Obgleich ein nicht unerheblicher Teil der Bürgerschaft die zivile Gesellschaft, und somit kollektiv sich selbst, wohl als in gleichem Maße unabhängige wie potente Kraft im Staate neben Politik und Wirtschaft versteht, gleicht diese Vorstellung von Demokratie einem Anachronismus. Längst hat sich eine hybride Gemengelage verschiedenster Interessen, Machtkonstellationen und Menschenführungstechniken generiert, in der Grenzen porös, staatliche, wirtschaftliche sowie zivile Aspirationen undifferenzierbar werden.
Unterm Kochdeckel der Globalisierung erwärmt sich nicht nur Mutter Erde, auch der zunehmende, traditional-familiäre Gesellschaftsbande zerstörende Individualismus erhitzt – befeuert durch einen beinahe unbegrenzten Pluralismus an Lebensmöglichkeiten – die Gemüter der politischen Elite Deutschlands. Soziale Sicherungssysteme verurteilt der demographische Wandel zum Scheitern. Der Umbau des Sozialstaats erscheint als unabwendbare Notwendigkeit, was dann Protest schafft, wenn der individuelle Wohlstand sinkt: „Wo die Sozialkassen in Schwierigkeiten geraten, soll das freiwillige soziale Engagement helfen.“ Doch ist die Intention zur, als Erfordernisses propagierten, Ausweitung einer selbstständigen Bürgergesellschaft nur jener ökonomischen Dimension geschuldet? Oder korrelieren nicht vielmehr Komponenten wie Politisierung, Identitätsstiftung oder Wertevermittlung als wichtige Bestandteile einer funktionierenden Zivilgesellschaft?
Ziel des Essays ist es folglich – vor dem Hintergrund der chronologischen Genese und Wandlung der ‚Zivilgesellschaft’ – oben stehenden Auszug aus dem CDU-Grundsatzprogramm kritisch zu analysieren, widersinnige Ambiguität zu eruieren und den Fokus schließlich auf neue Formen der modernen Menschenführung zu richten, welche sich des Potenzials der zivilgesellschaftlichen Komponenten bedient. Die auf den ersten Blick augenscheinliche Paradoxie der Förderung bzw. Forderung eines Milieus, welches eine derart gewaltige – man erinnere sich der polnischen Gewerkschaft Solidarność; generell der nach Freiheit strebenden BürgerInnen des ehemaligen Ostblocks – oppositionelle Kraft in sich birgt, wird sich somit relativieren. Und generell gilt es zu hinterfragen: „Immer dann, wenn Begriffe der politischen Philosophie [Anm.: Zivilgesellschaft] in den wohlfeilen Gebrauch der Alltagssprache übergehen, ist Vorsicht geboten. (…) Der umworbene Begriff droht, seine inhaltliche Substanz zu verlieren.“
INHALT
EINLEITUNG
1. VON DER MYKENISCHEN ZUR MITTELALTERLICHEN ZIVILGESELLSCHAFT
2. ZIVILGESELLSCHAFT ALS KIND DES POLITPHILOSO-PHISCHEN DISKURSES
3. ZIVILGESELLSCHAFT ZWISCHEN LIBERALISMUS UND HEGEMONIE
4. ZIVILGESELLSCHAFT ALS WOHLFEILES INSTRUMENT DER MODERNEN POLITIK
5. SCHLUSSBETRACHTUNG
LITERATURVERZEICHNIS
EINLEITUNG
Obgleich ein nicht unerheblicher Teil der Bürgerschaft die zivile Gesellschaft, und somit kollektiv sich selbst, wohl als in gleichem Maße unabhängige wie potente Kraft im Staate neben Politik und Wirtschaft versteht, gleicht diese Vorstellung von Demokratie einem Anachronismus. Längst hat sich eine hybride Gemengelage verschiedenster Interessen, Machtkonstellationen und Menschenführungstechniken generiert, in der Grenzen porös, staatliche, wirtschaftliche sowie zivile Aspirationen undifferenzierbar werden.
