Was ist gemeint, wenn von Solidarität die Rede ist? In der Alltagssprache bedeutet Solidarität die wechselseitige Verpflichtung oder Bereitschaft, füreinander einzustehen. Solidarität bedeutet heute das Gefühl der Verpflichtung, anderen zu helfen. Besonders Arme, Alte, Behinderte, Menschen in Entwicklungsländern und Opfer von Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand der gesellschaftlichen Solidarität. Geholfen wird hier nicht aufgrund gemeinsamer Interessen, sondern weil man die Anliegen dieser Menschen für gerechtfertigt hält. Die Grundlage für das Solidaritätsprinzip bildet das Personalitätsprinzip. Während das Personalitätsprinzip den prinzipiellen Rechtsanspruch jedes Menschen als Person entfaltet, geht es im Solidaritätsprinzip um die diesen Rechtsanspruch entsprechenden Pflichten, die sich innerhalb der Rechtsgemeinschaft für jeden einzelnen sowie für die ganze Rechtsgemeinschaft ergeben. Doch worin liegen die Legitimationsgründe für diese Verpflichtungen, die mit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verbunden sind oder verbunden sein sollen? Zunächst müssen geeignete Prinzipien gesucht werden, die zusammen mit dieser Zugehörigkeit eine partikulare Pflicht rechtfertigen können, denn in der Tatsache der Zugehörigkeit liegt noch keine moralische Begründung für solche Verpflichtungen.
Inhalt
1 Einleitung
2 Wortbedeutung von Solidarität
2.1 Die Solidaritätsforderung in der Geschichte
2.2 Theoriegeschichtlicher Überblick
2.3 Das Solidaritätsprinzip in der katholischen Soziallehre
3 Systematische Begründung von Solidarität
4 Abschließende Reflexion
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Was ist gemeint, wenn von Solidarität die Rede ist? In der Alltagssprache bedeutet Solidarität die wechselseitige Verpflichtung oder Bereitschaft, füreinander einzustehen. Solidarität bedeutet heute das Gefühl der Verpflichtung, anderen zu helfen. Besonders Arme, Alte, Behinderte, Menschen in Entwicklungsländern und Opfer von Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand der gesellschaftlichen Solidarität. Geholfen wird hier nicht aufgrund gemeinsamer Interessen, sondern weil man die Anliegen dieser Menschen für gerechtfertigt hält.[1] Die Grundlage für das Solidaritätsprinzip bildet das Personalitätsprinzip. Während das Personalitätsprinzip den prinzipiellen Rechtsanspruch jedes Menschen als Person entfaltet, geht es im Solidaritätsprinzip um die diesen Rechtsanspruch entsprechenden Pflichten, die sich innerhalb der Rechtsgemeinschaft für jeden einzelnen sowie für die ganze Rechtsgemeinschaft ergeben.[2] Doch worin liegen die Legitimationsgründe für diese Verpflichtungen, die mit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verbunden sind oder verbunden sein sollen? Zunächst müssen geeignete Prinzipien gesucht werden, die zusammen mit dieser Zugehörigkeit eine partikulare Pflicht rechtfertigen können, denn in der Tatsache der Zugehörigkeit liegt noch keine moralische Begründung für solche Verpflichtungen. In der Geschichte bezog sich der Begriff der Solidarität auf eine Hilfe für Bedürftige derselben Gewerkschaft, Klasse oder derselben Gattung der Menschheit. Gleichzeitig wurde Solidarität als eine Art der Gerechtigkeit gefordert. Doch in der Verbindung von Hilfe und Gerechtigkeit liegt ein moraltheoretisches Problem. Wenn Hilfe als Gerechtigkeit gefordert werden kann, legt das nahe, dass diejenigen, für die diese Hilfe gefordert wird, ein Recht auf solidarische Hilfe haben, das wie alle Rechte, unabhängig davon, ob sie legal oder nur moralisch sind, erzwingbar ist. Allerdings wird mit ihr auch Hilfe für Menschen gefordert, die den Helfenden weder persönlich noch sonst in irgendeiner Weise nahe stehen. Forderungen, auf die man kein Recht hat und die nicht erzwingbar sind, bezeichnet man als Wohltätigkeit. Es stellt sich die Frage, wie man also Solidarität als ein Recht fordern kann? Schließlich betrifft diese Frage die Grundlagen unseres modernen Sozialstaats.