Die Mystik ist „ohne festen Grund“, weil sie „über einem Abgrunde schwebt und gaukelt […], woran zu zarte Gemüter sich gern festhalten mögen, weil sie durch das gröbere Irdische sich durchzuarbeiten scheuen; weil sie von der Menschenmasse gedrückt werden, und nun auf einmal ganz isolirt, in einer schönen Einsamkeit sich wieder finden.“
Karl Philipp Moritz (Gnothi Sauton)Bei der Lektüre von Karl Philipp Moritz’ psychologischem Roman ‚Anton Reiser’ scheinen die Erfahrungen, die die Hauptfigur Anton in seiner Kindheits- und Jugendphase macht, als Hauptursache für seine spätere Entwicklung und Lebenshaltung. Mit Moritz’ Worten:
„[…] die Erinnerungen aus Anton Reisers frühesten Kinderjahren waren es vorzüglich, die seinen Charakter und zum Theil auch seine nachherigen Schicksale bestimmt haben.“
Die empirischen Bedingungen in Anton Reisers Milieu und seine Erziehung werden als Folge für die Herausbildung seiner Individualität dargestellt. Die innere Geschichte Antons, wird demnach als Produkt der Umstände geschildert, die seine Persönlichkeit im Laufe seines Lebens prägen und konstituieren.
Zu diesen „Erinnerungen aus Anton Reisers frühesten Kinderjahren“ ist beispielsweise die unglückliche, von häufigen Auseinandersetzungen geprägte, Beziehung von Antons Eltern zu nennen. Da das Ehepaar Reiser zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, kann es ihrem gemeinsamen Kind, die nötige Liebe nicht geben, was wiederum dazu führt, dass Anton sich vernachlässigt und unterdrückt fühlt.
Den Ursprung der Streitigkeiten zwischen Antons Eltern bildet der quietistische Zirkel um einen Herrn von F., zu dessen Anhängern auch Antons Vater gehört.
Die Quietisten werden im ‚Anton Reiser’ als Sekte dargestellt, die seelisch schwache Menschen anzieht und sie wie Marionetten beherrscht. Sie zieht aber nicht nur ‚seelenkranke’ Menschen an, sondern bringt auch solche hervor, wie es weiter unten am Beispiel Anton Reisers ersichtlich werden wird.
Meiner Ansicht nach, sind die bereits aufgeführten Komponenten (Antons Elternhaus und der Quietistenzirkel in Pyrmont) die Wesentlichsten für Antons Persönlichkeitsentwicklung, denn am Ende des Textes erscheint Anton als ‚verlorene Seele’, die vergebens ihren Weg sucht, überall aneckt und Enttäuschungen erleidet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Begriff des Quietismus – Historischer Hintergrund
3. Die Quietistengemeinde im ‚Anton Reiser’
4. Das Entwicklungssystem Unterdrückung – Selbstinszenierung – Selbsttäuschung
4.1 Unterdrückung
4.2 Selbstinszenierung
4.3 Selbsttäuschung
5. Schlusswort
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Bei der Lektüre von Karl Philipp Moritz’ psychologischem Roman ‚Anton Reiser’ scheinen die Erfahrungen, die die Hauptfigur Anton in seiner Kindheits- und Jugendphase macht, als Hauptursache für seine spätere Entwicklung und Lebenshaltung. Mit Moritz’ Worten:
„[…] die Erinnerungen aus Anton Reisers frühesten Kinderjahren waren es vorzüglich, die seinen Charakter und zum Theil auch seine nachherigen Schicksale bestimmt haben.“[1]
Die empirischen Bedingungen in Anton Reisers Milieu und seine Erziehung werden als Folge für die Herausbildung seiner Individualität dargestellt. Die innere Geschichte Antons, wird demnach als Produkt der Umstände geschildert, die seine Persönlichkeit im Laufe seines Lebens prägen und konstituieren.
Zu diesen „Erinnerungen aus Anton Reisers frühesten Kinderjahren“[2] ist beispielsweise die unglückliche, von häufigen Auseinandersetzungen geprägte, Beziehung von Antons Eltern zu nennen. Da das Ehepaar Reiser zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, kann es ihrem gemeinsamen Kind, die nötige Liebe nicht geben, was wiederum dazu führt, dass Anton sich vernachlässigt und unterdrückt fühlt.
Den Ursprung der Streitigkeiten zwischen Antons Eltern bildet der quietistische Zirkel um einen Herrn von F., zu dessen Anhängern auch Antons Vater gehört.