Unterm Kochdeckel der Globalisierung erwärmt sich nicht nur Mutter Erde, auch der zunehmende, traditional-familiäre Gesellschaftsbande zerstörende Individualismus erhitzt – befeuert durch einen beinahe unbegrenzten Pluralismus an Lebensmöglichkeiten – die Gemüter der politischen Elite Deutschlands. Soziale Sicherungssysteme verurteilt der demographische Wandel zum Scheitern. Der Umbau des Sozialstaats erscheint als unabwendbare Notwendigkeit, was dann Protest schafft, wenn der individuelle Wohlstand sinkt: „Wo die Sozialkassen in Schwierigkeiten geraten, soll das freiwillige soziale Engagement helfen.“[1] Doch ist die Intention zur, als Erfordernisses propagierten, Ausweitung einer selbstständigen Bürgergesellschaft nur jener ökonomischen Dimension geschuldet? Oder korrelieren nicht vielmehr Komponenten wie Politisierung, Identitätsstiftung oder Wertevermittlung als wichtige Bestandteile einer funktionierenden Zivilgesellschaft?
Ziel des Essays ist es folglich – vor dem Hintergrund der chronologischen Genese und Wandlung der ‚Zivilgesellschaft’ – oben stehenden Auszug aus dem CDU-Grundsatzprogramm kritisch zu analysieren, widersinnige Ambiguität zu eruieren und den Fokus schließlich auf neue Formen der modernen Menschenführung zu richten, welche sich des Potenzials der zivilgesellschaftlichen Komponenten bedient. Die auf den ersten Blick augenscheinliche Paradoxie der Förderung bzw. Forderung eines Milieus, welches eine derart gewaltige – man erinnere sich der polnischen Gewerkschaft Solidarność; generell der nach Freiheit strebenden BürgerInnen des ehemaligen Ostblocks – oppositionelle Kraft in sich birgt, wird sich somit relativieren. Und generell gilt es zu hinterfragen: „Immer dann, wenn Begriffe der politischen Philosophie [Anm.: Zivilgesellschaft] in den wohlfeilen Gebrauch der Alltagssprache übergehen, ist Vorsicht geboten. (…) Der umworbene Begriff droht, seine inhaltliche Substanz zu verlieren.“[2]
1. VON DER MYKENISCHEN ZUR MITTELALTERLICHEN ZIVILGESELLSCHAFT
„Folge der Entstehung der polis und des Politischen war die Durchbrechung der altaristokratischen Kette von Schuld und Sühne, Hass und Gewalt, Rache und Gegenrache, die Eindämmung der Fehden und die Zivilisierung der Menschen, die in der Politik einen friedlichen und rationalen Umgang miteinander erlernten.“[3] Trotz der Schaffung einer Grundlage für politische Kommunikation, kann der im fünften vorchristlichen Jahrhundert entstandenen demokratischen Urform kein Zeugnis über eine Zivilgesellschaft ausgestellt werden. Vielmehr schuf emanzipatorische Loslösung von gottgleichen Königen und Kaisern erstmals in der Menschheitsgeschichte ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Führungselite und Volk: „Die politische Macht (krâtos) geriet in die Hände des ‚gemeinen Volkes’ (dêmos), das seine erlangte Freiheit zur politischen Selbstbestimmung […] nutzte.“[4] Von einer mykenischen Zivilgesellschaft zu sprechen, ließe jedoch jegliche Affinität zum modernen Verständnis vermissen.
Zivilgesellschaft wird im ‚westlichen Diskurs’ als Sphäre kollektiven Handelns und öffentlicher Meinungsbildung definiert, angesiedelt im Zwischenraum von Privatem und Staat als dritte Kraft.[5] Die Organisationsform der poleis erschöpfte sich dagegen in der Trennung des Öffentlichen vom oikos, der Hauswirtschaft. Bestärkt durch den Ausschluss der Immigranten (Metöken) und Frauen sowie Sklaven vom politischen Leben, entstand eine elitäre Bürgergesellschaft, da die Existenz von ‚teuren’ Subsistenz erwirtschaftenden Sklaven Voraussetzung war, dem politischen Leben genügend Muße widmen zu können. Die ‚Demokratie in Kinderschuhen’ differenzierte folglich zwischen dem politischen Bürger und dem wirtschaftlich autonom agierenden Privatmann, ließ aber jenes gewisse Maß an politischer (und wirtschaftlicher) Partizipation, Teilhabe und kritischer Einmischung vermissen, das für eine hinreichende Ausdifferenzierung der Interessen notwendig ist und zu einer vielfältigen Zivilgesellschaft geführt hätte.