[3] Besonders deutlich wird der Gedanke der Solidarität als konkrete Rechtsgestaltung an den gesetzlichen Sozialversicherungen, zu denen die Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung gehören. Die staatliche Rechtsgemeinschaft setzt hier die Rahmenbedingungen, die sowohl die Verpflichtungen als auch die Anwartschaften der Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft der Versicherten als verbindlich erklären. Hier steht der Gedanke eines solidarischen Umlageverfahrens zwischen Gesunden und Kranken bzw. Pflegebedürftigen, zwischen Arbeitsplatzinhabern und Arbeitslosen und der Generation, die im Wirtschaftsprozess steht sowie der bereits aus dem Wirtschaftsprozess Ausgeschiedenen, im Mittelpunkt.[4] Aus der Frage, wie Solidarität oder Wohltätigkeit erzwingbar sein kann ergibt sich eine weitere Frage, nämlich die, wie ein Sozialstaat gerecht sein kann oder inwieweit es legitim ist, dass er zu Wohltätigkeit zwingen kann. In der folgenden Arbeit möchte ich zeigen, worin die Legitimationsgründe liegen, Solidarität als Rechtpflicht in der Gesellschaft, insbesondere in unserem Sozialstaat, zu verankern. In einem weiteren Schritt werde ich untersuchen, inwieweit Solidarität als Rechtspflicht der Würde des Menschen gerecht werden kann. Ich werde zeigen, dass Solidarität, wenn sie allein Rechtspflicht ist und nicht zugleich aus einer Gesinnung heraus geschieht, ethisch defizitär ist.
2 Wortbedeutung von Solidarität
Der Begriff der Solidarität lässt sich vom lateinischen Wort „solidum“, Boden, fester Grund, ableiten. Demnach kann man Solidarität als das Bewusstsein verstehen, mit anderen auf demselben Boden zu stehen und sich in derselben Situation zu befinden. Aus dieser Gemeinsamkeit ergibt sich die Forderung, entsprechend dieser Gemeinsamkeit zu denken und zu handeln. „Solidarität bedeutet die Bereitschaft, sich für gemeinsame Ziele oder für die Ziele anderer einzusetzen, die man als bedroht und gleichzeitig als wertvoll und legitim ansieht.“[5] Solidarität knüpft in diesem Sinn an eine bestehende Gemeinschaft an. Das, was der Gruppe geschieht, erfährt der Einzelne als ihn selbst betreffend. Der Einzelne fühlt sich angesprochen, wenn die Gemeinschaft seine Hilfe braucht. Allerdings wendet sich nicht nur der Einzelne der Gruppe, sondern auch die Gruppe dem Einzelnen zu. Die Lage des einzelnen Mitglieds ist für die Solidargemeinschaft nie belanglos. Es gibt in der deutschen Sprache einige Verben für diese Solidarität, die sich in gegenseitigen Erwartungen niederschlägt: einander „beistehen“, füreinander „eintreten“ oder füreinander „einstehen“. Solidarität muss sich auf den Anderen, den Fremden einlassen und vollzieht sich keineswegs nur innerhalb bestehender Gemeinschaften. Sich solidarisieren heisst, sich für einen Fremden einsetzen, sich für ihn zuständig fühlen, sich in die Lage anderer zu versetzen. Die Solidarität muss Gruppen überschreiten, sich öffnen und Fremde am eigenen Leben teilhaben lassen. Solidarität verlangt den bewussten Schritt über den Kreis der uns verbundenen Menschen hinaus. Solidarität lässt sich auf die Formel „Einer für alle und alle für einen“ bringen.[6]
