Bewertung: Gut formuliert, kontextualisiert und vertieft. Könnte detaillierter in der Einzelfallanalyse sein und stilistisch etwas präziser.
Im Rahmen des Hauptseminars ‚Fernsehen, Holocaust und der transnationale Wandel der Erinnerungskultur’ wird im Folgenden die Frage behandelt, wie die Vernichtung europäischer Juden im Fernsehen der jungen Bundesrepublik präsentiert wurde und wie die BRD mit der Dokumentation ‚Nacht und Nebel’ des französischen Regisseurs Alain Resnais umging. Dieser Kurz-Dokumentarfilm ist aus mehreren Gründen ein interessantes Forschungsobjekt. Erstens ist er – wenn auch nur 32 Minuten lang und mit ebenso poetisch-künstlerischem Anspruch wie mit wissenschaftlich-dokumentarischem – eine der frühesten Dokumentationen der Verbrechen in den Vernichtungslagern des Dritten Reiches . Zweitens ist er Teil eines künstlerischen Lebenswerks Resnais´, der bis heute das Lob vieler Kritiker findet. Drittens hat die Produktion des französischen Regisseurs einige politische Kontroversen ausgelöst.
Inhalt
1. Einleitung: Holocaust-Begriff und Forschungsstand
2. Krieg und Holocaust im Film nach 1945
2.1 Beeinflusste das Publikum das Programm oder umgekehrt?
3. Beispiele deutscher Produktionen der 50er
4. Einzeluntersuchung der Dokumentation ‚Nacht und Nebel’
4.2 ‚Nacht und Nebel’ – ein Meilenstein historischer Dokumentationen
4.3 Wirkungen von ‚Nacht und Nebel’
5. Fazit
Quellen
Literatur
Online-Quellen und -literatur
1. Einleitung: Holocaust-Begriff und Forschungsstand
Im Rahmen des Hauptseminars ‚Fernsehen, Holocaust und der transnationale Wandel der Erinnerungskultur’ wird im Folgenden die Frage behandelt, wie die Vernichtung europäischer Juden im Fernsehen der jungen Bundesrepublik[1] präsentiert wurde und wie die BRD mit der Dokumentation ‚Nacht und Nebel’ des französischen Regisseurs Alain Resnais umging. Dieser Kurz-Dokumentarfilm ist aus mehreren Gründen ein interessantes Forschungsobjekt. Erstens ist er – wenn auch nur 32 Minuten lang und mit ebenso poetisch-künstlerischem Anspruch wie mit wissenschaftlich-dokumentarischem – eine der frühesten Dokumentationen der Verbrechen in den Vernichtungslagern des Dritten Reiches[2]. Zweitens ist er Teil eines künstlerischen Lebenswerks Resnais´, der bis heute das Lob vieler Kritiker findet. Drittens hat die Produktion des französischen Regisseurs einige politische Kontroversen ausgelöst[3].
Besonderer Verdienst des Films ist es, zu einem vergleichbar frühen Zeitpunkt die gezielte und massenhafte Ermordung der Lager sowie deren Leidens-Alltag explizit angesprochen und rekonstruiert zu haben, während sich andere Filme über den erst wenige Jahre zurückliegenden größten Krieg der Geschichte noch mit romantisch-verklärten bis heroisch-abenteuerlichen Kriegsgeschichten beschäftigten[4].
Obwohl der Seminartitel den Begriff Holocaust verwendet, war dieser nicht sofort nach dem Krieg etabliert[5]. Zwar war das aus dem Griechischen stammende Wort (holokáutoma bedeutet ‚vollständig Verbranntes’ und meinte ursprünglich ein religiöses Brandopfer) an sich bekannt und wurde auch vereinzelt schon früh mit der Judenvernichtung in Bezug gebracht, doch wurde bis zur Ausstrahlung der gleichnamigen US-amerikanischen Serie ‚Holocaust’ in Deutschland eher von der Vernichtung der europäischen Juden, dem Mord an den Juden und vor allem von den Gräueln des Krieges im Allgemeinen gesprochen.