Das im CDU-Grundsatzprogramm artikulierte Verständnis von der „Zukunftsfähigkeit des Landes“ in einer sich stark verändernden Welt mag dem der mittelalterlichen Kehrtwende hin zu totalitären Kaiserreichen und Fürstentümern gar nicht allzu entfernt sein. Beiden ist die Intention einer möglichst effizienten Gesellschaft bzw. Führung dieser inhärent. So ging es den herrschenden Feudalherren in erster Linie um das höchste Maß an Operationalisierung und Effektivität ihrer Untertanen durch Befehl und Gehorsam – nach dem Prinzip des Patriarchats, gepaart mit Zuckerbrot und Peitsche.
Die Grundherrschaft und das Lehnswesen stellten dabei das soziale Sicherungssystem dar. Unter dem ordnenden Prinzip des consilium et auxilium gewährte der dominus fundi den un- und halbfreien Bauern Schutz, Schirm und die Sicherung ihrer Existenz in Krisenzeiten gegen Treue, Gehorsam und Frondienste sowie Abgaben der selbstständig erwirtschafteten Primärgüter. Nicht zuletzt das biblische Epos der Josef-Geschichte im ersten Buch Mose ist Ausdruck der Eminenz dieses Versorgungsprinzips: Nachdem der von seinen Brüdern verkaufte Josef einen Traum des ägyptischen Pharaos richtig gedeutet hatte, überwand der Nilstaat, mit Hilfe der Vorratsspeicherung von Getreide in den ersten sieben fetten Jahren, eine ebenso lang andauernde Periode magerer Ernteerträge. Existenzsicherungssysteme korrelierten stets, als Fundament des Beziehungsapparats zwischen politischer Elite und Fußvolk, mit der Anerkennung des Machthabers.
2. ZIVILGESELLSCHAFT ALS KIND DES POLITPHILOSO-PHISCHEN DISKURSES
Auf politphilosophischer Ebene rammte Thomas Hobbes mit seinem im Jahre 1651 erschienen Werk Leviathan einen Meilenstein neben den Pfad der bisherigen Theorie der Menschenführung: Die Individuen geben ihre Freiheit zu Gunsten eines Souveräns auf, welcher als über allem thronende Instanz die Geschicke des Staates und seiner Bürger nach dem Prinzip der Rationalität patriarchalisch lenkt. Die Absenz rechtsstaatlich gesicherter Handlungsbedingungen, politischer Freiheits- und individueller Bürgerrechte erstickte jeden Keim einer Zivilgesellschaft im Ansatz, sofern dieser überhaupt existierte.
Den Wendepunkt vom autoritären zum liberalen Staat statuierte schließlich John Locke im Zuge der Glorious Revolution und ihrer konstitutionellen Ergebnisse, die in der Bill of Rights und dem Act of Toleration deklariert wurden. Er fügte Hobbes’ „Prinzip der Legitimation politischer Herrschaft den Aspekt der Limitation hinzu“[6] und formulierte damit die Grundlage für eine Gesellschaft, die primär eine Schutzfunktion privater Autonomie gegenüber der politischen Elite gewährleistet. Die civil society ward geboren, als amorphes Kind des politphilosophischen Diskurses.
[...]
[1] Dettling (1998): S. 22
[2] Merkel & Lauth (1998): S. 3
[3] Roth, Klaus: Einleitung, in: Peter Massing & Gotthard Breit: Demokratietheorien (2002): S. 13
[4] ebd. S. 14
[5] vgl. Thiery (2002)
[6] Speth, Rudolf: John Locke, in: Peter Massing & Gotthard Breit: Demokratietheorien (2002): S. 102
- Quote paper
- Christoph Gollasch (Author), 2008, Vorfahrt für die Bürgergesellschaft – Sozial ist, was Verantwortung schafft?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93571
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