2.1 Die Solidaritätsforderung in der Geschichte
Die historischen Umstände der Solidaritätsforderung verdeutlichen zumindest die erzwingbare Solidarität. Das Wort Solidarität kommt aus der französischen Juristensprache. Die Mitglieder eines Verbands heissen „solidaires“, wenn jedes Mitglied für ein anderes haftet. Solidarisch ist, wer für Verbindlichkeiten eines leistungsunfähigen Verbandsgenossen einsteht. Dieses Solidarprinzip liegt, wie eingangs schon erwähnt, den Versicherungen zugrunde. In der Französischen Revolution stieg der Solidaritätsbegriff zur Parole auf. Nach der Freiheit und Gleichheit stritt sie mit der Brüderlichkeit um den dritten Platz. Hier entstand der Glaube, der revolutionäre Kampf gegen das Ancien Régime würde durch die Opfer, die er verlangte alle Bürger einer revolutionären Nation zur gegenseitigen Nothilfe verpflichten. Als Einlösung der Idee der Solidarität entsprach die Verkündigung der Revolutionäre von 1790, staatlich bezuschusste Mindestlöhne, eine staatliche Subsistenzgarantie bei Arbeitsunfähigkeit sowie 1793 ein Bürgerrecht auf Unterhalt, das „droit a la subsistance“, einzuführen. Die Revolutionäre verstanden Solidarität nicht nur als moralisches, sondern auch als Gerechtigkeitsideal. Dafür spricht die Tatsache, dass die Revolutionäre ein Recht auf Subsistenz erklärten. Gleichzeitig behaupteten sie, dass der Staat, wenn er die Subsistenzsicherung der Wohltätigkeit überlasse, nicht seiner Aufgabe nachkomme, das Recht durchzusetzen. Im Gegensatz zur Solidarität stammt das Wort der Brüderlichkeit einer Familie, in der sich Beziehungen an der Wohltätigkeit und nicht an der erzwingbaren Gerechtigkeit orientieren. Die Solidarität schliesst jedoch ein Verhalten der Brüderlichkeit außerhalb der Familie nicht aus. Aus dem Bürgerrecht auf Subsistenz wurde schon 1794 eine vom Einzelfall abhängige Unterstützung ohne Rechtsanspruch. Die Armenhilfe wurde Wohltätigkeitsämtern zugewiesen, die schon im Namen ihr Verständnis der Armenhilfe erkennen ließen, nämlich das Verständnis einer nicht erzwingbaren Wohltätigkeit. Die Französische Revolution hat dem liberalen Staatsmodell mit der Solidaritätsidee das Merkmal des Sozialstaatsmodells aufgezwungen. Doch die Umwandlung des Rechts auf Subsistenz verletzte das liberale Ideal und konnte auch die Armut nicht beseitigen. Das Regime Louis Napoléons fand 1850 mit der Einführung einer staatlich verwalteten und bezuschussten Rentenversicherung eine bessere Lösung. Allerdings versuchte die Regierung jede Verbindung mit der Solidaritätsidee zu vermeiden. Trotz ihres Solidarprinzips blieb die Versicherung so im Rahmen der liberalen Prinzipien, die keine Zwangsversicherungen, sondern nur freiwillige Versicherungen zulassen. Durch August Comte findet der Solidaritätsbegriff Eingang in die sozialwissenschaftliche Diskussion. Im Rahmen seiner „physique sociale“ benennt Comte das soziale Band, das Menschen zu Gruppen und schließlich als Menschheit zusammenschließt. Das geschieht mit dem Terminus solidarité. Er sah die Gesellschaft zusammengehalten durch die arbeitsteilungsbedingte Abhängigkeit der Individuen.[7] In der Geschichte wurde Solidarität also sowohl für Nothilfen als auch als ein Recht der Bedürftigen gefordert. Comte, seine Nachfolger und die Arbeiterbewegung berufen sich auf Emile Durkheims organische Solidarität, bei der die Individuen moderner Gesellschaften durch eine komplexe Arbeitsteilung verbunden sind wie Zellen entwickelter Organismen.