Die Quietisten werden im ‚Anton Reiser’ als Sekte dargestellt, die seelisch schwache Menschen anzieht und sie wie Marionetten beherrscht. Sie zieht aber nicht nur ‚seelenkranke’ Menschen an, sondern bringt auch solche hervor, wie es weiter unten am Beispiel Anton Reisers ersichtlich werden wird.
Meiner Ansicht nach, sind die bereits aufgeführten Komponenten (Antons Elternhaus und der Quietistenzirkel in Pyrmont) die Wesentlichsten für Antons Persönlichkeitsentwicklung, denn am Ende des Textes erscheint Anton als ‚verlorene Seele’, die vergebens ihren Weg sucht, überall aneckt und Enttäuschungen erleidet.
Im ‚Anton Reiser’ ist ein Entwicklungssystem, das sich aus den Merkmalen Unterdrückung, Selbstinszenierung und Selbsttäuschung[3] zusammensetzt, zu erkennen, dessen Basis die quietistische Lehre der Madame Guyon bildet.
Im Verlauf der vorliegenden Proseminararbeit werde ich versuchen, den folgenden Fragen nachzugehen:
Wie entfaltet sich das Entwicklungssystem Unterdrückung – Selbstinszenierung – Selbsttäuschung im ‚Anton Reiser’? Inwiefern beeinflusst die quietistische Glaubensgemeinschaft Antons Identitätsentwicklung?
2. Der Begriff des Quietismus – Historischer Hintergrund
Zum Begriff ‚Quietist’ berichtet Johann Heinrich Zedler in seinem Universallexikon aus dem 18. Jahrhundert:
„[…] mit diesem Namen wurden in der griechischen Kirche in dem 14. Jahrhundert gewisse Personen belegt, die sich einer sonderbaren Gemüths Ruhe rühmten, welcher sie unter dem Gebet teilhaftig wurden. […] Sonst hat man in den neuen Zeiten in der Katholischen Kirche gleichfalls den Namen der Quietisten den Anhängern des Michael de Molinos“[4] [gehört].
Im Mittelalter werden in der griechischen Kirche also Personen, die im Gebet, einer Art Meditation, eine besondere Gemütsruhe erlangen, als Quietisten bezeichnet. „In den neuen Zeiten“[5], wie Zedler sich ausdrückt, war Miguel de Molinos, ein spanischer katholischer Theologe und Mystiker, der im 17. Jahrhundert lebte, der Begründer des Quietismus des westlichen Europa. In Frankreich wurde de Molinos’ Lehre stark durch Jeanne Marie Guyon du Chesnoy, geborene Bouvier de la Motte (1648 – 1717) unterstützt.
Die Kernaussage des Quietismus ist, dass der Mensch zunächst sein ‚Ich’ vollkommen aufgeben und an Gott übergeben müsse, um danach in vollkommener Ruhe und Gleichmut zu leben.[6] Madame Guyons Schriften lehrten, dass
„die Annäherung an Gott […] vor allem durch das innere Wort, durch eine Beschauung erreicht werden [sollte], in der der Quietist nach und nach alle Gedanken, Affekte, auch den Eigenwillen abtötet“, denn „jede Reflexion auf den eigenen Zustand [muss] kategorisch abgelehnt [werden].“[7]
In Deutschland fand die quietistische Lehre der Madame Guyon im 18. Jahrhundert besonders bei Johann Friedrich von Fleischbein und dessen Anhängern Anklang. Zu Fleischbeins Gefolgschaft ist auch Karl Philipp Moritz’ Vater Johann Gottlieb Moritz zu zählen. Die Quietistengemeinde um Fleischbein hatte ihren Hauptsitz auf einem Landgut bei Pyrmont, wo sie sich zurückgezogen, als „Staat im Staat“[8], entfaltete.
3. Die Quietistengemeinde im ‚Anton Reiser’
In Karl Philipp Moritz’ psychologischem Roman ‚Anton Reiser’ wird gleich zu Beginn ein Edelmann, der das Haupt einer Sekte „die unter dem Namen der Quietisten […] bekannt“[9] ist, vorgestellt.
Wie bereits erwähnt, entfaltet sich die Glaubensgemeinschaft um diesen Edelmann, den Herrn von F. (Johann Friedrich von Fleischbein) als „Staat im Staat“[10]:
„Der Hr. v. F., so hiess dieser Edelmann, wohnte hier von allen übrigen Einwohnern des Orts, und ihrer Religion, Sitten, und Gebräuchen, eben so abgesondert, wie sein Haus von den ihrigen durch eine hohe Mauer geschieden war, die es von allen Seiten umgab.
