob es überhaupt eine richtige Deutung eines literarischen Textes geben kann, passen nicht in ein Schema Literaturwissenschaft, Interpretation und Hermeneutik, in dem die Prämisse gilt, dass sich in einem Text ein vom Autor intendierter Sinn verbirgt, den es durch interpretative Bemühungen freizulegen gilt.
Das schematische Wissen, das eng mit einer literaturtheoretischen Grundposition korreliert, könnte man also in gewissem Maße als intersubjektiv bezeichnen.
Allerdings gibt es noch eine zweite Möglichkeit, wie sich schematisches Wissen auswirken kann, die Andringa (1994, S. 29) folgendermaßen formuliert:
„In den Interpretationen von ‚Vor dem Gesetz’ ist zu sehen, wie dasselbe Problem manchmal zu verschiedenen Fragen und zu verschiedenen Lösungsstrategien führt.“
Während ein literaturtheoretisches Schema für alle Interpreten der frühen Phase offenbar ein ähnliches Spektrum an möglichen Fragestellungen festgelegt hat, spielen eher individuelle Schemata eine Rolle, wenn es um die Art und Weise geht, wie diese Fragen letztendlich beantwortet werden. Weil VdG sich einem intuitiven, spontanen Verständnis entzieht, müssen im Zuge einer hermeneutischen Interpretation die Einzelteile zu einem Gesamtsinn verbunden werden. Dafür ist ein externer Bezugsrahmen nötig, um die im Text enthaltenen Widersprüche aufzulösen. Welcher Bezugsrahmen gewählt wird, hängt stark vom jeweiligen Interpreten ab. Es findet ein Wechselspiel zwischen bottom-up und top-down Prozessen statt. In VdG gibt es verschiedene Schlüsselwörter, die unterschiedliche Schemata aktivieren können. Die Analyse von Andringa zeigt, dass in den Deutungen der Interpreten unterschiedliche Schemata dominieren.
Als Beispiel sei auf die Interpretation von Martin Buber (1951) verwiesen. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Frage nach dem Motiv des Mannes vom Lande, zum Gesetz zu gehen und, obwohl dieser keinen Einlass erhält, vor der Tür zu warten (I.1). Da hier ein sukzessiver Erklärungsaufbau im bottom-up-Modus durch textuelle Informationen nicht möglich ist, scheint bei der Suche nach einer Deutung eher eine top-down ausgerichtete Informationsverarbeitung zu dominieren. Auf der Basis von schematischem Wissen zur „Religiosität“ identifiziert er das Gesetz als „göttliche Bestimmung“. Als Motiv des Mannes vom Lande nennt er die Suche nach Berufung und sieht in dem Geschehen den Verlust der Beziehung des modernen Menschen zu Gott illustriert. Hier zeigt sich also auch eine bestimmte Persönlichkeitstheorie (s. Kapitel 3.2; Schneider, 2000, S.82ff.), die Buber als Maßstab bei der Bewertung der Figuren zugrunde legt.
1.3 Entwicklungen ab 1967
Während sich in der frühen Phase der Interpretationen kaum direkte Verweise auf eine bestimmte Rahmentheorie finden und sich die Fragestellungen der Interpretationen durchaus ähneln, erweitert sich das Spektrum des Interpretierens nach 1967 erheblich. Bis in die 1970er Jahre dominierten hermeneutische Ansätze, die literaturtheoretischen Positionen waren einander ähnlich. Hier konstatiert Andringa einen deutlichen Wandel, der zu einem Pluralismus der Rahmentheorien und auch zu neuen Fragestellungen führt. Interpreten in einer philologischen Tradition, die an die „klassische Periode“ anknüpfen, setzen VdG vor allem in einen biographischen Bezugsrahmen, um Quellen und Vorlagen zu identifizieren, die Kafka beim Schreiben von VdG herangezogen hat. Tiefenpsychologische Einflüsse werden deutlicher - teilweise explizit - und der Rezipient gewinnt zunehmend an Bedeutung für den Vorgang des Interpretierens. (vgl. Andringa, S. 107ff.)
Es kann nicht auf alle Strömungen eingegangen werden, die Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden haben und sich auch in den Interpretationen von VdG niederschlagen. An dieser Stelle sollen deshalb vor allem die Entwicklungen thematisiert werden, die für die Interpretation von Bernd Witte (s. Kapitel 2) von Bedeutung sind.
[...]
[1] Andringa war von 1996-98 Präsidentin der IGEL (international association of empirical literary studies) und hat sich zudem mit Kognitionspsychologie und Psycholinguistik befasst.
[2] Die kognitionspsychologisch orientierte Literaturwissenschaft ist durchaus dem empirischen Paradigma zuzuordnen. Es soll hier also nicht ein Gegensatz zwischen Andringas Analyse und einem kognitiv orientierten Forschungsansatz unterstellt werden. Es soll nur deutlich gemacht werden, dass sie eben keinen explizit kongnitionspsychologsich orientierten Ansatz für ihre Untersuchung wählt, sondern andere Schwerpunkte setzt.
[3] Die Angabe der römischen Ziffern bezieht sich auf den Fragekatalog, der sich im Anhang der Arbeit befindet.
- Arbeit zitieren
- Christian Austermann (Autor:in), 2008, Wandel der Interpretationen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94427
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