2.2 Theoriegeschichtlicher Überblick
Je weiter man in der Menschheitsentwicklung zurückblickt, desto mehr nehmen die Gemeinschaften, denen die Menschen verpflichtet sind, einen naturwüchsigen Charakter an. Blutsverwandtschaften und sexuelle Beziehungen dominieren. Solidarität hatte in diesen Phasen der Geschichte die gleiche Bedeutung wie Brüderlichkeit. Die Moral war dabei eine Gesamtheit von Normen gegenüber Mitgliedern der eigenen Sippe. Erst später bildeten sich Gemeinschaften, die auf politischen, ethnischen und kulturellen Gemeinsamkeiten beruhen. Henri Bergson beschrieb diesen Übergang von der Moral offener Gesellschaften zur Moral geschlossener Gesellschaften. Demnach hat die geschlossene Gesellschaft ihren Ursprung in unserer Natur. Zur offenen Gesellschaft kommen wir durch Gott, denn nur in Gott kann die Religion den Menschen dazu bringen, das Menschengeschlecht zu lieben.[8] Die Idee einer umfassenden Gemeinschaft aller Menschen wurde vom Christentum aufgegriffen. Allerdings wurde die kosmologische Begründung dabei durch eine theologische ersetzt, die besagt, dass alle Menschen Kinder Gottes und somit Brüder sind. Das Christentum hat die Idee der Gotteskindschaft verbindlich und zu einer wichtigen geschichtlichen Grundlage des ethischen Universalismus gemacht. Auch bei Ethiken, die keinen religiösen Bezug haben, spielt die Idee der Brüderlichkeit eine wichtige Rolle. Der Utilitarismus, der nur unter der Annahme verständlich ist, das alle Menschen eine große Gemeinschaft bilden, belegt dies. Nach John Stuart Mill gibt es eine „natürliche gefühlsmäßige Grundlage für die utilitaristische Moral“.[9] Das Gemeinschaftsgefühl der Menschen wird mit der fortschreitenden Kultur immer stärker. Das Leben in der Gemeinschaft ist dem Menschen so vertraut und wichtig, dass er nur in Ausnahmefällen anders als das Glied eines Ganzen denkt. Der Mensch nimmt in seinem praktischen Handeln mehr und mehr Rücksicht auf das Wohl der anderen. Eingang in die Moralphilosophie fand der Begriff der Solidarität zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier ist besonders Max Scheler zu nennen, bei dem christliche Anknüpfungspunkte eine wichtige Rolle spielen. Dennoch lässt sich eine politisch-soziologische Dimension nicht leugnen. Nach Scheler wird die moralische Welt zu einem großen Ganzen. Jeder einzelne ist mit verantwortlich für das Handeln und Wollen des anderen, sowohl für Schuld als auch für Verdienste. Jedes Individuum hat unabhängig von den eigenen Verdiensten und der eigenen Schuld Anteil am Gesamtverdienst und an der Gesamtschuld. Diese sittliche Solidarität wird erst möglich durch die Annahme, dass die Gemeinschaft von Personen zur Wesenheit einer möglichen Person gehört und das Sinn- und Werteinheiten solcher Gemeinschaft eine apriorische Struktur haben. Notwendig wird die sittliche Solidarität durch die Gegenseitigkeit und Gegenwertigkeit aller sittlichen Verhaltensweisen, die in der idealen Sinneinheit der Akte von Liebe, Versprechen und Achtung liegt. Nikolai Hartmann definiert Solidarität, von Scheler ausgehend als „eine Bindung, ein Zusammenstehen, ein Einstehen und Mitverantwortlichkeit der Personen für Personen.“[10] Er unterscheidet zwischen der rechtlichen Solidarität, der Solidarität aus Nächstenliebe, die auf gemeinsamen Glauben beruhende Solidarität und der geschichtlichen Solidarität mit künftigen Generationen. Rorty hat darauf aufmerksam gemacht, dass unser Solidaritätsgefühl am stärksten mit denen ist, wenn diejenigen, mit denen wir uns solidarisch erklären, zu uns gehören. Das Postulat, das jedes Individuum dazu verpflichtet ist, allen anderen Individuen unterschiedslos zu helfen, überfordert den Menschen. Sympathie spielt immer auch eine Rolle.
[...]
[1] Zulehner, P., Solidarität, 118.
[2] Vgl. Anzenbacher, A., Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, 197.
[3] Vgl. Bayertz, K. (Hg.), Solidarität: Begriff und Problem.
[4] Baumgartner, A./Korff, W., Art. „Sozialprinzipien“, in: W. Korff u.a. (Hg.),Lexikon der Bioethik, Bd. 3, 405.
[5] Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1004.
[6] Baumgartner, A. , in: Christliche Sozialethik, Band 1, hg. Von: Heimbach-Steins, M..
[7] Vgl. Bayertz, K. (Hg.), Solidarität: Begriff und Problem, 55-57.
[8] Vgl. Bayertz, K. (Hg.), Solidarität: Begriff und Problem, 16.
[9] Ebd.
[10] Vgl. Bayertz, K. (Hg.), Solidarität: Begriff und Problem, 18.
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