Um die Präsentation des Massenmords im Fernsehen zu verstehen, müssen auch die politischen Einflussnahmen auf die inhaltliche wie programmatische Gestaltung berücksichtigt werden, ferner die Rezeption und Diskussion des Gesehenen in der Presse und durch das Publikum. Dafür wiederum ist ein Verständnis der Nachkriegssituation Deutschlands wichtig. Diese war in jeder Hinsicht eine Besonderheit: „ erobert, besetzt, von den Siegern verwaltet, Kriegsverluste nicht nur an der Front – auch bei den Frauen und Kindern zu Hause, zerbombte Städte, Krüppel, Gefangene, Not und Elend, eine Flüchtlingswelle aus dem Osten und wenig später die Vertriebenen von jenseits der Oder und Neiße “[6].
Die zum Negativ-Mythos verklärte Herrschaft des Nationalsozialismus´ und seiner wichtigsten Führer wurden als eigentliches Übel und Hauptschuldige identifiziert. Dadurch konnte der Normalbürger erstens sich selbst dem Vorwurf der Mitschuld entziehen und zweitens weiterhin den auch in Deutschland traditionellen Antikommunismus pflegen. Die pauschale Distanzierung von jeglicher totalitärer Herrschaftsform ermöglichte, dass die frischgebackenen deutschen Bundesdemokraten „could simply abhor the past and [...] Communism could be rejected[...] “[7].
Nach außen drückte die BRD aus, wie sehr sie die jüngste Geschichte bedauerte, nach innen waren Kriegsschuld und Vernichtungspolitik noch kein Thema: „ Those [...] who wanted to forget found a willing ear in Chancellor Adenauer “ und seiner “politics of normality”[8]. Dies zeigen vor allem Christoph Classen[9] und Ewout van der Knaap[10] in ihren Untersuchungen der deutschen Gesellschaft und der Fernsehlandschaft dieser Zeit – im weiteren Kontext auch die Arbeiten von Knuth Hickethier zur „ Geschichte des deutschen Fernsehens “[11], Norbert Frei in seinen Ausführungen zur „Vergangenheitspolitik“[12] sowie im Hinblick auf die personellen und strukturellen Kontinuitäten zwischen Drittem Reich und der Nachkriegs-BRD Heiko Buschke[13].
2. Krieg und Holocaust im Film nach 1945
Für die deutsche Nachkriegsgesellschaft und die sie beschäftigenden Themen und Problematiken lassen sich zwei Phasen ausmachen: Die erste Phase ist die der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der es noch kein deutsches Fernsehen gab und in der die Alliierten das gesamte öffentliche Leben und somit auch den Rundfunk kontrollierten[14]. Die zweite Phase ist die des Aufbaus eines souveränen Staates[15] und der Westintegration der BRD[16]. Die dritte ist die des Deutschen Wirtschaftswunders mit ihren technischen und kulturellen Neuerungen und des sich zuspitzenden Kalten Krieges mit seinen weltpolitischen Umwälzungen[17].
Zu den Erfahrungen des Krieges an sich gesellten sich in der ersten Phase die Alltagsprobleme der Nachkriegszeit. Schwer integrierbare Kriegsheimkehrer, zerrissene Familien, die Anstrengungen des Wiederaufbaus, die Nahrungsknappheit und die Wirren der Besatzungspolitik standen der Bereitschaft der Deutschen entgegen, sich für Kriegsschuldfragen und die Leiden anderer Opfer zu interessieren. Die Deutschen fühlten sich selbst als Opfer der nationalsozialistischen Diktatur und des Krieges[18]. Die begangenen Verbrechen wurden gegen selbst erfahrenes Leid aufgewogen und mit dem sprichwörtlichen Nihilismus des Krieges zu erklären versucht[19].
Nicht nur die Niederlage, sondern auch die Schande der deutschen Kriegsverbrechen hatte einen verstärkenden Effekt auf die für das Nachkriegsdeutschland so typische apolitische Haltung auch in Hinsicht auf die Filmproduktion und -rezeption[20]. Da die Deutschen sich von ihrer ehemaligen politischen Führung betrogen sahen und sehr wohl wussten, dass man über Jahre durch dreisteste Propaganda mit Falschinformationen versorgt worden war, sahen sie zudem in der schockierenden Holocaust-Aufklärung der Alliierten zum Teil nichts als weitere Propaganda – diesmal als Diktat der Sieger.