Dies Haus nun machte für sich eine kleine Republik aus, worin gewiss eine ganz andre Verfassung, als rund umher im ganzen Lande herrschte.“[11]
Die höchste Lehre in dieser Sekte sind die Schriften „einer bekannten Schwärmerin“[12], der Madame Guyon, die das
„[…] völlige Ausgehen aus sich selbst, und Eingehen in ein seliges Nichts, jene gänzliche Ertötung aller sogenannten Eigenheit oder Eigenliebe und eine völlig uninteressierte Liebe zu Gott [vertritt], worin sich auch kein Fünkchen Selbstliebe mehr mischen darf, wenn sie rein sein soll, woraus denn am Ende eine vollkommene, selige Ruhe entsteht, die das höchste Ziel aller dieser Bestrebungen ist“[13].
Der Erzähler im ‚Anton Reiser’ stellt, nach einer kurzen Beschreibung von Herrn von F.s Quietistengemeinde und deren Vorbild, Madame Guyon, deren Leben in einer ironischen Weise dar:
„Diese Mad. Guion musste viel Verfolgung leiden, und wurde endlich, weil man ihre Lehrsätze für gefährlich hielt, in die Bastille gesetzt, wo sie nach einer zehnjährigen Gefangenschaft starb. Als man nach ihrem Tode ihren Kopf öffnete, fand man ihr Gehirn fast wie ausgetrocknet.“[14]
Durch den schwarzen Humor des Erzählers, der dem Leser die Vorstellung eines fast ausgetrockneten Gehirns präsentiert, kann man diese Madame Guyon und deren Lehren, wie auch ihre Anhänger gar nicht mehr wirklich ernst nehmen, insbesondere dann, wenn man sie noch genauer betrachtet, denn nicht nur Madame Guyon wird von ihrer Gefolgschaft als „eine Heilige der ersten Grösse, beinahe göttlich verehrt“[15], sondern auch der Herr von F. wird
„von seinen Anhängern ebenfalls wie ein Heiliger verehrt, und [es wird] ihm wirklich zugetrauet, dass er beim ersten Augenblick, das Innerste der Seele eines Menschen durchschauen könne“[16].
[...]
[1] Moritz, Karl Philipp (1986): Gnothi Sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte.10 Bde. Hrsg. von Petra und Uwe Nettelbeck. Nördlingen: Franz Greno. Band 4, 1786. S. 195.
[2] Ebd.: S: 195.
[3] Fossaluzza, Cristina (2005): Subjektiver Antisubjektivismus. Karl Philipp Moritz als Diagnostiker seiner Zeit. Digitale Dissertation. Berlin: Freie Universität Berlin. S. 120. Quelle: http://www.diss.fu-berlin.de/2005/145/index.html
[4] Zedler, Johann Heinrich (1741): Johann Heinrich Zedlers grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste. Band 30. S. 257 – 258. Quelle: http://www.zedler-lexikon.de/index.html
[5] Ebd.: S. 258.
[6] Microsoft® Lernen und Wissen 2006 [DVD]. Microsoft Corporation, 2005. (Stichworte: Miguel de Molinos, Madame Guyon, Quietismus)
[7] Wingertszahn, Christof (2002): Anton Reiser und die ‚Michelein’. Neue Funde zum Quietismus im 18. Jahrhundert. Hannover: Wehrhahn. S. 70.
[8] Renner, Ursula (2002): Vom Lesen erzählen: Anton Reisers Initiation in die Bücherwelt. In: Diskrete Gebote: Geschichten der Macht um 1800. Hrsg. von Roland Borgelds und Johannes Friedrich Lehmann. Festschrift für Heinrich Bosse. Würzburg: Königshausen & Neumann. S. 131-160. S. 141. Quelle: www.uni-essen.de/literaturwissenschaft/renner_henke/LesenErz%E4hlen.doc
[9] Moritz, Karl Philipp (1998): Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Horst Günther. Frankfurt am Main: Insel. S. 11.
[10] Renner 2002: S. 141.
[11] Moritz 1998: S. 11.
[12] Ebd.: S. 11.
[13] Ebd.: S. 12 – 13.
[14] Ebd.: S. 13.
[15] Ebd.: S. 13.
[16] Ebd.: S. 13.
- Arbeit zitieren
- Hédi Róka (Autor:in), 2007, Unterdrückung - Selbstinszenierung - Selbsttäuschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93832
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