Dies mag erklären, warum nicht schon in den späten 40er Jahren eine deutsche Produktion den Massenmord an Juden und anderen Gruppen aufgegriffen hatte. Der untersuchte Zeitraum ist hingegen die zweite Phase, in deren Mitte ‚Nacht und Nebel’ erschien. Hier stellt sich eher die Frage, wieso ein französischer Kunst-Regisseur die schwierige Aufgabe der Holocaust-Dokumentation als erster anging, während Fernsehen und Geschichtswissenschaft sich dieser Aufgabe auch in den 50ern noch entzogen hatten.
2.1 Beeinflusste das Publikum das Programm oder umgekehrt?
Das frühe Fernsehen folgte nur den Bedürfnissen des Publikums, indem es in seinem Programm vor allem Zerstreuung durch Heimatfilme[21] und in Kriegsfilmen die Bedienung eines Opfermythos´ anbot. In der Regel stellten die Filme der 50er Jahre deutsche Opfer in den Vordergrund und einige versuchten, deutsche Kriegshandlungen zu legitimieren. Die Opferrolle der Juden und anderer Völker wurde größtenteils ausgeblendet, Kriegshandlungen und -verbrechen wurden entweder legitimiert, als Schuld einer kleinen, fanatischen Nazi-Führungsclique dargestellt oder als Folge des Kriegszustandes zu erklären versucht.
Als Ausweg aus dieser Schwierigkeit, die nahe Vergangenheit offen und direkt zu thematisieren, wichen Filmemacher auf Ersatzschauplätze aus. Sie spielten Krieg und Sieg in Verfilmungen früherer Schlachten nach und verlegten die zu diskutierenden Fragen von Schuld, Verantwortung und Ohnmacht gegenüber dem “Moloch Krieg “ in die Antike; so „ rekurrierten mehrere frühe Fernsehspiele explizit auf die antike Tragödie, deren Deutungsschema sie adaptierten. Andere Autoren boten einen positiven Ausweg in Form metaphysischer Erlösung durch christliches Bekenntnis “[22]. Schuld und Verantwortung – so Classen – wurden auch in den 50er Jahren nicht gänzlich ausgeblendet, aber allgemeiner behandelt und in philosophisch-moralische Diskurse über die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Fügung und der Macht der Masse verkleidet[23].
Eine bisher nicht beantwortete Frage[24] ist die, ob die Filmindustrie sich lediglich den Bedürfnissen des Publikums anpasste und daher eher Unterhaltung und Zerstreuung lieferte oder ob andersherum das von fiktionalen, heroischen, seichten und heiteren Filmen sowie gegenwartsbezogenen Sendungen geprägte Programm des Fernsehens ein mögliches Interesse der Deutschen am gesellschaftlichen und politischen Kontext der Judenverfolgung einfach nicht bediente.
[...]
[1] Die wichtigsten deutschen Sender gingen in dieser Reihenfolge auf Sendung: NWDR ab Ende 1952, ARD 1954, ZDF ab 1963, Dritte Programme ab 1964.
[2] In ‚Nacht und Nebel’ kombiniert Resnais Filmaufnahmen des Lagers Auschwitz wie er es Mitte der Fünfziger vorfindet mit Filmszenen aus der Zeit des Dritten Reichs und Film- und Fotomaterial aus der Zeit der Befreiung der Lager durch alliierte Truppen 1945.
[3] Van der Knaap, Ewout (Editor): „Uncovering the Holocaust – The international reception of Night and Fog”, Wallflower Press, London & New York 2006, S. 51.
[4] Beispiele für deutsche Filme dieser Zeit: Müller, Artur u.A.: „Das Dritte Reich“ 14-teilige Serie, (D 1961); Umgelter, Fritz: „So weit die Füße tragen“, (D 1959); Hubalek, Claus: „Die Festung“, NWRV Fernsehspiel (D 1957).
[5] Erst in den 60er und 70er Jahren setzte sich die Erkenntnis der herausragenden Rolle jüdischer Opfer durch. Begriffsprägend wirkte in Bezug auf den Terminus Holocaust vor allem die 1978/79 erschienene, amerikanische gleichnamige Serie „ Holocaust “ aus den USA.
[6] Franz Schneider (Hg.).: „Der Weg der Bundesrepublik – von 1945 bis zur Gegenwart“, Verlag C. H. Beck, München 1985, S.11.
[7] Van der Knaap, Ewout (Editor): „Uncovering the Holocaust – The international reception of Night and Fog”, S. 46.
[8] Van der Knaap, Ewout (Editor): „Uncovering the Holocaust – The international reception of Night and Fog”, S. 47.
[9] Classen, Christoph: „Back to the fifties ? Die NS-Vergangenheit als nationaler Opfermythos im frühen Fernsehen der Bundesrepublik“, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 30 (2005), 4, S. 112-127; und derselbe in: „Bilder der Vergangenheit – Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955 – 1965“, Böhlau Verlag, Köln 1999.
[10] Van der Knaap, Ewout (Editor): „Uncovering the Holocaust – The international reception of Night and Fog”, S. 47 und 51ff.
[11] Hickethier, Knut: „Geschichte des deutschen Fernsehens“, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart / Weimar 1998.
[12] Frei, Norbert: „Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999.
[13] Buschke, Heiko: „Deutsche Presse, Rechtsextremismus und nationalistische Vergangenheit in der Ära Adenauer“, Campus Verlag, Frankfurt 2003.
[14] Diese Phase dauerte von 1945 bis zur Staatsgründung 1949, beziehungsweise zur Übergabe des NWDR in deutsche Hände 1948.
[15] Von der Staatsgründung und Teilung in Ost und West 1949 bis zum Beginn der 60er Jahre.
[16] Mitglied des Europarats 1950, Natobeitritt 1955, Unterzeichnung der römischen Verträge 1957.
[17] Die Phase des Kalten Krieges überschneidet sich mit der des Wirtschaftswunders in den 50er und 60er Jahren, hat ihre Höhepunkte 1948/49 in der Blockade Berlins, der Koreakrise (1950) und der Kubakrise (1960) und erstreckte sich danach noch bis zum Zerfall des Ostblocks ab 1990.
[18] Classen, Christoph: „Back to the fifties ? Die NS-Vergangenheit als nationaler Opfermythos im frühen Fernsehen der Bundesrepublik“, S. 113.
[19] Interessant sind hier zwei Aspekte: Resnais´ ‚Nuit et Brouillard’ könnte sich indirekt auch auf den zur Zeit seiner Entstehung geführten Algerienkrieg bezogen und die dort von den Franzosen begangenen Unmenschlichkeiten kritisiert haben. Außerdem erschien 1957 der französische Kriegsfilm ‚Bitter war der Sieg’, der seinerseits den vielzitierten Nihilismus des Krieges beschreiben sollte; siehe: Ray, Nicholas: „Bitter war der Sieg“ (Originaltitel: Amére Victoire), Kriegsfilm, 99 Minuten, Frankreich 1957.
[20] Van der Knaap, Ewout (Editor): „Uncovering the Holocaust – The international reception of Night and Fog”, S. 48.
[21] Besonders erfolgreiche Filme waren zum Beispiel die „Sissi“-Filme und der „Hauptmann von Köpenick“. Eine Auflistung der deutschen Heimatfilme auf Wikipedia.org verdeutlicht einen Boom dieses Genres in den 50er Jahren: http://de.wikipedia.org/wiki/Heimatfilm#Traditionelle_Heimatfilme [Stand: 30.10.2007]
[22] Classen, Christoph: „Back to the fifties ? Die NS-Vergangenheit als nationaler Opfermythos im frühen Fernsehen der Bundesrepublik“, S. 118.
[23] Classen, Christoph: „Back to the fifties ? Die NS-Vergangenheit als nationaler Opfermythos im frühen Fernsehen der Bundesrepublik“, S. 118.
[24] Angesichts der Schwierigkeiten der Medienwirkungs-Forschung bleibt diese Frage wahrscheinlich unbeantwortet. Trotzdem wäre es eine Untersuchung wert, die fragt, ob es in den 50er Jahren ein Publikum gab, dass im Vornherein Ansprüche an die Film-Produktionen stellte oder ob TV und Kino eher passiv genutzt wurden – und eher im Nachhinein per Leserbrief Rückmeldung gegeben wurde. Andersherum wäre zu fragen, ob die Filmindustrie schon zu dieser Zeit intensive Evaluationen zu Zuschauerzufriedenheit und –wünschen anstellte. Mit anderen Worten – inwieweit Filme schon damals den Wünschen des Publikums entsprechend produziert wurden.
- Quote paper
- Patrick Wilke (Author), 2008, Der Holocaust im frühen Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94016
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